Bitte daran denken:
Diese Story nimmt erst 2009 am Drachentaler Wettbewerb teil!
 
 
Ehre
oder:
Wieso nicht alles so böse ist, wie es aussieht von Arihpas

Und wieder legte er sich in seiner dunklen Höhle nieder und wieder wusste er, dass ihn Alpträume plagen würden. Alpträume von dem Tag. Dem Tag vor 50 Jahren. Er würde wieder ihr Gesicht sehen. So traurig und doch so ruhig. Ein leises Jaulen entrann seiner Kehle.
Er fragte sich, wieso er sich überhaupt noch die Mühe machte zu jagen, zu fliegen, zu... leben. Ohne sie war doch alles sinnlos...
Endlich schlief er ein. Er träumte das, was er jede Nacht träumte, schon 50 Jahre lang. Er träumte von der schönen Zeit, als sie noch da gewesen war. Er träumte von dem Wald, dem Plateau, von seinem Kampf gegen Drancor. Und dann davon, wie Saradra vor ihm lag, die Augen schloss und ihre letzten Worte hauchte: "Dann ist es gut..." Getötet von einem besiegten Urgetüm. Sie hatten gewonnen... und doch verloren.
War es das wert gewesen? Es war der einzige Weg gewesen. Ein Leben geopfert, um eine ganze Rasse zu retten. Warum hätten es nicht zwei sein können? Dann wäre sein Leid nun Freud.
Er schritt durch einen langen Tunnel. An seinem Ende war ein helles Licht. Es war Saradra. Er wollte zu ihr, doch umso schneller er auf sie zustürmte, desto mehr schien sie sich zu entfernen. Schließlich war sie wieder weg. Auch der Gang war weg. Lalec wollte seine Flügel ausbreiten, doch er fiel und fiel und fiel...
Es war dunkel. Überall. Er spürte, dass hier Verzweiflung lauerte; Verzweiflung, Trauer, Angst... Er wollte weg von hier, davon fliegen, nur schnell weg. Doch es ging nicht. Da saß er, umhüllt von dunklen Schatten, in ewiger Finsternis.
Lalec erwachte. Er hatte 50 Jahre Zeit gehabt, doch hatte er es weder geschafft, die Ereignisse zu verarbeiten, noch hatte er sich dazu durchringen können, wieder in seine Heimat zurückzukehren. 50 Jahre waren eine lange Zeit, selbst für einen Drachen. 50 Jahre lang hatte er seine Heimat nicht gesehen, seine Freunde nicht gesehen, überhaupt kaum einen Drachen gesehen.
Das Leben war trostlos geworden und Lalec fragte sich immer wieder, weshalb er überhaupt noch leben sollte. Einfach hinlegen und sterben, wäre das nicht viel einfacher? Doch dann kam ihm immer wieder eins in Erinnerung: Immer, wenn er träumte und Saradra vor sich sah, dann schien sie auf etwas zu warten. Einmal glaubte er sogar gehört zu haben, wie sie ihm etwas zuflüsterte: "Bald kommt der, der uns wieder vereint..."
Aber das war unmöglich! Saradra war tot, gestorben am Gift eines uralten Monsters. Vereint könnten sie nur im Tode sein. Sollte es bedeuten, dass bald jemand kommen würde, der ihn töten würde? Jedes mal, wenn er darüber nachdachte, zerbrach es ihm seinen Kopf. Irgendwie wäre es ja schön, wieder mit Saradra zusammen zu sein, selbst, wenn Lalec dafür sterben müsste, doch irgendetwas in Lalec wehrte sich dagegen, einfach zu sterben...
Dieser innere Konflikt begleitete Lalec überall hin und bereitete ihm stets großen Schmerz. Und das schon 50 Jahre...
