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Teil 1: Aufbruch
Sie öffnete ihre Augen...
In ihrem Zimmer herrschte Halbdunkel, da die
Sonne noch nicht ganz aufgegangen war. Denya stand auf und ging zum Fenster,
um sich nach dem Lärm zu erkundigen, der sie aufgeweckt hatte. Es
schien sich um eine große Menschenmenge auf dem Platz unter dem Fenster
ihres Hauses zu handeln...
Nun, es war nicht wirklich ein "Haus" - es
war mehr eine Burg. Denya war die Tochter von Baron Leoric und Baronin
Margareth, den Herrschern kleiner Ländereien irgendwo im Osten des
Kontinents.
Als sie an ihr Fenster kam, sah sie die vermutete
Menschenmenge auf dem Platz vor dem Burgtor. Es sah so aus, als würden
die Soldaten ihres Vaters sich auf irgend etwas vorbereiten...
Sie zog sich an und ging hinunter zum Thronsaal
(natürlich war er nicht so groß, wie die Thronsäle der
Könige, aber besser als gar nichts), wo sie schon ihre Eltern entdeckte,
die hektische Anweisungen an unzählige Leute erteilten - sie sahen
sehr beschäftigt aus.
Ihr Vater Leoric hatte seine besten Jahre
bereits hinter sich. Er war 53 Jahre alt, hatte langes schwarzes Haar und
einen gleichfarbigen Bart - graue Strähnen waren im Haar des strengen,
aber gutherzigen Mannes noch nicht zu erkennen.
Ihre Mutter Margareth sah nicht sehr anders
aus: Sie war zwei Jahre jünger als ihr Mann und ein wenig kleiner,
doch auch sie trug lange schwarze Haare und, wie ihr Mann, eine schwarze
Robe - Schwarz war die Lieblingsfarbe der beiden.
Noch eine Sache, die sie beide gemeinsam hatten,
waren ihre magischen Fähigkeiten. Da es im gesamten Königreich
keine talentierteren Magier gab als Denyas Eltern, wurden sie oft für
entsprechendes Entgelt von anderen Baronen oder gar Königen gerufen,
um die verschiedensten Aufträge auszuführen, die normalerweise
unmöglich gewesen wären. Dennoch, sehr häufig mussten sie
ihre magischen Fähigkeiten nicht einsetzen.
Nun, ihre Eltern hatten sehr viel Zeit für
sie und gaben ihr nahezu alles, was sie sich wünschte. Sie durfte
frei in der Stadt umherwandern und tun und lassen, was sie wollte. Mit
einer Ausnahme: Sie durfte niemals und unter keinen Umständen die
Stadt verlassen.
Sicherlich war die Stadt nicht allzu klein
und es gab viel zu entdecken, doch manchmal stand sie einsam auf den Stadtmauern
und ließ ihren Blick in die Ferne schweifen. Sie war nicht unglücklich
in der Stadt, doch der Wunsch, hier hinaus zu kommen war immer da gewesen.
Natürlich hatte sie darüber nachgedacht einfach wegzulaufen,
doch sie verwarf den Gedanken immer wieder – sei es, weil es keinen unbewachten
Ausgang aus der Stadt gab oder weil sie ihre Eltern, die immer so nett
zu ihr waren, nicht betrügen wollte - sie hatte versprochen, niemals
zu fliehen.
Also lebte Denya ihr Leben in der Burg für
20 lange Jahre - bis heute...
"Guten Morgen, Mutter, Vater! Sagt mal, was
macht ihr hier?" fragte sie.
Ihr Vater drehte sich um und sagte mit seiner
tiefen, vollen Stimme: "Guten Morgen, Schatz! Gut geschlafen?"
"Ja, danke, aber sag mir: Was soll das alles
hier? Habt ihr wieder einen Auftrag bekommen?"
Er lächelte. "Ich denke, du erinnerst
dich an dein Versprechen, diese Stadt niemals zu verlassen?"
"Natürlich... wieso fragst du?" fragte
sie verwirrt.
"Heute werden wir dir erlauben, es zu brechen."
Sie verstand nicht. "Was meinst du?"
Ihre Eltern grinsten nur.
"Ihr meint, ich darf aus der Stadt raus? Heute?
Oh, Mutter, Vater, das ist wundervoll!"
Margareth sagte: "Wir haben dich zu lange
in diesem alten verstaubten Gebäude festgehalten. Es ist nun Zeit,
hier raus zu kommen und die Welt zu sehen."
"Aber ihr habt immer gesagt, es wäre
zu gefährlich dort draußen..."
"Oh ja, ist es auch noch! Wir werden natürlich
auch mit dir kommen. Du musst dich vor absolut nichts fürchten, Denya!"
"Aber... wieso gerade jetzt? Wieso haltet
ihr mich hier 20 Jahre lang fest, nur um mich dann einfach so gehen zu
lassen?" fragte sie skeptisch.
"Du bist nun alt genug. Es sind zwar immer
noch böse Menschen dort draußen – aber du bist nun so erfahren,
dass du auf dich selbst aufpassen kannst. Außerdem wollten wir dir
zu deinem 20. Geburtstag ein ganz besonderes Geschenk machen – und der
ist ja schließlich in 6 Tagen."
Damit war alle Skepsis beseitigt.
"Oh, das ist das schönste Geschenk, das
ihr mir je gemacht habt."
Mit diesen Worten umarmte sie ihre beiden
Eltern und brach in Tränen aus.
Am Nachmittag gab ihr Vater noch eine Rede
vor der Stadtbevölkerung, in der er den Grund ihres Aufbruchs beschrieb
und ihre Rückkehr in 12 Tagen ankündigte. Er übergab die
Stadt einem seiner Ratgeber für die Zeit ihrer Abwesenheit und dann
brachen sie auf. Denya bekam eine Gänsehaut, als sie durch die großen
Stadttore ritten – das war es, wovon sie all die Jahre geträumt hatte.
Aber es ging so schnell... 20 Jahre – und nun, einfach so? Außerdem
fragte sie sich, wieso ihre Eltern 20 ihrer Wachen mit sich nahmen – normalerweise
reisten sie alleine. Sie fragte ihren Vater.
"Deine Sicherheit ist unser größtes
Anliegen. Wir könnten es nicht ertragen, wenn dir etwas zustößt.
Und wir können nicht immer bei dir sein - selbst Magier müssen
schlafen." Er lächelte.
"Es ist nur zu deiner Sicherheit", wiederholte
er.
"Aber ihr habt gesagt, ich wäre alt genug,
um auf mich selbst aufzupassen!" protestierte sie.
"Wir sind immer noch besorgt um dich - und
wir wollen natürlich nichts riskieren, Denya."
Obwohl es ihr etwas seltsam erschien, zuckte
sie nur mit den Schultern, ritt weiter und genoss ihre neue Freiheit.
Teil 2: Reise
Sie reisten nun schon seit zwei Tagen auf dieser
Straße, immer in Richtung der Berge. Sie schliefen immer im Wald
und abseits der Straße. Denya fragte sich, warum, doch ihr Vater
sagte nur, es sei zu gefährlich, direkt am Straßenrand zu rasten,
da viele Räuber sich hier nachts umhertreiben würden und dass
es zu teuer wäre, mit 23 Mann in einer Taverne zu übernachten.
Es war zwar nicht sehr komfortabel, in einem Zelt zu schlafen, aber da
dies eine völlig neue Erfahrung für Denya war, verdrängte
eine Sache die andere.
Thomas hatte Wache. Die Bäume ragten hoch
über ihm als dunkle Schatten auf und die Geräusche des nächtlichen
Waldes umgaben ihn. Seine Wachperiode war fast vorbei - bald würde
er gehen, Daniel wecken und ihm die Wache übergeben. Er war sehr müde
und freute sich bereits darauf, in einem warmen Schlafsack zu liegen, so
unangenehm dieser auch sein mochte.
Doch plötzlich hörte er ein Geräusch
aus dem Gebüsch links von ihm - ein seltsames Grunzen. Ein Wildschwein?
Oberste Priorität hatte die Sicherheit von Denya... und Wildschweine
können sehr gefährlich sein. Er weckte Daniel.
"Hey, Daniel!"
"Wasislos?" murmelte Daniel noch halb im Schlaf.
"Ich glaub da ist irgendein Tier dort drüben
in den Gebüschen. Vielleicht ein Wildschwein."
Schon wieder dieses Grunzen. Daniel war sofort
wach.
"Nein... nein, das ist kein Wildschwein! Ich
war bereits auf Wildschweinjagden, die klingen ganz anders, glaub mir."
"Nun, was könnte es dann sein?"
"Ich weiß nicht" - er pausierte - "Lass
es uns rausfinden!"
Thomas war nicht sehr erfreut darüber,
in den dunklen Wald zu gehen – aber er wollte nicht erleben, wie Margareth
und Leoric reagieren würden, wenn ein wild gewordenes Wildschwein
durch das Lager rennt und alles demoliert.
Sie entzündeten ihre Fackeln, zogen ihre
Schwerter und gingen in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Nach
100 Metern kamen sie an eine Felswand, in der ein Höhleneingang zu
sehen war.
"Denkst du, es kam von da drinnen?" fragte
Thomas.
"Ich weiß genauso viel wie du, Daniel!
Aber ich würde zu gerne wissen, was in dieser Höhle ist...",
antwortete er mit einem neugierigen Unterton – und ging hinein.
"Daniel, bist du wahnsinnig? Komm zurück!
Lass uns lieber gehen und die anderen wecken!" flüsterte Thomas -
vergeblich.
Schon bald wurde Daniel von der Dunkelheit
verschlungen und später auch das Licht seiner Fackel, während
Thomas noch unschlüssig vor dem Höhleneingang stand. Einerseits
hatte er zu große Angst, in die Höhle zu gehen, andererseits
wollte er seinen Freund nicht alleine lassen.
Plötzlich sah er einen hellen Lichtblitz
im Inneren.
"Daniel! ...Oh, verdammt!!!"
Thomas schluckte seine Angst hinunter und
ging in die dunkle Höhle.
Der Gang wurde immer breiter und höher,
bis er schließlich acht Meter hoch und 6 Meter breit war. Schon bald
sah er auch das Licht von Daniels Fackel. Er rannte los und rief: "Daniel,
was ist..."
