Schicksal
oder:
Warum nichts ewig währen kann von Arihpas

Bran verstummte. Einige Drachen brummten Beifall. "Ich weiß, dass ich nicht einmal ein halb so guter Geschichtenerzähler bin wie Allaran, aber ich hoffe, diese Geschichte hat euch trotzdem gefallen..." Er wandte sich an den violetten Jungdrachen direkt vor ihm. "Und ich hoffe, dir, Larces, hat sie beantwortet, wie du Saradra trotz ihres Todes noch kennengelernt hast."
Der Jungdrache blickte zu Boden. "Jaaaaa..." Man merkte, wie sehr er über den Tod Allarans betrübt war. Plötzlich blickte er auf. "Aber wieso ist mein Vater nicht noch mal zu der Quelle gegangen und hat Saradra noch einmal zurückgeholt? Er hätte alles für sie getan!"
Bran lächelte, wenn auch mit einem erkennbar bitteren Anteil darin. "Das ist eine andere Geschichte."
"Ihr doofen Geschichtenerzähler, ihr immer mit eurem Das ist eine andere Geschichte!"
Bran grinste, offenkundig amüsiert. Er wusste, dass Larces es nicht ernst meinte. `Das Temperament hat er definitiv von seiner Mutter...`, dachte der König der Drachen.
Mittlerweile beobachten alle anwesenden Drachen, die eben noch Bran gelauscht hatten, Larces. Immerhin gehörte er zu den wenigen, die den König duzen und sogar ärgern konnten, ohne sich sofort selbst Ärger einzuhandeln.
Niemand wusste wieso, aber Bran kümmerte sich häufig um Larces, als wäre dieser sein eigener Sohn. Wenn man ihn darauf ansprach, meinte er immer, dass man sich solcher Jungdrachen ohne Eltern eben annehmen müsse und tatsächlich hatte Bran "den Kleinen" schon mehrfach vor dem Verhungern bewahrt.
"Es ist schon spät, wir sollten uns allesamt zur Ruhe legen. Komm, ich bring dich zu deiner Höhle!" Trotz seines geringen Alters hatte niemand Larces überzeugen können, die etwas abgelegen Höhle seiner Eltern zu verlassen.
"Ich finde den Weg auch alleine. Du brauchst mich nicht so zu behandeln, als wäre ich frisch geschlüpft!"
Während die Drachen langsam das Plateau verließen, auf dem Bran seine Geschichte erzählt hatte, senkte dieser den Kopf auf Larces` Augenhöhe und flüsterte ihm etwas zu:
"Entweder ich komm mit oder du musst warten, bis du Allarans letzte Geschichte zu hören bekommst! Ich will sie nur dir erzählen."
Die Augen des kleinen Drachen leuchteten förmlich auf und mit wedelndem Schwanz wartete er auf den Abflug von Bran. Während sie zu der Höhle des Jungdrachens flogen, flog dieser immer um Bran herum. Das tat er immer, wenn er nervös war oder ungeduldig wurde...
Als sie endlich ankamen, stürzte Larces in die Höhle zu seiner Schlafecke, machte es sich bequem und sah den großen, bronzenen Drachen mit erwartungsvollen Augen an. Als sich auch Bran nieder gelassen hatte, drängte ihn der Jungdrache: "Jetzt fang schon an!"
"Nicht so ungeduldig. Wir sind Drachen, wir leben lange, wir haben viel Zeit und Geduld. Oder sollten es zumindest haben." Larces sah beleidigt aus. "Bevor ich anfange, sollst du wissen, dass ich diese Geschichte nicht allen erzählen will, weil ich dort selbst... als `Held` vorkomme... Du bist übrigens auch dabei..."
"Wirklich?" frage Larces erstaunt.
"Hmmm, die Geschichte reicht von der Wiedergeburt Saradras bis zum heutigen Tage. Ich glaub, es fing damit an, dass..."