Er schlief wieder ein und träumte wieder von Saradra. Sie stand vor ihm, in ihrer ganzen wunderschönen, blauen Pracht. Sie sagte etwas, etwas was Lalec selbst im Traum nicht glauben würde: "Ich bin da..." Sie drehte sich um und ging. Sie verschwand in blauweißem Nebel. "Nein! Bleib bitte bei mir! Geh nicht weg! Nicht schon wieder! Saradra!!!" Lalec wachte wieder auf, ließ aber die Augen geschlossen.
"Träumst du jede Nacht von ihr?"
Lalec schreckte auf, neben ihm war jemand. Er sah zwei leuchtende Drachenaugen. "Wer bist du?"
"Erkennst du mich nicht wieder? Habe ich mich so verändert?" Der Drache, er war männlich, lachte. Als er grün funkelnd ins Mondlicht trat, erkannte Lalec ihn.
"Drancor! Was willst du hier? Willst du dich darüber lustig machen, wie es mir geht?"
Der grüne Drache senkte den Blick. "Nein..." antwortete er. Lalec meinte, Scham aus seiner Stimme herauszuhören. "Es sind viele Jahre vergangen. Ich weiß nicht, wie du dich verändert hast, aber ich weiß, zu was ich geworden bin."
Lalec fragte sich, ob er tatsächlich den Drancor vor sich hatte, der sich vor 50 Jahren noch an ihm rächen wollte... auf grausamste Weise... Doch "dieser" Drancor klang verständnisvoll, man könnte sagen: weise. Hatte er sich in nur 50 Jahren dermaßen verändert?
"Ich habe inzwischen verstanden, was du damals für Saradra empfunden hast."
Lalec verspürte einen Stich in seinem Herzen, wie immer wenn er auch nur an ihren Namen dachte.
"Ich... Du... Ich kann nur erahnen, wie schlimm du dich fühlst, aber glaube mir, ich habe auch gelitten. Nachdem ich von ihrem Tod erfahren hatte trauerte ich zuerst nur um sie. Du weißt, ich habe sie auch begehrt..."
Lalec konnte sich gut entsinnen. Ein Lächeln, ja tatsächlich ein Lächeln, huschte über sein Gesicht, als er daran dachte, wie sie Drancor immer wieder Abfuhren erteilt hat.
"Ich lebte ja schon vorher zurückgezogen, du weißt vermutlich wieso. Ich schämte mich für das, was ich Saradra antun wollte. Ich... es... man kann die Gefühle, die ich hatte, nicht in Worte ausdrücken..." Er sah zu Boden. "Ich fragte mich damals immer wieder, wie ich auch nur an so etwas denken konnte. Ich war nicht in der Lage, mir selbst in die Augen zu sehen. Aber dann dachte ich an etwas anderes: Ich hatte mich schändlich benommen, so schändlich, wie man es sich nur vorstellen kann, aber..."
"Das ist nicht wahr...", warf Lalec ein. Er erkannte, dass dies ein Drancor war, mit dem man reden konnte. "Du hast es nicht getan, du hast rechtzeitig verstanden, was du tun wolltest..."
Drancor lächelte ihn an. "...aber als ich daran dachte, wie du dich fühlen müsstest, blieb mir fast das Herz stehen: Ich versuchte mir vorzustellen, wie es wäre, alles geschenkt zu bekommen und dann wieder alles zu verlieren. Ich zerbrach fast an diesem Gedanken. Ich fühlte mich schuldig. Ich habe mir Vorwürfe gemacht, weil ich nicht gegen Saradras Feinde, sondern gegen ihren Freund gekämpft habe. Ich warf mir immer wieder vor: Hättest du sie beschützt, wäre sie noch am Leben. Ich hab nicht nur sie, sondern auch dich getötet..."
Lalec war sprachlos. Drancor war immer ein egoistischer Idiot gewesen, doch jetzt...
"Ich brauchte fast zwei Jahre, um mir nur dieser Sachen bewusst zu werden. Aber als ich soweit war, wusste ich, was mein neues Lebensziel war: Dich zu finden und mich zu... entschuldigen. Mehr noch, mich... Wie soll ich es sagen?"
