Das Babysitter von Der Doktor
12. Kapitel

Wenige Minuten später umkreisten sich die beiden Drachen über den Bergen.
Der Himmel hatte sich im Laufe des Tages zugezogen, und die Wolken hingen dicht, grau und tief über der Landschaft.
"Ich gebe zu, ich bin ein wenig beeindruckt von deinem Mut... oder von deiner Dummheit.", sagte Kalessan.
"Oh, du wirst noch viel beeindruckter sein, glaube mir!"
"Und du willst das wirklich?", fragte Kalessan die fremde Drachin, immer noch zweifelnd.
Diese ignorierte ihn.
"Bist du bereit?", fragte sie.
"Bereit, wenn du es bist.", antwortete Kalessan, aber noch während er sprach, hatte sich die Drachin aufgeschwungen und war in den Wolken verschwunden.
Also wird gespielt..., dachte sich der ältere Drache und folgte ihr in die dichte Wolkendecke.
Kalessan hatte in seinem Leben schon viele Luftkämpfe mit anderen Drachen ausgetragen und wusste nur zu gut, dass das Antreten gegen einen älteren, stärkeren und erfahreneren Gegner ein böses Ende haben konnte. Wenn man die Wettersituation als Vorteil im Kampf richtig ausnutzte, konnte man auch einen stärkeren Gegner leicht bezwingen. Doch auch Kalessan wusste um den Vorteil von Wolken und Überraschungsangriffen. Leider hatte es nun schon seit geraumer Zeit niemand mehr gewagt, ihn herauszufordern, weswegen er ein wenig aus der Übung war und den ersten Angriff zu spät kommen sah.
Er drehte schnell ab, und die junge Drachin stürzte an ihm vorbei, jedoch konnte sie ihm ihre Klauen einmal über die Seite ziehen und ließ ein paar nicht sehr tiefe, aber dennoch spürbare Striemen zurück. Danach war sie wieder außer Sichtweite.
Oh, diese Drachin hat ja richtig Schneid!, dachte sich Kalessan und flog aufwärts, um in höheren Luftschichten aus der Wolkendecke auszubrechen. So langsam regte sich in ihm wieder die alte Kampfeslust, und er begann, seine alten Taktiken anzuwenden. Über den Wolken kreiste er und behielt die Schatten unter sich wachsam nach der geringsten Bewegung im Auge, ohne dabei die restliche Umgebung außer Acht zu lassen.
Da! Unten wirbelten die Wolken leicht auseinander, als ob sich etwas großes darin bewegen würde. Er legte die Flügel an und begann einen lautlosen Sturzflug auf das Bewegungsmuster zu, durchbrach die Wolkendecke und konnte die junge Drachin sehen, wie sie, ihn nicht bemerkend, aufmerksam die Wolken unter sich absuchte.
Schade, es war sehr kurz mit dir, aber angenehm!, dachte sich Kalessan und streckte seine Klauen aus, um die kleinere Drachin in der Luft zu zerreißen. Den Bruchteil einer Sekunde bevor er auf sie auftraf, drehte sie sich auf einmal blitzartig um ihre Achse und wirbelte zur Seite, sodass Kalessan sie knapp verfehlte. Dabei gelang es ihr, in die empfindliche, bereits von Narben durchsäte Flügelmembran des älteren Drachen zu beißen. Dadurch war sie jedoch kurz in Reichweite von Kalessan, der jetzt seinerseits die Gelegenheit nutzte, sich geschickt in der Luft drehte und ihr eine Klaue in den Hals rammte. Die Drachin löste sich von ihm und brüllte auf, jedoch klang es mehr wie ein lustvolles Stöhnen als ein Schmerzensschrei. Danach verschwand sie wieder in den Wolken.
Kalessan verfluchte sich selbst, dass er auf diese Falle hereingefallen war. Er hatte diese junge Drachin anscheinend gewaltig unterschätzt. Aber man wird nicht so alt, wenn man nicht aus seinen Fehlern lernt...