`Was für eine Ironie`, dachte Lalec mal wieder, während er über den wunderbar grünen Wald flog, auf der Suche nach etwas Essbarem. `Erst lebe ich als Jungdrache im Kummer einer unerfüllten Liebe, dann werde ich durch eben diese für kurze Zeit endlos glücklich und dann vergeht die Liebe und ich lebe 50 Jahre in größter Pein. Und dann kommt sie zurück und nun leben wir schon fast ein Jahrhundert zusammen.` Lalec dachte nach. Es waren genau 97 Jahre, seitdem sich Drancor für Saradras und auch für sein Glück geopfert hatte...
Es schmerzte ihn immer noch daran zu denken, wie sein ehemaliger Erzrivale in weißblauem Rauch verschwand. Aber dann dachte er immer an seine letzten Worte und war froh, ihm diesen letzten Wunsch voll erfüllen zu können: "seid einfach glücklich und denkt hin und wieder an mich..."
Ja, er war glücklich, sicherlich glücklicher, als er es je gewesen war. Er lebte mit Saradra zusammen, ohne Sorge, ohne Kummer, ohne Angst und ohne irgendwelchen Zeitdruck. Drachen lebten ewig, also konnte man das Glück laaaaaange auskosten...
`Es ist einfach nur schön...`, dachte Lalec, während er auf einen großen Hirsch hinabstürzte und ihn schnell und sauber mit einem Biss tötete. Drachen schätzten das Leben und die Natur und so verursachten sie niemals mehr Leid, als unbedingt nötig. Mit mächtigen Flügelschlägen, schließlich war Lalec mittlerweile ein mächtiger, ausgewachsener Drache, flog er zurück zu seiner Höhle. Sie lag etwas weiter abseits von den anderen Höhlen; Saradra und er mochten die Ruhe und sie waren ja noch nah genug, um hin und wieder ein paar Drachen auf der Jagd zu treffen...
Doch als er vor der Höhle, die auf einem, im Vergleich zu anderen, kleinen Berg lag, wusste er, dass etwas nicht stimmte. Saradra begrüßte ihn stets, wenn er wieder von der Jagd kam und sie da war. Und er spürte ihre Anwesenheit, wieso kam sie nicht aus der Höhle? Langsam ging Lalec hinein und erschrak, als aus einer Ecke ein leises Fauchen erklang. Dort lag Saradra zusammengerollt und funkelte ihn bedrohlich an.
Als sie jedoch erkannte, wen sie vor sich hatte, brach das Fauchen sofort ab und wurde durch ein sanftes Brummen ersetzt. Lalec wunderte sich: Saradra war sonst nie so... nervös. Als er jedoch den Grund erkannte, brüllte er leise und legte sich schnell neben sie. Er legte den Hals an den ihren und summte behaglich: Zwischen den Vorderbeinen der Drachin lag ein Ei.

"Bin ich das?", unterbrach Larces den alten Drachen.
"Ja, das bist du, aber hör doch, wie die Geschichte weitergeht..."

Die folgenden Tage verbrachte Lalec eigentlich nur noch in der Höhle bei der brütenden Saradra. Dracheneier schlüpften meist nach wenigen Wochen und so verließ Lalec die Höhle nur noch um für sich und Saradra zu jagen. Er hatte schon lange überlegt, wieso sie noch keinen Nachwuchs bekommen hatten und so hatte er ein paar andere Drachen darauf angesprochen: Es gab ein Gerücht, dass Drachinnen nur dann trächtig wurden, wenn sie es wollten, auch wenn sich niemand, nicht einmal die ältesten Drachen erklären konnten, wieso...
Nun, da der Nachwuchs jedoch da war, interessierte sich Lalec nicht mehr für derartige Gerüchte. Ihn interessierte nur noch, wann sein Junges schlüpfen würde. Und wie es aussehen würde (die Farbe des Eis war da nicht unbedingt ein Hinweis). Und ob es ein männlicher oder ein weiblicher Jungdrache wäre. Und ob... es gab tausend Fragen und so erwartete Lalec voller Ungeduld den Tag, an dem die Schale des Eis aufbrechen würde...

