Sie kamen bei Nacht...
Sie stürmten ihr Haus...
Und sie nahmen sie mit...
Elyssa hatte gerade noch in ihrem Bett gelegen
und friedlich geschlafen, als sich eine stinkende, dreckige Orkhand auf
ihren Mund legte. Im nächsten Moment war sie geknebelt und ihr wurde
ein Sack über den Kopf gestülpt. Dann wurde sie aus dem Bett
gerissen und weggetragen. Sie zappelte mit den Beinen und versuchte, den
Knebel irgendwie los zu werden, doch alles war nutzlos. Sie konnte durch
ihren Sack nur mehrere orkische Stimmen ausmachen, die sich in einer ihr
unbekannten Sprache unterhielten, während sie durch die Nacht getragen
wurde. Da es keinen Sinn hatte, weiter seine Kräfte damit zu vergeuden,
sich zu wehren, dachte sie lieber über ihre Situation nach - denn
sie wusste ziemlich genau, wer hinter ihrer Entführung steckte...
Es war nun ein halbes Jahr her, seitdem Saladrex
gekommen war. Sie wusste noch genau, dass die Nacht vor seiner Ankunft
eine bedrohliche Atmosphäre hatte. Die Hunde hatten verrückt
gespielt und die ganze Nacht hindurch gebellt. Immer wenn sie zum Fenster
ging, hatte sie ein Gefühl, als ob sie beobachtet werden würde.
Und dann, am nächsten Morgen, stand er einfach so vor der Haustür:
Ein schlanker, junger Mann, hoch gewachsen, mit kantigem Gesicht und braunem,
kurzem Haar. Eigentlich war er ziemlich hübsch, doch in seinen Augen
lag ein Funkeln und ständig umspielte ein angedeutetes Lächeln
seine Lippen, was sie von Anfang an misstrauisch machte. Er hatte mit heller,
aalglatter Stimme gesagt:
"Hier wohnt doch der Protektor dieses Landstrichs,
Edmund Schneedolch, oder?"
"Euch auch einen guten Morgen! Ja, der wohnt
hier."
Ihr Haus war das Einzige im Umkreis von zwei
Meilen - der Mann konnte sich schlecht im Haus getäuscht haben.
"Wen soll ich melden?"
"Gut, mein Name ist Saladrex, ich möchte
ihn sprechen!" war die relativ barsche Antwort.
Sie sah ihn erst einmal an und fragte sich,
ob sie ihn ob seines rüden Verhaltens zurechtweisen sollte, ließ
es aber dann und ging zu ihrem Vater in die Küche – der Mann war ihr
irgendwie unheimlich...
"Vater? Da ist ein gewisser Saladrex vor unserem
Haus. Er möchte dich sprechen."
Ihr Vater war nun schon in die Jahre gekommen,
aber immer noch ein relativ kräftiger und stämmiger Kerl.
"Hm, Saladrex? Noch nie gehört, den Namen...
Warte hier, ich werde mit ihm reden."
Edmund ging in Richtung Haustür. Danach
konnte sie die beiden Männer miteinander reden hören – doch worüber
sie genau sprachen, verstand sie nicht. Nach einer Weile kam ihr Vater
mit einem Stirnrunzeln auf dem Gesicht zurück in die Küche.
"Und, was wollte er von dir?"
"Ein seltsamer Mensch... Er scheint hier neu
zugezogen zu sein und wollte alles über die Ländereien und die
Dörfer hier wissen. Besonders interessiert war er an meiner Position
als Protektor. Er hat mich alles darüber gefragt: Was der Protektor
zu tun hat, wann er gewählt wird, wie das mit den Steuern ist... Und
dabei hat er mich dann die ganze Zeit ganz komisch angesehen. Irgendwie
unheimlich, dieser Mann, findest du nicht?"
Sie nickte nur. Der Mann war ihr nicht unheimlich
- sie hatte Angst vor ihm!
Ein paar Wochen später verschwanden dann
die ersten Kinder aus Valyris, dem größten Dorf in der Umgebung.
Besorgte Eltern kamen zu ihnen nach Hause und baten ihren Vater um Hilfe.
Als Protektor war es schließlich seine Aufgabe, die Ländereien
vor Räubern, Orks und sonstigen Übeln zu schützen. Trotz
seines fortgeschrittenen Alters erledigte er seine Aufgabe immer noch auf
eigene Faust und das nicht einmal schlecht. Er war nun schon seit vierzehn
Jahren im Amt, da es noch nie ernsthafte Konkurrenten für diesen Posten
gab. Das sollte sich in den nächsten Monaten jedoch ändern...
Ihr Vater zog also los, um die verschwundenen
Kinder zu suchen, doch alles, was er herausfand, war, dass sie anscheinend
von Orks verschleppt worden waren. Und obwohl er das gesamte Land zur Suche
nach den Kindern mobilisierte, war das Versteck der Monster nicht auszumachen.
Als man dann die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte, kam Saladrex mit
den verlorenen Kindern im Schlepptau nach Valyris. Und alle Kinder erzählten
ungefähr dieselbe Geschichte: Dass sie von den Orks verschleppt und
in ein geheimes Lager gebracht worden waren und dass sie in abgedunkelten
Käfigen lange eingesperrt waren, bis sie schließlich eines Tages
Kampfschreie im Lager der Orks hörten und sie dann von dem netten
Saladrex gerettet wurden. Die Eltern der verlorenen Kinder waren natürlich
allesamt überglücklich und bedankten sich viele Male bei Saladrex.
Dies sollte sein erster Schlag gegen die Autorität ihres Vaters gewesen
sein.
In den nächsten Wochen und Monaten gab
es dann immer wieder Probleme mit Orks, Räubern, Monstern, Krankheiten
und anderen Übeln, gegen die Elyssas Vater nichts, sondern anscheinend
nur Saladrex etwas ausrichten konnte. So war es dann auch nicht verwunderlich,
dass ihr Vater in der Gunst des Volkes immer mehr sank und Saladrex die
folgenden Wahlen zum neuen Protektor haushoch gewann. Ihr Vater war besiegt.
Doch, wie es so seine Art war, nahm er es auf die leichte Schulter und
sagte: "Lass mal gut sein, Elyssa! Ich bin bereits alt und schwach - es
wird Zeit, dass jemand anders diese Arbeit übernimmt." Sie dagegen
nahm es überhaupt nicht auf die leichte Schulter. Saladrex hatte ihnen
alles genommen: Geld, Arbeit, Freunde... Das einzige, was blieb, war ihre
Hoffnung, irgendwie neu anfangen zu können. Doch Saladrex schien noch
nicht genug zu haben, wie ihre Entführung vermuten ließ – und
sie war sich absolut sicher, dass Saladrex mit den Orks im Bunde stand.
"Wie lange wollt ihr mich denn noch hier im
Nachthemd durch die Kälte tragen, ihr Drecksäcke? Und wäret
ihr auch mal so freundlich, mir diese Kapuze ab zu nehmen?" fragte sie
frierend. Die Orks hatten ihr zwar den Knebel abgenommen, gaben ihr aber
keine Antwort. Entweder verstanden sie ihre Sprache nicht oder sie wollten
ihr nicht antworten... Egal, es kam auf das Gleiche hinaus.
Nach einer kalten Ewigkeit, wie es ihr erschien,
erzeugten die Schritte auf dem Boden plötzlich einen Hall. Sie hatten
also irgendein großes Gebäude oder eine Höhle betreten.
Es kam ihr auch vor, als wären sie durch eine unsichtbare Barriere
geschritten, die die kalte Luft der Nacht in eine wohlige Wärme verwandelte.
Kurz darauf ging es eine Treppe hinunter, immer weiter abwärts. Elyssa
fragte sich schon, ob dies die Treppe direkt in die Hölle sei, da
ging es waagerecht weiter. Nach kurzer Zeit hielt der Ork, der sie trug,
an. Die Kapuze wurde ihr abgenommen und sie wurde auf den Boden gestellt.
Es war ein verdammt gutes Gefühl, wieder festen Boden unter den Füßen
zu haben und nicht die ganze Zeit auf einem schwankenden Orkrücken
durch die Landschaft transportiert zu werden.
Sie stand nun in einer kleinen Zelle und die
Orks machten sich gerade daran, den kleinen Raum zu verlassen und die vergitterte
Tür, die ihn von dem Gang dahinter abtrennte, zu zu schließen.
Bevor Elyssa etwas sagen konnte, waren sie außer Sicht. Na toll!
dachte sie sich und sah sich in ihrer Gefängniszelle um. Die einzige
Einrichtung, die es hier gab, war eine kleine Pritsche und ein dreckiger,
stinkender Nachttopf. Machen wir das Beste draus!
Sie legte sich hin - die Nacht war für
sie schließlich sehr kurz gewesen - und schlief, trotz der mehr als
ungemütlichen Pritsche, wieder ein. Sie wachte auf, als ein Ork ihre
Zelle aufschloss. Sie kam schnell aus ihrem ungemütlichen Bett und
stellte sich an die Wand. Der Ork betrachtete sie seltsam. Er hielt etwas
in der Hand - es war eine Augenbinde.
"Oh nein! Keine Augenbinden mehr! Hat Saladrex
Angst, dass ich mich über seine lächerliche Gestalt lustig mache
oder warum muss er mir unbedingt die Augen verbinden?" fragte sie trotzig.
"Saladrex hat befohlen und Befehl muss ausgeführt
werden, ansonsten Saladrex böse. Nicht gut, wenn Saladrex böse
sein, er dann schlimm Ding tun!" war die gebrochen gesprochene Antwort
des Orks.
Sie hatte also Recht gehabt. Saladrex steckte
hinter ihrer Entführung.
"Oh, was macht er denn Schlimmes? Läuft
er rot an und schreit herum?" fragte sie schnippisch.
Der Ork lachte auf: "Haha! Guter Witz! Rot
anlaufen! Haha!"
Elyssa verstand nicht, was daran so lustig
war. Vielleicht laufen Orks nicht rot an?
Der Ork sprach weiter: "Nein, Meister hat
befohlen! Du kriegen Augenbinde!"
Er kam auf sie zu und machte Anstalten, ihr
die Augenbinde umzulegen, doch sie wehrte seinen Arm ab. Er schaute sie
mit seinen Schweinsäuglein nur schief an – und schlug ihr dann ins
Gesicht, so heftig, dass sie durch den Raum stolperte und auf ihre Pritsche
fiel. Noch während sie benommen war, legte der Ork ihr schnell die
Augenbinde um und zurrte sie fest. Dann zog er sie brutal hoch und zerrte
sie aus ihrer Zelle hinaus und den Gang herunter. Nachdem sie um mehrere
Kurven und durch mehrere Gänge oder Räume gegangen waren, sagte
der Ork: "Achtung, Treppe!"
Dann nahm er sie dichter an seinen stinkenden
Körper. Jeder Versuch, sich zu wehren, war vergeblich, der Griff des
Orks war hart wie Stahl. Schritt für Schritt ging es also die Treppe
hinunter. Die Stufen erschienen ihr unnatürlich groß und diese
Treppe kam ihr fast genauso lang vor, wie die erste. Irgendwann müsste
ich aber wirklich in der Hölle angekommen sein...
Aber auch diese Treppe hatte irgendwann ein
Ende. Ihre Schritte erzeugten nun wieder einen Hall, sie befanden sich
also in einer großen Halle. Eine Stimme ertönte: "Ah! Da ist
die Kleine ja!"
