Bran verstummte. Einige Drachen brummten Beifall.
"Ich weiß, dass ich nicht einmal ein halb so guter Geschichtenerzähler
bin wie Allaran, aber ich hoffe, diese Geschichte hat euch trotzdem gefallen..."
Er wandte sich an den violetten Jungdrachen direkt vor ihm. "Und ich hoffe,
dir, Larces, hat sie beantwortet, wie du Saradra trotz ihres Todes noch
kennengelernt hast."
Der Jungdrache blickte zu Boden. "Jaaaaa..."
Man merkte, wie sehr er über den Tod Allarans betrübt war. Plötzlich
blickte er auf. "Aber wieso ist mein Vater nicht noch mal zu der Quelle
gegangen und hat Saradra noch einmal zurückgeholt? Er hätte alles
für sie getan!"
Bran lächelte, wenn auch mit einem erkennbar
bitteren Anteil darin. "Das ist eine andere Geschichte."
"Ihr doofen Geschichtenerzähler, ihr
immer mit eurem Das ist eine andere Geschichte!"
Bran grinste, offenkundig amüsiert. Er
wusste, dass Larces es nicht ernst meinte. `Das Temperament hat er definitiv
von seiner Mutter...`, dachte der König der Drachen.
Mittlerweile beobachten alle anwesenden Drachen,
die eben noch Bran gelauscht hatten, Larces. Immerhin gehörte er zu
den wenigen, die den König duzen und sogar ärgern konnten, ohne
sich sofort selbst Ärger einzuhandeln.
Niemand wusste wieso, aber Bran kümmerte
sich häufig um Larces, als wäre dieser sein eigener Sohn. Wenn
man ihn darauf ansprach, meinte er immer, dass man sich solcher Jungdrachen
ohne Eltern eben annehmen müsse und tatsächlich hatte Bran "den
Kleinen" schon mehrfach vor dem Verhungern bewahrt.
"Es ist schon spät, wir sollten uns allesamt
zur Ruhe legen. Komm, ich bring dich zu deiner Höhle!" Trotz seines
geringen Alters hatte niemand Larces überzeugen können, die etwas
abgelegen Höhle seiner Eltern zu verlassen.
"Ich finde den Weg auch alleine. Du brauchst
mich nicht so zu behandeln, als wäre ich frisch geschlüpft!"
Während die Drachen langsam das Plateau
verließen, auf dem Bran seine Geschichte erzählt hatte, senkte
dieser den Kopf auf Larces` Augenhöhe und flüsterte ihm etwas
zu:
"Entweder ich komm mit oder du musst warten,
bis du Allarans letzte Geschichte zu hören bekommst! Ich will sie
nur dir erzählen."
Die Augen des kleinen Drachen leuchteten förmlich
auf und mit wedelndem Schwanz wartete er auf den Abflug von Bran. Während
sie zu der Höhle des Jungdrachens flogen, flog dieser immer um Bran
herum. Das tat er immer, wenn er nervös war oder ungeduldig wurde...
Als sie endlich ankamen, stürzte Larces
in die Höhle zu seiner Schlafecke, machte es sich bequem und sah den
großen, bronzenen Drachen mit erwartungsvollen Augen an. Als sich
auch Bran nieder gelassen hatte, drängte ihn der Jungdrache: "Jetzt
fang schon an!"
"Nicht so ungeduldig. Wir sind Drachen, wir
leben lange, wir haben viel Zeit und Geduld. Oder sollten es zumindest
haben." Larces sah beleidigt aus. "Bevor ich anfange, sollst du wissen,
dass ich diese Geschichte nicht allen erzählen will, weil ich dort
selbst... als `Held` vorkomme... Du bist übrigens auch dabei..."
"Wirklich?" frage Larces erstaunt.
"Hmmm, die Geschichte reicht von der Wiedergeburt
Saradras bis zum heutigen Tage. Ich glaub, es fing damit an, dass..."
`Was für eine Ironie`, dachte Lalec mal
wieder, während er über den wunderbar grünen Wald flog,
auf der Suche nach etwas Essbarem. `Erst lebe ich als Jungdrache im Kummer
einer unerfüllten Liebe, dann werde ich durch eben diese für
kurze Zeit endlos glücklich und dann vergeht die Liebe und ich lebe
50 Jahre in größter Pein. Und dann kommt sie zurück und
nun leben wir schon fast ein Jahrhundert zusammen.` Lalec dachte nach.