Er brach seinen Satz abrupt ab. Daniel konnte
ihn nicht mehr hören. Die Fackel lag auf dem Boden – neben den verbrannten
Überresten von Daniels Körper. Thomas stand einfach nur da. Einen
Moment... Zwei... Dann kniete er sich neben der Leiche nieder. Der Geruch
von verbranntem Fleisch stach ihm in die Nase und er fühlte, als ob
er sich bald übergeben müsste.
Was zur Hölle hatte das getan?
Nun verfluchte er sich nochmals - er hätte
Hilfe holen sollen, bevor er in diese Höhle ging. Das Wesen, das Daniel
so zugerichtet hatte, musste immer noch hier in der Nähe sein. Wahrscheinlich,
um dasselbe mit ihm zu tun... Er stand hastig auf – nur, um etwas zu sehen,
was er vorher noch nie erblickt hatte. Seine Augen weiteten sich voller
Schrecken. Er konnte nicht schreien. Er konnte sich nicht bewegen - er
war wie versteinert.
Es herrschte eine schreckliche Stille.
Danach das grässliche Geräusch splitternder
Menschenknochen.
Und wieder Stille...
Kampfgeräusche weckten Denya. Sie lag
in ihrem Zelt und hörte die Schreie der Soldaten ihres Vaters, der
Pferde und von etwas anderem, etwas sehr seltsamen. Ein Geräusch wie
ein lautes, wütendes Quieken. Sie stand auf, um draußen zu sehen,
was los wäre – nur um von ihrem Vater zurück ins Zelt gedrängt
zu werden.
"Geh rein und bleib da, das hier ist nichts
für unerfahrene Jugendliche wie dich!", schrie er. Und schon war er
wieder draußen und rief irgend etwas.
Also setzte sie sich hin und wartete, ein
wenig verletzt durch die Worte ihres Vaters. Was hatten sie noch vor zwei
Tagen gesagt? "Du bist nun alt genug, um auf dich selbst aufzupassen!"?
Plötzlich konnte sie einen grellen Lichtblitz
durch die Zeltplane hindurch sehen. Danach kam wieder das Quieken - diesmal
ein Laut des Schmerzes. Dann Stille. Ihre Mutter kam herein. Sie hatte
Schweiß auf ihrer Stirn.
"Du kannst jetzt rauskommen - es ist nun sicher."
Als sie nach draußen ging, offenbarte
sich ihr eine schreckliche Szenerie: In ihrem Lager lagen die Leichen einiger
Wachen. Der süßliche Geruch des Todes hing in der Luft. Und
in der Mitte des Rastplatzes lag der Körper des größten
Wildschweins, das sie je gesehen hatte. Es war mindestens doppelt so groß
wie die Wildschweine, die von den Jägern immer in die Stadt gebracht
wurden.
Das Tier war mit Pfeilen gespickt – doch das
Wildschwein war nicht durch die Pfeile gestorben, sondern durch den magischen
Blitz ihrer Eltern, der seine Seite getroffen hatte.
"Oh, ihr Götter!" flüsterte sie.
In der Nähe standen ihre Eltern und sprachen
mit einem der Wächter.
"Wie viele haben wir verloren?" fragte ihr
Vater den Mann.
"Fünf sind tot. Und wir sind immer noch
auf der Suche nach Daniel und Thomas.", antwortete der Soldat, Barlic war
sein Name, erinnerte sie sich.
"Verdammt!"
"Gibt es hier viele solcher Biester?" fragte
Denya.
"Ich denke nicht", sagte Barlic, "dies ist
bei weitem das größte Wildschwein, das ich je gesehen habe!"
"Aber wieso sollte es herkommen und uns angreifen?
Und was ist mit Daniel und Thomas?" - die beiden hatten sie oft bei ihren
Ausflügen auf die Stadtmauer begleitet und waren zwei ihrer besten
Freunde.
"Wir denken, dass Thomas Daniel aufweckte,
dann mit ihm in den Wald ging, wo dann dieses Wildschwein... Es tut mir
leid, ich weiß, sie waren eure Freunde. Wir suchen noch ihre Leichen",
antwortete er traurig.
Alle waren still, als ein Ruf von der anderen
Seite des Lagers kam: "Wir haben sie gefunden!"
Sofort gingen Denyas Eltern und Barlic in
diese Richtung. Sie folgte ihnen. Als sie näher kam, sah sie dann
die Leichen von Daniel und Thomas.
Daniels Körper war ganz verbrannt und
stank fürchterlich. Ein schrecklicher Anblick. Doch Thomas‘ Leiche
war viel schlimmer: Thomas war an seiner Taille in zwei Hälften gerissen
worden. Eingeweide hingen aus seinem Körper - aber nicht nur seine
Leiche war schlimm anzusehen... es war der Blick in seinen Augen... Reiner
Schrecken und Todesangst lag in den weit aufgerissen Augen. Sie ertrug
es nicht: Sie drehte sich um und erbrach auf den Boden. Ihre Mutter kam
zu ihr.
"Tut mir leid für dich - es muss schrecklich
sein, so früh mit dem Tod konfrontiert zu werden... und auf diesem
Art und Weise..."
"Hast du den Blick in seinen Augen gesehen?"
fragte Denya.
"Ja...", antwortete Margareth leise.
"Ein Wildschwein kann so etwas doch nicht
machen!?"
"Ich weiß nicht..."
"Ein verdammtes Wildschwein kann nicht einfach
so Leute verbrennen!" rief sie und zeigte auf Daniels verbrannte Leiche.
Auf einmal fragte ihr Vater Barlic: "Wo habt
ihr sie gefunden?"
"Ähm... in einer Höhle in dieser
Richtung", antwortete dieser mit einer entsprechenden Geste.
"Ich möchte sie mir ansehen... jetzt!"
Der Soldat war kurz irritiert, dann befolgte
er den Befehl ihres Vaters und ging in den Wald. Leoric folgte ihm. Margareth
wandte sich wieder Denya zu: "Ich werde mit ihnen gehen. Du bleibst hier,
hier ist es sicher!" Versprichst du mir das?"
Zuerst wollte sie widersprechen. Dann rollte
sie jedoch mit den Augen und sagte: "Ja, Mutter."
"Gut!" Damit ging Margareth in den Wald.
Es schien alles irgendwie nicht zusammen zu
passen: Der verbrannte Körper von Daniel, der Blick in Thomas‘ Augen,
das Riesenwildschwein... Das seltsame Verhalten ihrer Eltern nicht zu vergessen.
Irgend etwas stimmte hier nicht!
Eine Stunde später kehrten ihre Eltern
zurück.
"Also, habt ihr irgend was rausgefunden?"
fragte Denya neugierig.
"Die Höhle war leer", antwortete Leoric.
"Nun, was könnte dann Daniel und Thomas
getötet haben?"
"Ein Mensch natürlich, wahrscheinlich
irgendein Magier. Woran dachtest du denn?"
"Kein menschliches Wesen könnte einem
Soldaten wie Thomas solche Angst einjagen! Geschweige denn, ihn in zwei
Teile reißen!"
"Unterschätze einen Magier nicht! Wir
wissen nicht, was Thomas gesehen hat - und vielleicht werden wir es auch
nie wissen! Also denk nicht mehr darüber nach!" antwortete Margareth.
"Wir brechen bald auf, also pack deine Sachen zusammen!"
Denya war mit den Antworten ihrer Eltern überhaupt
nicht zufrieden. Warum sollte ein Magier mitten im dunkelsten Wald zwei
Menschen attackieren? Und was war jetzt mit dem Wildschwein? Doch sie fragte
nicht mehr, sie kannte ihre Eltern zu gut – sie würde jetzt keine
Antworten mehr bekommen.
Die 13 noch übrigen Wachen waren bald
damit beschäftigt, das Lager abzubauen und sich für die Weiterreise
vorzubereiten. Doch es herrschte eine drückende Atmosphäre zwischen
ihnen. Sie hatten einige ihrer Freunde verloren und ihre Herren wollten
nun einfach weiter reisen, als ob nichts passiert wäre. Es kam ihnen
sehr seltsam vor, doch Denya konnte ihre Eltern ziemlich gut verstehen
- auch sie wollte so schnell wie möglich weg von diesem schrecklichen
Ort.
Schließlich beerdigten sie ihre Kameraden
und hielten eine Schweigeminute. Dann ging es mit ihrer Reise in die Berge,
die am Horizont bereits zu sehen waren, weiter. Aber heute waren alle in
einer miesen Stimmung und es wurde wenig geredet – am wenigsten über
die Ereignisse der letzten Nacht.
Am vierten Tag reisten sie durch ein mittelgroßes
Dorf. Einige der Leute sahen von ihrer Arbeit auf, um die Reisenden zu
beobachten. Denya sah Bauern, Schmiede, Händler, junge Mädchen
und Kinder, die auf den Straßen spielten – alles ging seinen gewohnten
Gang. Doch eine Person stach aus der Menge heraus: Ein alter Mann mit weißem
Vollbart und roter Robe. Er sah aus wie ein Magier. Und er sah sie mit
einem Ausdruck im Gesicht an, den sie noch nie zuvor gesehen hatte: Sein
Gesicht drückte nichts aus. Nichts! Kein Zeichen von Interesse, Hass,
Liebe oder sonstigen Gefühlen. Er sah sie nur mit seinem kalten Gesichtsausdruck
an. War dies der Magier, der Daniel und Thomas getötet hatte? Hatte
er das Wildschwein in ihr Lager gesendet?
Auf einmal wurde ihr Pferd unruhig und bäumte
sich auf. Sie versuchte, es schnell mit guten Worten zu beruhigen. Doch
als sie wieder in die Richtung des alten Mannes sah, war dieser verschwunden.
"Schatz, was ist denn passiert?" fragte ihre
Mutter.
"Nichts, nichts, mein Pferd wurde nur kurz
unruhig. Alles in Ordnung... hast du diesen komischen alten Mann mit der
Robe dort drüben gesehen?"
"Nein - alter Mann?"
"Er stand einfach nur da", sie zeigte auf
den Punkt, wo der Mann eben noch gestanden hatte, "und sah mich seltsam
an."
"Hm... wir verhalten uns besser vorsichtig
- vielleicht war es ja nur ein verrückter alter Mann... aber man weiß
ja nie."
Dann wollte sie nichts mehr sagen und schien
für den Rest des Tages in Gedanken versunken.
