Migdo wurde an diesem Morgen auf eine Art
geweckt, die er schon sehr lange nicht mehr erfahren hatte: Helle Sonnenstrahlen
drangen durch die großen Fenster seines Zimmers und kitzelten seine
Haut und seinen Bart. Mit einem zufriedenen Gähnen streckte er sich
und suchte sich einen Weg aus den edlen Laken - was gar nicht so einfach
war, denn das Bett quoll regelrecht über vor Seidenkissen, gefärbten
Fellen und breiten Samtdecken.
Schließlich sprang er vom Rand des Bettes
und griff nach einem Bademantel in Zwergengröße, der auf einem
Stuhl bereit gelegt worden war. In seinem ganzen Leben war der junge Zwerg
nicht so verwöhnt worden wie in den letzten vierundzwanzig Stunden.
Obwohl er nur als Zurgins Gehilfe hier war, hatte er eines der edelsten
Gästequartiere erhalten, und die Bediensteten bemühten sich,
ihm jeden Wunsch von den Lippen abzulesen. Überhaupt staunte er über
die Vielfältigkeit der Zitadelle: Einerseits war sie eine schwer bewaffnete
Trutzburg mit nahezu unüberwindlichen Schutzwällen und einer
ganzen Garnison als Besatzung, andererseits gab es eine ganze Etage mit
edelsten Räumen und Suiten, in denen hin und wieder sogar Könige
residierten.
Sich den Schlaf aus den Augen reibend, ging
er zu einer kleinen hölzernen Konsole hinüber und tauchte seine
Hände in die Schale mit lauwarmem Wasser, die vor nicht mehr als fünf
Minuten an dieser Stelle platziert worden sein musste. Nachdem er sich
angekleidet hatte, trat er auf den von zahllosen Kerzen erleuchteten Gang
hinaus. Nur wenige Meter weiter saß auf einem Stuhl ein junger Herold,
der sich sofort erhob, als er ihn bemerkte.
"Guten Morgen, Herr", sagte er in übertrieben
förmlichem Tonfall. "Meister Zurgin bat mich, euch auszurichten, dass
er für einige Stunden des Studiums ungestört sein möchte..."
"Er ist schon auf?" fragte Migdo, dann verdrehte
er die Augen. "Typisch..."
Der Junge wusste mit dieser Bemerkung offenbar
nichts anzufangen und meinte weiter: "Prinz Malcolm lädt euch herzlich
ein, der Heerschau der uwarischen Garnison beizuwohnen. Er erwartet euch
auf dem Schauplatz auf der Südebene - wenn ihr es wünscht, führe
ich euch nach dem Essen dort hin."
Nach kurzer Überlegung nickte der junge
Zwerg. Nach dem komplizierten Unterricht im Labor und den langen, ernsten
Gesprächen am Abend würde das Beobachten der aufmarschierenden
Soldaten aus Malcolms Heimat ihm eine interessante Abwechslung bieten...
aber als erstes wollte er ordentlich frühstücken!
-
Zurgin Muspelmeister saß an einem der
Tische im großen Laboratorium und brütete über einem uralten,
in Leder eingeschlagenen Wälzer, den er aus der Mine unter dem Berg
Weltenwut mitgebracht hatte. Es war der ´Katalog der magischen Naturelemente`,
von einem der ersten Meisteringenieure, Kolbi Sauerbroch, vor mehr als
zweitausend Jahren verfasst.
Die Haupttür des Labors öffnete
sich mit leisem Knirschen, dann trat ein hochgewachsener alter Mensch mit
Glatze und einem langem Bart, der sogar nach Zwergenmaßstäben
beeindruckte, ein. Er trug eine blauweiße, edel bestickte Robe und
eine aus feinstem Leder gefertigte schwarze Kappe, die ihn als Angehöriger
der Magiergilde auswies.
"Lugerto!" rief der alte Meisteringenieur,
legte seine Brille beiseite und erhob sich von seinem Stuhl. "Ihr seid
noch älter und noch hässlicher geworden!"