Er verstummte. "Kennst du die Geschichte der glänzenden Quelle?"
Lalec dachte nach. "Du meinst dieses Märchen, in dem ein Bruder seinen anderen von den Toten zurückholt, indem er zu einer verzauberten Quelle geht?"
"Ja. Mir wurde klar, ich könnte dir nicht, niemanden mehr unter die Augen treten, wenn ich dein Leben nicht wieder `aufbauen` könnte. Also fragte ich Girdrar, ich fragte Irdrun, ich fragte alle Drachen, die mir etwas sagen hätten können. Ich glaube ich sollte dir danken, dass du niemanden von meinem `Ausrutscher` erzählt hast, ich glaube, die hätten mich ansonsten zerrissen...
Auf jeden Fall sagten alle, es wäre nur ein Märchen. Ich war aber wie besessen davon. Also flog ich weg. Ins Land der Menschen." Er schauderte. "Warst du jemals dort? Zugegeben gibt es Menschen, die ja in Ordnung sind, aber die meisten... `Oh nein, ein Drache, hol doch jemand einen Drachentöter!`" Er hob einen Flügel. An seiner Flanke verlief eine schnurgerade Narbe.
"Du kannst dir sicher denken, dass viele darauf brannten, dieses gelbgoldene Zeug für meinen Kopf zu kriegen. Ein Jäger schaffte es tatsächlich mich zu verwunden..." Er legte sich wieder hin. "Also, wo war ich? Ach ja: Ich zog von einer Stadt zur nächsten, immer versucht mit Magiern Kontakt aufzunehmen, ohne dass diese gleich versuchten mich umzubringen. Sie sind bei den Menschen zweifelsfrei die, die sich am meisten mit so etwas auskennen. Häufig musste ich sie töten, weil sie mich für eine Bedrohung hielten und angriffen, aber einige verstanden, dass ich auf einer Suche war. Doch konnten sie mir alle nicht helfen. Bis auf einen...
Er hieß Israldakar. Er gehörte zu den Mächtigsten unter den Menschen. Auch er verstand mein Anliegen und er wusste, wonach ich suchte. Bis ich ihn fand, dauerte es jedoch weitere 30 Jahre..." Lalec zuckte zusammen. Drancor war 30 Jahre lang nur für ihn im Land der Menschen umhergereist? "Er zwang mich ihm 15 Jahre zu dienen, dafür gab er mir das, wonach ich suchte."
Lalec war sprachlos. Drachen dienten niemandem, nicht einmal ihresgleichen und besonders keinem Menschen. Wieso hatte Drancor es getan?
"Es kostete mich Mühe, meinen Stolz hinunterzuschlucken, aber das war es wert:" Er fuhr mit seinem Kopf nach hinten und zog einen Zettel, zwischen seinen Schuppen eingeklemmt, hervor. Lalec kam näher. Es sah aus wie eine Karte.
Er blickte zu Drancor. "Die letzten drei Jahre lang suchte ich dich, doch jetzt bin ich da... Das ist die Karte zur glänzenden Quelle, an der selbst die Toten wieder lebendig werden..."
Lalecs Augen leuchteten auf. Die Toten lebendig? "Bald kommt der, der uns wieder vereint..." Saradra hatte Drancor gemeint. Lalec konnte es nicht fassen: Er würde Saradra wiedersehen! Sie würde wieder bei ihm sein!
Er holte tief Luft und brüllte. Es war ein freudiges Brüllen. Drancor lächelte. Lalec war drauf und dran aus der Höhle zu stürzen. "Worauf wartest du? Los, lass uns diese Quelle suchen!" Er schwang sich in die Lüfte. Drancor blieb noch einen Moment am Boden. `Nun werde ich mich endlich entschuldigen können. Ein Leben gegen zwei, ein fairer Tausch... Dann mal auf zum letzten Flug...` Er hob ebenfalls ab.