Es waren genau 97 Jahre, seitdem sich Drancor für Saradras und auch
für sein Glück geopfert hatte...
Es schmerzte ihn immer noch daran zu denken,
wie sein ehemaliger Erzrivale in weißblauem Rauch verschwand. Aber
dann dachte er immer an seine letzten Worte und war froh, ihm diesen letzten
Wunsch voll erfüllen zu können: "seid einfach glücklich
und denkt hin und wieder an mich..."
Ja, er war glücklich, sicherlich glücklicher,
als er es je gewesen war. Er lebte mit Saradra zusammen, ohne Sorge, ohne
Kummer, ohne Angst und ohne irgendwelchen Zeitdruck. Drachen lebten ewig,
also konnte man das Glück laaaaaange auskosten...
`Es ist einfach nur schön...`, dachte
Lalec, während er auf einen großen Hirsch hinabstürzte
und ihn schnell und sauber mit einem Biss tötete. Drachen schätzten
das Leben und die Natur und so verursachten sie niemals mehr Leid, als
unbedingt nötig. Mit mächtigen Flügelschlägen, schließlich
war Lalec mittlerweile ein mächtiger, ausgewachsener Drache, flog
er zurück zu seiner Höhle. Sie lag etwas weiter abseits von den
anderen Höhlen; Saradra und er mochten die Ruhe und sie waren ja noch
nah genug, um hin und wieder ein paar Drachen auf der Jagd zu treffen...
Doch als er vor der Höhle, die auf einem,
im Vergleich zu anderen, kleinen Berg lag, wusste er, dass etwas nicht
stimmte. Saradra begrüßte ihn stets, wenn er wieder von der
Jagd kam und sie da war. Und er spürte ihre Anwesenheit, wieso kam
sie nicht aus der Höhle? Langsam ging Lalec hinein und erschrak, als
aus einer Ecke ein leises Fauchen erklang. Dort lag Saradra zusammengerollt
und funkelte ihn bedrohlich an.
Als sie jedoch erkannte, wen sie vor sich
hatte, brach das Fauchen sofort ab und wurde durch ein sanftes Brummen
ersetzt. Lalec wunderte sich: Saradra war sonst nie so... nervös.
Als er jedoch den Grund erkannte, brüllte er leise und legte sich
schnell neben sie. Er legte den Hals an den ihren und summte behaglich:
Zwischen den Vorderbeinen der Drachin lag ein Ei.
"Bin ich das?", unterbrach Larces den alten
Drachen.
"Ja, das bist du, aber hör doch, wie
die Geschichte weitergeht..."
Die folgenden Tage verbrachte Lalec eigentlich
nur noch in der Höhle bei der brütenden Saradra. Dracheneier
schlüpften meist nach wenigen Wochen und so verließ Lalec die
Höhle nur noch um für sich und Saradra zu jagen. Er hatte schon
lange überlegt, wieso sie noch keinen Nachwuchs bekommen hatten und
so hatte er ein paar andere Drachen darauf angesprochen: Es gab ein Gerücht,
dass Drachinnen nur dann trächtig wurden, wenn sie es wollten, auch
wenn sich niemand, nicht einmal die ältesten Drachen erklären
konnten, wieso...
Nun, da der Nachwuchs jedoch da war, interessierte
sich Lalec nicht mehr für derartige Gerüchte. Ihn interessierte
nur noch, wann sein Junges schlüpfen würde. Und wie es aussehen
würde (die Farbe des Eis war da nicht unbedingt ein Hinweis). Und
ob es ein männlicher oder ein weiblicher Jungdrache wäre. Und
ob... es gab tausend Fragen und so erwartete Lalec voller Ungeduld den
Tag, an dem die Schale des Eis aufbrechen würde...
"Ich dachte, Geduld wäre eine Tugend der
Drachen?", unterbrach Larces schon wieder.
"Ja, aber es gibt Situationen, wo auch die
ältesten Drachen ungeduldig werden. Würdest du nun bitte aufhören
mich zu unterbrechen!"