"Ich dachte, Geduld wäre eine Tugend der Drachen?", unterbrach Larces schon wieder.
"Ja, aber es gibt Situationen, wo auch die ältesten Drachen ungeduldig werden. Würdest du nun bitte aufhören mich zu unterbrechen!"
Larces gab ein gemurmeltes "Entschuldigung" von sich und Bran erzählte weiter:

Es waren zwei Jahre vergangen, seitdem ein kleiner violetter Jungdrache, zur Freude seines Vaters ein männlicher, aus dem Ei geschlüpft war. Es hatte einigen Streit um den Namen gegeben, doch dann hatten sich die beiden Drachen auf den Namen "Larces" geeinigt. Mittlerweile war aus dem klitzekleinen Drachenbaby ein kleiner Jungdrache geworden, als ihn sein Vater zum ersten Mal auf die Jagd mitnahm.
Immer wieder zog der Kleine spiralförmig seine Kreise um den großen, rostroten Drachen. Dabei hörte er den Erklärungen seines Vaters über die Jagdmethoden jedoch nur halbherzig zu, dafür genoss er viel zu sehr das Fliegen an sich. Er durfte nicht allein fliegen und so nutzte er jede Möglichkeit ausgiebig.

"Das stimmt doch gar nicht, ich habe sehr wohl jeder Lektion meines Vaters zugehört!", empörte sich Larces.
Bran schien etwas ungehalten. "Würdest du jetzt bitte endlich mal aufhören mich zu unterbrechen, ich erzähle die Geschichte nach dem, was Allaran mir erzählt hat!"
Schuldbewusst zuckte der violette Drache zusammen und lauschte weiter...

Lalec hatte sich vorgenommen, seinen Sohn voller Ehre zu erziehen, ihm die Tugenden der Wahrheit und der Weisheit nahezulegen und ihn zur Höflichkeit zu erziehen. Letzteres gestaltete sich als eher schwierig, denn anscheinend hatte sein Sprössling das Temperament seiner Mutter geerbt.
`Doch heute`, sagte sich Lalec, `werd ich ihm eine der wichtigsten Sachen mit auf den Weg geben.` Sie landeten auf einer Lichtung und mit ernstem Blick und ernster Stimme wandte sich Lalec an seinen Sohn: "Ich habe dir viel beigebracht und dir oft geschildert, wie wichtig die vielen Tugenden sind, doch gibt es einiges, was noch wichtiger ist, als nur immer die Wahrheit zu sagen oder höflich zu sein: Das Wichtigste ist die Ehre. Ein Drache ohne Ehre ist wie... Er ist einfach kein Drache, sondern nur ein geschupptes Wesen, das uns im Entferntesten ähnelt. Trage dies immer in deinem Herzen...
Und merke dir vor allem Eins: Wenn es irgendjemand wagen sollte, auch nur ein schlechtes Wort über Drancor, den vielleicht tapfersten und ehrenhaftesten Drachen, der je gelebt hat, zu sagen, dann beiß ihm solange auf der Kehle rum, bis er seine unbedachte Äußerung winselnd zurücknimmt!
Vielleicht wirst du irgendwann erfahren, wieso ich dies von dir verlange, doch ich bitte dich, dir wenigstens dies für immer zu merken. Ich verdanke Drancor viel, mehr sogar, als mein Leben wert ist, also schütze das Andenken an ihn mit aller Kraft! Ich hoffe auch, dass du das hier für dich behalten kannst. Ich werde es auch niemals jemanden erzählen, ich will nicht, dass sich die anderen Drachen wundern, wieso ich meinen Sohn darin unterweise, das Andenken an meinen alten Erzrivalen zu beschützen..."
"Aber was ist, wenn ihn jemand beleidigt, der tausendmal älter ist als ich?", fragte der Jungdrache.
Lalec lächelte. "Dann merke dir: Die Größe ist unwichtig. Es sind nur der Wille, das reine Herz und die Ehre, die zählen. Ich habe schon Taten vollbracht als ich nur wenig älter war als du. Glaub mir also: deine Größe ist nicht wichtig... außer du hast vor, eine Beute mit deinem Gewicht niederzuwerfen! Dabei musst du aber auch beachten..." und so gingen die Lektionen um die Jagd wieder weiter.