Diese Nacht verbrachten sie in einem Gasthaus
direkt an der Straße. Denyas Vater sagte, es wäre nun doch zu
gefährlich, in den Wäldern zu schlafen - vielleicht war er doch
besorgter über den alten Mann, als er zugab.
Und diese Nacht hatte Denya einen Traum:
Sie sah zwei Magier einen magischen Kampf
austragen. Einer davon war ihr Vater Leoric. Den anderen kannte sie nicht,
aber sie glaubte, ihn von irgend woher zu kennen.
Dann sah sie den alten Mann mit der roten
Robe aus dem Dorf. Er sprach zu ihr ohne seine Lippen zu bewegen: Komm
zu mir... Komm... Komm zu mir, Denya... Denya...
Dann sah sie einen dunklen Berg bei Nacht.
Der große volle Mond stand direkt über der Bergspitze, hell
scheinend. Doch plötzlich färbte er sich rot, so als ob jemand
Blut über die Oberfläche des Mondes gießen würde.
Und Stimmen erklangen, flüsternd: "Tod... Tod... Tod". Und als der
Mond immer mehr mit Blut überzogen wurde, stieg auch die Lautstärke
der Stimmen. Schließlich schien ein blutroter Mond auf den Berg und
die Stimmen schrien:
"TOD"
Das Geschrei war unerträglich laut.
"TOD"
Sie wollte sich die Ohren zuhalten.
"TOD"
Sie wachte auf...
"Tod"
Es echote in ihrem Kopf.
"Tod..."
Ihr Atem ging schnell.
Ihr Herz pochte, als ob es aus der Brust springen
wollte.
Ein seltsamer Traum,
dachte sie.
Sie hörte ein Geräusch von draußen
– ein Rascheln. Sie ging zu ihrem Fenster. Doch das Einzige, was sie sah,
war der Rand des Waldes vor ihr. Aber war da nicht ein Schatten in den
Büschen? Sie versuchte, genauer hinzusehen, doch eine große
Müdigkeit überfiel sie auf einmal, genauso wie der Gedanke, dass
es gut wäre, wieder ins Bett zu gehen. Ihr letzter Gedanke vor dem
Einschlafen war: Nur ein Traum! Nur ein Schatten in den Wäldern!
Nichts wichtiges...
Am nächsten Tag reisten sie durch offenes
Gelände. Es war ein klarer, sonniger Tag und die Gemeinschaft war
in guter Laune, ohne irgend welche Gedanken bei den Geschehnissen der vergangenen
Tage. Sogar Denyas Eltern, die sich bis jetzt sehr still und zurückgezogen
verhalten hatten, waren in scherzhafter Stimmung und sie lachten mit Denya
und ihren Soldaten. Ihr Traum war schon fast vergessen. Immer noch hallte
der Gedanke Nur ein Traum! Nichts wichtiges... in ihrem Gedächtnis.
Deswegen, und weil sie nicht die Stimmung ihrer Eltern verderben wollte,
erzählte sie keinem etwas davon. Also reisten sie weiter, mit den
Bergen vor und der Trauer hinter sich.
Um die Mittagszeit reisten sie wieder auf
einer Straße am Rande eines Waldes, als auf einmal etwas sehr beunruhigendes
passierte:
Eine dunkle Wolke erschien direkt über
ihren Köpfen - aus dem Nichts. Sie begann zu wachsen und schon bald
erstreckte sich ein weiter dunkler Teppich über ihren Köpfen
und grollender Donner war zu hören. Alle saßen auf ihren Pferden,
den Kopf im Nacken, jeder mit einem alarmierten oder leicht verängstigten
Gesichtsausdruck - besonders Denyas Eltern.
Dann setzte ein schwerer Regen ein und sie
alle waren binnen Sekunden bis auf die Haut durchnässt.
"Das... das ist nicht gut!" sagte einer der
Soldaten.
Ein anderer erwiderte: "Hey, das is nur’n
Sturm! N‘ bisschen Regen und Donner werden uns schon nich umbringen!"
Es war bittere Ironie, dass gerade dieser
Mann vom ersten Blitz getroffen wurde. Der Blitz war eine lebende Verbindung
zwischen den dunklen Wolken und dem armen Pferd und seinem Reiter, welcher
zuckte und schrie. Nach einigen Sekunden sanken beide, Reiter und Pferd,
qualmend und tot zu Boden.
Und dann brach Panik aus...
Die Pferde drehten durch und rannten voller
Panik durcheinander - die Soldaten verhielten sich nicht anders.
Sie konnte Leoric schreien hören: "ZIEHT
ALLE METALLISCHEN GEGENSTÄNDE AUS UND WERFT EUCH FLACH AUF DEN BODEN!!!"
Ein anderer Soldat wurde vom Blitz getroffen.
Die Wolke, die sicherlich nicht natürlichen Ursprungs war, schien
sich ihre Opfer auszusuchen, als ob sie von irgend einer unbekannten Kraft
gelenkt werden würde.
Denyas Pferd bäumte sich auf und warf
sie in den Schlamm, wo sie wegen den Anweisungen ihres Vaters auch liegen
blieb. Sie beobachtete das Chaos um sie herum – alles schien wie in Zeitlupe
abzulaufen: Sie sah einige Wachen, die versuchten, von ihren Pferden herunter
zu kommen und ihre Rüstungen abzulegen – einige von ihnen waren nicht
schnell genug und wurden von den mächtigen Blitzen getötet oder
von ihren eigenen Pferden nieder geritten.
Plötzlich sah sie ein wild gewordenes
Pferd direkt auf sich zustürmen. Sie rollte sich zur Seite, nur den
Bruchteil einer Sekunde, bevor einer der Hufe direkt neben ihrem Gesicht
auf den Boden schlug und Schlamm aufwirbelte.
Dann stoppte der Regen.
Sie sah auf - die dunkle Wolke war weg...
einfach verschwunden! Sechs Wachen hatten die magische Attacke überlebt.
Die anderen waren verbrannt, nieder geritten worden oder waren geflohen.
Sie sah ihre Eltern auf sie zu rennen.
"Denya, geht es dir gut?", fragte ihre Mutter
mit besorgter Miene.
Aber Denya antwortete nicht. Sie starrte nur
geradeaus, direkt zwischen ihre Eltern hindurch. Was sie sah verursachte
aus irgend einem Grund eine unaussprechliche Furcht in ihr.
"Mutter? Vater?"
Sie drehten sich um und sahen es auch. Der
alte Mann in der roten Robe stand ungefähr 50 Meter von ihnen entfernt
und schaute ihnen zu.
Dann explodierte er.
Er zerplatzte zu einer großen Wolke
aus roten Partikeln, die sich im Kreis zu drehen begannen, wie ein bizarrer
Tornado.
Sie hörte die erstaunten und angstverzerrten
Schreie der Wachen - hatte aber nur für das wundervolle Spektakel
ein Auge.
Bald schon war eine Silhouette in der Wolke
zu erkennen. Ein großer Schatten.
Dieser Schatten schien mehr und mehr an Konsistenz
zu gewinnen, während die Wolke an Dichte verlor. Sie konnte schon
einige Details in dem riesigen Schatten erkennen - und begann an sich selbst
zu zweifeln.
Nein... Nein! Das... das
ist unmöglich! Das ist nicht wirklich!, dachte sie - aber
sie beobachtete die Transformation, die sich vor ihren Augen abspielte,
weiter. Wurde sie verrückt? Sie sah kurz zu ihren Eltern hinüber
- aber deren Gesichter sagten ihr, dass sie alle dasselbe sahen.
Es waren nur ein paar Sekunden – ihr kam es
vor wie mehrere Stunden - bis die Verwandlung beendet und sie sich sicher
war, keine Halluzinationen zu haben.
Das war real! Ein lebendiger roter Drache
stand 50 Meter entfernt von der kleinen Gruppe Menschen. Er war 30 Meter
lang und hatte riesige, fledermausartige Flügel, deren Spannweite
mindestens ebenso lang war. Er hatte viele Stacheln auf seinem Rücken,
lange Hörner auf dem Kopf, einen langen Hals, scharfe Klauen... Ja...
das IST ein wirklicher Drache, dachte sie. Keine Täuschung,
keine Magie, keine Illusion - Realität!
Und der Drache sah SIE an.
Das einzige, was Denya tun konnte, war, in
die smaragdgrünen Augen der Kreatur zu starren. Sie wusste nicht,
was sie aus diesem Blick lesen sollte. Er war nicht sehr angsteinflößend
oder hasserfüllt. Er war nur in gewisser Weise faszinierend. Auf einmal
breitete der Drache seine Flügel aus und begann in ihre Richtung zu
fliegen.
"OH IHR GÖTTER, ER WIRD UNS ALLE TÖTEN!
FLIEHT! FLIIIEEEHT!" schrie einer der Soldaten und verursachte eine weitere
Panik zwischen seinen Kameraden. Die Wachen begannen in verschiedene Richtungen
zu rennen. Dann kam der Drache. Er öffnete sein Maul und spie eine
weiße Flamme, die den Soldaten Barlic und einen anderen Mann in Asche
verwandelte.
Das war zu viel für sie. Sie drehte sich
um und lief voller Panik in den Wald. Sie konnte nicht mehr sehen, wie
ihre Eltern zum magischen Gegenschlag mit Feuerbällen ansetzten, was
dem Drachen nichts ausmachte. Und sie konnte nicht sehen, wie der Drache
ihr interessiert zusah, als sie in den Wald floh.
Sie rannte, wie nie zuvor in ihrem Leben.
Zweige peitschten ihr ins Gesicht und hinterließen blutige Schnitte
- sie beachtete den Schmerz nicht und rannte weiter. Weg von dem Tod, weg
von dem Feuer. Schließlich fand sie sich auf einer Lichtung im Wald
wieder. Sie war völlig außer Atem, legte die Hände auf
die Knie und atmete tief durch. Doch irgend etwas war falsch... sie hörte
nichts - keine Tiere, keine Vögel...nichts! Nur der Wind, der in den
Bäumen raschelte. Doch... da war kein Wind. Die Bäume bewegten
sich nicht.
Denya war wie versteinert, als der gigantische
Schatten über ihr auftauchte.
Das Letzte, woran sie sich erinnerte, bevor
sie ihr Bewusstsein verlor, war, wie sie von zwei riesigen Klauen durch
die Luft getragen wurde...