Es war eindeutig Saladrex‘ Stimme. Sie klang
jedoch irgendwie unwirklich und fern, wie in einem Traum. Dennoch hatte
sie nichts von ihrer eigenen, ruhigen Schärfe eingebüßt.
"Sie ist verletzt!" sagte die Stimme.
Und der Ork neben ihr antwortete, noch während
sie liefen: "Ich sie schlagen musste, Meister, sie nicht bereit, sich Augenbinde
anlegen lassen und ihr befohlen hattet..."
"Ich weiß, welchen Befehl ich gegeben
habe, und zwar, dass ihr unter keinen Umständen ein Leid zugefügt
werden darf!" unterbrach ihn Saladrex wütend. Innerlich war sie schadenfroh.
Jetzt hatte der rüde Ork ihn doch noch wütend gemacht! Ihr Peiniger
ließ sie nun los.
"Aber nur wollten...", stammelte er.
Saladrex erwiderte nur: "Ich habe keinen Nutzen
für Untergebene, die meine Befehle nicht befolgen!"
Irgend jemand holte tief und vor allem laut
Luft. Dann gab es ein seltsames, rauschendes Geräusch, neben ihr ertönte
der Schrei des Orks und ein Schwall extremer Hitze überkam sie. Elyssa
schrie ebenfalls auf. So schnell, wie es gekommen war, war es auch wieder
weg.
"Entschuldige! Diese rohe und ungehobelte
Behandlung ist nicht meine Absicht - jedenfalls noch nicht!" sagte die
Stimme Saladrex‘ nun etwas freundlicher.
"Was... was soll das alles? Warum die Augenbinde?
Warum überhaupt die ganze Folter für mich und meinen Vater, wir
haben euch nichts getan!" sagte sie, langsam von Angst in Wut übergehend.
Saladrex lachte ein böses, kleines Lachen
über ihre Eskapaden.
"Tut mir leid, Elyssa, aber das ist alles
nötig! Jetzt habe ich doch gefallen daran gefunden, deinen Vater ein
wenig zu ärgern...", während er dies sagte, schien sich seine
Stimme von einem Punkt rechts von ihr sich über ihren Kopf hinüber
auf ihre linke Seite zu bewegen.
"Ihn ärgern? Ihr habt sein und damit
auch mein ganzes Leben zerstört! Ihr findet das wohl witzig?" sie
war völlig entrüstet.
"Irgendwie schon, ja! Aber er war natürlich
auch mein Konkurrent - und nirgendwo stand, dass man die Wahl zum Protektor
nicht mit ein wenig... unkonventionellen Mitteln beeinflussen durfte..."
Seine Stimme wanderte nun um sie herum und schien immer woanders her zu
kommen, was sie langsam zum Ausrasten brachte: "JETZT HÖRT AUF MIT
DIESEN SPIELCHEN UND NEHMT MIR DIESE AUGENBINDE AB ODER ICH WERDE KEIN
WORT MEHR MIT EUCH REDEN, KLAR?"
Ein seltsames Geräusch, eine Art Schnauben
ertönte, dann wieder Saladrex‘ Stimme, diesmal wieder direkt vor ihr:
"Nun gut, ich sehe schon, du meinst es ernst."
Die Augenbinde an ihrem Kopf knotete sich
wie von selbst auf und fiel ab, so dass sie Saladrex erblickte.
Nun, Elyssa hatte in ihrem Leben noch nie
zuvor einen Drachen gesehen, doch das gigantische Biest, dessen Schnauze
sich nur wenige Zentimeter vor ihrem Gesicht befand und das sie mit großen,
gelben Augen anstarrte, musste wohl einer sein.
Der Drache sagte: "Buh!" was seine Wirkung
nicht verfehlte - Elyssa fiel in Ohnmacht.
Als sie wieder zu Bewusstsein kam, lag sie
in einem Kreis aus roten Schuppen. Wie eine Mauer ragte der mit Stacheln
besetzte Körper des Tieres um sie herum auf.
Oh Gott, der muss mindestens 30 Meter lang
sein! dachte sie. Auf seinem Kopf saßen zwei elegant nach hinten
geschwungene Hörner und die beiden gelben Augen darunter schienen
sie noch immer belustigt anzustarren. Als sie ihn so betrachtete, fiel
ihr eine gewisse Ähnlichkeit mit seiner menschlichen Gestalt auf.
Er war zwar in gewisser Weise schön, doch gleichzeitig auch gefährlich
und zwielichtig.
Nach mehreren Minuten des Anstarrens unterbrach
die schneidende Stimme des Drachen die Stille: "Ich finde das immer wieder
faszinierend, wie mich die Menschen anstarren, wenn sie mich das erste
Mal sehen... Meistens ist es jedoch auch das Letzte, was sie je sehen."
Er machte etwas, das wohl ein Lächeln
sein sollte.
Irgendwie schaffte sie es, sich zusammen zu
raffen und zu sagen: "Was soll das alles hier? Ihr seid doch Saladrex oder?"
"Nein, ich bin sein Schoßtier!" erwiderte
er sarkastisch. "Und was das alles hier soll, fragst du? Nun, ich will
es dir erklären: Wenn ein Drache sich irgendwo niederlässt, nimmt
er gleichzeitig Anspruch auf ein großes Gebiet rund um seinen Hort.
Sicher wäre es in meiner wahren Gestalt sehr viel einfacher gewesen,
dieses Gebiet für mich zu erobern, doch es hätte nur zu viel
Aufmerksamkeit erregt, wenn auf einmal nicht mehr Edmund Schneedolch, sondern
der Drache Saladrex die Ländereien hier beherrscht. Sofort hätte
jeder gewusst: "Oh, im Schneedolch lauert ein garstiger Drachen!" Du weißt
gar nicht, wie es nervt, ständig in Sorge zu sein, dass einem selbst
nach kurzzeitigem Verlassen der Höhle die Hälfte des mühsam
angesammelten Schatzes fehlt! Nun, die Methode, die ich angewandt habe,
um Protektor zu werden, war viel unauffälliger – es bleibt nur der
eklige Nachgeschmack, dass ich all diese Leute "retten" musste... Aber
ich habe ihnen ihr Leid ja auch zugefügt, das gleicht die ganze Sache
auch wieder ein wenig aus. Nun, leider wird es sich nicht sehr lange vermeiden
lassen, meine wahre Identität vor der Öffentlichkeit zu verbergen
– aber dann können sie meinetwegen alle ankommen und sterben!" Zum
Schluss schien er bloß noch mit sich selbst zu sprechen. Seine Selbstliebe
machte sie schon jetzt krank.
"Und wie wollt ihr das mit eurer Arbeit als
Protektor regeln?" fragte sie ihn, halb aus Neugier, halb, um ihn von sich
abzulenken - wer so lange über sich selbst redet, kümmert sich
nicht mehr um andere.
"Oh, natürlich werde ich hier nicht für
alle Zeiten unbehelligt leben können, aber meine Höhle ist gut
versteckt. Außerdem bekomme ich mit meiner "Arbeit" noch nebenbei
ein wenig Gold für meinen Hort. Soweit habe ich da alles geklärt.
Doch eine Sache ist noch zu erledigen... Dein Vater muss leider aus dem
Weg geschafft werden! Es hat zwar Spaß gemacht, ihn zu quälen,
doch er hat sich ja kaum geärgert, was mir den Spaß auch ein
wenig linderte... Wie auch immer, er wird demnächst hier aufkreuzen,
dafür habe ich gesorgt", sagte er mit einem bedeutungsschwangeren
Blick auf sie.
Entsetzen erfüllte sie. Er wollte mit
ihrer Entführung Edmund hierher locken, um ihn dann umzubringen -
und um wahrscheinlich hinterher mit ihr das Gleiche zu tun.
"Bitte... Bitte lasst meinen Vater leben!
Er hat euch doch nie etwas getan und ich bin sicher, er würde euch
auch nie etwas antun! Er hätte euch hier wahrscheinlich sogar in Frieden
leben lassen, unbehelligt von der Außenwelt!" rief sie verzweifelt.
Saladrex lachte auf: "Ha, mir etwas antun!
Weißt du, es ist mir egal, was dein Vater über mich denkt. Fakt
ist: Er ist der Protektor dieses Landes und wir Drachen fügen uns
niemals irgend einem menschlichen Herrscher, und wenn er noch so
lieb und nett ist!"
"Dann... dann nehmt mich als eure Sklavin
und verschont ihn, ich bitte euch..."
"Ich sagte nein und es bleibt dabei! Sobald
er hier ankommt, weiß er über meine wahre Natur Bescheid und
das kann ich nicht durchgehen lassen! Und wozu sollte ich eine Sklavin
benötigen? Völlig nutzlos!" sagte er nun etwas ärgerlicher.
"Ich könnte..."
"HALT DIE KLAPPE!!!" brüllte er. Sie
erkannte, dass es besser war, ihn nicht noch weiter zu provozieren. Das
hätte wahrscheinlich ein böses Ende genommen.
Dann hörte sie Schritte. Als sie sich
umdrehte, sah sie einen Ork die Treppe herunter kommen. Er blieb vor dem
Drachen stehen, verbeugte sich und sagte: "Meister! Mensch in unsere Höhle
eingedrungen, wie geplant ihr habt – einige von uns gegen ihn kämpfen."
"Sehr gut, doch werft ihm nicht zu viele entgegen,
er soll doch bis hier durch kommen!"
"Ja, Meister!" Der Ork verbeugte sich wieder,
drehte sich um und ging fort.
Ihr Vater war also auf direktem Kurs ins Verderben...
Mit den Orks wurde er spielend fertig, mit so einer Plage hatte er ja schon
mehrmals zu tun. Ein Drache war da ein ganz anderes Problem.
"So, du wirst jetzt brav den Mund halten,
meine Süße, das ist eine Sache zwischen mir und deinem Vater!"
"Aber..."
"Ich sagte Mund halten!" Er machte eine Bewegung
mit seinen messerscharfen Klauen und sie verstummte.
Dann richtete er sich auf und deutete an eine
Wand der riesigen Halle.
"Stell dich da hin!"
Wortlos folgte sie seiner Aufforderung. Erst
jetzt fiel ihr auf, wie groß der Raum war: Von einem Ende zum anderen
maß er mindestens 100 Meter und die Decke befand sich weit über
ihrem Kopf. Wozu dieser Raum einmal gedient haben mochte? Es sah aber so
aus, als wäre sämtliche Einrichtung schon vor Jahren entfernt
worden. Im hinteren Teil des Raumes war ein riesiges Loch in der Wand.
Vor dem Loch lag ein großer Berg aus Schätzen. Goldmünzen,
Truhen, kostbar aussehende Schwerter, prunkvoll verzierte Bücher -
sie wagte nicht abzuschätzen, wie viel das alles wert sein mochte.
Erst das erneute Geräusch von Schritten lenkte ihre Aufmerksamkeit
wieder auf die große Treppe.
Ihr Vater kam mit gezogenem, blutigem Schwert
diese Treppe hinunter.
Als er den Drachen sah, erstarrte er in seiner
Bewegung. Was er jetzt wohl denkt? fragte sie sich. Dann fiel Edmunds
Blick auf sie. Langsam und ohne den Blick von dem Drachen abzuwenden, bewegte
er sich langsam in ihre Richtung und sagte: "Geht es dir gut, Schatz?"