"Dasselbe gilt für euch", gab der Zauberer
zurück und schüttelte ihm kräftig die Hand. Dann setzten
sie sich an den Tisch und Zurgin stellte ein zweites Glas neben seinen
Weinhumpen. Wohl um die Vorlieben seines alten Freundes wissend, verzichtete
er darauf, ihm etwas einzuschenken. Lugerto nahm das Gefäß in
die Hand und fixierte es einen Moment lang intensiv mit beiden Augen, und
plötzlich, von einer Sekunde auf die andere, war es mit uwarischem
Starkbier gefüllt. Dann betrachtete er das große Buch auf dem
Tisch und meinte: "Ah! Ich hatte gehofft, dass ihr den ´Katalog`
mitbringt. Wir haben hier zwar eine umfangreiche Bibliothek, aber die Aufzeichnungen
um die Künste der Titanen ist nur sehr unvollständig."
Zurgin lächelte. "Ich weiß - allerdings
kenne ich dieses Werk nahezu auswendig, und auf die Fragen, die sich uns
in der gegenwärtigen Situation stellen, bietet es keine Antworten."
"Das ist äußerst bedauerlich. Habt
ihr euch die Kristalle schon angesehen?"
"Das hatte ich schon gestern vor, aber dann
habe ich den ganzen Abend an Anthulius` Tafel verbracht", meinte der Zwerg.
"Begleitet mich doch."
Der Zauberer nickte, dann erhoben die beiden
alten Männer sich und machten sich auf den Weg in den großen
Turm, in dem die Maschinerie des Kristallrings eingebaut war.
-
Nach einem mehr als reichlichen Essen hatte
Migdo seine lederne Gardemontur angelegt, seinen Waffengurt umgeschnallt
und seinen Hammer demonstrativ an seine rechte Seite gehängt. So zurecht
gemacht, traf er sich im Hof mit dem jungen Herold - sein Name war Argun
- und machte sich mit ihm zusammen auf den Weg zum Schauplatz. Argun hatte
für den Zwerg ein Pony und für sich selbst einen Esel organisiert.
Der kurzbeinige Verwandte der großen
Pferde, die die Menschen benutzten, war für Migdos Bedürfnisse
optimal: er konnte ohne fremde Hilfe in den Sattel steigen und das Tier
wackelte beim Laufen wesentlich weniger hin und her als die Hochlandkamele,
mit denen er bisher gereist war. Vor allem war es um einiges gutmütiger.
Nach einem etwa halbstündigen Ritt erreichten
sie die zerklüftete Südebene des Tals, wo die erst zwei Tage
zuvor eingetroffenen Truppen aus Uwarien lagerten. Sie wurden von zwei
Lanzenträgern auf riesigen, breithufigen Pferden empfangen, die sie
nach einer oberflächlichen Betrachtung passieren ließen. Das
Lager bestand aus mehreren Dutzend niedriger Zelte, zwischen denen improvisierte
Ställe und etliche Feuerstellen eingerichtet worden waren. Migdo stieg
von seinem kleinen Ross, reichte die Zügel einem der Stahlknechte
und blickte sich fasziniert um.
Die uwarischen Krieger unterschieden sich
enorm von den Soldaten der Grenzstreitkräfte: sie trugen lange Bärte
und breite, massive Rüstungen, auf ihren Köpfen saßen schwere,
eiserne Helme, häufig mit Hörnern, Federn und Drachenschuppen
geschmückt. Breitschwerter und schwere Äxte hingen an ihren Gürteln,
es gab kaum Bogenschützen. Auch legten die Uwarier ein absurdes Imponiergehabe
an den Tag, wie Migdo es zuvor nur von den Hähnen kannte, die seine
Mutter auf ihrem Hof gehalten hatte. Sie stolzierten mit hoch erhobenen
Köpfen umeinander herum und schienen sich gegenseitig mit Blicken
aufspießen zu wollen. Es herrschte eine andauernde Atmosphäre
von Aggressivität und Geltungssucht.
Und Malcolm, der verstoßene Prinz, der
sonst so still und nachdenklich wirkte, schien plötzlich wie ausgewechselt:
Er schritt mit stolzgeschwellter Brust und übertrieben ernster Miene
zwischen den Männern umher, die ihm mit tiefstem, fast ungläubigem
Respekt den Weg frei machten. Migdo beobachtete, wie er allerlei Hände
schüttelte und auf zahlreiche Rücken klopfte, ein ungewohnt raues
Lachen drang immer wieder aus seiner Kehle. Als der Prinz ihn schließlich
bemerkte, löste er sich sogleich von seinen Kriegern und kam zu den
Ställen hinüber.
Nachdem er Argun mit einem dankenden Nicken
entlassen hatte, schüttelte er Migdos Hand und murmelte: "Bin ich
vielleicht froh, dass du da bist. Zwischen diesen ganzen Spinnern dreh’
ich noch durch!"