Larces gab ein gemurmeltes "Entschuldigung"
von sich und Bran erzählte weiter:
Es waren zwei Jahre vergangen, seitdem ein
kleiner violetter Jungdrache, zur Freude seines Vaters ein männlicher,
aus dem Ei geschlüpft war. Es hatte einigen Streit um den Namen gegeben,
doch dann hatten sich die beiden Drachen auf den Namen "Larces" geeinigt.
Mittlerweile war aus dem klitzekleinen Drachenbaby ein kleiner Jungdrache
geworden, als ihn sein Vater zum ersten Mal auf die Jagd mitnahm.
Immer wieder zog der Kleine spiralförmig
seine Kreise um den großen, rostroten Drachen. Dabei hörte er
den Erklärungen seines Vaters über die Jagdmethoden jedoch nur
halbherzig zu, dafür genoss er viel zu sehr das Fliegen an sich. Er
durfte nicht allein fliegen und so nutzte er jede Möglichkeit ausgiebig.
"Das stimmt doch gar nicht, ich habe sehr wohl
jeder Lektion meines Vaters zugehört!", empörte sich Larces.
Bran schien etwas ungehalten. "Würdest
du jetzt bitte endlich mal aufhören mich zu unterbrechen, ich erzähle
die Geschichte nach dem, was Allaran mir erzählt hat!"
Schuldbewusst zuckte der violette Drache zusammen
und lauschte weiter...
Lalec hatte sich vorgenommen, seinen Sohn voller
Ehre zu erziehen, ihm die Tugenden der Wahrheit und der Weisheit nahezulegen
und ihn zur Höflichkeit zu erziehen. Letzteres gestaltete sich als
eher schwierig, denn anscheinend hatte sein Sprössling das Temperament
seiner Mutter geerbt.
`Doch heute`, sagte sich Lalec, `werd ich
ihm eine der wichtigsten Sachen mit auf den Weg geben.` Sie landeten auf
einer Lichtung und mit ernstem Blick und ernster Stimme wandte sich Lalec
an seinen Sohn: "Ich habe dir viel beigebracht und dir oft geschildert,
wie wichtig die vielen Tugenden sind, doch gibt es einiges, was noch wichtiger
ist, als nur immer die Wahrheit zu sagen oder höflich zu sein: Das
Wichtigste ist die Ehre. Ein Drache ohne Ehre ist wie... Er ist einfach
kein Drache, sondern nur ein geschupptes Wesen, das uns im Entferntesten
ähnelt. Trage dies immer in deinem Herzen...
Und merke dir vor allem Eins: Wenn es irgendjemand
wagen sollte, auch nur ein schlechtes Wort über Drancor, den vielleicht
tapfersten und ehrenhaftesten Drachen, der je gelebt hat, zu sagen, dann
beiß ihm solange auf der Kehle rum, bis er seine unbedachte Äußerung
winselnd zurücknimmt!
Vielleicht wirst du irgendwann erfahren, wieso
ich dies von dir verlange, doch ich bitte dich, dir wenigstens dies für
immer zu merken. Ich verdanke Drancor viel, mehr sogar, als mein Leben
wert ist, also schütze das Andenken an ihn mit aller Kraft! Ich hoffe
auch, dass du das hier für dich behalten kannst. Ich werde es auch
niemals jemanden erzählen, ich will nicht, dass sich die anderen Drachen
wundern, wieso ich meinen Sohn darin unterweise, das Andenken an meinen
alten Erzrivalen zu beschützen..."
"Aber was ist, wenn ihn jemand beleidigt,
der tausendmal älter ist als ich?", fragte der Jungdrache.
Lalec lächelte. "Dann merke dir: Die
Größe ist unwichtig. Es sind nur der Wille, das reine Herz und
die Ehre, die zählen. Ich habe schon Taten vollbracht als ich nur
wenig älter war als du. Glaub mir also: deine Größe ist
nicht wichtig... außer du hast vor, eine Beute mit deinem Gewicht
niederzuwerfen! Dabei musst du aber auch beachten..." und so gingen die
Lektionen um die Jagd wieder weiter.
"Woher weißt du so genau die Worte, die
mein Vater vor vier Jahren gesagt hat? Woher wusste es Allaran? Mein Vater
versprach mir, niemals etwas zu sagen und Allaran meinte, er hätte
sein Versprechen nicht gebrochen. Wie kann das sein?!" Larces war aufgestanden.