"Ich denke schon...", war ihre Antwort.
"Gut...", sagte er zu ihr, dann zu dem Drachen:
"Saladrex, nehme ich an?"
"Versucht gar nicht erst, sie zu erreichen,
das werde ich schon zu verhindern wissen", antwortete Saladrex.
Ihr Vater blieb stehen.
Dann sagte er: "Hört mal, ich möchte
keinen Ärger mit euch, ich möchte einfach nur meine Tochter zurück
haben und in Frieden leben können, ist das denn zu viel verlangt?"
"In gewisser Weise schon, ja! Ich kann zwar
verstehen, dass ihr euch nicht mit mir anlegen wollt, aber durch euer Eindringen
hier habt ihr das leider zwangsläufig getan. Ihr versteht, dass ich
euch nicht in der Weltgeschichte herumlaufen lassen kann, während
ihr überall Drachentöter anheuert und fröhlich heraus posaunt,
dass ich hier oben wohne?" war die Antwort des Drachen.
"Ich habe nicht vor, irgend jemandem zu erzählen,
dass ihr hier haust, noch habe ich vor, eure Schätze zu stehlen, noch
möchte ich euch töten, noch euch sonst irgendwie Schaden zufügen,
ich möchte nur Elyssa wieder haben!"
"Oh, ihr glaubt doch wohl selber nicht, dass
ihr keine Hassgefühle für mich hegt! Ich habe euch alles genommen!
Alles, außer eines: Euer kleines, erbärmliches Leben! Es liegt
in Trümmern, es ist doch sowieso nicht mehr viel wert, oder?"
"Doch! Solange meine Tochter lebt, hat mein
Leben noch einen Sinn! Sogar mein Tod hätte noch einen Sinn, wenn
Elyssa dafür leben könnte. Also, stellt mit mir an, was ihr wollt,
aber lasst sie frei, ich bitte euch!" Die Stimme ihres Vaters blieb die
ganze Zeit über erstaunlich ruhig - sie bewunderte ihn dafür.
Der Drache nahm eine Klaue hoch und rieb sich
das Kinn.
"Hmm, nun gut, ich will euch noch eine Chance
geben: Wir spielen ein kleines Spiel! Es geht um Alles oder Nichts. Wenn
ihr gewinnt, dürft ihr gehen und eure Tochter darf euch begleiten
- doch ich warne euch: Wenn ihr auch nur einem anderen Lebewesen von mir
erzählt, seid ihr tote Menschen! Ich habe Wege und Mittel, dies heraus
zu finden. Solltet ihr verlieren, werdet ihr sterben - und eure Tochter
hier wird euch folgen!"
"Was ist das für ein Spiel?" fragte Edmund
misstrauisch.
"Kämpft gegen mich! Solltet ihr länger
als zwei Minuten überleben, schenke ich euch eure Freiheit!" Der Drache
grinste.
Elyssa fuhr empört auf: "Das ist doch
völlig unfair! Er hat doch überhaupt keine Chance gegen euch!"
"Elyssa, bitte! Misch dich da nicht ein!"
sagte ihr Vater mit einem Seitenblick.
"Aber..."
"Ich sagte misch dich nicht ein!" unterbrach
er sie mit Nachdruck und richtete sich wieder an Saladrex. "Ich gehe auf
euer Angebot ein, aber nur unter einer Bedingung: Kein Feuer, keine Magie
eurerseits! Eure körperlichen Waffen gegen mich und mein Schwert!
Zwei Minuten! Keine Sekunde länger!"
Saladrex grinste. Dann öffnete er eine
Klaue und schloss die Augen. Eine kleine Sanduhr erschien. Er stellte sie
neben Elyssa ab.
"Du wirst unser Schiedsrichter sein, Süße!
Wenn ich Los! sage, drehst du die Sanduhr um, wenn die Sanduhr abgelaufen
ist, schreist du Stopp!, alles klar? Und wehe du schummelst!" richtete
er sich an sie, wie an ein kleines Kind, dem man eine simple Aufgabe ganz
langsam erklären musste.
"Vater...", setzte sie an, doch er unterbrach
sie wieder. "Nein Elyssa, bitte, versuch nicht, mich davon abzubringen!
Du weißt, dass es unsere einzige Chance ist! Und jetzt setz dich
dort hinten hin, wo du sicher bist und spiele deine Rolle als Schiedsrichter!
Es sind nur zwei Minuten und vielleicht bin ich doch nicht so schwach,
wie ich immer behaupte", sagte er mit einem Augenzwinkern. Dann wandte
er sich dem Drachen zu, während sie aufstand und die Sanduhr mit sich
nahm. Weiter hinten in der Höhle nahm sie Platz und stellte die Sanduhr
vor sich auf den Boden.
Saladrex richtete sich auf und breitete seine
Flügel aus - es schien, als würde er sich strecken. Dann faltete
er sie wieder zusammen und sagte laut: "Los!"
Elyssa drehte die Sanduhr um und die winzigen
Sandkörnchen begannen durch den Hals der Uhr zu rieseln.
Zuerst starrten sich die beiden konzentriert
an, der gigantische Drache, der mit seiner Gestalt den Raum in der Breite
fast ganz ausfüllte und der kleine Mann mit seinem treuen Schwert,
das wie eine Stecknadel im Vergleich zu seinem Gegner wirkte.
Plötzlich zuckte der lange Schwanz des
Drachen vor, um Edmund von den Füßen zu fegen, doch Elyssas
Vater sprang geschickt hoch, um sich danach gleich unter einem folgenden
Klauenhieb zu ducken. Und schon folgte der nächste Hieb, dem er sich
mit einer gewandten Drehung entzog. Dann kam der riesige Kopf des Ungeheuers
herunter geschnellt, um ihn mit seinen riesigen Zähnen zu zerreißen.
Edmund warf sich flach auf den Boden und kurz über ihm schnappte das
riesige Gebiss zu. Bevor der Drache merkte, dass er ins Leere gebissen
hatte, rollte sich ihr Vater unter dem gewaltigen Schädel hervor und
richtete sich genau unter dem Drachen wieder auf. Einen weiteren Klauenhieb
lenkte er mit seinem Schwert von sich ab, doch dessen Wucht riss ihn zu
Boden. Den Sturz fing er mit einer Vorwärtsrolle ab und kam auf den
Rücken zu liegen. Schnell richtete er sein Schwert auf und erdolchte
damit den auf ihn herunter kommenden Fuß. Der Drache brüllte
auf vor Schmerz und riss die Klaue wieder nach oben, was ihren Vater allerdings
sein Schwert kostete. Der Drache zog sich abfällig das Schwert aus
dem Fuß, während ihr Vater die Zeit nutzte, um Abstand zu gewinnen.
Sie konnte ihn nun nicht mehr sehen, da die riesige Gestalt des Drachen
die Sicht versperrte. In der Aufregung hatte sie ganz vergessen, auf die
Sanduhr zu sehen. Der gesamte Sand war fast durchgerieselt.
"Vater, die Zeit ist gleich um!" rief sie.
Dass das ihren Vater das Leben kostete, sollte
sie nie erfahren. Nach ihrem Ruf war Edmund kurz in seiner Konzentration
unterbrochen und wollte zu Elyssa sehen, die durch den riesigen Drachen
jedoch verdeckt war. Er sollte sie nie wieder sehen. Saladrex nutzte den
winzigen Moment der Unachtsamkeit und hieb mit der verletzten Klaue nach
Edmund. Er sprang zwar zurück, doch seine Reaktion kam einen Moment
zu spät. Er wurde mitten im Sprung getroffen und zur Seite geschleudert.
In der Luft drehte er eine bizarre Pirouette und blieb dann bäuchlings
auf dem Boden liegen. Ein roter Teppich begann sich unter ihm auszubreiten.
Saladrex sagte: "Ups!"
Elyssa rief: "Die Zeit ist um!"
Der Drache bewegte eine Klaue und drehte Edmunds
Körper auf den Rücken. Er hatte ihm die gesamte Bauchdecke weggerissen.
Doch der widerwärtige Anblick kümmerte ihn wenig. Viel mehr interessierte
er sich für die immer noch offen Augen, die ihn ansahen. Blut lief
Edmund aus dem Mund, doch irgendwie konnte er noch folgendes röchelnd
hervorbringen: "ich...lebe...no...noch..."
Saladrex holte wütend Luft und spie einen
weißglühenden Feuerstrahl, der Edmund zu Asche verbrannte.
Elyssa schrie auf und rannte auf den Drachen
zu. Dieser sah seine verletzte Klaue an – es hingen noch immer ein paar
von Edmunds Innereien daran. Er schüttelte sie achtlos ab. Dann kam
Elyssa an, sah die Überreste ihres Vaters und blieb fassungslos stehen.
"Nein!" flüsterte sie. Tränen sammelten sich in ihren Augen.
Der Drache sah sie schief an und sagte: "Oh,
tut mir leid für dich! Weißt du, er war gar kein so schlechter
Kämpfer – der Kampf hat direkt Spaß gemacht!"
Die Trauer verwandelte sich in blinden Hass.
Mit Tränen in den Augen begann sie auf den Drachen einzuschlagen und
einzutreten und schrie dabei: "Du verdammter Bastard! Scheißkerl!
Mörder! MÖRDER!!!"
"Ach halt doch die Klappe, Winzling!" war
seine wütende Antwort und er schlug mit der Rückhand nach ihr.
Der Schlag war so heftig, dass er sie mehrere
Meter weit weg schleuderte, wo sie benommen vor Schmerzen liegen blieb.
Der Drache erschien über ihr, mit einem Blick, in dem so viel Wut
lag, dass er Eis hätte schmelzen können.
Gleich wird er mich töten, dachte
sie und schloss die Augen.
Doch der tödliche Streich fiel nicht.
Irgendwann öffnete sie ihre Augen wieder und sah einen sitzenden Drachen
vor sich, der laut nachdachte.
"Hm... hm... ja... ja! Ja! Weißt du,
ich habe dein Angebot noch einmal durchdacht – vielleicht brauche ich ja
doch eine kleine Gehilfin... Du darfst meinetwegen als meine Sklavin weiterleben.
Oder du kannst hier an Ort und Stelle sterben - die Todesart darfst du
frei wählen. Deine Entscheidung: Leben? Oder Sterben? Du hast eine
Minute Bedenkzeit!"
Sie richtete sich wieder auf. Der Schmerz
war fast unerträglich, doch sie zwang sich zum Nachdenken.
Lieber würde ich sterben, als diesem
Monster als Sklavin zu dienen! Doch andererseits... Vielleicht bietet sich
mir irgendwann eine Möglichkeit zu entkommen? Ich würde es ihm
heimzahlen! Ich würde die besten Drachentöter anheuern, die es
gibt und dann würde ich ihn leiden lassen. Zwei Minuten lang. Oh,
es würden die längsten zwei Minuten seines Lebens sein!
Sie stellte sich vor, wie ihre Drachentöter
Saladrex langsam folterten, wie sie ihm die ganze Zeit eine seiner bescheuerten
Sanduhren vor die Nase hielt und wie sie ihm zum Schluss das Schwert ihres
Vaters direkt in den Kopf rammen würde. Ein süßer Gedanke
in dieser schrecklichen Situation.
Die Zeit war um.
"Wie lautet deine Entscheidung, Elyssa? Sklaverei
oder Tod?" fragte er sie mit einem kalten, durchdringenden Blick.