Er durchbrach erneut die Wolkendecke auf der oberen Seite. In einiger Entfernung flog seine Gegnerin - auch sie hatte ihn entdeckt und flog direkt auf ihn zu. Ein paar Hundert Meter bevor sie aufeinander prallten, tauchte sie in die Wolken ab. Doch diesen Trick kannte Kalessan. Als er hinter sich das Rauschen hörte, drehte er sich blitzartig um und entblößte seine Fänge. Die Drachin, die von unten aus den Wolken hervor kam, einen halben Looping flog, um sich dann von oben überraschend auf ihren Gegner stürzen zu können, hatte nicht erwartet, direkt in die Klauen ihres Feindes zu fallen. Die beiden Kämpfer verkeilten sich kurz ineinander und versuchten, während des freien Falls dem Gegner die Flügel so zu beschädigen, dass dieser nicht mehr fliegen und am Boden zerschellen würde. Beide zogen sich schwere Wunden zu, bevor sie sich voneinander trennten und wieder in den Wolken verschwanden.
Kalessan hatte mehrere tiefe Kratzer an seiner Unterseite und einige Bisswunden am Hals davongetragen, seiner Gegnerin aber dafür ein paar Risse in der linken Flügelmembran und eine tiefe Verletzung am Hinterbein beigebracht.
Doch für ihr Alter war dieses junge Ding erstaunlich erfahren im Kampf. Kalessan hatte schon wesentlich älteren Drachen gegenüber gestanden, die sich ungeschickter angestellt hatten und nicht so lange durchhielten wie diese Drachin. Wirklich schade, dass er sie würde umbringen müssen...
Der Kampf tobte noch über eine Stunde lang, und Kalessan musste feststellen, dass er zwar wesentlich stärker als sein junges Gegenüber war, jedoch bei weitem nicht mehr so agil und schnell. Sein hohes Alter mochte ihm zwar mehr Erfahrung und ausgeklügeltere Kampftaktiken beigebracht haben, doch diese waren im Laufe der Jahre so weit eingestaubt, dass er in der jungen Drachin einen nahezu ebenbürtigen Gegner hatte.
Die Schlacht hätte noch viel länger dauern können, doch Kalessan deutete der Drachin bei einer günstigen Gelegenheit eine kurze Auszeit an. Kurze Zeit später umkreisten sich die beiden wieder unter der Wolkendecke.
"Was ist, machst du etwa schon schlapp?", bellte seine junge Gegnerin mit einem teuflischen Grinsen im Gesicht, obwohl sie aus mehreren Wunden heftig blutete.
"Ich gebe zu, ich bin beeindruckt von deinen Fähigkeiten. So einen guten Kampf hatte ich schon lange nicht mehr. Bevor wir weitermachen möchte ich zumindest noch deinen Namen erfahren!"
"Lady Syrop, zu euren Diensten!", sprach die Drachin und verneigte sich spöttisch in der Luft vor ihrem Gegner.
"Syrop? DU hast all diese Drachentöter zu mir geschickt?"
Die junge Drachin lachte lauthals über die Kalessan offen ins Gesicht geschriebene Verblüffung:
"Ja, das war ich. Da du noch am Leben bist, scheinen sie ihre Aufgabe nicht sehr gut erfüllt zu haben..."
"Aber warum wolltest du mich umbringen? Ich habe dich vorher noch nie gesehen. Was habe ich dir getan?"
"Nun, gar nichts. Umbringen wollte ich dich ja auch nicht."
"Und was wolltest du dann?", fragte der ältere Drache, dessen Verwunderung immer größer wurde.
"Was ich wollte? Aufmerksamkeit! Und die hätte ich wohl kaum bekommen, wenn ich junges Ding mal eben bei dir angeklopft hätte, nicht wahr?"
"Aufmerksamkeit? Das ist alles? Warum das?"
"Wenn du das bis jetzt noch nicht herausgefunden hast, dann können wir diese Angelegenheit genauso gut beilegen, mein Liebster...", antwortete Syrop spöttisch.
Doch Kalessan hatte schon begriffen. Er war überrascht über die Vorgehensweise der jungen Drachin, und er war noch viel mehr überrascht über den Erfolg, den sie damit hatte. Doch es passte alles zusammen. Kalessan konnte nicht umhin, sich selbst den Erfolg ihres Anliegens einzugestehen - nun galt es, entsprechend zu reagieren.
"Dir ist klar, was du da willst?", sagte er.
"Ja!"
"Dir ist außerdem klar, dass ich das schon seit einer Ewigkeit nicht mehr getan habe?"
"Allerdings!"
"Dann lass es uns beenden!"
Syrop nickte zufrieden. Sie beide begannen, sich immer weiter in die Höhe zu schrauben und dabei stetig einander zu umkreisen. Höher und höher flogen sie, durch die Wolken hindurch und noch viel weiter, bis in obere Schichten, wo die Luft schon sehr dünn war, sich dabei immer umkreisend, wie in einem grotesken Tanz der Sonne entgegen.