"Woher weißt du so genau die Worte, die mein Vater vor vier Jahren gesagt hat? Woher wusste es Allaran? Mein Vater versprach mir, niemals etwas zu sagen und Allaran meinte, er hätte sein Versprechen nicht gebrochen. Wie kann das sein?!" Larces war aufgestanden.
Vielleicht hätte sich auch Bran aufregen sollen, schließlich war er gerade schon wieder unterbrochen worden, doch er sah ein, dass Larces ja auch einen guten Grund hatte. Vielleicht war es Zeit, das Geheimnis zu lüften...
"Ich will dir deine Frage beantworten, aber zuerst möchte ich eine Antwort: Würde dein Vater das, was er damals zu dir gesagt hat, jemals vergessen?"
"Natürlich nicht! Er meinte später, das wäre eine der wichtigsten Sachen gewesen, die er je zu mir gesagt hat!"
"Dann denke nach, wie es Allaran wissen konnte, obwohl es Lalec niemals irgendjemanden gesagt hat... bis vor kurzem mir..."
Larces dachte nach. Sein Vater hatte vor kurzem mit Bran gesprochen? Er war hier gewesen? Wieso hatte er sich nicht gezeigt? Wieso wollte er nicht mit seinem Sohn sprechen? Oder... hat er es vielleicht? Eine Idee keimte in den Gedanken des Jungdrachen: War es vielleicht möglich, dass... Nein! Das konnte nicht sein! Sein Blick fiel auf Brans Augen. Es war tatsächlich so!
"Allaran? Allaran war mein VATER!!!" platzte es aus Larces heraus.
Bran schmunzelte. "Ich hatte mich schon gewundert, wieso du ihn nicht sofort erkannt hast. Sein Schuppen hatten sich zwar verändert, aber sogar seine Stimme war noch die alte..."
Aber wenn Lalec Allaran gewesen war und dieser nun gestorben war, dann...
Larces brach in Schluchzen aus und verbarg seinen Kopf unter seinen Pranken. "Er... er... er war direkt vor mir. Und ich... ich schnauzte ihn auch noch an, er solle mir alle Geschichten erzählen. `Ich will euch glauben, aber ich erwarte, die ganze Geschichte zu hören...`, das waren meine letzten Worte zu meinem sterbenden Vater! Wie konnte ich ihn nur nicht erkennen! Ich hätte so gern noch einmal mit ihm gesprochen!"
Bran sah den kleinen Drachen mitleidig an. "Er fürchtete sich... vor dir. Er wollte nicht, dass du ihn erkennst, weil er fürchtete, du würdest wütend sein oder ihn vielleicht sogar für den Tod deiner Mutter verantwortlich machen. Auch wollte er nicht, dass du ihn in einer so erbärmlichen Lage siehst."
"Erbärmlich?" Larces fuhr hoch. "ERBÄRMLICH! MEIN VATER WAR NIEMALS IN EINER ERBÄRMLICHEN LAGE, ER WAR DER STÄRKSTE DRACHE ÜBERHAUPT, NOCH VIEL STÄRKER ALS DU!!!"
Bran versuchte Larces zu beruhigen: "Tut mir Leid, ich habe meine Worte falsch gewählt. Er wollte nicht, dass du ihn sterben siehst. Und dann auch noch an der Schuppenfäule..."
"Was ist eigentlich diese blöde `Schuppenfäule`, immer reden alle davon, aber niemand will es mir erklären!"
Bran blickte zu Boden. "Wir Drachen reden nun einmal nicht gerne über den Tod, besonders nicht, weil wir ja eigentlich unsterblich sind..."
"Falsch! Wir Drachen SIND unsterblich, wir leiden nicht am Alter, nicht an Krankheit und selbst Gifte können uns nur wenig anhaben. Nur Naturgewalten und andere Wesen können uns töten... oder sowas zumindest versuchen..."
Bran nickte, sah aber immer noch zu Boden. "Eigentlich hast du Recht, aber es gibt Dinge, gegen die auch wir Drachen nicht gefeit sind: Kummer und Leid. Ein Drache, der nur noch in einer Welt aus Kummer und Qual lebt, verliert seinen Willen zu Leben. Und jeder Drache, der in einen solchen Zustand verfällt, wird immer bleicher, schwächer und stirbt zuletzt. Das nennen wir Schuppenfäule..."
"Willst du etwas behaupten, meine Vater hätte nicht mehr leben wollen? Das kann nicht sein, er hätte mich nie allein gelassen!" Doch trotz dieser Worte stiegen wieder Tränen in die Augen des Drachens.
"Er hat es mir sogar selbst gesagt... Vielleicht bist du noch zu jung, um es zu verstehen, aber als deine Mutter starb, wurde auch das Todesurteil deines Vaters unterschrieben. Es war ein Wunder, dass er erst drei Jahre nach ihrem Tod gestorben ist..."
Larces sah stumm weinend zu Boden.
"Du weißt doch, was ich vorhin erzählt habe, wie sich dein Vater fühlte, nachdem Saradra gestorben ist. Er wollte sich nie wieder so fühlen, vor allem nicht, weil er wusste, dass sie nie mehr zurückkommen würde. Er wählte einen schnellen Tod, auch wenn er drei Jahre brauchte, um sich dazu durchzuringen, einfach mit dem Leben abzuschließen. Vorher wollte er jedoch noch einmal seinen Sohn sehen und seine Geschichte erzählen..."
Larces blickte wieder auf. "Du hast gesagt, `weil er wusste, dass sie nie mehr zurückkommen würde`. Wieso ging er nicht wieder zu der Quelle? Er hätte doch sein Leben gegen ihres austauschen können? Und wo kamst jetzt du in dieser Geschichte vor?"
"Überleg mal, was es bewirkt hätte, wenn er mit Saradra getauscht hätte: Dann müsste sie an seiner Stelle leiden, meinst du, er hätte so etwas gewollt? Aber trotzdem: Er ging zur Quelle zurück! Und zwar als..."

