Das Babysitter von Der Doktor
4. Kapitel

Ausatmen!
Drachen können zu einigen der gefährlichsten Wesen der gesamten Welt heranwachsen. Kalessan ist sehr alt und sein persönlicher Gefährlichkeitsgrad darf aufgrund seines aggressiven Temperaments noch potenziert werden. Damit überholt er sogar die drei schrecklichen Furien Alexzstrzuszszuszia, Chmlech’krach!clochchmchmrn und Karl-Heinz, die vor allem wegen ihrer schrecklichen Namen gefürchtet werden. Bei letzterer streitet man übrigens noch um ihr Geschlecht - natürlich nur in ihrer Abwesenheit.
Und ausatmen!
Ein Wesen wie Kalessan zu reizen ist also genauso dumm, wie ihm zu drohen.
Kalessan war sich dessen vollkommen bewusst, weswegen er, um sich selbst zu beruhigen, diese Kreatur vor ihm einfach nur als "bemitleidenswert dumm" abtat - es wäre doch eine viel größere Bösartigkeit, sie in diesem Zustand vollkommenster Dummheit weiter existieren zu lassen, anstatt sie von ihrem Leiden zu erlösen. Es war die peinliche Ausrede für eine Ausrede, aber es musste genügen.
Und wieder ausatmen!
"Na, haben wir uns langsam an diesen 'Gestank' gewöhnt?", sagte er, bevor das groteske Pendel wieder zu ihm zurück schwang und er es erneut mit einem kräftigen Hauch wieder in die andere Richtung pustete.
Ninnel hing kopfüber an einer langen Kette von einer der Tannen und pendelte, vom Atem des Drachen angetrieben, nun schon seit einiger Zeit immer hin und her.
"Ich erzähle meiner Mama davon!", sagte er.
"Ach, und was will deine Mama gegen einen ausgewachsenen roten Drachen wie mich ausrichten? Mir im Hals stecken bleiben?"
Überraschenderweise fand Ninnel darauf keine Antwort.
Mit einer Klaue brachte Kalessan das Ninnel-Pendel zum Anhalten und funkelte den Jungen mit seinen gelb glühenden Augen an.
"Wir werden diese kleine Prozedur ab jetzt immer dann durchführen, wenn du dich nicht benimmst, klar?"
Ninnel nickte.
"Und wenn du deiner Mutter oder deinem Vater davon erzählst, dann werde ich sie hier auch aufhängen - das willst du doch nicht, oder?"
Ninnel schüttelte den Kopf.
"Gut, also wenn ich dich jetzt runterlasse, wirst du dich dann benehmen und deine Beleidigungen zurücknehmen?", fragte der Drache ihn mit schief gelegtem Kopf.
"Ja."
Kalessan berührte die Kette kurz, welche sofort mit einem leisen *klick* aufsprang. Ninnel setzte er auf dem Boden vor sich ab und starrte ihn forschend an.
"Na... ich höre?"
Der durch Kalessans Prozedur sichtlich grün angelaufene Junge schaute ihn trotzig an, sagte dann aber mit gesenktem Blick:
"Tutmirleid..."
Kalessan knurrte kurz, gab sich aber mit der Antwort zufrieden... mehr durfte man von diesem Balg wohl nicht erwarten.
Dieser sich von seiner kleinen Folter offenbar sehr schnell erholende Balg sprach ihn jedoch erneut an:
"Ich hab’ Hunger!"
Faszinierend, wie viel Suizidpotential diesem Jungen anhaftete - jener Satz erinnerte Kalessan nämlich just an seine eigenen, aufgrund dieses in Griffweite liegenden, kleinen Snacks selber wieder erwachten Hungergefühle.
Zum Glück mochte der Drache Herausforderungen - als gefährlichstes Wesen der Welt hat man nicht mehr viele. So galt es, die eigene Selbstbeherrschung stärker sein zu lassen als den eigenen Hunger und Ninnels Eigenschaft, sich in ungeahnte Gefahrensituationen zu bringen.
Nur fiel Kalessan erst jetzt auf, was für ein Problem die Nahrungsbeschaffung für das Kind sein würde. Die örtliche Fauna packt nämlich schneller die Koffer und verlässt das Gebiet hastiger als man "Blaubeerkuchen" sagen kann, wenn sich ein Wesen wie Kalessan in der Nähe einnistet. Um die örtliche Tierwelt sah es also, gelinde gesagt, mager aus. Und zum Beeren pflücken und Brot backen sowie zum Einfach-in-die-nächste-Stadt-gehen-und-etwas-kaufen war der Drache zu stolz.
Somit blieb nur das einzige Nahrungsmittel übrig, das rund um Kalessans Höhle immer noch reichlich vorhanden war.
Das einzige Nahrungsmittel, wovon Kalessan ganz genau wusste, wo er es finden und einfach bekommen könnte.
Das einzige Nahrungsmittel, das Kalessan auch auf sehr schmackhafte Art und Weise zubereiten konnte.
Und das war nun mal...