Sie flogen und flogen, doch endlich machte Lalec das Fliegen wieder Spaß. Endlich würde er Saradra wiedersehen! `Ich werde Saradra wiedersehen, ich werde Saradra wiedersehen, ich werde Saradra wiedersehen...` dachte er nur, von Glück erfüllt. Doch ihm fiel auf, dass Drancor immer besorgter aussah und auch immer weniger sprach.

Nachdem sie bereits sieben Tage geflogen waren, sprach Lalec ihn darauf an.
"Ich kann mich nur immer noch nicht daran gewöhnen, mit dir für etwas zu kämpfen. Immerhin warst du der einzige, der mich je besiegt hat... und das zwei mal..."
Lalec wusste, dass mehr dahinter steckte, aber er wollte seinen neugewonnenen "Freund" nicht dazu zwingen, ihm die Wahrheit zu sagen.
Es dauerte weitere vier Tage, als sie ein Gebirge erreichten, in dem sich, laut der Karte (die sie bei ihrem Flugtempo zweimal fast verloren hätten), die Quelle befinden sollte. Der Eingang zu der Höhle war auch gut sichtbar auf einer großen Lichtung am Bergesrand. Sie landeten.
Lalec ging zuerst runter und hörte hinter sich auf einmal ein "Whomb". Er fuhr herum. Drancor hatte sich auf einen Hirsch gestürzt und biss bereits genüsslich hinein. Lalec wunderte sich: elf Tage ohne Essen waren nicht wirklich viel für einen Drachen.
Drancor musste seine Gedanken erraten haben, denn er sagte: "Ich sagte doch, ich war drei Jahre auf der Suche nach dir. Ich war nicht soooo oft zum Jagen. Meine letzte Mahlzeit liegt mindestens zwei Monate zurück, du hattest dich gut versteckt..."
Lalec grinste und beschloss, sich schon einmal die Höhle anzusehen. Von außen schien sie vielleicht gerade noch groß genug für einen Drachen zu sein, doch schon nach wenigen Metern wurde der schmale Gang so groß, dass sich auch der Drache ohne Probleme bewegen konnte. In weit erscheinender Ferne nahm Lalec ein Schimmern wahr und begann, neugierig darauf zuzutrotten...
Er kam in eine gigantische Kammer und das im wahrsten Sinne des Wortes: Er hätte ohne Probleme in die Lüfte steigen und herumfliegen können. Jedoch blieb Lalec lieber am Boden und bewunderte die Pracht, die diese Höhle zierte: Grässliche, aber doch irgendwie schön anzusehende Dämonenstatuen, groß wie Lalec selbst bildeten eine Art Gasse zum gegenüberliegenden Ende der Halle. Auch gab es einige wirklich breite Säulen, die anscheinend die gesamte Kammer abstützten.
Lalec hörte Drancors Stimme aus der Ferne: "Ach ja; sei vorsichtig! Die Menschen erzählen sich seltsame Geschichten über Gargoyle, die angeblich die Höhle bewachen sollen. Wer weiß, ob da nicht vielleicht etwas dran ist..."
Lalec blickte sich um, bereit jeden Moment angegriffen zu werden. Doch nichts geschah. Dort waren lediglich die sehr lebendig gestalteten Dämonenstatuen.
"Was sind eigentlich Gargoyle, dieses Wort habe ich noch nie gehört?" rief Lalec zurück.
"Der Legende nach sollen es Dämonen mit großen Flügeln sein, die eine Haut aus Stein haben und sich oftmals als Statuen tarnen, um anderen Lebewesen aufzulauern...", kam es, begleitet von Schmatzern, zurück. Jeder der Lalecs Gesicht gesehen hätte, wäre nun schon dabei sich über die dusselig Miene des Drachen kaputtzulachen. Er musste sich nicht einmal umdrehen, um zu wissen, dass die ganzen Steinstatuen, die er eben noch bewundert hatte, sich erhoben hatten, um ihn anzugreifen...