Teil 3: Prophezeiung
Ein roter Mond...
Der Gestank des Todes...
Das Feuer...
Die grünen Augen...
Große, grüne Augen...
Sie lag auf hartem aber ebenem Felsen. Zunächst
war sie praktisch blind. Dann gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit.
Sie lag in einer Höhle, starrte an die Wand vor ihr und versuchte,
sich zu erinnern, was passiert war – und wieso sie hier lag. War alles
nur ein böser Traum gewesen?
Sie hörte ein Geräusch hinter sich
und drehte sich um. Da lag der große rote Drache, den Eingang der
Höhle blockierend und sie beobachtend. Sofort überschwemmten
sie die Erinnerungen. Sie stand schnell auf und ging langsam rückwärts,
bis sie mit dem Rücken an die Höhlenwand stieß. Der Drache
beobachtete sie einfach nur. Dann hörte sie sich selbst denken:
Habe keine Angst!
Aber sie hatte Angst! Warum dachte sie so
etwas?
Ich werde dir nichts tun.
Warum dachte sie solch seltsame Dinge? War
sie nun vollkommen durchgedreht? Doch da kam ihr eine Idee:
"Sprichst... sprecht ihr mit mir?", fragte
sie den Drachen und kam sich ein wenig lächerlich dabei vor.
Sie dachte...
Nein... der Drache sagte: Ja.
"Ihr sprecht zu mir... durch meine Gedanken?"
Ich habe keine Stimmbänder so wie
deine Spezies, also muss ich mich auf andere Weise für dich verständlich
machen, Denya.
Es kam ihr vor, als würde sie mit sich
selbst reden. Doch dann erinnerte sie sich an ihre Situation.
"Woher wisst ihr meinen Namen? Warum habt
ihr mich hierher gebracht? Wieso habt ihr uns angegriffen?" fragte sie
ärgerlich.
Deine Rasse stellt immer so viele Fragen
auf einmal..., dachte sie ein wenig amüsiert - das war verrückt!
Nun, ich weiß viel über dich,
Denya, und ich habe dich hergebracht, weil ich dich beschützen will
- ich musste die anderen Menschen dafür leider töten.
"Aber ich war die ganze Zeit über in
Sicherheit - bis ihr mit euren magischen Tricks aufgetaucht seid! Ihr wart
die einzige Gefahr auf meiner Reise!"
Es wurde immer verrückter: Sie stand
vor einem echten Drache, der sie jederzeit auf 1001 verschiedenen Wegen
umbringen konnte - und sie war drauf und dran, ihn zu beschimpfen und so
sehr wütend zu machen. Aber sie hatte seltsamerweise keine Angst -
und nun war es sowieso zu spät, um damit aufzuhören. Doch zu
ihrem Erstaunen wurde der Drache nicht wütend, sondern... lächelte!
Nun, das Zeigen seiner großen scharfen Zähne schien ein Lächeln
zu sein - obwohl es wahrscheinlich selbst im Herzen des mutigsten Kriegers
eine Panik verursacht hätte.
Du bist wütend - ich verstehe das,
Denya. Aber du musst mir glauben!
"Wieso sollte ich euch glauben, Drache? Ihr
habt mich entführt, mich von meinen Eltern getrennt und ihr haltet
mich in einer dunklen Höhle gefangen!"
Zu allererst bist du nicht gefangen. Wenn
du gehen willst: Dort ist der Ausgang aus meiner Höhle.
Er zeigte mit einer seiner Klauen auf den
Höhleneingang, durch den ein wenig Tageslicht einströmte.
Doch bevor du gehst, solltest du noch etwas
über deine Eltern erfahren.
Zuerst war sie nur erstaunt: Der Drache entführte
sie, nur um sie kurze Zeit später wieder laufen zu lassen?
"Ihr würdet mich gehen lassen? Einfach
so?"
Der Drache nickte.
Sie dachte nach.
"Was sollte ich über meine Eltern wissen?"
Leoric und Margareth sind nicht deine Eltern.
Sie sagte zunächst nichts.
Das ist nicht wahr... nein,
das ist nicht wahr! Der Drache lügt... ja, es muss eine Lüge
sein..., dachte sie. Aber sie war nicht ganz so überzeugt
davon, wie sie hätte sein sollen...
VERDAMMT, DENYA, DAS KANN
EINFACH NICHT WAHR SEIN!!!, scholt sie sich selbst - wie konnte
sie sich durch so eine billige Lüge in Zweifel bringen lassen?
Nachdem sie eine Zeit lang still mit sich
selbst gerungen hatte, fragte sie dann trotzdem: "Könnt ihr diese
Aussage beweisen, Drache?"
Ich denke schon... doch dazu musst du mir
vertrauen!
"Ich frage euch noch mal, Drache: Wieso sollte
ich euch trauen, nach all dem, was passiert ist?"
Nun... ich habe dich nicht getötet...
Das war ein guter Grund... Wenn er sie töten
wollte, warum sollte er solche Spiele spielen?
"Und wie wollt ihr es beweisen?", fragte sie
tonlos.
Ich kenne einen Spruch, der dir bereits
vergessene Erinnerungen zurück bringen kann.
"Aha... aber sagt mir: Wie soll das beweisen,
dass meine Eltern nicht meine Eltern sind?", fragte sie ärgerlich.
Ich kann dir dabei helfen, die Erinnerung
an deine wirklichen Eltern und wie sie von Leoric und Margareth umgebracht
wurden, zu suchen.
"Meine... sie töteten meine "richtigen"
Eltern? Das ist absurd!", sie lachte - doch es klang nicht sehr überzeugend.
Tu es oder lass es - es ist deine Entscheidung...
doch ich verspreche, dass ich dir nichts tun werde.
Sie dachte drüber nach... was könnte
er schon mit ihr machen? Was würde passieren? Es würde schon
nicht von Nachteil sein...
"Nun gut - zeigt mir, was ihr mir zu zeigen
habt. Obwohl ich bezweifle, dass ihr die Wahrheit sprecht."
Ich kann dir nur zeigen, was du schon weißt,
was jedoch tief in deinem Gedächtnis vergraben liegt. Leg dich hin!
Sie zögerte einen Moment - dann tat sie,
wie der Drache gesagt hatte und legte sich auf den harten Boden. Der Drache
bewegte eine seiner Krallen in ihre Richtung. Plötzlich überkam
sie eine Panik. Ihr Herzschlag und ihr Atem wurden schneller. Sie dachte:
Er wird mich töten, oh ihr Götter, er wird mich
in tausend Stücke zerfetzen...
Ich muss deinen Kopf berühren, um
den Spruch ausführen zu können. Hab keine Angst!
Und sie beruhigte sich wirklich. War das eine
Art von Magie?
Nun entspanne dich und schließe deine
Augen, Denya!
Da sie sich nun aus irgendeinem Grund wieder
beruhigt hatte, war es kein Problem für sie, sich zu entspannen. Und
als sie ihre Augen schloss, beachtete sie die Klaue des Drachen, die ihr
Gesicht sanft berührte, überhaupt nicht mehr.
Sie fand sich selbst in einer Art Korb liegen.
Es schien wie eine Erinnerung aus ihrer frühen Kindheit... Sie konnte
sich nicht bewegen und nicht sprechen – nur der Szene, die sich vor ihr
abspielte, zusehen: Sie sah einen großen, schlanken Mann in einer
weißen Robe, der vor ihrem Korb stand. Er sah sie nicht an, sondern
schien sich auf einen Punkt außerhalb ihrer Sichtweite zu konzentrieren.
In ihren Augenwinkeln sah sie eine Frau, die ihren Korb hielt und ihr beruhigende
Worte ins Ohr flüsterte. Dann sah sie einen anderen Mann in ihrem
Sichtfeld erscheinen - es war ihr Vater, Leoric. Er sagte etwas:
Du Narr, du hast keine Chance gegen meine
arkanen Kräfte! Gib mir das Kind jetzt gleich und vielleicht werde
ich dein wertloses Leben von das deiner Frau verschonen.
Der andere Mann antwortete:
Nein! Du wirst mich schon umbringen müssen,
um Denya in deine dreckigen Pranken zu bekommen, Bastard!
Denya konnte sich nicht helfen, sie KANNTE
diese Stimme von irgendwoher. Leoric sprach wieder:
Es wird mir ein Vergnügen sein, dich
zu töten, Narr!
Die beiden Männer begannen sich zu umkreisen.
Dann sah sie das Gesicht des fremden Mannes. Es war der gleiche Mann wie
in ihrem Traum gestern Nacht - und die gleiche Szene. Und wieder erschien
er ihr seltsam vertraut. Mit einem konzentrierten Gesichtsausdruck starrte
er in die Augen seines Feindes. Leoric auf der anderen Seite lächelte
böse und schien von dem Verhalten seines Opfers amüsiert.
Dies war nicht ihr Vater, wie sie ihn kannte...
Aber der andere...
Er sah kurz in ihre Richtung, lächelte
entschlossen - und dann überwältigte Denya die Erkenntnis, wer
ihr wirklicher Vater war... in diesem Blick lagen Gefühle für
sie - ehrliche Gefühle... die Gefühle eines Vaters. Und nun schleuderte
er einen Feuerball in Leorics Richtung, fest entschlossen, seine kleine
Tochter zu verteidigen. Leoric wich blitzschnell aus und begann nun seinerseits,
ihren Vater mit Zaubersprüchen zu bombardieren. Doch Denya konnte
weder dem magischen Kampf, noch den Schreien ihrer Mutter Aufmerksamkeit
schenken. Sie war in Trance, nicht in der Lage, klar zu denken. Ihr Kopf
war leer - so unglaublich leer.
20 Jahre Betrug...?
Was ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich zog,
war Leoric, wie er zu Boden sank.
Gibst du auf? fragte ihr Vater.
Lass mich drüber nachdenken...,
antwortete Leoric mit einem seltsamen Lächeln auf den Lippen.
Denya wollte ihren Vater warnen, doch sie
konnte nichts tun. Einen Moment später wurde er von einem Blitz in
den Rücken getroffen, welcher ihn sich auf dem Boden vor Schmerzen
winden ließ. Margareth erschien von links.
Hm... nein! sagte Leoric sarkastisch
und stand auf.