Sie schaute auf den Boden.
"Ich stehe zu eurer Verfügung... Herr",
war ihre Antwort.
"Oh, eine weise Entscheidung, meine kleine
Elyssa, wahrhaft weise! Nun gut! Erst einmal: Solltest du deine Arbeit
schlecht machen, werde ich dich bestrafen. Solltest du versuchen zu fliehen,
werde ich dich töten. Solltest du versuchen, mir Schaden zuzufügen,
werde ich dich langsam töten – so langsam, dass es dir wie eine Ewigkeit
vorkommen wird. Hast du das verstanden?"
"Ja, Herr", antwortete sie demütig.
"Gut! Vielleicht werde ich dich ja irgendwann
mal freilassen... vielleicht werde ich dich auch irgendwann töten...
mal sehen. Noch Fragen?"
"Ja Herr! Was soll ich als eure Dienerin machen?"
"Hm... du könntest damit anfangen, den
Dreck, den dein Vater hier verursacht hat, wegzuräumen", sagte er
mit bösem Unterton.
Die Worte trafen sie wie ein Peitschenschlag.
Doch sie zwang sich dazu ein "Ja, Herr!" hervor zu pressen.
"Gut! Hol dir von den Orks irgendwas zum Saubermachen!"
Sie überlegte: Das ist meine Chance,
ich könnte versuchen zu fliehen. Aber wie lange wird er benötigen,
um herauszufinden, dass ich weg bin? Wie lange wird er brauchen, um mich
zu finden? Nein, jetzt kann ich noch nicht fliehen. Also, spiele den braven
Sklaven, Elyssa. Irgendwann kommst du hier raus und zahlst es ihm heim...
irgendwann...
Kurze Zeit später stand sie wieder vor
der Asche ihres Vaters. Unter der ständigen Aufsicht von Saladrex
machte sie sich daran, mit einem Besen die Überreste Edmunds auf ein
Tuch zu fegen und dachte dabei: Nicht nachdenken, Elyssa, nicht nachdenken!
Er will dich nur quälen, wie er es mit deinem Vater getan hat... Und
hat sich dein Vater davon beirren lassen? Nein, er hat gesagt: Solange
es noch Hoffnung gibt, ist das Leben lebenswert. Sie wiederholte es immer
wieder: Solange es noch Hoffnung gibt... Das gab ihr Kraft mit ihrer
schrecklichen Arbeit fertig zu werden. Als sie fertig war, legte sie das
Tuch zusammen und fragte den Drachen mit der ruhigsten Stimme, die sie
sich aufzwingen konnte:
"Habt ihr noch weitere Aufgaben für mich,
Herr?"
Ein Funkeln in seinen Augen verriet ihr, dass
Saladrex leicht verärgert darüber zu sein schien, dass sie sich
so ruhig gab. Doch er antwortete ihr mit der gleichen Ruhe: "Nein, das
soll fürs erste einmal genug sein. Du bist ja sicherlich ganz fertig!
Ich werde jetzt ausfliegen und dir ein wenig Kleidung und was zu essen
besorgen – wir wollen ja nicht, dass du gleich eingehst, nicht wahr?"
Er wusste, wie hart er sie mit diesem väterlichen
Gehabe traf. Doch sie hatte nicht vor, sich davon beeinflussen zu lassen,
darum antwortete sie nur mit einem "Danke, Herr!"
Er warf ihr nochmals einen seltsamen Blick
zu, drehte sich dann um, ging zu dem großen Loch in seiner Höhle,
breitete die Flügel aus, stieß sich vom Rand ab und flog weg.
Sie stand nun alleine in der großen Halle und nutzte die Zeit, um
sich umzusehen. Zuerst ging sie zu dem großen Loch, aus dem eben
noch Saladrex‘ mächtiger Körper verschwunden war. Die steinernen
Ränder des Lochs waren glasiert, wie weggeschmolzen. Anscheinend hatte
sich der Drache den Eingang zu seiner neuen Heimat in den Fels gebrannt.
Vor ihr breiteten sich die Ländereien ihres Vaters aus. Ex-Ländereien,
verbesserte sie sich in Gedanken. Saladrex‘ Höhle musste im Schneedolch
liegen, dem einzigen und damit höchsten Berg in der Umgebung. Elyssa
stammte aus dem Geschlecht der Schneedolche, welches nach dem Berg benannt
war. Ob diese Familie mit mir ihr Ende finden wird?
Sie sah über den Rand der Klippe. Dahinter
ging es relativ steil abwärts - für einen Menschen unmöglich,
hier hoch zu kommen. Der Eingang zu dem Komplex über ihr musste weit
oben liegen, so große Treppen, wie sie hierher überwunden hatte.
Warum wusste niemand von dem Gewölbe in diesem Berg? So etwas ließ
sich doch nicht so einfach übersehen... Vielleicht war der Eingang
getarnt gewesen? Doch wie hatte dann ihr Vater her gefunden?
Sie ließ ihren Blick über die Landschaft
schweifen und merkte, wie ihr die Tränen kamen. All dies stand einst
unter dem Schutz ihres Vaters. Jetzt war es der Willkür eines roten
Drachen ausgeliefert, der mit diesen Ländereien anstellen konnte,
was er wollte... Und sie wollte sich nicht vorstellen, was Saladrex hier
machen würde. Den Anwohnern in den zahlreichen Dörfern stand
eine harte Zeit bevor. Und indem sie Saladrex gewählt hatten, brachten
sie sich ihr eigenes Verderben...
Sie ließ alles raus. Sie schrie wütend
auf und begann, an die Wand zu treten, immer und immer und immer wieder,
bis ihr der Fuß schmerzte. Dann setzte sie sich auf den Boden, vergrub
die Hände im Gesicht und weinte. Sie schluchzte und weinte all die
Wut und die Trauer aus, die sich in den letzten Stunden angesammelt hatten.
Sie weinte und schrie und wand sich auf dem Boden, bis sie keine Kraft
mehr hatte und nur noch stumm auf der Seite lag und Tränen vergoss.
Sie wusste nicht, wie lange sie dort gelegen
hatte, als sie die Flügelschläge ihres neuen Herren hörte.
Schnell richtete sie sich auf, trocknete ihre Augen, so gut es ging und
stellte sich neben den großen Eingang. Saladrex landete auf der Klippe
und ging dann in seine Halle hinein.
Elyssa stand mit gesenktem Kopf da, um ihm
nicht ihre geröteten Augen zu zeigen. Der Drache schien kurz zu schnuppern,
sah sie abfällig an und warf ihr dann einen Beutel zu, den er in einer
seiner Klauen getragen hatte.
"Hier, das dürfte alles sein, was du
benötigst!"
Sie ging zu dem Beutel und sah hinein. Sein
Inhalt war ein grünes, gar nicht mal so hässliches Kleid, ein
Brot und ein paar Früchte. Doch damit waren noch nicht alle ihre Bedürfnisse
gedeckt...
"Wo soll ich schlafen, Herr?"
Der Drache machte eine Geste, die bei einem
Menschen wahrscheinlich ein Hochziehen der Augenbrauen hätte darstellen
sollen.
"Du schläfst hier, bei mir!"
"Aber auf welchem Bett, Herr?"
"Auf welchem Bett? Was hast du denn für
Ansprüche? Du wirst neben mir auf dem Boden schlafen! Oder ist dir
das zu unangenehm?" fragte er mit Nachdruck.
Sie senkte den Kopf: "Nein, Herr."
"Gut! Du darfst dich dann hinlegen, ich habe
für heute keine weiteren Aufgaben für dich."
Er legte sich vor seinen Schatzhaufen, rollte
sich zusammen und legte seinen Kopf auf den Schwanz. Sie nahm sich die
Nahrungsmittel, die er mitgebracht hatte, und begann mit Heißhunger
zu essen - schließlich hatte sie den ganzen Tag über nichts
in den Magen bekommen. Die ganze Zeit über wurde sie dabei von dem
Drachen beobachtet, für den es ein besonders faszinierender Anblick
zu sein schien. Entweder hatte er noch nie einen Menschen essen sehen oder
er dachte dabei an seine eigene Ernährung, so wie er sie ansah. Schnell
schüttelte sie den Gedanken ab und sah weg. Solange es keinen Grund
gibt, wird er mich nicht töten. Und ich werde dafür sorgen, dass
auch nie einen geben wird!
Nach einer Weile schloss der Drache seine
Augen. Schon bald war er eingeschlafen. Elyssa überlegte, was sie
jetzt tun sollte. Sollte sie vielleicht doch versuchen zu fliehen? Sie
könnte bis ins nächste Dorf kommen und dort versuchen, sich zu
verstecken... Nein, zu riskant! Sie konnte nicht riskieren, dass
ihre Rache an Saladrex ausblieb. Ihre Seele würde keine Ruhe bekommen,
sollte der Drache ihren Tod überleben.
Sie würde sich Zeit lassen.
Sie würde nicht überstürzt
handeln.
Sie würde ihn töten.
Und sie würde sich von nichts und niemand
davon abbringen lassen!
Doch das musste warten. Jetzt legte sie sich
auf den harten Boden und versuchte zu schlafen. Sie wollte nicht zu nah
an dem Drachen liegen und legte sich deswegen mitten in die Halle.
Es war kalt. Sie drehte sich auf dem Boden
immer wieder hin und her, in verzweifelter Suche nach einer bequemeren
Lage. Sie wusste nicht wie und sie wusste nicht wann, aber nach langer
Zeit, wie es ihr schien, gelang es ihr dann einzuschlafen.
Und die Zeit vergeht...
Die Arbeiten, die sie verrichten musste, waren
unangenehm und eintönig. Sie musste die gesamte große Halle
schrubben, Saladrex‘ wertvolle Schätze putzen, seine Schuppen reinigen
oder ihn mit ihrer bloßen Anwesenheit unterhalten, was für sie
am schlimmsten war, da sie meistens mehrere Stunden lang einfach nur dastehen
musste, während der Drache sie einfach nur betrachtete. Elyssa war
froh darüber, dass sie nicht wusste, was er dachte, während er
sie ansah.
Meistens jedoch war er nicht in seiner Halle,
sondern flog auf die Spitze des Berges, um seine Ländereien zu beobachten
oder um zu jagen. Und immer, wenn sie alleine war oder von dem Drachen
angestarrt wurde und keine Arbeit zu verrichten hatte, erging sie sich
in ihren Plänen, den Drachen umzubringen. Sie ergötzte sich immer
und immer wieder an dem Gedanken, ihm den Todesstoß zu geben.
Doch so ablehnend er sich ihr gegenüber
auch verhielt, er kümmerte sich recht gut um sie. Er ließ sie
regelmäßig an seiner Jagdausbeute teilhaben und versorgte sie
mit allem, was sie benötigte, sei es Wasser, Kleidung oder gar ein
wenig Heu, um ein provisorisches Bett zu erstellen. Das machte die Nächte
zwar nicht sehr viel wärmer, aber zumindest ein wenig bequemer.
Sie hatte keine Ahnung, was er mit der Bevölkerung
in den umliegenden Dörfern anstellte – sie wollte es auch nicht wissen.
Es war sicherlich nicht sehr angenehm für die Menschen, die einst
zufrieden unter der Aufsicht ihres Vaters leben konnten, bis Saladrex ankam.
Die Bestätigung für Saladrex‘ Schreckensherrschaft
erhielt sie nach mehreren Monaten Sklavenschaft...