Überrascht sah der junge Zwerg zu ihm
auf. "Du sahst aus, als würdest du dich ganz wohl fühlen..."
"Ach, weißt du..." Der Prinz stemmte
die Hand in die Hüften und sah in die Runde. "Ich weiß nicht,
wie viel dir Anthulius erzählt hat. Auf jeden Fall bin ich für
diese Männer hier nach wie vor ein Sohn ihres Königs. Zu meinem
großen Leidwesen muss ich mich in ihrer Anwesenheit entsprechend
verhalten."
"Aber..." Migdo zögerte. "...benehmen
sich die Leute in deiner Heimat alle so?"
Malcolm nickte mit einem leicht wehleidigen
Gesichtsausdruck. Sie ließen es dabei beruhen und machten sich auf
den Weg. Der junge Prinz zeigte ihm das Lager und stellte ihn verschiedenen
Offizieren vor, sie besuchten die Ställe und den Kommandostand, wo
ein riesiger rotbärtiger Offizier mit einem großen, mit einem
Hirschgeweih dekorierten, Stahlhelm sie erwartete. Er stellte sich als
Hulth Erickson vor und zeigt ihnen die Pläne für die abschließende
Heerschau: Bevor die bisherige uwarische Besatzung in ihre Heimat zurückkehrte,
würden die Soldaten gemeinsam mit den sie ablösenden Kameraden
eine große Parade abhalten und dem Lordprotektor ein rituelles Zierschwert
überreichen. Auf Migdos Anfrage erläuterte Hulth ihm die Bedeutung
dieser ganzen Zeremonie:
Im Gegensatz zu allen anderen Königreichen
und Fürstentümern gewährte Uwarien seinen Bürgern nicht
die Möglichkeit, freiwillig in den Dienst der Grenztruppen zu treten.
Stattdessen unterhielt das Reich von König Haiftan eine gewaltige
Berufsarmee, von der immer mindestens eine Garnison in Hamarsburg stationiert
war. Alle zwei Jahre wurde die komplette Truppe ausgewechselt und kehrte
nach Uwarien zurück, wo sowohl die Offiziere als auch die Soldaten
mit großen Ehren empfangen wurden.
Die Parade sollte noch am selben Abend stattfinden,
der bisherige Uwarier-Kommandant, Hauptmann Uetan Malkor, befand sich gerade
beim Lordprotektor und wurde verabschiedet. Anschließend würden
die beiden auf den Schauplatz kommen und der Zeremonie beiwohnen...
Mitten in der Erklärung wurde Hulth vom
schallenden Klang mehrerer Hörner unterbrochen, den der Wind von der
Zitadelle her über die Ebene trug, und nur wenige Augenblicke später
kamen mehrere Wachsoldaten über die zerklüfteten Hügel neben
der Hauptstrasse gelaufen und schrieen unverständliche Warnungen.
Schließlich stürmte ein Kurier auf einem schlanken Schimmel
heran und machte erst Halt, als sein Tier den Kommandostand, an dem Malcolm
und seine Begleiter immer noch standen, schon beinahe überrannt hatte.
"Dunkelelben!" schrie er. "Die Dunkelelben
greifen an, Mylord!"
Während Migdo den Unglücksboten
im ersten Moment nur fassungslos anstarren konnte, reagierten die Uwarier
mit der ihnen antrainierten Schnelligkeit: Sie zurrten in Sekundenschnelle
ihre Waffen fest und rannten in Richtung der Pferde los, Hauptmann Hulth
brüllte Befehle in einem abgehackten Dialekt und trieb seine Männer
zu den Ställen. Unteroffiziere stolperten aus ihren Zelten und versuchten,
ihre Truppen zu sammeln. In den ersten Minuten entstand der Eindruck eines
totalen Chaos, aber nach kurzer Zeit galoppierte ein geordnetes Reiterheer
in Richtung Westen, knapp sechzig schwer bewaffnete Männer auf kolossalen
Schlachtrössern, angeführt von Hulth und Malcolm. Der Uwarier-Prinz
hatte Migdo vor sich auf sein Pferd gesetzt, da sein Pony keinesfalls schnell
genug war, um mit den anderen Tieren Schritt zu halten.
Auf halben Weg schlossen sich ihnen Roban,
Kijena und ein Dutzend Reiter der Grenztruppen an.