Er kauerte sich nieder. Sie kamen bereits von allen Seiten. Grimmig rief er zum Eingang der Höhle: "Meinst du Statuen wie die, die mich anscheinend gerade umbringen wollen?" Lalec hörte ein ersticktes Brüllen und laut stampfende Schritte, Drancor war unterwegs...
Die Gargoyles verharrten um Lalec. Das verwunderte ihn. Vermutlich war es doch nur eine List, um ihn hinterrücks attackieren zu können. Unter lautem Gebrüll stieß er zwei Gargoyles mit seinem Schwanz nieder und faltete ruckartig die Flügel aus. Dabei traf er einen weiteren. Blitzartig fuhr Lalec in den Himmel. "Haha, holt mich doch!" rief er ihnen übermutig zu. Und tatsächlich machten einige der Wesen Anstalten, ihre steinernen Flügel auszufalten.
`Lächerlich, wie wollen die denn fliegen, wenn sie aus Stein sind?`, dachte Lalec. Sein Gedanke wurde von Schmerz abgelöst, als er auf seinen Flügeln schwere Gewichte und scharfe Steinkrallen spürte: einige Gargoyles waren von hinten zu ihm hinaufgeflogen.
Krachend stürzte Lalec zu Boden und schon war er von einer Schar dieser seltsamen Monster begraben, nur sein Kopf war noch zu sehen. Er brüllte, denn schließlich war es nicht gerade angenehm, von dutzenden Klauen traktiert zu werden. Doch plötzlich spürte er neben dem brennenden Schmerz etwas anderes, warmes irgendwo in seiner Magengegend. Instinktiv wandte er seinen Kopf den Steinwesen auf seinem Rücken zu und erschrak zunächst, als aus seinen Nüstern kleine Flammen schossen und einen Gargoyle auf seinen Hals ankokelten.
Er hatte noch nie Feuer gespiehen. Eigentlich wäre diese Fähigkeit schon seit Jahren überfällig gewesen, doch er nahm an, dass ihn seine fortwährende Trauer in seiner Entwicklung gebremst hatte. Das klang einleuchtend: Nun, wo er ganz und gar nicht mehr traurig war, konnte er anscheinend Feuer speien. Lalec wollte wieder brüllen, doch diesmal vor Freude über sein neu entdeckte Fähigkeit, als ihn schmerzhafte Krallen wieder in die Realität zurückholten.
Doch nun konnte er sich wehren, auch wenn er seinen Körper, der ja unter dem steinernen Gewicht begraben war, sich nicht rühren konnte. Lalec holte tief Luft und beim Ausatmen schoss den Gargoyles ein Flammenmeer entgegen. Lalec hatte sich schon gefragt, wie sich Drachenfeuer anfühlt, aber es schien für ihn nicht mehr als wohlige Wärme zu sein. Die Gargoyles waren aber anscheinend nicht dieser Ansicht: Einige zerfielen zu Staub, andere in ihre, sich trotzdem bewegenden, Einzelteile, während wiederum andere kreischend davonstoben.
Lalec richtete sich wieder auf, gerade als Drancor hereingestürmt kam. "Wer hat dich so zugerichtet, ich hab Kampflärm gehört!"
Lalec lächelte trotz allem. "Ach, das waren nur ein paar dutzend Steinmonster, die ich für Statuen gehalten habe, weil mir ja niemand gesagt hat, dass die gefährlich sein könnten..."
Drancor sah betreten zu Boden. "Ups, das hab ich dann wohl zeitweilig vergessen..." Er kam näher heran. "Die Wunden sehen schlimm aus, geht es dir noch gut?"
"Du weißt, dass ich schon schwerere Wunden hinnehmen musste... ich werds schon schaffen..."