Vielleicht hätte sich auch Bran aufregen
sollen, schließlich war er gerade schon wieder unterbrochen worden,
doch er sah ein, dass Larces ja auch einen guten Grund hatte. Vielleicht
war es Zeit, das Geheimnis zu lüften...
"Ich will dir deine Frage beantworten, aber
zuerst möchte ich eine Antwort: Würde dein Vater das, was er
damals zu dir gesagt hat, jemals vergessen?"
"Natürlich nicht! Er meinte später,
das wäre eine der wichtigsten Sachen gewesen, die er je zu mir gesagt
hat!"
"Dann denke nach, wie es Allaran wissen konnte,
obwohl es Lalec niemals irgendjemanden gesagt hat... bis vor kurzem mir..."
Larces dachte nach. Sein Vater hatte vor kurzem
mit Bran gesprochen? Er war hier gewesen? Wieso hatte er sich nicht gezeigt?
Wieso wollte er nicht mit seinem Sohn sprechen? Oder... hat er es vielleicht?
Eine Idee keimte in den Gedanken des Jungdrachen: War es vielleicht möglich,
dass... Nein! Das konnte nicht sein! Sein Blick fiel auf Brans Augen. Es
war tatsächlich so!
"Allaran? Allaran war mein VATER!!!" platzte
es aus Larces heraus.
Bran schmunzelte. "Ich hatte mich schon gewundert,
wieso du ihn nicht sofort erkannt hast. Sein Schuppen hatten sich zwar
verändert, aber sogar seine Stimme war noch die alte..."
Aber wenn Lalec Allaran gewesen war und dieser
nun gestorben war, dann...
Larces brach in Schluchzen aus und verbarg
seinen Kopf unter seinen Pranken. "Er... er... er war direkt vor mir. Und
ich... ich schnauzte ihn auch noch an, er solle mir alle Geschichten erzählen.
`Ich will euch glauben, aber ich erwarte, die ganze Geschichte zu hören...`,
das waren meine letzten Worte zu meinem sterbenden Vater! Wie konnte ich
ihn nur nicht erkennen! Ich hätte so gern noch einmal mit ihm gesprochen!"
Bran sah den kleinen Drachen mitleidig an.
"Er fürchtete sich... vor dir. Er wollte nicht, dass du ihn erkennst,
weil er fürchtete, du würdest wütend sein oder ihn vielleicht
sogar für den Tod deiner Mutter verantwortlich machen. Auch wollte
er nicht, dass du ihn in einer so erbärmlichen Lage siehst."
"Erbärmlich?" Larces fuhr hoch. "ERBÄRMLICH!
MEIN VATER WAR NIEMALS IN EINER ERBÄRMLICHEN LAGE, ER WAR DER STÄRKSTE
DRACHE ÜBERHAUPT, NOCH VIEL STÄRKER ALS DU!!!"
Bran versuchte Larces zu beruhigen: "Tut mir
Leid, ich habe meine Worte falsch gewählt. Er wollte nicht, dass du
ihn sterben siehst. Und dann auch noch an der Schuppenfäule..."
"Was ist eigentlich diese blöde `Schuppenfäule`,
immer reden alle davon, aber niemand will es mir erklären!"
Bran blickte zu Boden. "Wir Drachen reden
nun einmal nicht gerne über den Tod, besonders nicht, weil wir ja
eigentlich unsterblich sind..."
"Falsch! Wir Drachen SIND unsterblich, wir
leiden nicht am Alter, nicht an Krankheit und selbst Gifte können
uns nur wenig anhaben. Nur Naturgewalten und andere Wesen können uns
töten... oder sowas zumindest versuchen..."
Bran nickte, sah aber immer noch zu Boden.
"Eigentlich hast du Recht, aber es gibt Dinge, gegen die auch wir Drachen
nicht gefeit sind: Kummer und Leid. Ein Drache, der nur noch in einer Welt
aus Kummer und Qual lebt, verliert seinen Willen zu Leben. Und jeder Drache,
der in einen solchen Zustand verfällt, wird immer bleicher, schwächer
und stirbt zuletzt. Das nennen wir Schuppenfäule..."
"Willst du etwas behaupten, meine Vater hätte
nicht mehr leben wollen? Das kann nicht sein, er hätte mich nie allein
gelassen!" Doch trotz dieser Worte stiegen wieder Tränen in die Augen
des Drachens.