-
"Da sind sie", rief Meister Lugerto und deutete
auf einen Punkt im äußersten Nordwesten des Tals. Obwohl das
helle Licht der Mittagssonne seinen Blick ein wenig trübte, konnte
Zurgin den Strom winziger Kreaturen erkennen, der sich aus den Nischen
im glatten Fels des Weltenwut-Gebirges in die Ebene ergoss. Es waren so
viele!
"Das ist ja eine ganze Streitmacht", murmelte
er besorgt. Der alte Zauberer und er waren auf den Kristallring geklettert
und standen nur auf dessen etwa sechs Meter breiter, glatter Oberfläche.
Einige Wachleute traten neben sie und sahen ebenfalls besorgt nach Westen.
"Ganz so schlimm ist es nicht", erklärte
Lugerto mit erstaunlich gelassener Stimme. "Sie werden sich verteilen und
versuchen, von mehreren Seiten zu attackieren. Das machen sie immer so..."
Mit einem raschen Blick zu den Schutzkristallen
erkannte Zurgin, dass es noch mindestens eine Stunde dauern würde,
bis die noch funktionierenden Kristalle den Bereich anvisieren konnten,
in dem die Dunkelelben vorstießen. Sie hatten offenbar genau gewusst,
wann sie sich in Bewegung setzen mussten.
"Unsere Truppen sind bereits unterwegs", erklärte
Lugerto. "Malcolm wird den Feind zurückschlagen. Wir beide können
im Augenblick nichts tun."
Zurgin sah zu der gewaltigen Mechanik hinüber,
die den Kristallring drehte. "Vielleicht doch", knurrte er und setzte seine
kostbare Brille aus Ulderland-Quarz wieder auf. "Kommt mit."
-
Migdo wurde beinahe abgeworfen, als Malcolms
Pferd einen spitzen, aus dem Boden ragenden Felsengrat mit einem Satz übersprang.
Das Gelände wurde immer unebener, je weiter das stetig wachsende Heer
von Reitern nach Westen vordrang. Vor ihnen ragten dunkle, scharfkantige
Felsen auf, zwischen denen zahllose geifernde Dunkelelben hervor krochen.
Sie sahen denen, die Migdo in Kel Utaz gesehen hatte, ähnlich, aber
im Gegensatz zu dem Spähtrupp von damals waren die hier auf ihn zu
stürmenden Exemplare alle mit scharfkantigen Säbeln und Äxten
bewaffnet, einige trugen sogar schwere Armbrüste und Schleudern bei
sich.
Schon pfiffen die ersten Geschoße durch
die Luft, ein Mann rechts von Malcolm und Migdo wurde von einem armlangen
Bolzen durchbohrt und glitt mit einem gurgelnden Stöhnen aus dem Sattel.
Ein knappes Dutzend Reiter teilte sein Schicksal, bevor die kompakte Wand
aus berittenen Kriegern wie ein Wirbelsturm zwischen die Dunkelelben fuhr.
Die erste Welle von Gegnern wurde einfach von den breiten Hufen der riesigen
Schlachtrösser zertrampelt, Speere wurden geschleudert und massive
Äxte prallten auf die grob gezimmerten Holzschilde, die einige der
schwarzhäutigen Kreaturen mit sich trugen. Malcolm ließ sein
Pferd mitten im Getümmel eine elegante Drehung vollführen, bei
der er Migdo packte und auf dem Boden absetzte. Bevor der junge Zwerg wusste,
wie ihm geschah, war er von wütenden Dunkelelben umgeben, die mit
ihren Säbeln nach ihm hackten und sein ungeschütztes Gesicht
zu treffen versuchten.
Hastig zog er seinen Hammer und ließ
ihn in das erstbeste hineinkrachen, das ihm in den Weg geriet. Ein aus
nur drei brüchigen Latten gefertigter Schild zerbarst zu winzigen
Splittern, der Dunkelelb, der ihn trug, wurde von der Wucht des Hiebes
zurückgeschleudert. Bevor Migdo jedoch auch nur das Ziel seines Schlages
erkannt hatte, fügte ihm ein Speer einen schmerzhaften Stich in die
Seite zu. Mit einem wütenden Schnauben fuhr er herum und schlug den
Elb, der ihm die Wunde zugefügt hatte, mit der bloßen Faust
nieder.