Drancor ging nun voraus, immer wachend die Umgebung betrachtend. Häufiger blitzten ihnen aus Ecken rote Augen entgegen, doch niemand griff sie an. Sie erreichten das andere Ende der Halle. Dort wurde die große Kammer wieder zu einem schmalen Gang. Die Drachen waren kaum eine Minute unterwegs, als der Gang abrupt in eine Felswand endete. Verblüfft sahen sich die Drachen an.
Drancor drehte sich um und schlug mehrmals heftig mit seinem Schwanz auf die Wand ein, doch nichts passierte. Auch als sie es mit Drachenfeuer probierten, kamen sie nicht weiter. Plötzlich vernahmen sie hinter sich ein bekanntes Schlurfen: Die Gargoyles waren wieder da!
Lalec wollte sie erneut mit Flammen bedecken, doch da fiel ihm auf, dass sie wieder gut zehn Meter von ihnen entfernt stehen blieben. "Warte, Drancor! Ich glaub, die wollen uns gar nicht angreifen."
Drancor hielt inne und sah erstaunt zu Lalec. Dieser trat mehrere Schritte vor und senkte seinen Kopf, um auf der Höhe der Steinwesen zu sein. Ein dunkelgrauer Gargoyle, der sich sogar noch langsamer bewegte als die anderen, trat ebenfalls vor. Er hob eine Hand.
Lalec kam näher und schnupperte an ihr. Sie roch modrig, dieses Wesen war sicherlich uralt. Er ließ zu, dass der Gargoyle seinerseits Lalecs Schnauze und dann seine Stirn berührte. Plötzlich schoss ein stechender Schmerz durch Lalecs Kopf, als ob sich die Klauen des Gargoyle geradewegs in sein Gehirn gebohrt hätten. Bilder schossen vor seinem inneren Auge vorbei: Sein Kampf gegen Drancor, Saradra, ihr gemeinsamer Kampf gegen den Phönixlindwurm, die Jahre seiner Abgeschiedenheit, sein Gespräch mit Drancor, bevor sie aufgebrochen waren...
Dann war es auch wieder vorbei und Lalec stolperte jaulend zurück. Drancor knurrte: der Gargoyle kam bereits wieder auf Lalec zu, nein; er ging an den beiden Drachen vorbei zur Felswand. Er strich sanft über sie und schon trauten die Drachen ihren Augen nicht: Die Felswand war verschwunden, einfach weg. Der Gargoyle-Älteste - dass er dies war, wurde Lalec nun klar - trat wieder vor die Drachen, verbeugte sich laut knackend und schlurfte hinter seinen Brüdern hinterher, die den Gang wieder verließen.
"Was war denn das? Erst schlitzen sie dich fast auf und dann machen sie uns die Tür auf?" meinte Drancor ungläubig.
Lalec glaubte zu verstehen: "Ich nehme mal an, sie sollen testen, wer zur Quelle darf. Hätte ich sie nicht angegriffen, hätten sie uns vermutlich auch nichts getan..."
"Das klingt irgendwie einleuchtend... Komm, lass uns weitergehen, ich glaube ein Rauschen zu hören."
Lalec spitzte die Ohren. Tatsächlich, auch er konnte ein fernes Plätschern vernehmen... War das die Quelle?
Die beiden Drachen eilten los und es dauerte nur wenige Minuten, bis sie zu einem unterirdischen Bach kamen, der ihnen munter glucksend entgegenfloss. Er roch frisch, nach Wald, nach Kräutern, nach... Saradra. Für einen Moment meinte Lalec, Saradra in dem Wasser gesehen zu haben. Er schleckte über das Wasser und zuckte zurück. Es schmeckte warm, aber zugleich eiskalt, geschmacklos und zugleich nach irgendetwas wirklich leckerem...
Lalec fühlte sich pudelwohl und bemerkte plötzlich, dass sich all seine Wunden, die er in seinen Kampf gegen die Gargoyles davongetragen hatte, blitzschnell schlossen.
