Wahrheit
oder: Warum man nicht versuchen sollte, jemand zu sein, der man nicht ist |
Sie stieg aus dem Wasser und das Sonnenlicht brachte ihre hellblauen Schuppen zu unvergleichlichem Glitzern. Lalec war sich sicher, niemals eine auch nur annähern so schöne Drachin gesehen zu haben. 'Ich könnte den ganzen Tag nur rumliegen und nichts anderes tun, als ihr bei jeder Bewegung zuzusehen', dachte der rostrote, noch recht junge Großdrache vor sich hin. 'Wenn ich mich nur mal trauen...', doch etwas anderes lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich. Sogar Saradra vergaß er für einen kurzen Moment. Er hatte schon seit geraumer Zeit nichts gegessen und so kam es ihm recht gelegen, dass just in diesem Moment ein saftiger Hase vor seine Nase sprang. Der Hase richtete sich auf und schnupperte. Den Drachen, nicht mal einen Meter neben ihn, hatte er nicht gesehen. Lalec leckte sich übers Maul und war grade im Begriff zuzuschnappen, als der Hase ihn bemerkte und wild davonsprang. Darauf achtete der Drache jedoch nicht, da sich hinter dem Hasen unglückseligerweise ein Dornenbusch befunden hatte. Mit einem kurzen Jaulen zog Lalec seine schmerzende Schnauze zurück. Als er wieder aufsah blickte er die - inzwischen näher gekommene - Drachin an. "Da lieg ich hier eine halbe Stunde auf der Lauer, nur um einen schmackhaften Hasen zu erwischen, und dann so was. Oh, äh, hallo Saradra. Ich hatte dich gar nicht gesehen." "Du liegst eine halbe Stunde auf der Lauer? Nur für einen Hasen?" fragte sie, sichtlich amüsiert. "Ähmm, ja, äh... es war wie gesagt ein sehr schmackhafter Hase. Aber das war mir ja eigentlich egal, ich wollte ihn ja nur jagen, ähh, weil... Hasen so schwer zu fassen sind. Als Herausforderung." Saradra grinste. "Du meinst doch sicher diese kleinen Wesen, die man überall finden kann. Ich wusste gar nicht, dass es soooo schwer ist, einen zu erlegen..." 'Das hab ich ja mal wieder toll hingekriegt', dachte Lalec. Jedoch fragte er nun, darum bemüht, interessiert zu klingen: "Hast du schon mal einen Hasen erlegt, dass du so was sagst?" Man sah ihr an, dass es ihr schwer fiel, nicht zu lachen. "Jaaaa, den einen oder anderen, vielleicht ein paar Dutzend..." Lalec hätte sich selbst in den Schwanz beißen können. Sogar er hatte schon etliche Hasen gefangen. Nun jedoch sah er die Möglichkeit vielleicht wieder Boden bei Saradra gut zu machen. "Dann musst du ja eine exzellente Jägerin sein. Allerdings auch kein Wunder bei solch mächtigen Schwingen, so starken Beinen, so..." Jetzt konnte Saradra ihr Lachen nicht mehr halten, sie prustete los und Lalec sah beschämt zu Boden. Als sie sich beruhigt hatte, sagte sie: "Gib es zu, du bist mir wieder gefolgt!" Vielleicht wäre Lalec über das Auftauchen eines anderen Drachen froh gewesen, doch wenn es auch nur einen Drachen gab, den er nicht leiden konnte, dann war es der, der grade auf der geräumigen Lichtung landete: Drancor, ebenfalls ein Großdrache, war schon seit jeher Lalecs Rivale. "Da bist du ja, Saradra, meine liebste aller..." "Ach, halt doch die Klappe!" Nun grinste auch Lalec. Er liebte es zu sehen, wie jemand Drancor eins "vor die Schnauze" gab. "Machst du dich über mich lustig, du kleines Drachchen? Vielleicht sollte ich dir zeigen, dass man sich nicht über Stärkere lustig macht..." Innerlich war Lalec schon ziemlich verängstigt. Drancor war zwar genauso alt, jedoch wesentlich stärker als er. Doch vor Saradra wollte er sich nichts anmerken lassen: "Komm doch her, du kleiner, schwacher...", doch während er sprach ahnte er, dass er viel zu weit gegangen war; Brüllend stürmte Drancor auf ihn zu, viel zu schnell, als dass Lalec hätte reagieren können. Zum zweiten Mal an diesem Tage jaulte Lalec auf, als Drancors Fänge in seine Flanke schlugen. Er stieß ihn mit seinem Flügel beiseite und setzte ebenfalls zu einem Biss an, den Drancor jedoch ohne große Mühe mit einem Schlenker seines grüngeschuppten Halses parierte. Sich böse anstarrend wichen beide ein Stück zurück und bevor einer von ihnen die Initiative ergreifen konnte ging Saradra dazwischen: "Wieso benehmt ihr euch immer