"Er hat es mir sogar selbst gesagt... Vielleicht
bist du noch zu jung, um es zu verstehen, aber als deine Mutter starb,
wurde auch das Todesurteil deines Vaters unterschrieben. Es war ein Wunder,
dass er erst drei Jahre nach ihrem Tod gestorben ist..."
Larces sah stumm weinend zu Boden.
"Du weißt doch, was ich vorhin erzählt
habe, wie sich dein Vater fühlte, nachdem Saradra gestorben ist. Er
wollte sich nie wieder so fühlen, vor allem nicht, weil er wusste,
dass sie nie mehr zurückkommen würde. Er wählte einen schnellen
Tod, auch wenn er drei Jahre brauchte, um sich dazu durchzuringen, einfach
mit dem Leben abzuschließen. Vorher wollte er jedoch noch einmal
seinen Sohn sehen und seine Geschichte erzählen..."
Larces blickte wieder auf. "Du hast gesagt,
`weil er wusste, dass sie nie mehr zurückkommen würde`.
Wieso ging er nicht wieder zu der Quelle? Er hätte doch sein Leben
gegen ihres austauschen können? Und wo kamst jetzt du in dieser Geschichte
vor?"
"Überleg mal, was es bewirkt hätte,
wenn er mit Saradra getauscht hätte: Dann müsste sie an seiner
Stelle leiden, meinst du, er hätte so etwas gewollt? Aber trotzdem:
Er ging zur Quelle zurück! Und zwar als..."
Lalec machte sich große Sorgen. Seit
Neuestem lehnte Saradra seine Beute nicht mehr ab, obwohl sie stets dagegen
gewesen war, dass er seine Beute mit ihr teilte. Nur als sie brütete
hatte sie dies zugelassen. Und jetzt...
Es entging Lalec nicht, dass sie immer seltener
und immer kürzer die Höhle verließ. Sie wirkte krank und
schwach und schließlich wollte sie nur noch Liegen und Schlafen.
Lalec bekam Angst um das, was geschah. Drachen konnten nicht krank sein,
ein Gift hätte niemals so eine Wirkung auf einen Drachen und sonst
gab es auch nichts, was Saradras Verhalten erklären konnte. So sehr
er auch bemüht war, sich vor seinem bald dreijärigen Sohn nichts
anmerken zu lassen, so fiel diesem auch bald auf, dass mit seiner Mutter
etwas nicht stimmte.
Spätestens als mehrere der alten Drachen
zu ihr kamen, bestätigte sich der Verdacht des Jungdrachen. Und auch
der Verdacht Lalecs: Saradra litt, als ob sie die Schuppenfäule hätte,
doch konnte dies nicht sein; ihre Schuppen waren immer noch reinblau und
sie war auch nicht unglücklich gewesen. Lalec war ratlos. Bis er daran
dachte, das Saradra ja eigentlich schon tot gewesen wäre und ihre
Lebenskraft aus der glänzenden Quelle zog. War etwas mit der Quelle?
Lalec wollte los und begegnete kurz nach seinem Abflug Bran, der inzwischen
zum König der Drachen geworden war.
Eigentlich wollte Lalec alleine weiter, doch
Bran wusste um Lalecs Geheimnis und war nicht davon abzubringen, ihn zu
begleiten. Und so flogen die Drachen, in einem Tempo, das eigentlich unmöglich
hoch schien, schließlich zählte vielleicht jede Sekunde...
Und so kamen sie nach wenigen Tagen Flug bei
der Höhle an, die tief ins Innere des Berges führte. Hastig stürmte
Lalec durch die Gänge und vergaß in der großen Kammer
fast, wer ihn dort erwarten würde: doch die Gargoyles taten ihre Pflicht
und bauten sich furchterregend um die Drachen herum auf. Doch Lalec verbeugte
sich nur und hieß Bran es ihm gleichzutun. Schon zogen sich die meisten
Gargoyles zurück, um ihre Posten als steinerne Wächter aufzunehmen,
während ihr Ältester, ein uraltes dunkelgraues Wesen, zum Ende
der Kammer schlurfte und wie schon damals die Felswand mit einer leichten
Berührung verschwinden ließ.