Lalec machte sich große Sorgen. Seit Neuestem lehnte Saradra seine Beute nicht mehr ab, obwohl sie stets dagegen gewesen war, dass er seine Beute mit ihr teilte. Nur als sie brütete hatte sie dies zugelassen. Und jetzt...
Es entging Lalec nicht, dass sie immer seltener und immer kürzer die Höhle verließ. Sie wirkte krank und schwach und schließlich wollte sie nur noch Liegen und Schlafen. Lalec bekam Angst um das, was geschah. Drachen konnten nicht krank sein, ein Gift hätte niemals so eine Wirkung auf einen Drachen und sonst gab es auch nichts, was Saradras Verhalten erklären konnte. So sehr er auch bemüht war, sich vor seinem bald dreijärigen Sohn nichts anmerken zu lassen, so fiel diesem auch bald auf, dass mit seiner Mutter etwas nicht stimmte.
Spätestens als mehrere der alten Drachen zu ihr kamen, bestätigte sich der Verdacht des Jungdrachen. Und auch der Verdacht Lalecs: Saradra litt, als ob sie die Schuppenfäule hätte, doch konnte dies nicht sein; ihre Schuppen waren immer noch reinblau und sie war auch nicht unglücklich gewesen. Lalec war ratlos. Bis er daran dachte, das Saradra ja eigentlich schon tot gewesen wäre und ihre Lebenskraft aus der glänzenden Quelle zog. War etwas mit der Quelle? Lalec wollte los und begegnete kurz nach seinem Abflug Bran, der inzwischen zum König der Drachen geworden war.
Eigentlich wollte Lalec alleine weiter, doch Bran wusste um Lalecs Geheimnis und war nicht davon abzubringen, ihn zu begleiten. Und so flogen die Drachen, in einem Tempo, das eigentlich unmöglich hoch schien, schließlich zählte vielleicht jede Sekunde...
Und so kamen sie nach wenigen Tagen Flug bei der Höhle an, die tief ins Innere des Berges führte. Hastig stürmte Lalec durch die Gänge und vergaß in der großen Kammer fast, wer ihn dort erwarten würde: doch die Gargoyles taten ihre Pflicht und bauten sich furchterregend um die Drachen herum auf. Doch Lalec verbeugte sich nur und hieß Bran es ihm gleichzutun. Schon zogen sich die meisten Gargoyles zurück, um ihre Posten als steinerne Wächter aufzunehmen, während ihr Ältester, ein uraltes dunkelgraues Wesen, zum Ende der Kammer schlurfte und wie schon damals die Felswand mit einer leichten Berührung verschwinden ließ.
Weiter stapften die Drachen die gewundenen Gänge entlang, auch an dem Bach mit dem manchmal heilenden, manchmal normalen Wasser machten sie nicht Halt. So kamen sie schnell zu der großen Kammer mit der von Marmormauern umschlossenen, glänzenden Quelle.
Lalec trat vor den Spiegel. Er war leer. Brüllend erhob er die Stimme und rief: "Wo bist du, antworte!"
Wie schon damals erklang auch jetzt wieder die körperlose Stimme: "Was führt euch her?"
"Drancor gab sein Leben, damit Saradra ihr Leben zurückerhielte, doch nun stirbt sie, ohne dass es dafür eine Ursache gibt. Wieso?"
"Das ist das Gesetz dieses Ortes: Ein Leben wird genommen, ein Leben wird gegeben."
"Aber wieso stirbt sie dann? War Drancors Leben nicht genug?" Lalec wurde zornig.
"Du verstehst nicht: Ein Leben wurde genommen. Drancor starb. Jedoch wurde Saradra nicht sein Leben, sondern ein Leben gegeben. Dieser Ort wurde einst von einem mächtigen Magierzirkel erschaffen, der auch die Macht über das Reich der Toten besaß. Seine Mitglieder legten jedoch auch die Regeln dieses Ortes fest: Jemand gibt sein Leben, damit jemand anderes von den Toten zurückkehrt."
Es gab eine kurze Pause. "Jedoch nur für die Dauer eines Lebens. Eines... Menschenlebens. Wer von hier wieder aufersteht lebt wieder ein Leben, 100 Jahre in Zahlen."
"Aber das ist nicht gerecht. Drancor war ein Drache, er hätte ewig gelebt, deutlich länger als 100 Jahre!"
"Das ist das Gesetz dieses Ortes: Ein Leben wird genommen, ein Leben wird gegeben..."
Lalec ließ ein zorniges Brüllen hören. "Ich werde nicht zulassen, dass sie stirbt, nicht noch einmal. Und wenn ich bis ans Ende dieser Welt und darüber hinaus reisen muss!!!"
Doch es kam keine Antwort, die Quelle blieb stumm.
Lalec fragte sich grad, ob es wohl etwas bringen würde, wenn er rasend die Marmormauern einreißen würde, doch da kam Bran heran: "Du sagst, Saradra leidet, als ob sie an der Schuppenfäule erkrankt wäre. Es gibt in dem Berg, auf dem auch der Ratsfelsen liegt, eine geheime Höhle. Dort wächst ein magisches Kraut, das in der Lage ist, die Schuppenfäule zu heilen." Er zögerte. "Dies ist auch der Grund, weshalb der Rat sich entschlossen hat, es geheim zu halten: kein Drache soll gegen seinen Willen weiter leiden. Doch es ist wohl deutlich, dass Saradra gar nicht sterben will und so sehe ich keinen Grund, das Kraut nicht zu ihrer Heilung zu nutzen..."
Lalec sah Bran aus großen Augen an. "Du meinst... es gibt noch Hoffnung?"
Bran nickte kurz und meinte: "Ich weiß nicht, wie das Kraut genau wirkt, aber vielleicht würde es Saradra helfen..."
"Worauf warten wir...", hörte Bran Lalec noch rufen, während dieser bereits in den Tunnel zurückstürmte...
Als die Drachen gegangen waren, hörte man ein Seufzen aus dem Spiegel. "Er will es einfach nicht einsehen... Naja, bald wird er es verstehen..."