Dann zog er einen Dolch, ging zu ihrem Vater
und zog seinen Kopf bei den Haaren zurück. Ohne ein Wort zu sagen,
schnitt er ihrem Vater die Kehle durch. Ihr Vater röchelte und ein
Schwall warmen, roten Blutes ergoss sich auf die Erde. Er sank zu Boden,
wo er starb - ertrunken an seinem eigenen Blut.
Denya wollte schreien, sie wollte ihre Augen
schließen, sie wollte diesen Alptraum anhalten - doch sie war immer
noch machtlos. Dann sah sie ihre Mutter, wie sie sich vor dem Korb aufstellte.
Denya wusste, was nun kommen würde, doch alles, was sie tun konnte,
war Oh nein! Nein, bitte, nicht! denken. Doch
ihre Mutter wurde von Leoric hart zur Seite gestoßen. Sie war nun
für Denya außer Sicht, doch sie konnte ihren "Vater" sehen,
wie er sich neben dem Korb hinkniete. Seine Hände begannen zu glühen
und er senkte sie beide mit einem Blick sadistischer Erwartung nach unten.
Dann hörte sie die Schreie ihrer Mutter. Die Schreie waren nicht mehr
menschlich, als Leoric sie zu Tode folterte. Denya dankte den Göttern,
dass sie diese schreckliche Szene nicht mit ansehen musste. Dann kam Margareth
wieder in ihr Sichtfeld. Sie beugte sich über ihren Korb und lächelte.
Hallo Denya, meine kleine Tochter!
Sie war wieder in der Drachenhöhle. Doch
sie war immer noch wie versteinert. Aber sie wollte sich nicht bewegen,
nicht sprechen, nicht schreien. Der Drache sah ihr zu, als eine Träne
ihr Gesicht herab lief und auf dem Boden des harten Felsens der Höhle
zerplatzte.
Ich weiß, das muss hart für
dich sein. So früh mit Tod und Gewalt konfrontiert zu werden... es
tut mir leid.
Margareth hatte vor ein paar Tagen fast dasselbe
zu ihr gesagt. Nein... er wusste nicht, wie hart es für sie war...
er konnte den inneren Schmerz, den sie fühlte, nicht nachempfinden.
Dein Vater war ein guter Mann. Ich habe
ihn schon vor deiner Geburt gekannt.
Sie sah auf.
Er rettete mein Leben, als deine Mutter
gerade schwanger war. Ich hatte schlimme Verletzungen, als dein Vater mich
in den Wäldern fand. Er pflegte mich eine Woche lang, bis ich wieder
geheilt war. Ich war ihm natürlich dankbar und wollte mich bei ihm
revangieren. Doch das Einzige, was er von mir haben wollte, war ein Versprechen.
Ich musste ihm versprechen, sein Kind nach dessen Geburt zu beschützen
- dich!
Sie sah ihn ungläubig an.
"Und wo wart ihr dann die 20 Jahre meines
Lebens? Wo wart ihr, als meine Eltern starben?", Tränen füllten
wieder ihre Augen.
Ich kam zu spät...
Sie schrie: "Aber ihr gabt das Versprechen,
mich zu beschützen! Warum seid ihr nicht bei meinen Eltern geblieben?
Warum habt ihr sie alleine gelassen?"
Mit Menschen zusammen leben. Das ist keine
Leben für einen Drachen! Diesmal waren wütende Emotionen
in seinen Gedanken.
Und ich habe geschworen, dich zu
beschützen, nicht sie. Du warst die letzten 20 Jahre in Sicherheit.
Doch jetzt nicht mehr - also habe ich dich vor Leoric und Margareth beschützt.
"Sie waren beide immer freundlich zu mir...
ich kann das nicht glauben! Wieso sollten sie mich wie ihr eigenes Kind
behandeln? Und warum muss ich gerade jetzt vor den beiden "gerettet" werden?"
Das ist noch eine Sache, die du über
dich wissen musst... Ich bin sicher, dass deine Eltern dir nie über
die Prophezeiung erzählt haben!?
Noch mehr schreckliche Dinge,
die ich erfahren muss..., dachte sie.
"Nein, haben sie nie..."
Lass mich erzählen:
Vor 30 Jahren hatte jede Kreatur mit magischen
Fähigkeiten auf diesem Planeten, seien es Magier, Zwerge, Elfen oder
auch Drachen, den gleichen Traum: Einer der alten Götter sprach zu
uns. Er sagte, dass da ein Kind geboren werden würde. Ein Kind, das
jedem die Gabe der Unsterblichkeit geben würde, wenn er es in der
Nacht zu dessen 20. Geburtstag auf dem alten Druidenberg opfern würde.
Und wenn es geboren wird, würde jeder wissen, wo er das Kind finden
könnte. Und wirklich - zehn Jahre später fühlten alle eine
extrem starke magische Präsenz, die alle Magier in ihre Richtung zog.
"Ich bin dieses Kind..." - es war keine Frage.
Der Drache lächelte ein trauriges Lächeln.
Ja...
Ich weiß nicht, warum die Götter
das taten. Ich würde sagen, es ist eines ihrer grausamen Spiele mit
dieser Welt. Vielleicht dachten sie, es wäre spaßig, zu sehen,
wie sich Menschen, Zwerge, Elfen und Drachen gegenseitig abschlachten,
nur um ein Kind in die Finger zu bekommen und es später zu opfern...
Doch sie rechneten nicht mit der Macht von Leoric und Margareth. Die beiden
belegten dich mit einem Spruch, der diese attraktive Kraft blockierte.
Und der magische Kontakt zu dir wurde von allen verloren. Doch die Götter
reagierten nicht, - niemand kennt die Wege, die sie gehen - also bliebst
du 20 Jahre lang unentdeckt. Ich wusste, wo du zu finden warst, doch selbst
ich kann gegen eine ganze Stadt voll Soldaten und Magiern nichts ausrichten.
Darum musste ich bis jetzt warten.
Irgendwie wusste Denya, dass der Drache die
Wahrheit sagte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass diese Kreatur log.
Und die Geschichte passte auch perfekt zu ihrem Traum von letzter Nacht...
Sie wusste, dass ihr Leben sich durch die
Dinge, die sie gerade gesehen und gehört hatte, komplett verändern
würde, doch es hörte sich an wie kompletter Nonsens: Ihr Vater,
der ihren Vater umbrachte... ein Drache, der sie vor ihrem eigenen Vater
beschützte... eine Prophezeiung, die ihren Vater veranlasste, sie
zu ermorden... Doch es war gar nicht ihr Vater!? Sie war sich immer noch
nicht sicher. Sie erinnerte sich an Leoric mit seinem bösen Grinsen...
Dann an den anderen Mann mit seinem milden Blick... Und wieder an Leoric,
wie er seine Kehle durchschnitt...
Wenn meine Eltern wirklich
so grausam sind, waren sie die letzten 20 Jahre über verdammt gute
Schauspieler..., dachte sie.
Sie war ausgelaugt und erschöpft - physisch
und emotional.
So viel war passiert...
In Gedanken versunken lag sie so auf dem Boden
der Höhle - und schlief erschöpft ein...
Als sie aufwachte, sah sie den Drachen ein
paar Schritt neben sich schlafen. Es schien später Nachmittag zu sein,
denn der Himmel außerhalb der Höhle färbte sich langsam
rot. Sie ging zum Eingang, um sich die Landschaft anzusehen. Die Höhle
lag im Inneren von einem der Berge. Der Fels vor ihr fiel nahezu senkrecht
ab. Keine Chance für ein Wesen ohne Flügel, hier hoch zu kommen.
Netter Ausblick, hm? dachte sie sich...
und brauchte einige Sekunden, um zu bemerken, dass sie das gar nicht denken
wollte. Sie drehte sich um.
Die smaragdgrünen Augen beobachteten
sie.
"Ja, es ist sehr schön..." Den Ausblick
hatte sie gar nicht so sehr beachtet...
Stille.
"Ich habe über alles, was ihr mir erzählt
habt, nachgedacht. Wieso habt ihr alle Männer meines... von Leoric
getötet? Warum habt ihr mich nicht einfach bei Nacht geholt oder als
ich alleine war?"
Ich wollte nichts riskieren. Du warst nie
richtig alleine, immer waren Soldaten um dich herum. Und wäre mein
Versuch fehlgeschlagen, wäre es noch schwieriger geworden, dich zu
retten - ich musste mich so spät offenbaren, wie möglich.
Sie dachte noch einmal drüber nach -
musste sie wirklich vor ihren "Eltern" gerettet werden? Wollten diese sie
wirklich töten? Laut sagte sie: "Unsterblichkeit... nur indem man
das Leben einer anderen Person nimmt... es klingt noch immer unglaublich.
Wieso muss gerade ich diese Person sein?"
Die Götter haben dich ausgewählt.
Ich kann es aus dieser Nähe sogar durch den mächtigen Spruch
deiner Eltern hindurch spüren.
"Und wieso seid ihr so sicher, dass diese
Unsterblichkeitsgeschichte wahr ist? Warum sind sich Leoric und Margareth
so sicher?"
Du verstehst nicht, Mensch! Leoric und
Margareth hatten diesen Traum! Ich hatte vor dreißig Jahren diesen
Traum! Andere Drachen hatten ihn auch! Selbst dein richtiger Vater... Denkst
du immer noch, das ist alles Zufall?
Wütende Emotionen trafen ihre Gedanken
und beeinflussten ihre Gefühle.
"Nennt mich nicht "Mensch"! Ihr wisst, dass
ich einen Namen habe. Wo wir gerade dabei sind, wie ist eigentlich euer
Name?"
Grmpf... nenn mich T’Sana!
"T’Sana... das ist ein seltsamer Name..."
Nenn mich Drache, nenn mich T’Sana - es
macht keinen Unterschied!
Sie war wieder still.
Dann sagte sie: "Es tut mir leid. Ich bin
immer noch verwirrt von allem... Was würdet ihr sagen, wenn eine Kreatur,
die 100mal größer als ihr ist, euch erzählt, dass eure
Eltern nicht eure Eltern sind und dass die gesamte Welt euch jagt, nur
weil ihr ein wenig Unsterblichkeit mit euch herum tragt!"
Auf einmal kam etwas wie Fröhlichkeit
in ihre Gedanken. Und dann begann der Drache - zu lachen! Es klang zwar
mehr wie ein befremdliches Grunzen, doch in ihrem Kopf ertönte trotz
ihrer Wut ihr eigenes, helles, klares Lachen - es schien, als würde
sie für den Drachen emotional lachen, während er nur die passenden
drakonischen Gesten und Töne machte.