Weiter stapften die Drachen die gewundenen
Gänge entlang, auch an dem Bach mit dem manchmal heilenden, manchmal
normalen Wasser machten sie nicht Halt. So kamen sie schnell zu der großen
Kammer mit der von Marmormauern umschlossenen, glänzenden Quelle.
Lalec trat vor den Spiegel. Er war leer. Brüllend
erhob er die Stimme und rief: "Wo bist du, antworte!"
Wie schon damals erklang auch jetzt wieder
die körperlose Stimme: "Was führt euch her?"
"Drancor gab sein Leben, damit Saradra ihr
Leben zurückerhielte, doch nun stirbt sie, ohne dass es dafür
eine Ursache gibt. Wieso?"
"Das ist das Gesetz dieses Ortes: Ein Leben
wird genommen, ein Leben wird gegeben."
"Aber wieso stirbt sie dann? War Drancors
Leben nicht genug?" Lalec wurde zornig.
"Du verstehst nicht: Ein Leben wurde genommen.
Drancor starb. Jedoch wurde Saradra nicht sein Leben, sondern ein
Leben gegeben. Dieser Ort wurde einst von einem mächtigen Magierzirkel
erschaffen, der auch die Macht über das Reich der Toten besaß.
Seine Mitglieder legten jedoch auch die Regeln dieses Ortes fest: Jemand
gibt sein Leben, damit jemand anderes von den Toten zurückkehrt."
Es gab eine kurze Pause. "Jedoch nur für
die Dauer eines Lebens. Eines... Menschenlebens. Wer von hier wieder
aufersteht lebt wieder ein Leben, 100 Jahre in Zahlen."
"Aber das ist nicht gerecht. Drancor war ein
Drache, er hätte ewig gelebt, deutlich länger als 100 Jahre!"
"Das ist das Gesetz dieses Ortes: Ein Leben
wird genommen, ein Leben wird gegeben..."
Lalec ließ ein zorniges Brüllen
hören. "Ich werde nicht zulassen, dass sie stirbt, nicht noch einmal.
Und wenn ich bis ans Ende dieser Welt und darüber hinaus reisen muss!!!"
Doch es kam keine Antwort, die Quelle blieb
stumm.
Lalec fragte sich grad, ob es wohl etwas bringen
würde, wenn er rasend die Marmormauern einreißen würde,
doch da kam Bran heran: "Du sagst, Saradra leidet, als ob sie an der Schuppenfäule
erkrankt wäre. Es gibt in dem Berg, auf dem auch der Ratsfelsen liegt,
eine geheime Höhle. Dort wächst ein magisches Kraut, das in der
Lage ist, die Schuppenfäule zu heilen." Er zögerte. "Dies ist
auch der Grund, weshalb der Rat sich entschlossen hat, es geheim zu halten:
kein Drache soll gegen seinen Willen weiter leiden. Doch es ist wohl deutlich,
dass Saradra gar nicht sterben will und so sehe ich keinen Grund, das Kraut
nicht zu ihrer Heilung zu nutzen..."
Lalec sah Bran aus großen Augen an.
"Du meinst... es gibt noch Hoffnung?"
Bran nickte kurz und meinte: "Ich weiß
nicht, wie das Kraut genau wirkt, aber vielleicht würde es Saradra
helfen..."
"Worauf warten wir...", hörte Bran Lalec
noch rufen, während dieser bereits in den Tunnel zurückstürmte...
Als die Drachen gegangen waren, hörte
man ein Seufzen aus dem Spiegel. "Er will es einfach nicht einsehen...
Naja, bald wird er es verstehen..."
"Ha! Du hast gelogen! Wie willst du denn von
meinem Vater wissen, dass jemand etwas gesagt hat, nachdem er schon selbst
weggegangen war?" rief Larces dazwischen.
Bran lachte. "Ich gebe zu, ob das tatsächlich
passiert ist, weiß wohl niemand. Jedoch bin ich der Meinung, zu einer
guten Geschichte gehört dieser Teil. Immerhin soll sie ja auch noch
lange weitererzählt werden und du musst zugeben, dass dieser Satz
viel Spannung aufbaut..."
"Wenn du meinst...", seufzte Larces und verdrehte
die Augen. "Aber bitte bleibe jetzt bei der Wahrheit... bei der ganzen!"
Bran schmunzelte kurz und erzählte weiter...