Um ihn herum war der Kampf nun in vollem Gange,
immer mehr Uwarier stiegen von ihren Pferden und rieben die Reihen der
Dunkelelben mit ihren Streitäxten auf. Längst drängten sie
den Feind zurück, aber von den Bergen kamen immer noch weitere Abscheulichkeiten
herab, die sich mit wütenden Kampfschreien auf die Menschen warfen.
-
Lugerto beugte sich zu Zurgin hinab und sah
ihm über die Schulter. "Das klappt nie", meinte er stirnrunzelnd.
Der Zwerg ignorierte ihn und grub seine Hände
noch tiefer in die undefinierbare Ansammlung von Kabeln und Zahnräder,
die sich vor ihm auftat. Scharfe Metallkanten hatten bereits ein gutes
Dutzend roter Schrammen auf seinen Handrücken hinterlassen. "Redet
nicht so viel", brummte er schließlich. "Reicht mir lieber den Schraubendreher!"
-
Ein Schwerthieb traf einen narbengesichtigen
Dunkelelb und schleuderte ihn durch die Luft, so dass Migdo ihm gerade
noch ausweichen konnte. Mit einem kräftigen Tritt stieß er zwei
weitere Gegner aus dem Weg und versetzte einem lanzenschwingenden Elb mit
halb zerrissenen Ohren den Todesstoß. In den letzten Minuten hatten
die Grenztruppen empfindliche Verluste einstecken müssen; die Zahl
der aus dem Westen heranströmenden Feinde dagegen schien sich überhaupt
nicht zu verringern.
Migdo wandte sich um und suchte in der brodelnden
Masse aus Körperteilen und Waffen nach Malcolm oder Kijena. Nach einigen
Sekunden entdeckte er Roban, der sich mit einer Axt in der Linken und einem
Schwert in der Rechten gegen drei Gegner gleichzeitig wehrte. Gerade als
der Zwerg sich zu ihm durchkämpfen wollte, machte der große
Mensch zwei Schritte nach hinten, stolperte über eine aus dem Boden
ragenden Felsen und taumelte rückwärts - genau auf Kijena zu,
die gerade einen geifernden Dunkelelb mit bloßen Händen niederrang.
Robans Schulter traf sie im Nacken und stieß sie zu Boden, so dass
ihr abscheulicher Gegner sich befreien konnte und sofort seine Klauen nach
ihrer Kehle ausstreckte.
"Helft mir", schrie sie, aber Roban war zu
sehr mit den drei Elben beschäftigt, die mit ihren Säbeln auf
ihn einschlugen. Also sprang Migdo vor, packte den Elb im Genick und zog
ihn von der Menschenfrau herunter. Inzwischen befand er sich im Zustand
purer Raserei, seine Zwergenfäuste hieben mit ungeheurer Brutalität
auf das fahlhäutige kleine Monstrum ein.
Plötzlich fuhr eine schwarze Klauenhand
in sein Blickfeld, feuchte, schwielige Finger gruben sich in seinen Bart
und rissen blutige Büschel heraus. Er schrie schmerzerfüllt und
ließ seinen Hammer kreisen, aber es tauchten bereits weitere Gegner
auf, die sich auf ihn warfen und ihm die Waffe zu entreißen versuchten.
Gerade als einer der Dunkelelben seinen Säbel
drohend über Migdos Gesicht schwang, geschah plötzlich etwas
Unvorstellbares: Der junge Zwerg spürte, wie sich die Luft um ihn
herum innerhalb weniger Augenblicke um mehrere Grad erwärmte. Ein
blutrotes Flimmern hüllte alles in seiner nächsten Umgebung ein,
dann gab es einen schmerzhaften Lichtblitz, der die Haare auf seinem Arm
und die Spitzen seines Bartes versengte. Und die Dunkelelben über
ihm und um ihn herum lösten sich in Luft auf!
Es war ein beängstigender und zugleich
faszinierender Anblick. Umgeben von dem immer intensiveren roten Glühen
wurden die geifernden Kreaturen zu verzerrten Silhouetten, die innerhalb
weniger Sekunden zerfaserten und sich komplett auflösten.
Als das rote Licht sich verflüchtigt
hatte, war von ihren Gegnern nichts mehr übrig bis auf die Metallfragmente
ihrer Waffen. Im Umkreis von fünf Metern war nichts mehr übrig,
und die weiter entfernten Dunkelelben starrten entsetzt auf die Stelle,
an der Migdo und Kijena lagen. Im nächsten Augenblick wiederholte
sich das Ereignis einige Meter weiter: ein mehrere Meter durchmessender
Strahl aus blutrotem Licht schoss von Südosten heran und verdampfte
jedes Geschöpf Nargons, das in seinen Einflussbereich geriet. Ein
Dunkelelb wurde nur zur Hälfte aufgelöst, während der Rest
rauchend zur Seite kippte.