Es war wieder eine der Perioden, wo er sie
nur anstarrte. Seine großen, gelben Augen schienen sie zu durchdringen,
wenn sie ihn ansah. An diesen Blick hatte sie sich nun schon fast gewöhnt.
Ich werde ihn vor seinem Tod auch nochmal eine Stunde lang nur anstarren,
dann weiß er, wie ich mich die ganze Zeit gefühlt habe,
sagte sie sich immer. Doch diesmal sah der Drache plötzlich auf. Ein
paar Momente später kam einer der Orks, die ebenfalls in dem Bergkomplex
wohnten, die große Treppe herunter.
"Ich hoffe, es gibt einen guten Grund, mich
zu unterbrechen!" sagte Saladrex mit drohender Stimme.
"Es sind Menschen eingedrungen, Meister!"
Saladrex sah auf.
"Wirklich? Wie viele?" fragte er interessiert.
"So viele, wie Ork Finger an Hand hat", antwortete
der Ork. Es überraschte Elyssa, dass diese Kreaturen überhaupt
zählen konnten, so dumm, wie sie sich sonst anstellten. Wahrscheinlich
war der Ork ein Gelehrter in seinem Volk...
"Schick ihnen ein paar eurer Leute entgegen.
Aber nicht zu viele, ich will, dass sie bis hierher durchkommen!" sagte
Saladrex mit einem Grinsen. Das Gleiche hatte er vor Monaten - oder waren
es Jahre gewesen? - gesagt, als ihr Vater in den Komplex kam. Elyssa schüttelte
den Gedanken schnell ab.
Der Ork sagte nur "Ja, Meister!" drehte sich
um und ging die Treppe wieder hoch.
Der Drache wandte sich wieder ihr zu: "Ha,
das wird ein Spaß! Pass auf!"
Auf einmal begann er mit einem inneren Licht
zu glühen und gleichzeitig zu schrumpfen. Wenige Sekunden später
hatte er sich in seine menschliche Form verwandelt. Elyssa hatte schon
fast vergessen, wie er als Mensch aussah, so lange war es schon her, dass
sie ihn das letzte Mal so gesehen hatte.
Die Illusion war perfekt. Hätte sie nichts
von seiner wahren Natur gewusst, hätte sie ihn für einen normalen
Menschen gehalten. Einzig das Funkeln in seinen Augen verriet noch ein
wenig über seine Absichten.
"Glotz nicht so! Du siehst mich schließlich
nicht das erste Mal!" sagte er mit seiner alten, menschlichen Stimme, die
immer noch eine gewisse Ähnlichkeit zu seiner Drachenstimme hatte.
Dann drehte er sich um und hob die Hände. Eine Sekunde später
erschien quasi aus dem Nichts ein solider Stahlkäfig mit eiserner
Tür. Elyssa hatte das Gefühl, ihre Kinnlade würde auf den
Boden fallen und ihre Augen aus dem Kopf springen.
"Wie...wie...", wollte sie ansetzten, wurde
aber gleich unterbrochen: "Das ist eine Form der Magie, die ihr Menschen
nie beherrschen, geschweige denn verstehen werdet, versuch also gar nicht
erst, eine Erklärung zu bekommen!"
Er öffnete die Tür des Käfigs,
die mit einem eisernen Schloss versehen war. Und lud sie mit einer Handbewegung
ein, hinein zu steigen.
"Was...?"
"Frag nicht, sondern geh hinein!" sagte er
in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Sie leistete auch keinen
Widerstand und stieg in das eiserne Gefängnis.
Saladrex folgte ihr, schloss die Tür
hinter sich und ließ das Schloss klickend einrasten.
"So, es wäre besser für dich, wenn
du jetzt die Klappe halten würdest!" sagte er mit einem übertrieben
freundlichen Lächeln. Und schon war die Abenteurergruppe zu hören,
die, sich fröhlich unterhaltend und laut polternd die Treppe herunter
kam. Am Fuße der Treppe jedoch stoppten sie und starrten.
Es waren fünf Menschen, drei Männer,
zwei Frauen. Ihnen offenbarte sich folgendes Bild: Eine riesige, lange
Halle mit einem großen Loch am anderen Ende, das direkt ans Tageslicht
führte. Mitten in der Halle lag ein riesiger Haufen aus Gold, Schätzen
und Kostbarkeiten – und davor stand ein Käfig mit zwei Menschen drin,
einer jungen Frau und einem hoch gewachsenen Mann.
Die fünf Menschen sahen alle recht unterschiedlich
aus. Die eine Frau war relativ spärlich bekleidet, hatte nur einen
langen Stab in der Hand und lange, schwarze Haare. Die andere Frau war
nahezu das Gegenstück zu ihrer Partnerin: Kräftig gebaut, kurze
Haare, Lederpanzer, Schild und Streitkolben... Die beiden hätten unterschiedlicher
nicht sein können.
Bei den Männern waren die Unterschiede
nicht ganz so auffällig. Einer von ihnen hatte eine auf Hochglanz
polierte Plattenrüstung, einen Helm mit einem kleinen roten Federbüschel
auf dem Kopf und war mit Schwert und Schild bewaffnet. Der zweite war nicht
ganz so vernarbt im Gesicht, aber von hünenhafter Statur und hatte
einen gigantischen Zweihänder in der Hand. Mit seinem langen Bart,
in den viele kleine Zöpfe geflochten waren, sah er aus wie einer der
Barbaren aus dem Norden. Der Dritte schien nicht ganz so kräftig.
Er war in ein unauffälliges Schwarz gekleidet, hatte eine Kapuze auf,
so dass man sein Gesicht nicht sehen konnte und war mit Pfeil und Bogen
bewaffnet.
Die wenigen Abenteurergruppen, die Elyssa
schon gesehen hatte, sahen fast alle genauso aus, wie diese hier... Doch
das war immer in den Dörfern gewesen und nie in dunklen Gewölben,
in der Gefangenschaft eines Drachen. Die fünf kamen jetzt schnell
auf sie zu. Der Mann in der glänzenden Rüstung rief: "Schnell,
Freunde, wir müssen sie aus diesem schrecklichen Gefängnis befreien,
bevor der Drache wiederkommt!"
Als sie am Käfig angekommen waren, sagte
Saladrex mit einer ängstlich-weinerlichen Stimme, die er übrigens
perfekt imitieren konnte: "Beeilt euch, ich glaube, der Drache, dem der
Schatz hier gehört, kommt gleich wieder!"
"Wisst ihr, wo der Schlüssel zu diesem
Käfig ist?" fragte die leicht bekleidete Frau.
"Nein, einer der Untergebenen des Drachen
besitzt den Schlüssel. Gibt es vielleicht einen anderen Weg?"
"Tretet zur Seite!" Das hatte der Kapuzenmann
gesagt. Die anderen gaben das Schloss frei, während der Mann einen
Dolch zog, sich vor das Schloss kniete und darin herum stocherte. Nach
ein paar Sekunden klickte es und das Schloss sprang auf. Saladrex stieß
das Tor auf und ging hinaus, wobei er Elyssa mit sich zog.
Der Ritter fragte: "Geht es euch gut?"
"Ich denke schon, ja!" war Saladrex‘ Antwort.
"In Ordnung, versucht so schnell wie möglich
an die Oberfläche zu kommen, wir werden uns solange den Drachen vorknöpfen!"
Dann sagte der Barbar etwas: "Jungs, schaut
euch nur diese Schätze an!"
Die vier anderen Mensch drehten sich zusammen
um und gingen ein paar Schritte auf den großen Schatzhaufen zu.
Sie standen jetzt alle mit dem Rücken
zu Saladrex und Elyssa. Der Drache drehte sich zu ihr um, lächelte,
legte den Finger auf die Lippen und zwinkerte ihr zu. Dann ging er auf
die muskulöse Frau zu, die ihm am nächsten stand.
Als er direkt hinter ihr war, legte er ihr
schnell den einen Arm um den Mund, mit dem anderen Arm umschlang er ihre
Brust.
Danach breitete er mit einer schrecklichen,
eleganten Bewegung seine beiden Arme aus und riss ihr dabei den Kopf von
den Schultern, wozu ein hässliches Geräusch ertönte.
Bei diesem Geräusch fuhren die anderen
vier Abenteurer herum und sahen Saladrex, wie er mit ausgebreiteten, blutigen
Armen und schief gelegtem Kopf dastand und sie anlächelte, während
rechts und links neben ihm die enthauptete Leiche der Frau lag.
Der Barbar reagierte zuerst. Er schrie: "DU
BASTARD!" und rannte mit weit über den Kopf gehobenem Zweihänder
auf den Drachen zu. Saladrex bewegte sich keinen Zentimeter. Erst, als
der Hüne bei ihm angekommen war und gerade zuschlug, klatschte er
blitzschnell seine beiden Hände seitlich versetzt zusammen und brach
die Spitze des Schwertes einfach ab. Der Hüne starrte nur ungläubig
auf sein Schwert, doch Saladrex versetzte ihm mit der geballten Faust einen
Hieb auf die Wange, der ihn Blut spuckend zu Boden warf. Dann stellte der
Drache schnell seinen Fuß auf die Kehle des Hünen, da die anderen
Abenteurer nun auch reagierten und sich ihm mit gezogenen Waffen näherten.
"Noch ein Schritt und ich muss ihm leider
seine kleine Kehle zerquetschen!" sagte er fröhlich, während
der Barbar röchelnd auf dem Boden lag.
"Was wollt ihr von uns? Was zur Hölle
seid ihr eigentlich?" fragte der Ritter.
"Was ich bin, möchtet ihr wissen?" sagte
er und grinste noch breiter.
Dann begann er wieder zu Glühen und seine
Gestalt veränderte sich. Sie wuchs und wuchs, bis wieder die gigantische
Statur des Drachen den Raum ausfüllte. Die drei Abenteurer legten
die Köpfe in den Nacken und staunten.
Saladrex hob den Fuß an - die rote Masse
darunter war anscheinend mal der Oberkörper des Hünen gewesen.
"Oh, Verzeihung! Den hab ich ja ganz vergessen!"
sagte Saladrex sarkastisch.
Elyssa betrachtete dies alles mit Entsetzen,
doch erneut zwang sie sich, ruhig zu bleiben. Das Einzige, was sie damit
erreichte, war, dass ihr schlecht wurde.
Sie sah nun, wie die andere Frau etwas murmelte,
während der Ritter angespannt und mit dem Schwert auf den Drachen
gerichtet, langsam zurück wich.
"Ihr wurdet also aus einem der Dörfer
geschickt! Was dachtet ihr? Dass ihr hier einfach rein spazieren und mal
eben einen Drachen umbringen könnt?" sagte Saladrex mit einem wütenden
Grollen. "Ich verbrenne euch zu Asche. Ich zermalme euch unter meinen Füßen.
Ich verschlinge euch bei lebendigem Leibe. Ich lösche euer Lebenslicht
mit einer Handbewegung aus – und ihr denkt, ihr könntet mich töten?
Ihr seid wahrlich die naivste und dümmste Rasse auf dieser Welt! Ich
frage mich, wie ihr es so weit bringen konntet!" donnerte die Stimme des
Drachen durch die Halle. Dann schüttelte er den Kopf, wie ein Vater,
der seinen Sohn tadelt, und spie einen Feuerstrahl in Richtung der Schatten
rechts von ihm. Im dem Licht konnte sie noch den vermummten Mann ausmachen,
der dort mit Pfeil und Bogen stand und wahrscheinlich gerade auf Saladrex‘
Kopf zielte. Danach war da kein Mann mehr.
