Das Babysitter von Der Doktor
2. Kapitel

Die paar Meter vom Höhleneingang zur Haupthalle überlegte Karlmax verzweifelt, wie er die Konversation mit seinem "Freund" denn beginnen sollte, ohne dessen Launen gleich zum Opfer zu fallen.
"Mensch, Kalessan, lange nicht gesehen! Wie geht’s, wie steht’s?"
Nein...
"Hi Kal, alte Schuppe!"
Nein...
"Hallo Kalessan, ich wollte nur mal wieder bei dir vorbeischauen!"
Nein...
"Fischers Fritz fischt frische Fische!"
Nein... obwohl das Kalessan zunächst vielleicht verwirren und Karlmax mehr Zeit geben könnte...
Als er die Höhle betrat und Kalessan erblickte, fiel ihm dann eine passende Begrüßung ein:
"Bevor du einen Laut machst - versuche bitte so zu sprechen, dass meine Trommelfelle nicht gleich platzen, ja?"
Der ihm gegenüber liegende alte, rote Drache schnaubte verächtlich. Faul zusammengerollt lag er auf dem Boden seiner Höhle, welcher von alten Rüstungsteilen, Knochen und kleinen, gelben Pfützen bedeckt war.
Seine Gestalt würden einige als "imposant", andere als "majestätisch", die meisten jedoch nur als "beängstigend groß" beschreiben, wobei die Betonung sehr stark auf "beängstigend" liegen würde. Doch auch dies taten nur wenige - alle anderen beschrieben ihn als "AAAAAHHHHHH!" und liefen vor ihm weg, griffen ihn an oder fielen tot um, was allerdings keinen Unterschied machte, da eh alles auf dasselbe Ergebnis hinauskam...
Aufgrund der vielen verdächtig gelben Pfützen könnte man nun vermuten, dass der Höhle ein gar grässlicher Gestank anhaftete, doch wenn man es schaffte, seinen Blick mal von dem riesigen, roten Besitzer jener Hallen abzuwenden, fielen einem recht bald ein paar große Tannenbäume auf, die von der Decke hingen. Beanspruchte man nun noch sein Riechorgan, so konnte man feststellen, dass der Höhle ein stechend-harziger Nadelwaldgeruch anhaftete, der dem Gestank von Verwesung und Exkrementen in der Nase fast keinen Platz mehr ließ.
"Wer bist du, dass du mir Befehle erteilst, Wicht?", meldete sich der Drache nun mit einer Stimme zu Wort, die zwar nicht seiner vollen Lautstärke entsprach, in den Ohren eines nicht-tauben Menschen aber immer noch ziemlich schmerzte, "Und vor allem: Was duzt du mich?"
Karlmax rutschte das Herz fast in die Hose - nicht nur von der Lautstärke. Wenn der Drache ihn nicht wiedererkennen sollte, sah es, gelinde gesagt, schlecht um ihn aus.
"Erkennt ihr mich denn nicht wieder, Kalessan? Ich bin es, Karlmax!"
Er grinste ihn nervös an. Der Drache starrte verächtlich zurück, schmatzte dann kurz und sagte:
"Achso, du... Du warst doch gerade erst hier!"
"Das war vor neun Jahren!"
"Sag’ ich doch..."
"Neun Jahre sind für einen Menschen eine halbe Ewigkeit!"
Kalessan zog das draconische Ambivalent einer Augenbraue hoch und erwiderte:
"Na dann hast du ja noch ein paar Ewigkeiten zu leben, freu dich. Und jetzt: Verpiss dich!"
Karlmax schluckte und riss sich zusammen. Wozu war er denn hergekommen, wenn er genau wusste, was ihn erwarten würde?
Moment mal, er hatte keine Ahnung gehabt, was ihn erwarten würde...
Also half nur eines: Das Vorgehen nach dem "Augen zu und durch!"-Prinzip, mit der Hoffnung, es möge schnell vorbei gehen - was auch immer dieses Es sein möge...
"Nein, ich werde n... n... nicht gehen. Ich bin ehrlich gesagt hier, um euch um einen kleinen Ge... Ge... Gefallen zu bitten?"
Kalessans Miene gefror.
Leute, die ihn umbringen wollten - okay!
Leute, die sein Gold stehlen wollten - okay!
Leute, die ihm Opfer darbrachten - okay!
Leute, die ihm die neuste Ausgabe von "Mord ist Sport" lieferten - okay, das alles konnte man essen!
Leute, die ihn um einen kleinen Gefallen baten - und dann auch noch Leute, die er kannte und denen er etwas schuldig war... wie peinlich!
"Was?", fragte er einsilbig.
Karlmax nahm allen seinen Mut zusammen, holte tief Luft und brachte dann folgendes in einem Atemzug hervor:
"Nun, es ist so: Ich bin mittlerweile verheiratet und habe einen Sohn. Ich muss nun mit meiner Frau auf eine wichtige Reise gehen und kann den Kleinen auf keinen Fall mitnehmen. Ich möchte, dass ihr solange auf den Jungen aufpasst, wie ich weg bin - und ich dulde keine Widerrede!"