Roban half Kijena auf die Füße,
während Migdo sich selbst zur Seite rollte und aufstand. Seine Haut
war gerötet und brannte leicht, aus seinem Bart stiegen ein paar kleine
Rauchfäden auf. Nachdem er seinen lockigen Gesichtsschmuck mit leichter
Panik gelöscht hatte, wanderte sein Blick zur Zitadelle hinüber,
wo einer der intakten Schutzkristalle immer wieder hell aufleuchtete und
seine tödlichen Strahlen aussandte. So also sahen diese uralten Waffen
in Aktion aus...
-
Innerhalb weniger Minuten hatte der Schutzkristall
auch die letzten Dunkelelben von der Oberfläche des Tals gebrannt,
während die Grenztruppen mit der Versorgung ihrer Verwundeten beschäftigt
waren. Weitere Truppen und Feldsanitäter trafen ein, ein uwarisches
Reiterkommando verfolgte die wenigen Feinde, die sich zwischen die felsigen
Vorsprünge des Gebirges geflüchtet hatten.
Migdo saß wieder vor Malcolm auf dessen
Pferd und hielt seinen schmerzenden Arm fest. Sie ritten langsam auf die
Zitadelle zu, flankiert von Roban, Kijena und einem halben Dutzend uwarischer
Gardisten. Hauptmann Hulth hatte sich nicht davon abbringen lassen, dem
Prinzen eine persönliche Bewachung an die Seite zu stellen. Migdo
war derweil damit beschäftigt, seinen völlig zerzausten Bart
zu glätten und wüst über den Elb zu schimpfen, der seinem
liebsten Gesichtsschmuck so übel mitgespielt hatte.
Als sie die Tore Hamarsburgs fast erreicht
hatten, kam ihnen Lordprotektor Halion Anthulius auf seiner schneeweißen
Stute entgegen. "Wie sieht es aus?" fragte er, als er sie erreichte.
Malcolm schluckte schwer und erstattete Bericht.
"Wir haben mindestens dreiundvierzig Männer verloren, davon dreißig
aus Hulths Reiterheer. Etwa zwanzig Männer sind schwer verletzt und
werden in diesem Augenblick versorgt. Die Dunkelelben sind zurückgeschlagen
und werden noch ein wenig durch die Berge gejagt."
Der alte Mann strich sich einen Moment gedankenverloren
über seinen Schnurrbart und sah an ihnen vorbei nach Westen. "Wir
haben ziemliches Glück, dass es Meister Zurgin gelungen ist, die Drehgeschwindigkeit
des Kristallrings zu erhöhen..."
Malcolm und die anderen Kämpfer sahen
ihn überrascht an, dann nickte der Prinz und meinte: "Ich hatte mich
schon gewundert, dass die Kristalle uns so schnell zur Hilfe kamen. Eigentlich
hätte der Zyklus viel länger dauern müssen."
"Zum Glück weiß Zurgin Dinge über
die Technik der Titanen, von denen selbst Meister Lugerto noch nie etwas
geahnt hat", gab der Lordprotektor zurück und wendete sein Reittier.
"Kommt, er erwartet uns auf dem Ring - er will uns unbedingt etwas zeigen."
Wenig später hatten sie die schier unendlichen
Treppen des Turms erklommen und traten einer nach dem anderen auf die glatte
Oberfläche des Kristallrings hinaus. Ein kräftiger Südostwind
wehte ihnen entgegen, sie mussten sich an den nachträglich installierten
Geländern aus rostigem Stahl festhalten. Zurgin und der Zauberer Lugerto
erwarteten sie vor dem dritten Schutzkristall, der im Gegensatz zu den
anderen beiden immer noch leer und glasig in seiner Halterung hing.
"Was habt ihr für uns?" fragte Anthulius.
Der alte Zwerg räusperte sich und erklärte:
"Zuerst einmal habe ich den Mechanismus entdeckt, mit dem man die Geschwindigkeit
des Rings und sogar seine Drehrichtung ändern kann – es ist eine ganz
simple Mechanik, die man erst bei genauem Hinsehen erkennt. Aber viel entscheidender
ist, was Lugerto und ich entdeckt haben, bevor die Dunkelelben auftauchten."