Als er sich den beiden übrig gebliebenen
Menschen zuwandte, rief der Ritter: "Jetzt reicht es mir! Ihr werdet nicht
weiter unschuldige Menschen umbringen, Biest! Ihr werdet hier und jetzt
sterben!"
Der Drache lachte laut auf, so laut, dass
der Boden zu erzittern schien.
"Ich habe den Großteil eurer Gruppe
vernichtet, als wären sie Fliegen! Was wollt ihr jetzt noch gegen
mich unternehmen? Mich mit dieser Nadel dort kitzeln? Ah, ich hab es! Ihr
wollt mich mit eurer naiv-heroischen Art zu Tode amüsieren! Gewieft,
gewieft, doch eure Rechnung geht nicht ganz auf, Ritterchen!"
Das machte den Menschen so wütend, dass
er unter seiner Rüstung puterrot anlief und mit einem Kampfschrei
und mit vor sich gerichtetem Schwert nach vorne stürmte. Der Drache
fing ihn einfach mit einer seiner Klauen ab und hob ihn hoch, während
der Ritter nur wütend schrie, strampelte und mit dem Schwert nach
den gepanzerten Schuppen des Drachen schlug. Dieser nahm die andere Klaue
und schnippte ihm das Schwert einfach aus der Hand. Die junge Frau, die
die ganze Zeit nur vor sich hin gemurmelt hatte, schrie nun "NEIN!" und
streckte die Hände ruckartig von sich, auf den Drachen zeigend. Aus
ihren Fingerspitzen schossen rote Energiekugeln, die Saladrex am gesamten
Körper trafen. Der Drache sah an sich herab – kein einziger der Energiebälle
hatte auch nur einen Kratzer hinterlassen.
"Ist das alles, Magierin?" fragte er ungläubig.
Dann bewegte er sich auf die junge Frau zu und hielt die Klaue mit dem
immer noch zappelnden und schreienden Ritter direkt über sie. Dann
presste er seine Krallen zusammen und ließ einen blutigen Regen auf
die Zauberin hinunterprasseln. Der Ritter starb mit einem unmenschlichem
Gurgeln.
Elyssa wandte ihren Blick ab.
Die vor Blut triefende Magierin begann jetzt
unartikuliert zu schreien und lief los, in Richtung Ausgang. Der Drachenschwanz
zuckte blitzschnell hervor, wand sich um ihre Füße und riss
sie zu Boden, direkt vor Elyssa.
Die Frau, sie musste genauso alt sein wie
Elyssa selbst, sah zu ihr auf und flüsterte: "Hilf mir... bitte! Bitte
hilf mir!"
Doch Elyssa neigte nur den Kopf nach unten
und schloss die Augen.
Saladrex zog die Zauberin nun zurück
und hob sie in die Luft. Dann ließ er seinen Schwanz mit aller Wucht
auf den Boden peitschen.
Das abartige Geräusch, das es beim Aufprall
gab, verdrehte Elyssa den Magen, doch sie unterdrückte den Brechreiz
und hielt ihre Augen geschlossen.
Als sie ihren Körper wieder einigermaßen
unter Kontrolle hatte, machte sie die Augen wieder auf. Ein Bild des Grauens
offenbarte sich ihr: Überall war Blut, Blut und nochmals Blut – die
Leichen der Abenteurer waren bis zur Unkenntlichkeit verunstaltet. Elyssa
verlor die Kontrolle über sich selbst. Sie fiel auf die Knie, beugte
sich vornüber und übergab sich auf den blutigen Boden der Halle.
"Dir ist klar, dass du das alles nachher wegräumen
darfst?" sagte der Drache Nase rümpfend.
Elyssa sah sich nochmals um und sagte leise,
mehr zu sich selbst: "Diese Boshaftigkeit... Diese sinnlose Boshaftigkeit..."
Saladrex hatte es trotzdem gehört.
"Boshaftigkeit? Du bist der Meinung ich handele
so, weil ich von Grund auf böse bin!? Weißt du was? Ich bin
gar nicht der "Böse"! Diese fünf Menschen hier waren es, schließlich
wollten sie mich umbringen!"
Wut kochte in ihr hoch. Wut über den
Drachen. Wut über seine grausamen Taten. Wut über sich selbst.
Sie schrie ihn an: "Aber sie hatten nie eine Chance gegen euch, ihr habt
sie abgeschlachtet wie Tiere!"
Zuerst sah er sie nur ungläubig an. Dieser
kleine Mensch wagte es doch, ihn anzuschreien! Dann lachte er und sagte
mit schief gelegtem Kopf: "Sie waren ja auch die Bösen. Und die Bösen
verdienen deiner Meinung nach doch auch immer einen schrecklichen Tod,
oder?"
Elyssas Wut war noch immer nicht abgebaut
und sie schrie weiter: "Ihr terrorisiert die Bevölkerung hier, ihr
schlachtet wehrlose Bürger ab, ihr bringt meinen Vater um und sagt
dann noch, dass diese Taten gut sind? Seid ihr wahnsinnig?"
Jetzt legte Saladrex den Kopf in den Nacken
und lachte so laut, dass die gesamte Höhle wirklich erbebte:
"Ha! Du hast Mut, Winzling! Das gefällt mir! Noch nie zuvor hat jemand
gewagt, mich so anzuschreien und überlebt."
Da wurde Elyssa bewusst, was sie gerade getan
hatte. Sie neigte den Kopf und murmelte: "Vezeiht, Herr!"
"Oh, nein, jetzt fang nicht wieder mit diesem
Rumgeschleime an! Das ist so langweilig! Wenn du so offen bist, wie du
eben warst, gefällst du mir gleich viel besser. Das heißt jetzt
aber bitte nicht, dass du mir ins Gesicht sagen kannst, was du willst!"
Sie konnte es kaum fassen. Indem sie ihre
eigenen Gesetze gebrochen hatte, erlangte sie ein wenig Vertrauen von ihm.
Er fuhr fort: "Was ich dir gerade versucht habe, klar zu machen, war, dass
die Handlungen, die ich ausführe, für mich natürlich "gut"
sind, während alle, die mir etwas anhaben wollen, "böse" sind.
Verstanden?"
"Ja, Herr."
"Und was will ich dir damit sagen? Überlege
gut!"
Elyssa dachte nach. Was sollte das sein? Eine
Prüfung? Was würde er machen, wenn sie falsch antwortete? Schließlich
entschied sie sich zu einer Antwort: "Ihr wollt mir damit sagen, dass es
kein Gut und kein Böse gibt. Es gibt nur verschiedene Ansichten einer
Sache."
Der Drache sah ihr direkt in die Augen. Doch
diesmal war es nicht das endlose Mustern der letzten Wochen, dieses Mal
ging es tiefer. Es war, als suchte er etwas in ihrer Seele, einen Fleck,
von dem nicht mal mehr sie etwas wusste. Sie war auch nicht in der Lage
wegzusehen. Sie klebte an seinem Blick, als ob ein magischer Bann diesen
Kontakt aufrecht erhalten würde. Irgendwann sagte er dann: "Das war
genau die richtige Antwort. Du bist gar nicht mal so dumm, Elyssa. Aus
dir lässt sich noch etwas machen! Lassen wir diese Sklavenarbeit für
dich. Du wirst zwar weiter hier bei mir bleiben, aber ich habe etwas anderes
mit dir vor..."
Elyssa schluckte. Was sollte das? Was hatte
er vor? Sie fragte ihn.
"Das wirst du schon sehen. Es wird auf jeden
Fall besser werden, als das, was du in der letzten Zeit für mich getan
hast", war seine Antwort. "Die Putzarbeiten können auch die Orks übernehmen."
Elyssa sah sich in dem blutigen Raum noch
einmal um.
"War das alles nötig? Warum mussten sie
alle so sinnlos sterben?"
"Sinnlos? Wieso sinnlos? Und wenn ihr Tod
sinnlos war, was für einen Sinn hatte dann ihr Leben?"
"Auf keinen Fall war der Sinn ihres Lebens,
von einem vergnügungssüchtigen roten Drachen abgeschlachtet zu
werden!" antwortete sie scharf.
"Woher willst du das wissen, Elyssa? Vielleicht
war ja gerade das der Sinn?! Du kannst es nicht sagen, ich kann es nicht
sagen, es ist so geschehen und dabei wird es auch bleiben. Und frage nicht
mehr nach dem Sinn, du wirst ihn nämlich nie finden! Wir Drachen
haben schon vor Jahrtausenden damit aufgehört. Auch wir sind damals
immer wieder gegen die Mauer namens Philosophie gerannt, um den Sinn des
Ganzen dahinter zu finden. Glaube mir, diese Mauer steht fest und unzerstörbar."
Saladrex hatte Recht. Es war geschehen und
damit hatte es sich. Es würde keinen Sinn machen, nach dem Sinn zu
fragen. Wenn sich intelligente Wesen schon seit Jahrtausenden mit dem Problem
befassten und noch immer keine Antwort gefunden hatten, wie sollte sie
da eine finden?
"Auf jeden Fall zieht diese Aktion nun Konsequenzen
für die Bewohner einiger Dörfer hier mit sich. So etwas darf
ich natürlich nicht ungestraft lassen!" fuhr er fort.
"Lasst die Dorfbewohner aus dem Spiel! Woher
wollt ihr wissen, dass sie die Abenteurer angeheuert haben? Ich bitte euch,
tötet nicht noch mehr unschuldige Menschen!"
"Unschuldig! Diese fünf hier waren es
wohl kaum! Und nenne mir einen Dorfbewohner, der keinen Hass gegen mich
empfindet!" antwortete er ihr.
"Wartet bitte ab! Sollten es wirklich die
Dörfler hier gewesen sein, werden in ein paar Wochen oder Monaten
noch weitere Abenteurer kommen. Sollte dies geschehen, habt ihr die Gewissheit,
dass die Dorfbewohner es waren - wenn nicht, hat euch diese Gruppe hier
zufällig gefunden!"
Elyssa sah Saladrex an und hoffte. Saladrex
sah zurück und wog prüfend seinen Kopf hin und her. Dann sagte
er mit väterlich tadelnder Stimme: "Die Antwort ist nicht ganz logisch,
meine kleine Elyssa! Die fünf Menschen wussten von mir. Und sie wussten,
dass ich hier im Berg wohne. Niemand besteigt einfach so ohne Grund einen
Berg - obwohl, euch Menschen kann man ja alles zutrauen... Dennoch werde
ich die Dorfbewohner nicht bestrafen. Das kostet nur Zeit und Energie!
Und außerdem hast du Recht, sie werden bald weitere Abenteurer schicken..."
Den letzten Satz sagte er mit einem Unterton,
der ihr sagte, dass das hier nicht das letzte Gemetzel gewesen war, was
sie mit ansehen musste.
Er rieb sich mit seiner riesigen Hand das
Kinn und sah sie weiterhin an. Es kam ihr vor, als wäre er in letzter
Zeit nur am Nachdenken - am Nachdenken über sie!
Jetzt schien er Selbstgespräche zu führen:
"Nein, das geht nicht hier, das muss ich woanders überdenken! Elyssa,
mach das hier sauber, solange ich weg bin! Ja, ich weiß, dass ich
gesagt habe, du müsstest das nicht mehr machen. Es wird auch das letzte
Mal sein – denke ich mal..."