So, jetzt war es raus. Kalessans Stahlschmelzblick verhieß zwar nichts Gutes, aber immerhin war es raus und er, Karlmax, hatte den Mut aufgebracht, dem Drachen ohne Umschweife sein Anliegen ins Gesicht zu...
"Hallo?", pustete eine donnernde Stimme durch Karlmax’ Gehörgänge, "Bist du versteinert oder so? Was du von mir willst, habe ich dich gefragt!"
"Ähm... habe... ich euch das nicht gerade... gesagt?", antwortete er kleinlaut.
"Nein, du hast nur herumgestanden und geschaut, als wäre dir dein ohnehin kleiner Verstand aus dem Kopf geflogen.", kam Kalessans scharfe Antwort.
Jegliche noch vorhandene Farbe wich auf einmal aus Karlmax’ Gesicht und verließ zusammen mit seinem Mut fluchtartig den Raum.
"Ichichich habe euch gerade n... n... nicht gesagt, dass ich mömömöchte, dass ihr auf meinenmeinen Sososos...sohn aufpasst?"
"Nein, hast du... BITTE, WAS?"
Nun war es also wirklich heraus – jetzt ging es um Schadensbegrenzung:
"Esistnichtlange, wirklich! Nur ein paar Wochen, bis ich und meine Frau wieder zurück sind, mehr verlange ich nicht."
"VERLANGST du? Was bitteschön gibt dir das Recht, von MIR etwas zu verlangen?", zischte Kalessan hitzig, den Hals gebogen wie eine Schlange, die kurz vor dem Zustoßen ist.
Karlmax war auf dem besten Weg, den Pfützen auf dem Boden eine weitere hinzuzufügen.
"Ähmnun, eigentlich dachte ich, dass ihr mir noch einen kleinen Gefallen schuldig seid... Immerhin habe ich euch eure Identität, eure Existenz und eure Magie und alles und so... bewahrt..."
Kalessan schnaubte:
"Hm, das stimmt wohl. Das gibt dir aber noch lange nicht das Recht, mir einen Job als Babysitter aufzudrängen!"
"Oh, bitte! Ihr seid meine letzte Hoffnung, den Jungen irgendwie unterzubringen, denn mitnehmen kann ich ihn auf keinen Fall! Wie gesagt, es wäre nur für ein paar Wochen... und wisst ihr was, sobald ich ihn dann wieder abgeholt habe, werde ich euch nie wieder belästigen, das verspreche ich euch! Sollte ich nachher auch noch einmal den Fuß in diese Höhle setzen, dann könnt ihr mit mir machen, was ihr wollt, ja?"
Volltreffer! Es war zwar nicht so, dass der Drache mit ihm jetzt nicht machen konnte, was er wollte, jedoch fühlte sich dieser aufgrund der nun neun Jahre zurückliegenden Geschehnisse noch in gewisser Weise schuldig gegenüber diesem Menschen, der ihm einst mehr als nur sein Leben rettete. Kalessan rieb sich nachdenklich das Kinn (eine spezies-übergreifende Geste, was allerdings natürlich nur Spezies betrifft, die auch ein Kinn haben) und sagte dann:
"Hmm... klingt verlockend, gebe ich zu. Was genau muss ich tun?"
Karlmax stutzte verdutzt - das ging ja schnell!
"Nun, alles was er braucht ist halt eine Schlafstatt, was zu Essen und Trinken...", setzte er an, wurde aber von dem Drachen unterbrochen:
"Soll ich ihn vielleicht auch einmal täglich gießen? Hör mal, ich bin nicht blöd, ich weiß, was ihr Menschen zum Überleben benötigt, ich denke mal, ich kann das alles auch noch auftreiben. Sonst noch irgendwas?"
Karlmax zögerte, brachte dann aber langsam hervor:
"Nun, ich kann mir ungefähr vorstellen, wie euer Lebensstil aussieht. Ich wäre sehr erfreut, wenn mein Sohn nicht allzu viele, besser sogar gar keine, nun... Grausamkeiten mit ansehen müsste, die seinem zarten Gemüt... schaden könnten... Was ich damit sagen will: Wenn ich ihn nicht so zurückbekomme, wie ich ihn hier abgebe, dann..."
"Dann was? Sag bloß, du hast vor, mir zu drohen", erwiderte Kalessan in einem eher amüsierten denn verärgerten Tonfall.
"Passt auf, es sieht vielleicht nicht so aus - aber ich liebe den Jungen! Sollte ihm etwas zustoßen, werde ich Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um den Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, und die Verantwortung für meinen Sohn in den nächsten Wochen hättet dann nun mal ihr! Ich habe viele Anhänger – selbst ihr würdet es nicht mögen, wenn ich euch zur Rechenschaft ziehen müsste."