Ohne auch nur einmal Halt zu machen, flogen
die beiden Drachen übers Land. Lalec wollte es nicht zugeben, doch
innerlich spürte er eine Eile, die ihn immer weiter antrieb. Er wusste,
dass die Zeit gegen ihn lief. Ihm war vollkommen egal, ob seine Flügel
bereits wegen der Belastung protestierten, ihm war vollkommen egal, dass
der Hunger bereits in ihm brannte, er wollte nur noch zu dieser Höhle!
Und dann wieder zurück...
Trotz dieser Eile brauchten sie ganze vier
Tage, um am Ratsfelsen anzukommen. Lalec war noch nie da gewesen und so
kam er trotz seiner Eile nicht umhin, die Erhabenheit des Ortes zu bewundern:
Ein gigantischer, in den Wolken verschwindender Berg. Bran übernahm
nun die Führung, da die Lage der Höhle nur dem Rat und dem König
bekannt war. Nachdem sie den Berg halb umrundet hatten, bog Bran plötzlich
scharf nach unten ab und als Lalec ihm folgte, konnte er eine kleine Öffnung
in der massiven Felswand erkennen.
Als sie sich näherten wurde immer deutlicher,
dass die Höhle nur aus der Entfernung klein wirkte, tatsächlich
war sie groß genug, sogar die alten Drachen des Rates hätten
sie betreten können. Bran landete und ging in die Höhle, die
schon nach wenigen dutzend Metern in einer kleinen Kaverne endete. Überall,
an den Wänden, an der Decke, an den Stalaktiten und Stalagmiten wuchs
ein seltsames Kraut, das irgendwie zu leuchten schien.
Bran trat an einen Stein heran und riss mit
seinem Maul einen Strang Pflanzen ab und reichte ihn Lalec. Als sich Lalecs
Fänge um die Pflanze schlossen, roch er, dass sie irgendwie dufteten.
Er konnte schwören, diesen Duft zu kennen. Plötzlich fiel ihm
ein, wo er ihn schon einmal bemerkt hatte: der Bach, der von der glänzenden
Quelle durch den Berg floss, hatte genauso gerochen.
Doch irgendwie schienen die Blätter der
Pflanze bitter zu schmecken. Doch Lalec zwang sich, sein Maul nicht zu
öffnen. Und wenn die Pflanzen noch tausendmal so scheußlich
schmeckten, Saradra brauchte sie!
Innerhalb weniger Stunden kamen die Drachen
bei Lalecs Höhle an und als sie Girdrar und dessen Gesichtsausdruck
sahen, wäre Lalec fast das Herz stehen geblieben. Doch der alte Drache
teilte ihnen mit, dass Saradra noch nicht tot sei. "Allerdings glaub
ich nicht, dass sie die heutige Nacht überstehen wird. Es tut mir
Leid, Lalec..."
Lalec ignorierte ihn, obwohl sich Girdrars
Ratschläge eigentlich immer als richtig herausgestellt hatten. `Vielleicht
irrt er sich ja, er muss sich irren, Saradra wird wieder gesund...` Lalec
stupste ihre Schnauze an. Sie rührte sich etwas. Er legte das Kraut
vor ihre Schnauze und flüsterte: "Ich habe dir etwas mitgebracht.
Es schmeckt zwar grässlich, aber riech doch mal dran!"
Ihre Nüstern schnaubten kurz und er sah,
wie sie versuchte, die Pflanze mit der Zunge zu berühren. Er schob
sie ihr direkt vors Maul.
Sie schien erst nicht in der Lage, auch nur
den Kopf zu bewegen, doch anscheinend reichte schon der Geruch der Wunderpflanze,
um ihr die Kraft zu geben, sie ins Maul zu nehmen. Sie zuckte kurz zusammen,
als ihre Zunge das bittere Aroma zu spüren bekam, doch schließlich
schluckte sie...
Die Minuten vergingen und da: Saradra regte
sich. Sie öffnete ihre Augen. "Es war... wie ein Traum... so viel
Licht... die Quelle... sie rief meinen Namen." Sie wollte sich aufrichten,
doch es gelang ihr nicht. Sie schloss ihre Augen wieder. "Es ist seltsam",
sagte sie, nun mit einer festeren Stimme. "Ich spüre meinen Körper
wieder und doch kann ich ihn nicht bewegen..."