"Wieso lacht ihr? Was ist so lustig daran?"
Es ist nur niedlich, dich hier vor mir
zu sehen, immer noch mit Angst im Herzen, aber bereits streitend, als wären
wir ein altes Ehepaar.
Du siehst gut aus in Rot! fügte
er dann mit einem Grinsen hinzu.
Sie drehte sich wütend um. Der Drache
fuhr mit dem Lachen fort und seine Emotionen bekämpften die ihren.
T’Sana gewann den Kampf und Denya begann zuerst wider Willen, aber dann
ehrlich und herzlich mit ihm zu lachen.
Das ging eine Minute so - bis Denya komplett
außer Puste war und sie ein lautes Rumpeln in ihrem Körper vernahm.
"Sagt mal, habt ihr irgend was zu Essen in
eurer Höhle?"
Der Drache wurde sofort ernst.
Nein, habe ich nicht. Und ich werde auch
nicht jagen gehen. Jemand könnte mir folgen.
"Und was ist mit Wasser? Ihr müsst wissen,
dass ich ohne Wasser nicht lange überleben kann..."
Sehr witzig! Tiefer in der Höhle ist
eine Quelle, da kannst du dich waschen und etwas trinken.
Sie sah tiefer in die Höhle hinein -
oder sie versuchte es zumindest. Denn da war nur ein großes, schwarzes
Loch in der Wand.
"Ich kann überhaupt nichts sehen!"
T’Sana grummelte.
Menschen... Nimm das hier!
Ein gelber Ball erschien auf einer seiner
Klauen. Er schien wie eine Fackel. Sie nahm ihn - obwohl er wie eine Flamme
brannte, war er kalt wie ein Stein.
"Wow!" war alles, was sie heraus brachte.
Dann ging sie tiefer in die Höhle, die
sie nun einigermaßen gut ausleuchten konnte, hinein.
Je tiefer sie eindrang, desto wärmer
wurde es. Dann fand sie einen kleinen See. Sie legte das Licht auf den
Boden und tunkte ihre Zehenspitzen in das Wasser - es war angenehm warm.
Zuerst trank sie ein wenig, - trotz seiner warmen Temperatur schmeckte
es frisch und sauber - dann zog sie sich aus, ließ sich in den kleinen
See gleiten und genoss die Wärme. Als sie wieder aus dem Wasser kam,
merkte sie, dass sie nichts zum Abtrocknen besaß. Also würde
sie warten müssen. Sie kniete sich hin und sah sich ihr Spiegelbild
auf der ruhigen Wasseroberfläche an. Ihr Gesicht war völlig zerkratzt.
Denya konnte sich nicht erinnern, jemals so ausgesehen zu haben. Es war
verrückt... alles war verrückt.
Eure Körper sind so zerbrechlich...
Diesmal dauerte es nicht lange, bis sie bemerkte,
dass es T’Sana war, der sprach. Sie drehte sich um und versuchte, bestimmte
Teile ihres Körpers zu bedecken, als sie den Drachen im Eingang der
unterirdischen Höhle sah.
Denkst du, ich finde deinen nackten Körper
attraktiv? Ich bin kein Mensch! Außerdem bin ich genauso "nackt"
wie du. Und bedecke ich meine Genitalien, wenn ich einen anderen Drachen
sehe? Oder einen Menschen? Die Natur hat uns beide so erschaffen, wie wir
hier stehen. Aber ihr Menschen müsst immer diese Kleidung tragen,
um das zu verbergen, was ihr seid: Tiere! Tiere wie Pferde. Tiere wie Schweine.
Tiere wie Elfen oder Zwerge. Tiere wie Drachen...
Sie war verwirrt: "Was... was habe ich denn
getan?"
Ein Seufzen ging durch ihren Kopf.
Nichts... es ist nur so, dass ich euch
Menschen wohl nie verstehen werde...
"Ihr mögt Menschen nicht besonders, oder?"
Du hast Recht...
"Aber warum? Was ist so schlecht an Menschen?"
Haben Leoric und Margareth dir je etwas
über Drachen erzählt?
"Ja, natürlich!"
Dann haben sie dir sicherlich von Drachen
erzählt, die schreckliche und brutale Wesen sind, die es mögen,
Menschen und Tiere nur zum Spaß zu jagen und zu töten?
"Nun... ja, sowas in der Richtung..."
Und siehst du so einen Drachen vor dir?
"Nunja... nein!"
Und das ist der Punkt! Zuerst jagten sie
uns, weil wir "ihre" Rinder fraßen. Als ob sie ihnen gehören
würden! Die Menschen, die Drachen bekämpft und diese Kämpfe
überlebt hatten, verbreiteten Geschichten über die "schrecklichen
Bestien" und veranlassten damit noch mehr Menschen, die Welt von dieser
"Krankheit", wie sie es nannten, zu befreien. Die Geschichten wurden immer
fantastischer: Die Sache, dass Drachen große Schätze hüten...
kompletter Schwachsinn! Doch er ließ Tausende von Menschen ausziehen,
um Drachen zu töten - alle nur auf der Suche nach Ruhm und Schätzen,
die nicht existierten. Die Menschen glaubten alles, was man ihnen erzählte:
Dass Drachen nur Jungfrauen fressen würden und dass sie Männer
und Kinder als Sklaven hielten. Sie rotteten beinahe unsere gesamte Rasse
aus. Nur eine Handvoll von uns sind übrig... Und alles nur wegen ein
paar falschen Gerüchten und Geschichten...
Zunächst war er so wütend, dass
sie sich instinktiv duckte, doch als er fortfuhr wurde seine Stimme in
ihrem Kopf immer trauriger - so traurig, dass sich ihre Augen mit Tränen
füllten.
"Würdet ihr mich auf dem Berg opfern?"
fragte sie dann.
Der Drache sah sie eine Weile mit seinen tief
grünen Augen an.
Ich weiß nicht... doch ich gab ein
Versprechen. Und Drachen halten ihre Versprechen - sogar gegenüber
Menschen. Ich würde mein Leben geben, um dich vor dem Tod zu retten.
"T’Sana?"
Ja?
"Wenn das hier vorbei ist, werde ich allen
Menschen die Wahrheit erzählen. Ich werde ihnen sagen, wie ihr Drachen
wirklich seid! Ich werde sie bitten, euch nicht mehr zu jagen. Das verspreche
ich!"
T’Sana lächelte.
Das ist zwar nett von dir, aber meine Erfahrung
lehrt mich, dass Menschen ihre Versprechen eher selten halten.
"Ich werde mein Versprechen halten!"
Wir werden sehen...
Das magische Licht T’Sanas begann zu flackern.
Ich denke, wir gehen besser wieder nach
oben. Dort ist besseres Licht für dich. Und ein schöner Sonnenuntergang.
Denya zog sich wieder an und zusammen gingen
sie nach oben, die junge Frau und der alte Drache. Doch als sie die obere
Höhle, die bereits von dem abendlichen Himmel in tiefes Rot getaucht
war, erreichten, blieben sie beide abrupt stehen. T’Sana knurrte.
"Hallo, Schatz!"
Leoric und Margareth standen im Eingang der
Höhle.
Denya stand da wie angewurzelt.
"Wie... wie seid ihr hier hoch gekommen?",
fragte Denya.
"Nicht nur Drachen können sich in andere
Lebewesen verwandeln", war ihre Antwort, wobei sie einen Blick auf die
gigantische Kreatur warf. Denya wunderte sich, wieso T’Sana nichts erwiderte.
"Was wollt ihr?"
Margareth lachte seltsam: "Oh, Denya, bist
du nicht froh, uns zu sehen? Wir haben dich den ganzen Tag lang gesucht!
Wir haben uns Sorgen um dich gemacht! Diese Kreatur hätte dich töten
können!"
"Hat er aber nicht! Und nebenbei zeigte er
mir, wer ihr wirklich seid, Mörder!"
Jetzt zeigte sich ein wirklich besorgter Ausdruck
auf dem Gesicht von Margareth. Kann das gespielt sein?
fragte sich Denya, es wirkt so echt!
"Was meinst du, Schatz? Warum bezeichnest
du deine Mutter als Mörderin?"
"Du bist nicht meine Mutter!"
Sie schrie fast.
Doch jetzt sah sie richtig verzweifelt aus
und flüsterte fast: "Oh, Denya, Liebling! Was...was ist mit dir los?
Was hat diese Kreatur mit dir angestellt?"
"Sie zeigte mir, wer meine echten Eltern getötet
hat! Ihr verdammten Bastarde, ich habe euch GELIEBT!"
Ihr Gesichtsausdruck ist
so echt...
"Merkst du denn nicht? Er zeigte dir eine
Illusion! Etwas, das nie passiert ist..."
Es schien, als würde ihre Mutter gleich
weinen.
"Nein, hat er nicht. Ich weiß es!"
Doch sie war sich nicht mehr so sicher.
"T’Sana hat mir über euch und das Opfer
erzählt! Ihr habt mich 20 Jahre lang aufgezogen... nur um mich jetzt
umzubringen?"
"Oh, Denya, bitte sag mir, dass du das nicht
ernst gemeint hast! Bitte sag mir, dass du das nicht so gemeint hast! Nie,
niemals würden wir dir ein Leid zufügen! Niemals, Denya... Und
das weißt du!"
Denya war nun völlig verwirrt von der
Situation. Jetzt konnte sie nicht mehr glauben, dass ihre Eltern sie betrogen,
doch es waren immer noch Bilder von ihrer ein paar Stunden zurückliegenden
Vision in ihrem Kopf. Sie stand nun genau zwischen T’Sana und Margareth.
Ihre Gedanken schienen sich selbst zu bekriegen: In diesem Moment sah sie
ihre Leoric und Margareth und was sie für sie getan hatten, dann kamen
Bilder von ihnen, wie sie ihren Vater umbrachten. Sie fühlte sich
in eine Richtung gezogen, dann wieder in die andere... als ob T’Sana und
ihre Eltern einen mentalen Kampf in ihrem Kopf austragen würden...
Ihre Mutter sah sie besorgt an, während
sie unentschieden zwischen T’Sana und Margareth hin und her sah.