Dort oben trennten sie sich dann voneinander und flogen auseinander, um sich dann in angemessenem Abstand voneinander gegenüber zu positionieren und ein paar Sekunden mit heftigen Flügelschlägen in der dünnen Luft zu verharren.
"Bist du bereit dafür?", fragte Kalessan die jüngere Drachin, die vor Erschöpfung zitternd sich mühsam ihm gegenüber in der Luft hielt, aber immer noch die Kraft hatte, keck zu antworten:
"Bist du es denn?"
Kalessan brüllte auf und warf sich vorwärts. Mit kräftigen Flügelschlägen steuerte er auf sein Gegenüber zu. Syrop tat es ihm gleich, schrie auf und brauste ebenfalls auf den viel größeren roten Drachen hin.
Die beiden näherten sich einander immer schneller und schneller. Keiner drosselte seine Geschwindigkeit oder drehte gar ab, als sie auf Konfrontationskurs gingen. Lediglich im letzten Moment glaubte Kalessan, eine Spur von Zweifel in den Augen Syrops zu sehen, doch da war es bereits zu spät.
Die beiden Kolosse prallten in der Luft wuchtig aufeinander und beschrieben eine bizarre Pirouette, als sie sich festhielten und umeinander drehten. Blitzartig umwickelte der viel größere Kalessan Syrops Hals und Schwanz mit den seinen, krallte sich an ihr fest, hielt ihre Flügel mit seinen Klauen an den Seiten, sodass sie völlig umklammert war und legte seine eigenen Schwingen an. In einer tödlichen Umarmung stürzten die beiden Drachen sich immer noch drehend kopfüber den Wolken entgegen. Die gefangene Syrop kreischte, riss Kalessans Unterleib mit ihren Klauen auf und biss sich in seinem Hals fest, doch dieser hielt sie in seiner erbarmungslosen Umklammerung fest und schien den Schmerz gar nicht zu spüren.
Immer und immer schneller werdend rauschten sie der Wolkendecke und damit dem tödlichen Boden entgegen, unzertrennlich verbunden.
Und dann machte Kalessan etwas sehr unartiges...
Syrop brüllte auf.
In der Ekstase ihrer Vereinigung und ihres freien Falls stürzten die beiden Drachen durch die Wolkendecke, immer weiter an Geschwindigkeit gewinnend.
Letztendlich durchbrachen sie auch die Wolken, und der Boden kam wie eine gigantische, tödliche Fliegenklatsche rasend schnell auf sie zu.
Man könnte meinen, dass die beiden ewig in dieser Verbindung bis zu ihrem Tod zu Boden hätten stürzen können, doch wenige hundert Meter über dem Wald, in den sie hineinzustürzen drohten, trennte sich Kalessan von Syrop und breitete seine Schwingen weit aus, um den Sturzflug abzufangen. Selbst unter Einsatz seiner Magie riss die ungeheure Wucht des plötzlichen Luftwiderstandes ihm beinahe seine Flügel aus, und fast erschien es, dass er doch noch als ein sehr großer, roter Fleck am Boden enden würde. Doch kurz vor dem Aufprall bekam er noch seinen nötigen Aufwind und schwebte in einer weiten Kurve wieder nach oben, wobei er einige Baumkronen mit seinen Hinterklauen streifte. Danach vollzog er eine elegante Wendung in der Luft und flog in Richtung Syrop.
Diese konnte den Sturzflug nicht so gut abfangen. Auch sie breitete ihre Schwingen aus, ging in einen steilen Sinkflug und hoffte, kurz vor dem Aufprall abdrehen zu können, doch der wenige Spielraum, den sie hatte, reichte nicht aus. Die Drachin rauschte in die Baumkronen hinein, entwurzelte viele Bäume und pflügte eine große Schneise in den Wald, als sie auf dem Boden auftraf und mehrere Dutzend Meter weit rutschte, bevor sie zum Stillstand kam.
Kalessan zerdrückte noch viel mehr Bäume, als er neben der übel zugerichteten Drachin landete, die sich beim Aufprall wahrscheinlich sämtliche Knochen im Leib gebrochen hatte, aber immer noch am Leben war.
Die Bewunderung des älteren Drachen für sie kannte keine Grenzen, als Syrop noch die Kraft fand, zu ihm aufzusehen und mit einem matten Lächeln hervorzubringen:
"Das müssen wir unbedingt noch einmal machen!"
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Und schon geht's weiter zum 13. und letzten Kapitel...

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