Er ging zu den Kontrollelementen des farblosen Kristalls hinüber und
öffnete eine etwa armbreite Klappe dicht über dem Boden. Der
dahinter sichtbare Hohlraum enthielt eine aus goldfarbenem Metall gefertigte
Halterung, die eine der zentralen Energieleitungen fixierte. Zurgin drehte
den achtseitigen Hauptring der Halterung langsam und entnahm ihm dabei
acht massive Stäbchen, die in etwa die Länge und Dicke seines
Daumens hatten. Als er alle hatte, trat er an Lugertos Seite und zeigte
allen seine Mitbringsel.
"Dies", erklärte er, "sind die so genannten
Sicherheitsspulen. Jede von ihnen ist mit einem anderen Schutzzauber belegt
und dient dazu, Unregelmäßigkeiten im Strom der magischen Kräfte
wahrzunehmen und die Energiezufuhr zu unterbrechen, falls Gefahr besteht."
Er hob eine der Spulen in die Höhe, so dass alle sie deutlich sehen
konnten. Sie war länglich und rund, ihre Oberfläche war mit ungemein
detailliert gearbeiteten Verzierungen bedeckt. Der alte Meisteringenieur
erläuterte weiter: "Für das bloße Auge sehen beide Enden
gleich aus, und das sind sie auch - bis auf minimale Unterschiede in der
Beschriftung." Er trat zurück und begann, die Spulen wieder in die
für sie vorgesehenen Aushöhlungen einzusetzen. "An sich ist es
völlig egal, wie herum man sie einsetzt, aber wenn man alle mit dem
gleichen, nämlich dem positiven Pol zuerst einsetzt..." Er fügte
alle bis auf eine ein und hielt diese dann triumphierend in die Höhe.
"...und diese spezielle Spule mit dem Minuspol..." Seine dicken Finger
drehten das letzte Stäbchen und ließen es dann in seine Fassung
gleiten. "...ist dies das Ergebnis", sagte er und deutete auf den Kristall
über ihnen, der weiterhin durchsichtig und leer wie ein Stück
Glas in der metallischen Aufhängung steckte.
"Ändern wir dagegen die Kombination..."
Zurgin zog eine der anderen Spulen wieder heraus, drehte sie um und schob
sie zurück. Ein leises Summen ertönte, dann vibrierte der ganze
Hohlraum und kurz darauf schoss ein hellroter Schwall magischer Energie
durch die Leitung. Nur Sekunden später glomm im Zentrum des ruhenden
Kristalls ein rubinfarbener Lichtpunkt auf, der sich rasch vergrößerte,
und bald wirkte der ganze Stein wie in frisches Blut getränkt, er
leuchtete und schien von innen heraus zu pulsieren.
Migdo kam es sogar vor, als würde der
reaktivierte Schutzkristall noch heller strahlen als seine beiden Brüder.
Während die ganze Gruppe zurück
trat und das Schauspiel mit Raunen und Lobrufen bewunderte, zog Zurgin
in aller Seelenruhe einen etwa handtellergroßen, farblosen Glassplitter
aus seiner Tasche und zupfte dem Lordprotektor am Ärmel, so dass dieser
rasch zu ihm hinab sah. Nach einem kurzen Austausch von Blicken mahnte
er die übrigen Anwesenden zur Ruhe und sagte: "Was gibt es noch, Meister
Zurgin?"
"Nun..." Der Daumen des alten Zwergs strich
über die glatte Oberfläche des Splitters. "Das hier ist eines
der Bruchstücke des ersten Kristalls. Ich habe es gründlich untersucht
und kann euch nun eines hundertprozentig sagen: Dies ist, ebenso wie alle
anderen Splitter, die ich untersuchen konnte, ein Stück Ulderland-Quarz,
das in eine spezielle Mischung aus Pyrolit und Trollblut getränkt
wurde, um ihm die magische Signatur eines Schutzkristalls zu verleihen.
Es wurde offenbar hier zurückgelassen, um uns zu täuschen, Lord
Protektor."
Die Augen des alten Offiziers weiteten sich.
"Ihr meint...?"
"Ihr vermutet leider richtig: Der zweite Kristall
wurde sehr geschickt manipuliert, und der erste wurde nicht zerstört
- er wurde gestohlen."
© Imladros
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