Sie reckte den Hals und leckte Lalec über
die Schnauze. Er sah Tränen in ihren Augen. "Es tut mir leid... Meine
Zeit ist gekommen. Auch wenn mein Körper wieder vor Kraft strotzt,
spüre ich, dass ich nur noch wenig Leben in mir habe..." Sie sah Lalec
an.
Er wollte etwas sagen, ihr sagen, dass sie
gesund werden würde, doch kein Laut kam über seine Lippen: Er
wusste, dass es gelogen wäre.
"Wo ist Larces?"
Lalec schluckte und antwortete leise: "Bei
Irdrun... Ich wollte nicht, dass er dich so sieht, dich.... sterben sieht..."
Saradra lächelte. Sie lächelte so,
wie sie ihn immer schon angelächelt hatte. Man hätte meinen können,
sie wäre vollkommen gesund, doch niemand glaubte der Illusion.
"Ich werde dich nie wiedersehen, oder?" brachte
Lalec nun endlich heraus. Auch über seine Schnauze liefen die Tränen.
"Wie kommst du denn darauf? Natürlich
werden wir uns wiedersehen! Gleich hinter dem Marmorbogen..." Sie lächelte
immer noch. Auf einmal zuckte sie zusammen. "Es ist Zeit... Leb wohl, Bran.
Auch dir sag ich Leb wohl, Girdrar. Bitte richtet Larces aus, wie sehr
ich ihn liebe. Er soll bloß so weiterwachsen und dann einmal in dieser
Höhle leben..." Sie wandte sich an Lalec. "Zu dir sag ich nichts weiter
als: bis gleich... Zeit ist nichts für uns Drachen..." Sie schloss
ihre Augen.
Lalec wusste, dass es unvermeidlich war. Er
legte sich neben sie, bedeckte sie mit einem seiner Flügel, legte
seinen Kopf ganz nah an den ihren und hauchte ihr etwas ins Ohr: "Bis gleich..."
Mit einen Mal erlosch das Pochen, das Lalec eben noch durch seinen Flügel
gespürt hatte: Saradras Herz war still. Sie war fort... für immer...
Larces weinte wieder. Jedoch waren seine Tränen
stumm. "Ich wäre gerne dabei gewesen... Ich hätte mich so gerne
von ihr verabschiedet..."
Bran sah ihn gutmütig an. "Bei all deiner
Trauer solltest du aber nicht vergessen, dass du auch ein Leben zu führen
hast. Du solltest nicht nur um sie trauern, sondern dich über dein
Leben freuen. Das wäre auch das, was sie gewollt hätten..."
Larces nickte. Zwar fühlte er den Schmerz,
doch irgendwie schien sich die Lücke in seinem Herzen, die seine Eltern
hinterlassen hatten, wieder geschlossen zu haben. Er wollte nicht mehr
weinen, er wollte leben. Er wollte das Erbe zweier, nein dreier Drachen
weiter fortragen, auf dass die gesamte Welt von ihnen hören möge:
von Lalec, dem Tapferen, Saradra, der Schönen, und Drancor, dem Ehrhaften!
.
Es war hell. Überall war nur Licht. Er
schien zu schweben. Doch da war etwas. Eine Stimme. Nein, es waren zwei.
"Ich sagte doch: bis gleich..."
"Hast ja lange durchgehalten. Ich hoffe ich
konnte dir 100 glückliche Jahre schenken..."
Lalec öffnete seine Augen. Er lag auf
einer Wiese. Und vor ihm: Saradra und Drancor. Lalec sprang auf. Hatte
er nicht eben noch mit Bran geredet, war er nicht eben noch tödlich
schwach gewesen?
Er sah an sich hinunter. Seine Schuppen schimmerten
wieder in einem satten Rostrot. Er sah sich um. Sie waren in einem traumhaften
Tal: weiche, grüne Wiesen, große, von der Sonne leuchtend gemachte
Berge, kristallklare Quellen und Bäche, ein großer Wald und
darin umherspringendes Wild ohne Ende. Lalec lächelte. Es war alles
so deutlich und doch so unwirklich... es war... wie im Paradies...
© Arihpas
Vor Verwendung dieser Autoren-EMail-Adresse
bitte das unmittelbar am @ angrenzende "NO" und "SPAM" entfernen!
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