"Ha! Du hast gelogen! Wie willst du denn von meinem Vater wissen, dass jemand etwas gesagt hat, nachdem er schon selbst weggegangen war?" rief Larces dazwischen.
Bran lachte. "Ich gebe zu, ob das tatsächlich passiert ist, weiß wohl niemand. Jedoch bin ich der Meinung, zu einer guten Geschichte gehört dieser Teil. Immerhin soll sie ja auch noch lange weitererzählt werden und du musst zugeben, dass dieser Satz viel Spannung aufbaut..."
"Wenn du meinst...", seufzte Larces und verdrehte die Augen. "Aber bitte bleibe jetzt bei der Wahrheit... bei der ganzen!"
Bran schmunzelte kurz und erzählte weiter...

Ohne auch nur einmal Halt zu machen, flogen die beiden Drachen übers Land. Lalec wollte es nicht zugeben, doch innerlich spürte er eine Eile, die ihn immer weiter antrieb. Er wusste, dass die Zeit gegen ihn lief. Ihm war vollkommen egal, ob seine Flügel bereits wegen der Belastung protestierten, ihm war vollkommen egal, dass der Hunger bereits in ihm brannte, er wollte nur noch zu dieser Höhle! Und dann wieder zurück...
Trotz dieser Eile brauchten sie ganze vier Tage, um am Ratsfelsen anzukommen. Lalec war noch nie da gewesen und so kam er trotz seiner Eile nicht umhin, die Erhabenheit des Ortes zu bewundern: Ein gigantischer, in den Wolken verschwindender Berg. Bran übernahm nun die Führung, da die Lage der Höhle nur dem Rat und dem König bekannt war. Nachdem sie den Berg halb umrundet hatten, bog Bran plötzlich scharf nach unten ab und als Lalec ihm folgte, konnte er eine kleine Öffnung in der massiven Felswand erkennen.
Als sie sich näherten wurde immer deutlicher, dass die Höhle nur aus der Entfernung klein wirkte, tatsächlich war sie groß genug, sogar die alten Drachen des Rates hätten sie betreten können. Bran landete und ging in die Höhle, die schon nach wenigen dutzend Metern in einer kleinen Kaverne endete. Überall, an den Wänden, an der Decke, an den Stalaktiten und Stalagmiten wuchs ein seltsames Kraut, das irgendwie zu leuchten schien.
Bran trat an einen Stein heran und riss mit seinem Maul einen Strang Pflanzen ab und reichte ihn Lalec. Als sich Lalecs Fänge um die Pflanze schlossen, roch er, dass sie irgendwie dufteten. Er konnte schwören, diesen Duft zu kennen. Plötzlich fiel ihm ein, wo er ihn schon einmal bemerkt hatte: der Bach, der von der glänzenden Quelle durch den Berg floss, hatte genauso gerochen.
Doch irgendwie schienen die Blätter der Pflanze bitter zu schmecken. Doch Lalec zwang sich, sein Maul nicht zu öffnen. Und wenn die Pflanzen noch tausendmal so scheußlich schmeckten, Saradra brauchte sie!
Innerhalb weniger Stunden kamen die Drachen bei Lalecs Höhle an und als sie Girdrar und dessen Gesichtsausdruck sahen, wäre Lalec fast das Herz stehen geblieben. Doch der alte Drache teilte ihnen mit, dass Saradra noch nicht tot sei. "Allerdings glaub ich nicht, dass sie die heutige Nacht überstehen wird. Es tut mir Leid, Lalec..."