"Was ist denn das?", fragte Ninnel, als er das von Kalessan einige Zeit später zubereitete Gericht sah. Es handelte sich um einen großen, sehr dunkelbraunen bzw. bereits schwarz verkohlten, unförmigen Fleischklumpen, dessen Dekoration darin bestand, dass es auf dem Blatt einer großen, grünen Pflanze lag. Man beachte, wie das Attribut "schmackhaft" von Spezies zu Spezies vollkommen unterschiedlich interpretiert wird.
"Ist doch egal, wovon das stammt. Das ist Fleisch, das ist nahrhaft, das ist gesund - also iss!", erwiderte der sich momentan in seiner menschlichen Gestalt befindliche Kalessan.
"Das da sieht aber aus wie eine Hand!", zeigte Ninnel auf ein aus der Masse herausragendes Fleischstück.
"Ähm... da spielt dir deine Phantasie wohl einen Streich... du hast doch sicherlich Hunger? Also iss endlich!"
Der leichte Anflug von Panik in Kalessans Stimme war sicherlich auch nur ein Streich von Ninnels Phantasie...
"Aber an der Hand steckt noch ein Ring dran!"
Kalessan erlebte das faszinierende, menschliche Gefühl eines spontanen Schweißausbruchs, als er näher hinsah und das glänzende Stück Metall entdeckte, das auf einem der kleinen Auswüchse des Fleischklumpens steckte.
Blitzschnell nahm er den Ring und brach dabei das Stückchen Fleisch, das einem menschlichen Finger wirklich gar nicht mal so unähnlich war, ab.
Mit den Worten "Das ist gar kein Ring, sondern ein... ähm... ein Stück Fett!" steckte er ihn sich in den Mund und kaute darauf herum - für einen Drachen in Menschengestalt ist das gar nicht mal so schwer, da sich seine unbändige Kraft auf andere Erscheinungsformen seiner Wahl überträgt, was bei einem amoklaufenden Drachen in Gestalt eines süßen Kätzchens schon mal ganz witzige bzw. blutige Ergebnisse haben kann, was jedoch eine Episode seines Lebens ist, die Kalessan nicht gerne erwähnt haben will. Für einen Drachen ist es jedenfalls ungefähr so anstrengend einen soliden Metallgegenstand zu kauen, wie für einen Menschen eine Walnuss mit Schale zu essen... man verzichtet also lieber darauf.
"Hmmm... lecker!", würgte der Drache hervor und schluckte den Ring hinunter. Leider hatte er ihn noch nicht auf eine für die Speiseröhre seiner menschlichen Form akkurate Größe zurechtgekaut, weswegen ihm das Metallstück auch wortwörtlich im Halse stecken blieb. Für ein Wesen, das einen ganzen Ritter inklusive Rüstung, Pferd, Lanze und allem Zubehör (wenn vorhanden also inklusive Knappen) schon mal im Stück verschluckt, eine entsprechend peinliche Situation. So taumelte Kalessan also hustend und würgend durch die Pfützen seiner Höhle, schaffte es dann irgendwie, seinen Hals zu befreien und das stark verformte Metallstück wieder auszuspeien. Das laute *pling*, das ertönte, als der ehemalige Ring auf dem Boden aufschlug, verhallte peinlich im Raum. Kalessan sah Ninnel erschöpft von der Seite an.
Der Kommentar des Jungen zu der Situation war:
"Ich esse kein Fleisch!"
Über diesen Satz vergaß Kalessan sogar das Erschöpftsein und starrte den Jungen ungläubig an.
"Du willst mir nicht wirklich erzählen, dass du einer von diesen... wie hießen sie noch mal... Vegetierenden bist!?"
Ninnel nickte.
"Das soll also heißen, dass ich diesen schönen Braten hier vollkommen umsonst getö... gefangen und zubereitet habe und jetzt noch mal losziehen darf, um dir... Beeren oder... Brot oder so ein Zeug zu besorgen!?", fragte der Drache mit mühsam unterdrückter Wut in der Stimme.
"Ich mag auch Kartoffeln!", sagte Ninnel fröhlich grinsend.
Kalessan erkannte, dass er um einen Einkauf in der nächstgelegenen Stadt mit zugehöriger Beratung wohl nicht herumkommen würde - und man kannte ihn in dieser Gegend und wusste genau, was er war, was wohl zu einer weiteren für ihn entsprechend peinlichen Situation führen würde.
Nun war der Moment gekommen, an dem sich Kalessan ernsthaft fragte, warum er sich überhaupt die Mühe machte. Warum er diesen kleinen Winzling nicht einfach umbrachte und auffraß, wie er es mit so vielen vorher schon getan hatte. Und warum er seine Eltern nicht auch gleich beseitigte. Moralische Probleme sollte es ihm aufgrund seiner ethnischen Einstellung gegenüber der Menschheit doch eigentlich nicht bereiten!?
War es die offene Schuld gegenüber Karlmax, der ihm schließlich mehrfach das Leben gerettet hatte?
War es die Herausforderung, einmal Selbstbeherrschung und auch Verzichten unter Extrembedingungen zu üben?
Oder hatte ihm die Jahrtausende währende Einsamkeit und der Hass ganzer Völker gegen seine Person doch mehr zugesetzt, als er eigentlich wahrhaben wollte?
Eine genaue Antwort wusste er nicht - am Ende stand nur die Entscheidung:
"Ach, verdammt, na gut!"
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Und schon geht's weiter zum 5. Kapitel...

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