So lange, bis Margareth auf einmal lächelte
und ihre Hände ausstreckte - es war dasselbe Lächeln, das sie
ihr vor 20 Jahren gegeben hatten, bei ihrem allerersten Treffen...
Plötzlich war ihr Kopf frei.
Sie machte einen Schritt in die Richtung des
Drachen. Dann noch einen.
Das Lächeln auf dem Gesicht ihrer Mutter
erstarb abrupt.
"Falsche Entscheidung, Liebling!"
Nach diesen Worten zauberte ihr Vater, der
die ganze Zeit so ruhig gewesen war wie T’Sana, einen mächtigen Blitz
auf den Drachen, welcher voller Schmerz aufschrie. Ihre Mutter beschoss
ihn ebenfalls mit Blitzen, so dass er bald völlig in ein Netz aus
zuckenden Blitzen eingehüllt war. Dann stoppte er mit dem Schreien
und fiel in sich zusammen, wobei der Boden ein wenig zitterte.
Sie flüsterte: "Nein!"
War sie denn dazu verdammt, allen Wesen, die
sie mochte, den Tod zu bringen? Sie drehte sich, mit Tränen in den
Augen, zu ihren Eltern um und schrie: "IHR MIESEN SCHWEINE!!!"
"Schschsch, Denya! Du möchtest doch morgen
keine schlechte Laune haben. Es ist schließlich dein Geburtstag.
Schlaf jetzt!", sagte ihre Mutter mit ihrem typischen kalten Lächeln.
Dann berührte sie ihre Augen mit ihren Fingern, worauf sie von seliger
Dunkelheit überfallen wurde...
Teil 4: Opfer
Es war Nacht und der volle Mond schien über
ihr.
Sie wusste nicht, wie lange sie geschlafen
hatte - und sie konnte sich nicht bewegen. Denya war auf einer Art Altar
festgebunden. Zu ihrer Linken schien eine Klippe zu sein, da der Boden
dort einfach aufhörte. Rechts von ihr standen ein paar alte Bäume
auf harter, steiniger Erde. Zwischen ihnen brannte ein Feuer. Sie konnte
ihre Eltern hören.
"Und du bist sicher, dass der Spruch funktioniert?"
das war Margareth.
"Ja - die Energie wird sich spalten und in
uns beide fließen. Sei ohne Sorge, es wird klappen, ich bin mir da
sehr sicher... oh, schau nur, unser Mädchen ist aufgewacht!"
Mit diesen Worten erschien Leoric in ihrem
Sichtfeld. Sein Gesicht war so ernst wie immer.
"Hast du gut geschlafen, Schatz?"
Sie drehte ihren Kopf von ihm weg.
Er seufzte: "Denya, sag mir eins: Würdest
du an meiner Position etwa nicht das Gleiche tun? Stell dir mal vor: Du
könntest tun und lassen, was du willst! Du hättest Macht - endlose
Macht! Und du müsstest nie mehr irgend jemanden fürchten... oder
irgend etwas."
"Aber ich würde niemanden töten,
den ich 20 Jahre lang geliebt habe!"
"Oh, Denya, du bist ja so naiv. Lass mich
dir eins sagen: Wir haben dich niemals geliebt! Nie!"
Sie drehte sich wieder zu ihm um: "Das ist
nicht wahr! Ich weiß, dass ihr mich geliebt habt! Ich konnte es fühlen,
ich konnte es zwanzig Jahre lang fühlen! Ihr könnt nicht sagen,
dass ihr mich nicht geliebt habt! Nein, das könnt ihr nicht..."
Er lachte laut auf: "Oh, Mann! Margareths
telepatische Kräfte sind doch besser, als ich gedacht habe. Du musst
wissen, sie hat dich die ganze Zeit über manipuliert. Sie gab dir
mental ein, nie die Burg zu verlassen - also bist du auch nicht geflohen.
Sie gab deinem Unterbewusstsein das Gefühl, wir würden dich lieben
- also hast du das auch 20 Jahre lang gedacht. Sie hat dich manchmal Sachen
machen lassen, die du überhaupt nicht wolltest - und ohne, dass du
es je erfahren hättest!"
"Aber... ich... ich wollte die Burg nicht
verlassen, weil... weil... ich dachte ihr würdet...", sie brach in
Tränen aus. Sie war nicht mehr in der Lage zu sprechen. Es war ein
Schock: 20 Jahre - ein Spiel, ein Drama, ein Theaterstück von zwanzig
Jahren Länge. Und sie war die Hauptfigur gewesen.
Leoric fuhr fort: "Du musst wissen, als ich
von der Prophezeiung träumte, konnte ich es natürlich nicht glauben.
Aber als ich mit Margareth und einigen anderen Menschen sprach, die allesamt
genau den selben Traum gehabt hatten, wurde es immer und immer wahrscheinlicher,
dass du geboren werden würdest und die Prophezeiung wahr ist. Und
dann, eines Nachts, spürten wir die ungeheure Energie - die reine
magische Energie, die von dir ausging. Wir wurden nahezu magnetisch in
deine Richtung gezogen.
Der einzige Moment in meinem Leben, an dem
ich dich liebte, war, als wir dich in deinem Korb fanden und ich die Bestätigung
erhielt, dass es dich gibt..."
"Nachdem ihr meine Eltern getötet habt,
Mörder!"
Er runzelte die Stirn.
"Ich kannte deine Eltern nicht, aber ich kann
offen und ehrlich sprechen, wenn ich sage..."
Er brach seinen Satz abrupt ab. Seine Augen
weiteten sich. Er stöhnte... und brach dann tot zusammen. Hinter ihm
stand Margareth mit einem blutigen Dolch in der Hand. Und mit ihrem typischen
Lächeln sagte sie: "Tut mir leid Leoric, aber ich möchte lieber
auf Nummer Sicher gehen... doch du verstehst mich bestimmt."
Dann sah sie auf.
"Ich weiß nicht genau, wie spät
es ist, aber dein Geburtstag ist mehr als nah, Denya! Ach ja, wie er die
gerade erzählt hat: Es war schon eine harte Zeit mit dir. Immer, wenn
du in unserer Nähe warst, musste ich mich konzentrieren. Es hat fünf
Jahre gedauert, bis du uns ganz akzeptiert hast... und dieser Drache zerstörte
alles binnen weniger Stunden! Er war mächtig – aber nicht so mächtig,
wie wir dachten. Er war leicht zu besiegen. War er dein Freund?"
Denya nickte abwesend.
"Oh, tut mir leid! Ich bin mir sicher, du
wirst ihn bald schon wieder treffen. Aber bitte, sei ehrlich: Hast du ihm
voll und ganz vertraut? Du wusstest doch nichts über ihn. Er hätte
dich jederzeit töten können - einfach so! Du weißt nicht,
was du dir als Freund auserkoren hast! Ein wildes Tier..."
"NEIN! DU weißt nicht, was ich mir als
Freund auserkoren habe! Du weißt nichts über Drachen, gar nichts!
Du kennst nur die Klischees von ihnen - du weißt nicht, wie sie wirklich
sind! Und du bist noch viel schlimmer, als dieses wilde Tier!"
"Ich denke, ich sollte dir sagen, dass der
Drache ähnliche Kräfte hatte, wie ich. Ich denke, er manipulierte
deine Gedanken, wie ich es die Jahre davor getan habe. Ich weiß nicht,
was er dir erzählt hat, aber ich denke, das Wenigste davon war wahr.
Ich denke, er war ein Lügner, wie Leoric und ich. Er hätte dich
gegen Mitternacht hierher gebracht und dich getötet. Seine Höhle
ist ja schließlich ganz in der Nähe... Aber er ist tot - genauso
wie Leoric. Ich bin der letzte Lügner, der übrig ist! Ich bin
der Gewinner im großen Spiel der Götter! Und ich werde ihnen
gleich sein, wenn ich diese Welt für mich eingenommen habe!"
Die letzten Sätze schrie sie beinahe
- dann wurde sie wieder ruhig und beugte sich herab, um in ihr Ohr zu flüstern.
"Ich muss dir danken, Denya. Denn du wirst mir die Gabe dazu geben - die
Macht!"
Dann küsste Margareth sie auf die Stirn
und hob ihren blutigen Dolch.
"Einen schönen Geburtstag wünsche
ich dir, Denya", schrie sie.
Doch der Dolch kam nicht herunter. Margareth
stand einfach nur da, völlig regungslos. Denya konnte durch ein großes,
rundes Loch in ihrem Bauch sehen. Dann materialisierte sich eine große
Klaue in diesem Loch - und hinter ihr T’Sana, der rote Drache. Er hatte
Margareth einfach auf eine seiner scharfen Klauen aufgespießt. Sie
röchelte und spuckte Blut - dann hob sie der Drache hoch und warf
sie in die Luft, holte tief Luft und spie eine große weiße
Flamme in ihre Richtung, noch während sie flog.
Nur Asche kam wieder zu Boden.
Er drehte sich zu Denya und lächelte.
Unsichtbarkeit - sehr nützlich...
"T’Sana, ich dachte du wärst..."
Tot? Oh, es braucht schon ein wenig mehr,
als ein paar Blitze, um einen Drachen zu töten! Geht es dir gut?
"Ja, danke." Nun lächelte sie auch. "Ich
dachte schon, das wäre mein Ende..."
Ich habe doch gesagt, dass ich dich vor
ihnen beschützen würde!
Der Drache lächelte noch ein wenig breiter.
Aber du darfst dich jetzt entspannen -
es ist vorbei!
"Ja... endlich...", sie seufzte und versuchte
sich zu entspannen.
Dann wurde sie von einer Vision überwältigt.
Sie flog.
Es schien der gleiche Spruch zu sein, den
T’Sana schon in seiner Höhle auf sie gesprochen hatte. Doch er hatte
sie diesmal nicht mit seiner Klaue berührt! Außerdem konnte
es keine von ihren Erinnerungen sein... es war eine von T’Sanas Erinnerungen!
Sie war in seinem Körper, sie konnte sehen, was er sah, sie konnte
fühlen, was er fühlte, sie teilte sogar seine Emotionen - sie
war ein Drache! Denya flog hoch über den Wolken und eine wunderschöne,
weiße Landschaft breitete sich unter ihr aus. Und sie fühlte
eine magische Präsenz. Eine magnetische Kraft, die sie in eine bestimmte
Richtung zog. Sie brach durch die Wolken. Unter ihr lagen Wälder,
Flüsse, Wiesen und eine Straße, die sich am Rande des Waldes
durch die Landschaft schlängelte. Und dann fand sie, wonach sie gesucht
hatte. Zwei Menschen waren auf der Straße - ihre scharfen Augen erkannten
einen Mann und eine Frau... die Frau trug irgend etwas. Ein Kind... das
Kind, nach dem sie suchte.