Lalec ignorierte ihn, obwohl sich Girdrars Ratschläge eigentlich immer als richtig herausgestellt hatten. `Vielleicht irrt er sich ja, er muss sich irren, Saradra wird wieder gesund...` Lalec stupste ihre Schnauze an. Sie rührte sich etwas. Er legte das Kraut vor ihre Schnauze und flüsterte: "Ich habe dir etwas mitgebracht. Es schmeckt zwar grässlich, aber riech doch mal dran!"
Ihre Nüstern schnaubten kurz und er sah, wie sie versuchte, die Pflanze mit der Zunge zu berühren. Er schob sie ihr direkt vors Maul.
Sie schien erst nicht in der Lage, auch nur den Kopf zu bewegen, doch anscheinend reichte schon der Geruch der Wunderpflanze, um ihr die Kraft zu geben, sie ins Maul zu nehmen. Sie zuckte kurz zusammen, als ihre Zunge das bittere Aroma zu spüren bekam, doch schließlich schluckte sie...
Die Minuten vergingen und da: Saradra regte sich. Sie öffnete ihre Augen. "Es war... wie ein Traum... so viel Licht... die Quelle... sie rief meinen Namen." Sie wollte sich aufrichten, doch es gelang ihr nicht. Sie schloss ihre Augen wieder. "Es ist seltsam", sagte sie, nun mit einer festeren Stimme. "Ich spüre meinen Körper wieder und doch kann ich ihn nicht bewegen..."
Sie reckte den Hals und leckte Lalec über die Schnauze. Er sah Tränen in ihren Augen. "Es tut mir leid... Meine Zeit ist gekommen. Auch wenn mein Körper wieder vor Kraft strotzt, spüre ich, dass ich nur noch wenig Leben in mir habe..." Sie sah Lalec an.
Er wollte etwas sagen, ihr sagen, dass sie gesund werden würde, doch kein Laut kam über seine Lippen: Er wusste, dass es gelogen wäre.
"Wo ist Larces?"
Lalec schluckte und antwortete leise: "Bei Irdrun... Ich wollte nicht, dass er dich so sieht, dich.... sterben sieht..."
Saradra lächelte. Sie lächelte so, wie sie ihn immer schon angelächelt hatte. Man hätte meinen können, sie wäre vollkommen gesund, doch niemand glaubte der Illusion.
"Ich werde dich nie wiedersehen, oder?" brachte Lalec nun endlich heraus. Auch über seine Schnauze liefen die Tränen.
"Wie kommst du denn darauf? Natürlich werden wir uns wiedersehen! Gleich hinter dem Marmorbogen..." Sie lächelte immer noch. Auf einmal zuckte sie zusammen. "Es ist Zeit... Leb wohl, Bran. Auch dir sag ich Leb wohl, Girdrar. Bitte richtet Larces aus, wie sehr ich ihn liebe. Er soll bloß so weiterwachsen und dann einmal in dieser Höhle leben..." Sie wandte sich an Lalec. "Zu dir sag ich nichts weiter als: bis gleich... Zeit ist nichts für uns Drachen..." Sie schloss ihre Augen.
Lalec wusste, dass es unvermeidlich war. Er legte sich neben sie, bedeckte sie mit einem seiner Flügel, legte seinen Kopf ganz nah an den ihren und hauchte ihr etwas ins Ohr: "Bis gleich..." Mit einen Mal erlosch das Pochen, das Lalec eben noch durch seinen Flügel gespürt hatte: Saradras Herz war still. Sie war fort... für immer...