Drancor beobachtete das Geschehen verblüfft. Auch er senkte den Kopf, um etwas zu trinken, doch er stutzte. "Das Wasser schmeckt genauso, wie jedes andere..." sagte er.
Lalec nahm noch einen Schluck. "Seltsam, jetzt schmeckt es tatsächlich ganz `normal`..."
Immer noch über den verwunderlichen Bach nachdenkend zogen sie weiter durch die unterirdischen Gänge. Es schienen Stunden zu vergehen, doch plötzlich weitete sich der Gang und ihnen schien ein helles Licht entgegen: sie waren wieder in einer großen Kammer, doch diese war von einem hellen, warmen Licht erfüllt. An der Decke tanzten wundersame Lichtflecken und als Lalec sah, woher sie kamen, verschlug es ihm die Sprache:
Inmitten der Halle war eine Quelle. Die Fontänen, die aus ihr herausschossen, waren deutlich größer als er selbst. Umgeben war die Quelle von einer weißen, vollkommen makellosen Marmorwand, die nur einen Eingang aufwies: einen großen, selbst für Drachen überragenden, schillernden Marmorbogen direkt vor den beiden staunenden Drachen.
Langsam, immer noch die Schönheit dieses Ortes bewundern, traten die Drachen durch den Torbogen ein und wateten durch das angenehm warme Wasser. An der gegenüberliegenden Seite des Torbogens entdeckten sie einen glänzenden, silbernen Kreis. Als sie näher kamen, erkannten sie eine Art Spiegel. Lalec japste nach Luft. Dort war Saradra im Spiegel. Sie sah genauso aus, wie in seinen Träumen. Sie wartete...
"Was führt euch her?" hörten beide auf einmal eine durchdringende, laute, aber trotzdem sanfte Stimme. Sie blickten sich um. Niemand war hier, außer ihnen. Doch Lalec hatte bereits aufgehört, begreifen zu wollen: friedliche Dämonen, ein Bach mit selbstveränderndem Geschmack, riesige Marmorbildnisse, wieso denn nicht auch eine körperlose Stimme...
"Wir sind hier, ich bin hier, um dich zu bitten, mir meine Partnerin Saradra wiederzugeben..." sprach Lalec laut in die Leere.
Sofort antwortete ihm die Stimme: "Du kennst die Gesetzte dieses Ortes?"
Bevor Lalec fragen konnte, was das bedeuten sollte, warf Drancor ein: "Ja, die kennen wir!"
"Was kennen wir?", fragte Lalec an Drancor gewandt.
Dieser sah ihn mit einem seltsamen Blick an. Erst war er Mitleid erregend, doch dann kehrte eine nie gesehene Entschlossenheit in Drancors Blick zurück.
"Wer von euch wird es sein?", fragte die Stimme.
Lalec war verwirrt. Wer sollte was sein? "Was meint die Stimme?"
Drancor ignorierte ihn. "Ich bin es!"
"Du bist dir der Folgen deiner Entscheidung bewusst?"
Er zögerte einen Moment, dann aber sagte er: "Ja, ich bin mir der Folgen voll und ganz bewusst und ich werde sie mit Stolz auf mich nehmen."
"So sei es!" sprach die Stimme gebieterisch.
Drancor sah wieder zu Lalec. "Der Magier erzählte mir noch etwas: Man kann Leben nicht einfach geben. Leben kann nur durch den Tod entstehen..."
Lalec ahnte, was Drancor sagen wollte, doch er wollte es nicht hören. "Du meinst doch nicht... Drancor!"
Doch ein blauweißer Rauch waberte bereits um die Beine des Drachen. Er lächelte: "Doch: Für jedes Leben, dass gegeben wird, muss ein anderes genommen werden. So lautet das wichtigste Gesetzt des Lebens."