Denya’s Unterbewusstsein wusste, was nun kommen
würde - aber es war nur eine leise Stimme, die sie nicht beachtete.
Sie war von den Gefühlen des Drachen überwältigt. Es war
so schön, zu fliegen... es war die pure Freiheit!
Nun war sie den beiden Menschen schon recht
nahe, also ging sie in einen Gleitflug, um die beiden nicht zu früh
zu erschrecken. Doch ein paar Sekunden bevor sie landete, fiel ihr Schatten
über die beiden Menschen. Sie drehten sich um. Die Frau schrie laut
und die Augen des Mannes fielen fast aus seinem Kopf. Das Baby, ihr Ziel,
begann ebenfalls zu schreien. Aber Denya war von den neuen Gefühlen
von T’Sanas Körper noch immer zu fasziniert, um die Stimmen zu beachten,
die ihr sagten, dass sie die beiden Gesichter vor ihr kennen würde.
Ihr Vater sah noch immer so aus, wie der Mann, den sie in ihren Visionen
zuvor gesehen hatte. Sie landete genau vor ihnen, was die Menschen veranlasste,
ein paar Schritte rückwärts zu machen.
Der Mann reagierte zuerst: "Was wollt ihr,
Drache?" Er hatte Mut.
Sie konnte T’Sana denken hören... oder
war es sie, die dachte?
Ich will das Kind.
"Nein! Ihr werdet es niemals bekommen! Niemand
wird es je bekommen! Es ist mein Kind und ich werde es vor jedem beschützen,
der hier ankommt und es für dieses verdammte Opfer stehlen will! Kommt
schon, Drache, kämpft gegen mich! Ich habe keine Angst!"
Sein Geruch sagte aber etwas anderes.
Narr! Denkst du wirklich, du kannst solch
einen Kampf gewinnen? Gib mir das Kind und vielleicht lasse ich dich und
deine Frau leben!
Der Mann sah sie hasserfüllt an. Dann
hob er eine Hand - und aus seinem Finger schoss ein magischer Pfeil, der
ihre Brust traf und sie einfror. Der Schmerz war unerträglich. Er
war es auch, der sie aus ihrer Lethargie holte. Sie war nicht T’Sana, sie
war nur in seinem Körper... und der war drauf und dran, ihre Eltern
umzubringen!
Für den Moment konnte sich T’Sanas Körper
nicht bewegen. Sie sah ihren Vater wie er sagte: "Ha! Ihr denkt, ich bin
so einfach zu besiegen, wie die anderen Menschen? Ihr denkt, es würde
einfach werden, das Kind der Unsterblichkeit in die Finger zu bekommen?
IHR seid der Narr, Drache!"
Mit diesen Worten zauberte er einige magische
Sprüche auf sie, die schreckliche Schmerzen durch ihren gesamten Körper
schickten. Sie wollte, dass es aufhört, doch sie hatte keine Kontrolle
- sie konnte nur zusehen, denken und leiden.
Doch dann machte ihr Vater einen gravierenden
Fehler: In seiner Wut zauberte er einen Feuerball, der das Eis schmelzen
ließ und den Drachen befreite. Blitzschnell hob er eine Klaue und
drückte Denyas Vater zu Boden.
Und sie konnte nur zusehen.
Ich denke, die Antwort auf die Frage "Wer
ist hier der Narr?", hat sich wieder verändert - aber ich denke, sie
wird sich nicht noch einmal ändern...
Und was jetzt kam, war der reinste Horror
für sie.
Denn sie holte tief Luft. Sie wollte es nicht
sehen, sie wollte ihre Augen schließen oder wegsehen - alles nutzlos.
Dann spie SIE eine helle Flamme, die gerade noch heiß genug war,
um ihren Vater ein paar Sekunden lang voller Qual schreiend leben zu lassen.
Als seine Schreie verstummten, wurde das Feuer, das SIE spie, nahezu weiß
und verbrannte ihn letztendlich zu Asche. Sie fühlte T’Sanas tiefe
Zufriedenheit - und sie wollte schreien und aufwachen... doch die Folter
ging noch weiter.
T’Sana suchte nach der Frau - sie rannte die
Straße hinunter. Denya warf sich in die Luft und folgte ihr. Plötzlich
stolperte die Frau und fiel der Länge nach hin. Denya brüllte
triumphierend, während sie Nein, nein, bitte nicht...
dachte. Sie landete vor ihrer Mutter. Die relativ junge Frau rappelte sich
auf und starrte in die Augen von Denyas drakonischem Körper. Das Kind
war nirgendwo zu sehen...
Wo ist das Kind, Mensch?
Sie konnte die Angst in den Augen ihrer Mutter
sehen... sie konnte ihre Angst riechen. Doch die Frau sagte: "Ich werde
euch nichts sagen! Ihr werdet sie nie bekommen! Nicht in eintausend Jahren!"
Dann spuckte sie auf den Boden vor dem Drachen. Ärger überkam
Denya. Dann öffnete SIE ihr Maul und schloss es über ihrer Mutter.
Sie hob ihren Kopf und verschlang ihre eigene Mutter, die noch immer zappelte
und schrie.
Bei dieser Aktion schrien alle von Denyas
Gedanken in psychischer Agonie - doch ihre Gedanken waren die genauen Gegensätze
zu ihren Gefühlen ihres Körpers: Sie konnte das Blut ihrer Mutter
schmecken - es war köstlich! Doch gleichzeitig erweckt der Geschmack
eine unerträgliche Übelkeit in ihr. Und nachher kam wieder dieses
Gefühl vollkommener Zufriedenheit - und dazu entstand in ihr ein bodenloser
Selbsthass.
Diese gegensätzlichen Gefühle machten
sie wahnsinnig - doch die Vision ging immer noch weiter.
Plötzlich konnte sie Pferde hören.
Sie mussten noch eine oder zwei Meilen weit weg sein. Sie schlug mit ihren
Flügeln, erhob sich in die Lüfte und spähte in die Richtung,
aus der die Geräusche kamen. Zwei Pferde mit zwei Reitern kamen die
Straße herauf - sie kannte die beiden Menschen nur allzu gut: Es
waren Leoric und Margareth. Eine Welle des Zorns überkam sie. T’Sana
war durch ihren Vater zu sehr geschwächt, um es mit den beiden Magiern
aufnehmen zu können. Er beobachtete sie, wie sie die junge Denya im
Wald neben der Straße fanden und wie sie zurück zu ihrer Burg
ritten.
Doch den Rest ihrer Vision beachtete sie nicht
mehr. Nur ein einziger Gedanke begleitete sie:
Ich habe meine Eltern getötet...
Ich habe meine Eltern getötet...
Ich habe meine Eltern getötet...
ICH HABE MEINE ELTERN GETÖTET!
"ICH HABE MEINE ELTERN GETÖTET! IHR GÖTTER,
ICH HABE MEINE ELTERN GETÖTET! ICH HABE..."
HALT DIE KLAPPE!
Sie war sofort ruhig. Sie wollte zwar weiter
schreien, doch etwas verbot es ihr. T’Sana lächelte noch immer sein
drakonisches Grinsen - doch nun erkannte sie es als das böse Lächeln,
das es die ganze Zeit über gewesen war.
In gewisser Weise hast du Recht, meine
liebe Denya: Du hast deine Eltern wirklich getötet! Dein Geburt...
Ja, deine Existenz hat sie umgebracht!
"Warum? Warum du? Was... was ist mit deinem
Versprechen?"
Närrisches Kind! So ein Versprechen
existiert natürlich nicht! Und warum ich das hier mache, weißt
du gut genug.
"Rache?"
Teilweise, ja! Hauptsächlich kann
ich nicht mit deiner Spezies auf einem Planeten zusammen leben. Ihr verbreitet
euch über die gesamte Welt und bezeichnet euch selbst als ihre großen
Herrscher. Aber ihr seid schwach! Sieh dich an! Was bist du, ohne irgendwelche
Waffen oder Zaubersprüche? Fleisch! Das seid ihr Menschen für
mich! Es hat mich sehr viel Überwindung gekostet, dich nicht gleich
umzubringen, als du in meiner Höhle warst. Und es hat mich sogar noch
mehr Überwindung gekostet, mit dir wie ein süßes kleines
Haustier zu reden! Doch ich denke, das, was jetzt kommt, ist all den Trubel
wert! Stell dir das mal vor: Millionen von Menschen werden sterben - nur
wegen dir!
Er hob eine Klaue und setzte sie auf ihre
Brust.
Sie schloss ihre Augen...
Epilog
T’Sana stand auf der Klippe. Er konnte die
Macht fühlen, die durch seine Adern strömte. Es war also Wirklichkeit.
Er war unsterblich! Es war nicht nur ein Gefühl - es war eine innere
Gewissheit! Er genoss die pure Macht, die ihn durchfloss. Dann fragte er
sich, was er mit dieser Macht anstellen wollte. Er hatte es angesichts
des überwältigenden Gefühles einfach vergessen. Da sah er
unter sich auf der Straße einige Lichter. Es war eine Zigeunerkarawane.
Oh, ja... jetzt wusste er wieder, was er mit seiner neuen Macht machen
wollte. Er breitete seine Flügel aus und flog den Berg hinunter.
Eine schlaffe Hand hing vom Altar, noch immer
vom Feuer auf dem Berg beleuchtet. Doch die Flamme war schon weit herunter
gebrannt und würde nicht mehr sehr lange leuchten.
Als die Schreie der sterbenden Menschen den
Berg herauf klangen, begann das Feuer stark zu flackern. Es war nicht der
Lärm eines Kampfes - es war der Lärm eines Massakers. Männer,
Frauen, Kinder, sogar Babys - sie alle schrien und starben in Schmerz und
Leid. Nur das triumphierende Brüllen des Drachen war lauter als die
schrecklichen Schreie.
Und als die letzten Geräusche von sterbenden
Kindern über den Berg hinweg hallten, ging das Feuer aus...
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