Larces weinte wieder. Jedoch waren seine Tränen stumm. "Ich wäre gerne dabei gewesen... Ich hätte mich so gerne von ihr verabschiedet..."
Bran sah ihn gutmütig an. "Bei all deiner Trauer solltest du aber nicht vergessen, dass du auch ein Leben zu führen hast. Du solltest nicht nur um sie trauern, sondern dich über dein Leben freuen. Das wäre auch das, was sie gewollt hätten..."
Larces nickte. Zwar fühlte er den Schmerz, doch irgendwie schien sich die Lücke in seinem Herzen, die seine Eltern hinterlassen hatten, wieder geschlossen zu haben. Er wollte nicht mehr weinen, er wollte leben. Er wollte das Erbe zweier, nein dreier Drachen weiter fortragen, auf dass die gesamte Welt von ihnen hören möge: von Lalec, dem Tapferen, Saradra, der Schönen, und Drancor, dem Ehrhaften!

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Es war hell. Überall war nur Licht. Er schien zu schweben. Doch da war etwas. Eine Stimme. Nein, es waren zwei. "Ich sagte doch: bis gleich..."
"Hast ja lange durchgehalten. Ich hoffe ich konnte dir 100 glückliche Jahre schenken..."
Lalec öffnete seine Augen. Er lag auf einer Wiese. Und vor ihm: Saradra und Drancor. Lalec sprang auf. Hatte er nicht eben noch mit Bran geredet, war er nicht eben noch tödlich schwach gewesen?
Er sah an sich hinunter. Seine Schuppen schimmerten wieder in einem satten Rostrot. Er sah sich um. Sie waren in einem traumhaften Tal: weiche, grüne Wiesen, große, von der Sonne leuchtend gemachte Berge, kristallklare Quellen und Bäche, ein großer Wald und darin umherspringendes Wild ohne Ende. Lalec lächelte. Es war alles so deutlich und doch so unwirklich... es war... wie im Paradies...
 

© Arihpas
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