Eine Träne lief über Drancors Wange. "Schon seltsam: Selbst nach ihrem Tod tue ich alles für sie und doch werde ich sie nicht mehr lebend zu Gesicht bekommen... schade. Aber trotzdem wünsche ich euch beiden Glück. Glück, das ich niemals hätte haben können, würde ich jetzt nicht das hier tun. Endlich kann ich meine Schuld begleichen... Leb wohl, Lalec. Bitte richte Saradra aus, dass ich mich für das entschuldige, was ich früher im Zorn getan habe. Und bitte sage ihr auch... dass ich sie immer noch liebe. Aber sie ist nun einmal für dich bestimmt... seid einfach glücklich und denkt hin und wieder an mich..." Er lächelte.
Lalec stand nur da und konnte es nicht fassen. Drancor wollte sein Leben geben, um Saradra zurückzuholen, die Saradra, die er fast... das konnte nicht sein. Aber es war so, der Rauch stieg immer höher und nur noch Drancors grünes Haupt war zu sehen. "Ich werde dir niemals vergessen, was du für mich getan hast. Niemand soll jemals wieder schlecht von dir sprechen, Drancor. Du wirst der legendäre Drache werden, der nicht nur über seinen eigenen Schatten sprang, sondern auch noch sein Leben für das Glück seines Erzrivalen opferte..."
Drancor sah nur noch glücklich aus. "Lebe wohl..."
"Lebe wohl...", flüsterte Lalec zurück. Der Rauch verschwand und Lalec wusste, dass er Drancor nicht mehr sehen würde. Er warf den Kopf in den Himmel und stieß ein wehleidiges Brüllen aus, das so oft echote, dass man meinen könnte, es wäre ein ganzer Klagechor gewesen...
Doch da waberte wieder Nebel auf. Lalec sah zum Spiegel: Saradra war verschwunden! Hieß das?!
"Ich wusste, dass du kommen würdest..."
Lalec konnte nicht anders: er stürmte zu Saradra und warf sie fast um. Die beiden Drachen tobten und tollten umher, erfüllt von einer Wiedersehensfreude, die sich 50 Jahre lang gesammelt hatte. Doch schließlich hielt Saradra inne. "Mir war, als hätte ich noch jemand anderes gehört oder warst du allein hier?"
Mit bitterer Grausamkeit kam Drancor wieder in Lalecs Gedächtnis und selbst seine Wiedersehensfreude konnte ihn nicht völlig darüber hinwegtragen. Er schilderte Saradra kurz, was geschehen war und was Drancor zu ihm gesagt hatte. Auch auf Saradras Schnauze schimmerten Tränen. "Ich wusste, er war kein schlechter Drache. Ich wusste es, trotz dem, was er mir einst antun wollte." Sie wandte sich zum Spiegel. Dort war Drancor zu sehen. Er lag friedlich da und blickte glücklich ins Nichts.
"Wir werden dich nie vergessen, das schwöre ich", sagte Lalec mit einer todernsten Stimme. "Wenn wir jemals Kinder kriegen sollten, werde ich ihnen als erstes beibringen, Drancors Namen mit nichts als dem Wort `Ehre` zu verbinden..."
Saradra kuschelte ihren Hals an den seinen. "Seine letzten Worte waren, dass wir glücklich werden sollen. Wir sollten ihm den Gefallen tun..." Sie wechselte auf ihre fröhliche, schelmisch neckende Tonart: "Und was das mit den Kindern angeht... Sowas könnte ich mir sehr gut vorstellen..." Sie brummte in einem Tonfall, den Lalec bei ihr noch nie gehört hatte, auf den er aber schon immer gewartet hatte. "Ich glaube, wir sollten uns eine neue Höhle suchen, meine liegt sehr weit abgelegen und ist viel zu klein..."
Sie wandten sich um.
"Ich könnte dich gleich ein paar alten Freunden von mir vorstellen. Wir waren zwar erst recht... kratzig zueinander, aber dann waren sie doch ganz nett..." meinte Lalec grinsend.
Drancors Augen folgten ihnen. Er lächelte. "Werdet glücklich...", murmelte er und schlief ein...
 

© Arihpas
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