Karlmax blinzelte... hatte er das gerade gesagt? Hatte er Kalessan gerade gedroht? Von den dümmsten Dingen, die man auf allen Welten des gesamten Universums machen kann, steht "Kalessan, dem roten Drachen, drohen" an dritter Stelle - direkt hinter "Mit einem Britney Spears T-Shirt auf ein Death Metal-Konzert gehen" und "Auf ein Britney Spears-Konzert gehen."
Grund genug für Karlmax’ Körper, mal wieder mit dem unkontrollierten Zittern anzufangen und sein letztes Sekündlein abzuwarten.
Doch Kalessan rastete wieder nicht aus und brachte ihn wieder nicht um, sondern schaute ihn nur ernst an.
"Du meinst es ernst, hm? Wäre doch schade, wenn ich den einzigen Menschen, den ich jemals zumindest ansatzweise leiden konnte, umbringen müsste, nicht wahr? Weißt du was? Ich übernehme deinen Sohn für die nächsten Wochen. Ein wenig Gesellschaft hier drinnen ist sicherlich nicht allzu schlecht."
Karlmax’ Kinnlade wurde mit einem mal schwer wie Blei.
"Schau mich nicht so an, du hast mich schon richtig verstanden. Ich schätze zwar meine Privatsphäre, aber auch ich benötige ein wenig Abwechslung - also nehme ich mir deinen lieben Sohn ein paar Wochen zur Brust und passe auf, dass ihm nichts passiert, wird ja wohl nicht so schwer sein."
Karlmax beobachtete den Drachen genau und versuchte, irgendeine Form von Hintergedanken in Kalessans Rede zu entdecken, aber...
"Da sind keine Hintergedanken, glaube mir. Ich bin dir noch was schuldig, und wenn es das ist, was du von mir als Gegenleistung forderst, dann sei es drum, meinetwegen. So, jetzt hör endlich auf, hier völlig baff herumzustehen, bevor ich es mir noch anders überlege und führ den Kleinen und deine Frau endlich hier herein, kann’s ja kaum erwarten, die beiden kennen zu lernen..."
Kalessans üblicher, sarkastischer Unterton schwang in seinen Sätzen mit, aber mehr war da tatsächlich nicht... jedenfalls bildete sich Karlmax das ein, und etwas anderes außer dem Drachen zu vertrauen blieb ihm momentan anscheinend nicht übrig. So riss er sich aus seiner Erstarrung:
"Nun, da ist noch ein kleines Problem: Meine Frau weiß noch nicht, dass ihr ein Drache seid, und... mir wäre es auch lieber, wenn sie es jetzt noch nicht erfährt... Wenn ihr also mit herauskommen könntet und euch vorher..."
Er ruderte mit den Armen, unfähig, sein Anliegen auszusprechen. Kalessan verstand ihn auch so:
"Du weißt, was du da verlangst?"
Karlmax nickte nervös.
"Du weißt, dass ich mich seit dieser letzten Geschichte nicht mehr verwandelt habe?"
"Ich... kann es mir denken... aber wie groß ist wohl die Wahrscheinlichkeit, dass irgendein wahnsinniger Magier jetzt gleich vorbeikommt und euch eure Magie erneut stiehlt? Ha, ha?"
Der Drache seufzte:
"Nein, du hast wahrscheinlich Recht... warum mache ich das alles bloß?"
Karlmax hatte ziemliches Glück, dass Kalessan diesen Gedanken nicht weiter verfolgte. Ansonsten wäre der Drache wahrscheinlich darauf gekommen, dass er das alles wirklich gar nicht machen müsse, hätte ihn und seine Familie auf der Stelle umgebracht und sich den ganzen Ärger erspart. Der Drache wusste, dass er mit seinen Gedankengängen dort herauskommen würde und verfolgte sie auch Karlmax zuliebe absichtlich nicht weiter, sondern verwandelte sich einmal mehr in den über zwei Meter großen Hünen in roter Robe, der sein menschliches Erscheinungsbild war.
"Zufrieden?", fragte Kalessan lakonisch.
"Ihr habt keine Ahnung, wie dankbar ich euch für das bin, was ihr hier tut!"
"Och komm, spar dir den Mist!"
Karlmax hob abwehrend die Arme und deutete dem Drachen an, ihm zu folgen, wollte schon in Richtung Ausgang losgehen, blieb aber noch mal stehen und drehte sich um:
"Sagt mal, meintet ihr das ernst, dass ich der einzige Mensch sei, der euch je etwas bedeutet hat?"
Kalessan lächelte (was in seiner menschlichen Erscheinung nicht minder beunruhigend wirkte) und sagte:
"Du bedeutest mir gar nichts! Ich schulde dir noch was, das ist alles!"
Karlmax drehte sich wieder um und schmunzelte - es hatte nicht sehr überzeugend geklungen.
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© Der Doktor
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Und schon geht's weiter zum 3. Kapitel...

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