So ganz in Gedanken versunken drehte er sich
um, flog weg und ließ sie in der blutigen Halle alleine zurück.
Sein Verhalten war undurchsichtiger als ein
dicker Nebelschleier. Vor ein paar Wochen sah es noch so aus, als würde
er sie hassen und jetzt... Hegte er nun etwa Sympathien für sie? Oder
hatte er etwas anderes mit ihr vor? Egal, was es war, es würde sie
nicht von ihren Plänen abhalten...
Sie seufzte und machte sich an die Arbeit.
Und die Zeit vergeht...
Elyssa hatte sich nicht getäuscht. Saladrex
verhielt sich besser zu ihr. Sie musste viel seltener anstrengende Arbeiten
erledigen und wurde von ihm auch sonst besser behandelt. Er unterhielt
sich auch öfters mit ihr – meist ging es um die Menschen, ihre Verhaltens-
und Lebensweisen. Obwohl er Menschen anscheinend immer noch verabscheute,
zeigte er sich doch sehr interessiert darüber, was diese in seinen
Augen minderwertige Spezies antrieb, Städte zu bauen, Handel zu führen
und mit einer derartig kurzen Lebensspanne glücklich leben zu können.
Elyssa wusste nicht, ob sie nur eine Informationsquelle
für ihn und ebenso "minderwertig" war, wie der Rest der Menschheit
oder ob sie für den Drachen etwas Besonderes darstellte.
Der Antwort auf diese Frage kam sie ein wenig
näher, als Saladrex sie ein paar Tage später auf den Gipfel des
Schneedolches flog. Sie hatte sich das Fliegen immer als wunderschön
vorgestellt und als ein Gefühl absoluter Freiheit – es war kalt und
unangenehm. Wäre Saladrex‘ Körper nicht so warm gewesen, wäre
sie wahrscheinlich erfroren. Dass er einen normalen Menschen niemals auf
sich hätte fliegen lassen, da war sie sich sicher. Irgend etwas unterschied
sie also von den anderen...
Das wurde in den nächsten Tagen nur noch
deutlicher. Nachts durfte sie jetzt sogar an ihn angelehnt schlafen. Für
seine Körperwärme war sie angesichts der aufkommenden winterlichen
Kälte nur dankbar. Und dann begann er eine Art Unterricht mit ihr.
Er nahm sie mit auf den Gipfel des Berges und in die umliegenden Wälder
und schulte sie anhand von Konzentrationsübungen, ihre Sinne besser
zu nutzen und ihre Umgebung deutlicher wahrzunehmen. Es war unglaublich:
Sie sah, hörte und roch viel besser, als es vorher der Fall gewesen
war. Ebenso lehrte er sie den Umgang mit Pfeil und Bogen. Mit ihren neuen
Sinnen brauchte sie nur wenige Monate, um so gut zu werden, wie ein Meisterschütze,
der sein ganzes Leben lang trainiert hatte. Saladrex ließ sie sogar
alleine in die Wälder auf Jagd gehen. Es wäre für sie die
perfekte Gelegenheit gewesen, zu fliehen – doch sie tat es nicht.
Denn ihr Hassgefühl gegen den Drachen
wurde mit der Zeit von wachsender Zuneigung zu ihm abgelöst, was in
ihr einen Konflikt schaffte, der sie völlig verzweifeln ließ:
Sollte sie Saladrex ob der Ermordung ihres Vaters hassen oder ihn wegen
den phantastischen Fähigkeiten, die er sie lehrte, lieben?
Elyssa hatte noch in einem weiteren Punkt
Recht gehabt: Es kamen immer wieder Abenteurer in Saladrex‘ Höhle.
Und er tötete sie alle. Doch... Elyssa gewöhnte sich an
die blutigen Gemetzel, die der Drache immer wieder unter den Abenteurern
anstellte, was in ihr die Frage aufwarf: Verändert mich Saladrex
so sehr, dass auch ich bald zu einem blutrünstigen Monster wie er
werde?
Und diese Frage brachte sie auf eine Idee:
Wenn er sie verändern konnte, warum sollte es nicht auch anders herum
funktionieren? Sie beschloss, ihre Pläne für Saladrex zu ändern...
Eines Tages kam ein weiterer Drachentöter
- einer von den Idioten, die sich an die berühmten Sagen hielten und
versuchten, den Drachen alleine in einem heldenhaften Kampf umzubringen.
Er hatte eine gold schimmernde Rüstung an und eine lange Lanze dabei.
Er wäre wahrscheinlich schon an Saladrex‘ Orksippe gescheitert, hätte
der Drache nicht den Befehl erteilt, sämtliche Abenteurer unverletzt
zu ihm durchkommen zu lassen.
Er wird ihn in seiner eigenen Rüstung
braten, war ihr Gedanke, als sie den Mann sah.
Sie hatte richtig gedacht. Saladrex holte
wie immer vor dem Feuerspeien tief Luft und spuckte dem armen Mann dann
die weiß glühende Flamme entgegen. Als das helle Licht verschwand,
erwartete sie, nur noch ein Häufchen Asche zu sehen, doch der Mann
stand immer noch da, als ob nur ein warmes Lüftchen ihn gestreift
hätte. Er rief: "Ha, Wurm! So einfach werdet ihr mich nicht besiegen!
Eure miesen Drachentricks werden eure schuppige Haut nicht beschützen
können!"
Elyssa kam es vor, als hätte sie so etwas
schon einmal gehört... richtig, alle Abenteurer ließen
solche Sprüche ab - bevor sie starben.
Saladrex antwortete: "Oh, ihr seid einer von
denen, die so magischen Krimskrams mit sich rumschleppen?" Er seufzte.
"Das verdient natürlich eine Sonderbehandlung!"
Sein Schwanz zuckte vor, um sich um die Füße
des Mannes zu wickeln, doch dieser sprang schneller, als man es von ihm
in dieser schweren Rüstung vermutet hätte, nach hinten, um dann
sofort mit nach vorne gerichteter Lanze auf den Drachen zu zu stürmen.
Kurz vor dem Aufprall warf er sich jedoch zur Seite – da, wo er in einer
Sekunde gewesen wäre, prallten Saladrex‘ Kiefer aufeinander –, zog
die Lanze über den Körper des Drachen und verursachte eine klaffende
Wunde, aus der heißes, rotes Drachenblut quoll. Saladrex schrie auf
– so etwas hatte ihm noch keiner der Abenteurer zugefügt. In seiner
Wut hieb er nun nach dem Menschen und schleuderte seine Lanze beiseite,
so dass dieser nun hilflos vor einem vor Zorn kochenden Drachen stand.
Saladrex nahm den Mann in eine Klaue und hob ihn an.
Jetzt war der Zeitpunkt gekommen.
"Saladrex, wartet!" rief sie.
Der Kopf des Drachen fuhr herum und seine
Augen funkelten sie wütend an. "Was?" sagte er knapp.
Die folgenden Worte hatte sie sich gut überlegt
und lange vorbereitet: "Wisst ihr, was wahre Macht ist, Saladrex?"
Er schien verwirrt: "Was soll das? Worauf
willst du hinaus?"
"Ich möchte, dass ihr diesen Menschen
am Leben lasst!"
"WAS? Willst du, dass er das Werk, was er
hier begonnen hat, vollendet?" Er deutete auf seine Wunde. "Und was hat
das mit deiner Frage zu tun?"
"Ich will nicht, dass er euch tötet.
Doch beantwortet mir meine Frage doch bitte!"
Saladrex sah sie zuerst mit zusammengekniffenen
Augen an. Dann sagte er: "Macht ist, zu töten. Macht ist, Leben nach
Belieben nehmen zu können."
Es war genau die Antwort, die sie erwartet
hatte.
"Gut, das mag Macht sein. Doch ist diese Macht
nicht viel besser eingesetzt, wenn man keinen Gebrauch von ihr macht?"
"Wie meinst du das?"
"Wenn ihr diesen Menschen am Leben lasst,
beweist ihr viel mehr Größe, als wenn ihr ihn töten würdet.
Und nebenbei, ist es nicht viel lustiger, diesen Narren in aller Öffentlichkeit
zu demütigen? Schließlich sollen die Leute sehen, was ihr machen
könntet, dann haben sie viel mehr Angst vor euch!"
Saladrex sah sie schief an. Dann lachte er
laut auf, stellte den Mann, der die Unterhaltung mit leichenblassem Gesicht
verfolgt hatte, auf die Füße und sagte zu ihm: "Zieh dir die
Rüstung aus oder ich vergesse den Ratschlag dieser jungen Lady hier
ganz schnell!"
Der Mann tat, wie der Drache ihm gesagt hatte
und stand dann in normalen Ledersachen zitternd vor Saladrex, zahlreiche
Rüstungsteile um sich herum liegend.
Dann spie der Drache Feuer. Der Mann hatte
nicht einmal mehr Zeit zum Schreien gehabt.
Elyssa senkte den Blick – es hatte also keinen
Sinn...
Als die Flamme aus Saladrex‘ Maul vergangen
war stand der Mann aber immer noch da – splitternackt, zitternd und noch
bleicher als zuvor! Und Saladrex lachte sich halb tot.
"Ha! Das wird lustig, Elyssa!" Mit diesen
Worten schnappte er sich den nackten Mann und flog aus seiner Höhle
hinaus.
Nach einer Weile kam er wieder, lachend und
kichernd wie ein kleines Mädchen.
"Eine großartige Idee, Elyssa! Ich hab
den Typen auf dem Marktplatz von Valyris ausgesetzt, so nackt wie er war.
Wie die Leute geglotzt haben!"
Sie lächelte ihn an. Und er lächelte
zurück.
Ein paar Tage später durfte sie das erste
Mal alleine nach Valyris gehen. Es musste jetzt zwei Jahre her sein, seit
sie das letzte Mal in einer größeren Menschenansammlung gestanden
hatte. Doch das war ein anderes Leben gewesen... Jetzt stand sie mitten
auf dem großen Marktplatz und ließ die Gerüche, die Geräusche
und die regen Wortwechsel zwischen Händlern und Kunden auf sich einströmen.
Doch wie sie sich die Waren auf den Ständen der Händler ansah,
so bemerkte sie auch Gespräche hinter ihrem Rücken: "Dieses Mädchen
hier hab ich noch nie gesehen!", "Wer ist sie?", "Wo kommt sie her?", "Du,
dieses Mädchen ist mir irgendwie unheimlich..."
So unheimlich, wie sie einst Saladrex‘ Menschengestalt
als unheimlich empfunden hatte?
Auf einmal ertönte neben ihr ein Schrei.
Als sie den Kopf drehte, entdeckte sie den Mann, den Saladrex verschont
hatte. Auf dem gesamten Marktplatz kehrte Ruhe ein. Alle sahen auf den
Mann.
"Sie da! Dieses Mädchen da ist die, von
der ich euch erzählt habe! Sie steht mit dem Drachen im Bunde, diese
Hexe!" schrie er und deutete mit dem Finger auf sie.
Nun waren alle Blicke auf Elyssa gerichtet
– und nur wenige von ihnen ließen Gutes ahnen.
Ein Gemurmel setzte in der Menge ein, welches
hauptsächlich aus Worten wie "Hexe!" und "Verräterin!" bestand.