so aggressiv? Wenn alle Drachen wie ihr wärt, dann würden wir uns schon selbst ausgerottet haben." Drancor war sichtlich verärgert. Er stand in dem Ruf, niemals einen Kampf vorzeitig zu beenden. "Halt du dich da raus, Drachin! Das geht nur mich und diesen Schwächling etwas an." Vielleicht wäre dies alles noch viel schlimmer ausgegangen, wenn nicht Girdrar, ein sehr alter, durch und durch goldener Großdrache, zufällig vorbeigekommen wäre. Die Rivalität der beiden Jungdrachen war weithin bekannt und so war es für den alten Weisen nicht schwer zu erkennen, was gerade geschah. Bedächtig setzte er auf und sprach mit leicht donnernder Stimme: "Drancor, wieso kämpfst du schon wieder gegen Lalec?" Erleichterung durchströmte Lalec. Er hatte schon um seine Gesundheit gefürchtet. 'Was für ein Glück, dass einer der Alten grad vorbeikommt...' Doch als Girdrar weitersprach, wünschte sich Lalec, er wäre doch nicht gekommen: "Du weißt doch genau, dass er schwächer ist als du. Such dir gefälligst jemanden, der genauso stark ist wie du." Herablassend lächelnd sah Drancor zu Lalec: "Du hast recht. Es ist gegen meine Würde mit solch einem Drachen zu kämpfen." Und mit einem mächtigen Satz erhob er sich in die Lüfte. "Tja, ich geh dann auch mal auf die Jagd...", meinte Saradra und während sie davonschwebte rief ihr Girdrar noch ein "Ich wünsche gute Jagd" hinterher. Bedrückt sah Lalec abermals zu Boden. Mit schweren Schritten kam Girdrar zu ihm herüber. "Du hättest dich nicht mit ihm anlegen sollen. Die Wunde ist zwar nicht tief, aber die nächste könnte es sein..." Noch bis tief in die Nacht lag Lalec wach da. Jedoch eher wegen dem beschämenden Gedanken vor Saradra so gedemütigt worden zu sein, als vor Schlaflosigkeit. Auch die ersten Sonnestrahlen des nächsten Morgens, die ihn weckten, schienen ihm nicht mehr so schön wie am Tag zuvor. 'Nicht nur, dass mir so etwas passiert, es passiert mir auch immer und immer wieder...' Widerwillig erhob er sich und begann sein Essen zu jagen. Doch vor lauter Kummer konnte er sich nicht konzentrieren und fing grade mal einen alten, schwachen Rehbock. Und das auch erst nach einer schmerzhaften Erfahrung mit dessen Hörnern. Diese Nacht schlief er zwar schnell ein, jedoch
war sein Schlaf voller Alpträume, die immer damit endeten, dass Drancor
ihn demütigte. Da war ein Traum, in dem Lalec versuchte einen Hirsch
für Saradra zu erlegen. Jedoch stieß ihn dieser immer und immer
wieder. Dann kam auch noch Saradra dazu. "Saradra, wenn ich dir doch nur
sagen könnte, wie sehr ich dich liebe...", murmelte der Drache im
Schlaf. Doch sie lachte nur. Saradra lachte ihn aus. Er wünschte sich,
er könnte im Erdboden versinken und plötzlich tat sich die Erde
auf und er fiel und fiel...
Auch am folgenden Morgen war Lalec betrübt.
Aber als er sich reckte und die frische Morgenluft einsog, spürte
er etwas. Irgendetwas war heute anders. Es war, als wenn ein besonderer
Duft in der Luft läge. 'Vielleicht schaff ich es ja heut Saradra zu
sagen, was ich für sie empfinde...' machte sich Lalec Hoffnungen.
Aus purem Instinkt flog er in die Richtung eines Plateaus, auf dem sich
Saradra gelegentlich aufhielt und tatsächlich war sie da. Sie lag
neben Drancor und beobachtete zwei Vögel, die einen Baum umkreisten.
In der Nähe waren auch einige andere Drachen, die sich die Zeit mit
Gesprächen und kleinen Kämpfen vertrieben, unter ihnen auch Girdrar.
In dieser Nacht plagten Lalec wieder Alpträume.
Saradra mit ihrem eiskalten Blick, ein besiegter, aber lächelnder
Drancor, "Du hast es anscheinend immer noch nicht verstanden... DRACHCHEN!"
Als Lalec am nächsten Morgen erwachte,
war ihm klar, weshalb ihn Saradra so angesehen hatte. Er verstand nun auch
den Sinn ihrer Worte. Nun war ihm klar, wieso sie nie an Drancor interessiert
schien. Trotz der vielen Wunden, die ihm seit seinem Kampf zu schaffen
machten, erhob sich Lalec und flog zu einem Ort, zu dem er vor ein paar
Tagen niemals geflogen wäre: Drancors Wohnhöhle.
Während er davonflog überlegte er,
wo Saradra wohl sein könnte.
© Arihpas
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