Diese Leute hatten sie noch nie vorher gesehen, was stachelte sie an, so
über sie zu denken?
Der Mann schrie weiter: "Ich sage: Lasst uns
sie umbringen! Lasst uns Rache üben an dem Drachen, der uns schon
so lange terrorisiert!"
Das Gemurmel wurde lauter. Einige Leute schrien
"Verbrennt sie!" und "Tötet sie!".
Kalte Angst kroch Elyssas Nacken hoch. Diese
Leute würden sie umbringen, wenn sie nur wütend genug waren,
daran bestand kein Zweifel – und die Wut der Menge kochte langsam über.
Verzweifelt rief sie: "Aber ich habe euch
das Leben gerettet!"
Der Mann kam näher und blickte ihr mit
hasserfüllten Augen ins Gesicht. Dann sagte er: "Vor allem habt ihr
mir eine Schande fürs Leben bereitet!"
Und er packte sie, stieß sie zu Boden
und zog ein Messer. Doch auf einmal kehrte Ruhe auf dem Platz ein. Ein
großer Schatten legte sich über den Mann. Eine Stimme ertönte:
"So gehst du also mit meiner Gnade um, Menschlein?"
Die Hand des Mannes begann zu zittern. Er
ließ das Messer fallen und drehte sich langsam um. Hinter ihm stand
Saladrex hoch aufgerichtet wie ein Turm und mit einer Wut in den Augen,
wie sie es wirklich noch nie gesehen hatte. Sein Zorn schien beinahe Substanz
zu gewinnen und die Luft wurde so dick, dass es schwer fiel, sie zu atmen.
Saladrex‘ Zorn brauchte ein Ventil.
Und er fand es in dem Drachentöter.
Saladrex brüllte auf, packte ihn mit
beiden Klauen und zerriss ihn. Er zerfetzte ihn regelrecht und zerstreute
seine Einzelteile über die nun in Panik ausbrechende Menge. Als es
nichts mehr von dem Mann gab, was groß genug zum Zerfetzen war, fiel
sein Blick auf Elyssa. Er senkte seinen Hals.
"Steig auf!"
"Saladrex..."
"STEIG AUF HABE ICH GESAGT!!!"
Sie setzte sich auf seinen Nacken und hielt
sich an seinen beiden Hörnern fest. Mit einem kräftigen Stoß
hob der Drache von der Erde ab und flog weg. Elyssa drehte sich um und
sah, wie einige der Bürger auf dem Marktplatz standen und ihnen nachsahen.
Als das Dorf außer Sichtweite war und
sich nur noch grüner Wald unter ihnen erstreckte, wollte sie "Danke!"
sagen, doch der Drache drehte auf einmal um und glitt dicht über
die Baumkronen hinweg in die Richtung aus der sie kamen. Elyssa erkannte,
was er vor hatte.
"Saladrex, bitte nicht!"
"Halt die Klappe!" war seine barsche Antwort.
Die Dörfler sahen ihn erst, als er schon
auf dem Marktplatz landete und einen Teil der Menge unter sich begrub.
Und dann verfiel Saladrex in eine blutige Raserei, gegen die seine Gewalttaten
von vorher verblassten wie eine Kerze angesichts eines Vulkanausbruchs.
Er hieb mit den Klauen nach rechts und links,
sein Schwanz zuckte hin und her und sein Flammenodem fegte durch die Straßen.
Menschen wurden zerrissen, zertrümmert, verbrannt, zertrampelt, zerquetscht.
Und Elyssa saß auf dem Drachen, wie eine Reiterin auf einem gigantischen
Ross und sah alles mit an.
Dabei gelangte sie zu folgender Erkenntnis:
Du kannst einen Drachen nicht verändern, Elyssa!
Zum Schluss war das Dorf nur noch eine Ruine
aus Blut, Eingeweiden und Asche gewesen - das größte Dorf im
Umkreis, binnen weniger Minuten dem Erdboden gleich gemacht.
Sie waren zu seiner Höhle zurück
gekehrt. Saladrex Raserei hatte sich gelegt. Sie sahen sich lange und traurig
in die Augen. Saladrex sprach als erster: "Da war ein Fehler in deiner
Aussage letztens: Die Menschen sind zu dumm, um zu sehen, was ich machen
könnte! Sie sehen nur das, was ich tue!"
Sie schwieg – denn er hatte Recht.
Er fuhr fort: "Du hast mir in den letzten
zwei Jahren gut gedient. Ich schenke dir hiermit deine Freiheit. Verlasse
mein Reich und lebe wo und wie es dir gefällt. Solltest du jedoch
je die Grenzen meines Reiches wieder überschreiten, werde ich dich
töten!"
Elyssa stand da und sah ihn weiterhin an.
"Warum?" fragte sie ihn wispernd. Ein Warum,
das für alles galt, was er in den letzten zwei Jahren mit ihr getan
hatte. Die ultimative Frage, auf die es keine Antwort gab...
"Geh!"
Sie ging.
Und die Zeit vergeht...
Nachdem sie gegangen war, merkte sie, wie ihr
Tränen in die Augen stiegen. Zwei Jahre lang war sie die Sklavin des
Drachen gewesen, der ihren Vater getötet hatte. Jetzt hatte er sie
frei gelassen und sie weinte! Warum hatte er sie so plötzlich
entlassen?
Nachdem sie die Ländereien, die um den
Schneedolch lagen, verlassen hatte, streifte sie immer noch lange durch
die Wälder und hielt sich mit dem Jagen über Wasser. Saladrex
hatte ihr noch ein wenig Gold und ihren Bogen zukommen lassen. Ansonsten
wäre sie in der Wildnis wahrscheinlich gestorben. Von Menschensiedlungen
hielt sie sich fern. Die Kunde, dass ein junges Mädchen die Drachen
beherrschte, auf ihnen ritt und die Länder terrorisierte, hatte sich
bereits weit verbreitet und fremde Mädchen, die alleine durch die
umliegenden Wälder streiften wurden sehr misstrauisch beobachtet.
In ihr war eine schwarze, unendlich große
Leere. Sie war von Menschen und Drachen verstoßen worden und wusste
nicht, an wen sie sich wenden sollte. Um ihrem Leben wenigstens einen kleinen
Sinn zu geben, beschloss sie, einen Plan zu Ende zu führen, den sie
schon vor langer Zeit geschmiedet hatte...
An ein Schwert zu kommen, war kein großes
Problem. Die Schmiede verhielt sich zwar ebenso abweisend wie alle anderen,
doch wenn man mit klingender Münze zahlte, machten sie keine großen
Aufstände.
Mit Schwert und Bogen machte sie sich auf
den Weg...
"Du bist zurück gekommen!" sagte Saladrex,
als sie mit gezücktem Schwert seine Halle betrat. "Warum? Um mich
zu töten? Oder um meine Entscheidung, mich von dir zu trennen, rückgängig
zu machen? Weißt du, kurz vor unserer Trennung hattest du eine sehr
richtige Erkenntnis: Man kann Drachen nicht verändern! Denkst
du, du kannst meine Entscheidung jetzt noch verändern?" sagte er.
Sie blieb stehen. Sie hatte diesen Gedanken
damals nicht laut ausgesprochen... Woher wusste er davon?
"Woher ich davon weiß, fragst du dich?
Oh, ich weiß noch viel mehr, Elyssa..."
Es traf sie wie der Schlag. Eine weitere Erkenntnis
bildete sich in ihrem Kopf wie eine dunkle Gewitterwolke, die langsam heranzieht.
Sie dachte: Ihr könnt meine Gedanken lesen?
Saladrex nickte.
"Dann wisst ihr also auch...", begann sie,
wurde aber von Saladrex unterbrochen: "Ja, seitdem du das erste Mal den
Gedanken gefasst hast, mich zu töten, weiß ich davon, Elyssa.
Und ich habe alle deine lüsternen Visionen, die meinen Tod betrafen,
mit angesehen... Warum ich dich nicht gleich getötet habe? Du stelltest
keine Bedrohung für mich dar! Außerdem verzehrtest du dich so
sehr in deinem Hass auf mich, dass ich ein Experiment wagen wollte: Ich
wollte versuchen, dir diesen Hass auszutreiben. Zunächst habe ich
dich noch mehr provoziert, den Hass gegen mich geschürt. Doch dann
wollte ich versuchen, dich umzustimmen, dir deinen Hass auf mich zu nehmen.
Nun, es ist mir gelungen... Doch ich konnte nicht wissen, dass es so weit
kommen würde..."
Das war es? DAS war der Grund seiner Nettigkeit
gewesen? Tränen stiegen ihr in die Augen.
Die ganze Zeit über hatte sich etwas
in ihr geregt, etwas, was sie zunächst nicht wahr haben wollte, etwas,
was sie nicht glauben konnte. Etwas, was unmöglich war. Sie sprach
es aus: "Ich... ich liebe euch, Saladrex!"
Stille. Er sah sie mit seinen gelben Drachenaugen
lange an. Dann sagte er: "Mir ging es genauso, Elyssa! Mit der Zeit habe
auch ich gelernt, dich zu lieben. Ich konnte es nicht fassen, auch ich
hielt es nicht für möglich. Doch es ist geschehen. Und es ist
nicht gut für uns beide! Wir können nicht zusammen leben, Elyssa!"
Wie Bäche rannen die Tränen nun
über ihr Gesicht.
"Warum?" Wieder stellte sie die Frage.
"Ich habe ein ganzes Dorf aus Liebe zu dir
vernichtet, Elyssa! Ich will deine Liebe nicht mehr! Und ich will dich
nicht mehr lieben! Denn ich bin ein Drache und du bist ein Mensch. Wir
passen nicht zusammen. Deshalb bitte ich dich: Geh! Geh, lebe dein eigenes
Leben und mach es nicht nur noch schlimmer, Elyssa!"
Diese Worte trafen sie härter als alles,
was er ihr je angetan hatte. Härter als der Tod ihres Vaters. Härter
als ihr erster Abschied von ihm. Denn dieses Mal war sie sich ihrer Liebe
zu ihm voll bewusst. Und er ebenfalls...
"Aber... ich kann so nicht leben!" schluchzte
sie.
"Bitte... geh! Zwing mich nicht, dich zu zwingen!"
sagte er traurig.
Sie schüttelte den Kopf, weinend und
schluchzend.
"Nein!"
Dann nahm sie ihr Schwert, richtete seine
Spitze auf ihre Brust und ließ sich vornüber fallen.
Das Letzte was sie sah, war der Schmerz in
Saladrex‘ gelben Augen, als sie starb.
Saladrex stand fassungslos über der Leiche
seiner Geliebten. Das Menschen zu so etwas fähig waren, hatte er nicht
gewusst - sich für die Liebe umzubringen... Er stand einfach nur da.
Minuten. Stunden.
Eine große, glänzende Träne
rann sein schuppiges Gesicht herab.
Er tat etwas, was schon seit Tausenden von
Jahren kein roter Drache getan hatte: Er weinte.
Alchimisten, Magier, Könige, Fürsten,
Händler und viele andere Menschen hätten sich für ein derartig
seltenes magisches Utensil gegenseitig umgebracht. Kriege und Schlimmeres
wären um einen solchen Schatz geführt worden.
Die Träne fiel auf den Boden und zerplatzte.
Der alte, rote Drache weinte.
Denn er suchte nach dem Sinn.
Es gab keinen Sinn!
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