Die Stunde der Meisteringenieure von Imladros
5. Kapitel: Die Schutzkristalle

Migdo wurde an diesem Morgen auf eine Art geweckt, die er schon sehr lange nicht mehr erfahren hatte: Helle Sonnenstrahlen drangen durch die großen Fenster seines Zimmers und kitzelten seine Haut und seinen Bart. Mit einem zufriedenen Gähnen streckte er sich und suchte sich einen Weg aus den edlen Laken - was gar nicht so einfach war, denn das Bett quoll regelrecht über vor Seidenkissen, gefärbten Fellen und breiten Samtdecken.
Schließlich sprang er vom Rand des Bettes und griff nach einem Bademantel in Zwergengröße, der auf einem Stuhl bereit gelegt worden war. In seinem ganzen Leben war der junge Zwerg nicht so verwöhnt worden wie in den letzten vierundzwanzig Stunden. Obwohl er nur als Zurgins Gehilfe hier war, hatte er eines der edelsten Gästequartiere erhalten, und die Bediensteten bemühten sich, ihm jeden Wunsch von den Lippen abzulesen. Überhaupt staunte er über die Vielfältigkeit der Zitadelle: Einerseits war sie eine schwer bewaffnete Trutzburg mit nahezu unüberwindlichen Schutzwällen und einer ganzen Garnison als Besatzung, andererseits gab es eine ganze Etage mit edelsten Räumen und Suiten, in denen hin und wieder sogar Könige residierten.
Sich den Schlaf aus den Augen reibend, ging er zu einer kleinen hölzernen Konsole hinüber und tauchte seine Hände in die Schale mit lauwarmem Wasser, die vor nicht mehr als fünf Minuten an dieser Stelle platziert worden sein musste. Nachdem er sich angekleidet hatte, trat er auf den von zahllosen Kerzen erleuchteten Gang hinaus. Nur wenige Meter weiter saß auf einem Stuhl ein junger Herold, der sich sofort erhob, als er ihn bemerkte.
"Guten Morgen, Herr", sagte er in übertrieben förmlichem Tonfall. "Meister Zurgin bat mich, euch auszurichten, dass er für einige Stunden des Studiums ungestört sein möchte..."
"Er ist schon auf?" fragte Migdo, dann verdrehte er die Augen. "Typisch..."
Der Junge wusste mit dieser Bemerkung offenbar nichts anzufangen und meinte weiter: "Prinz Malcolm lädt euch herzlich ein, der Heerschau der uwarischen Garnison beizuwohnen. Er erwartet euch auf dem Schauplatz auf der Südebene - wenn ihr es wünscht, führe ich euch nach dem Essen dort hin."
Nach kurzer Überlegung nickte der junge Zwerg. Nach dem komplizierten Unterricht im Labor und den langen, ernsten Gesprächen am Abend würde das Beobachten der aufmarschierenden Soldaten aus Malcolms Heimat ihm eine interessante Abwechslung bieten... aber als erstes wollte er ordentlich frühstücken!

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Zurgin Muspelmeister saß an einem der Tische im großen Laboratorium und brütete über einem uralten, in Leder eingeschlagenen Wälzer, den er aus der Mine unter dem Berg Weltenwut mitgebracht hatte. Es war der ´Katalog der magischen Naturelemente`, von einem der ersten Meisteringenieure, Kolbi Sauerbroch, vor mehr als zweitausend Jahren verfasst.
Die Haupttür des Labors öffnete sich mit leisem Knirschen, dann trat ein hochgewachsener alter Mensch mit Glatze und einem langem Bart, der sogar nach Zwergenmaßstäben beeindruckte, ein. Er trug eine blauweiße, edel bestickte Robe und eine aus feinstem Leder gefertigte schwarze Kappe, die ihn als Angehöriger der Magiergilde auswies.
"Lugerto!" rief der alte Meisteringenieur, legte seine Brille beiseite und erhob sich von seinem Stuhl. "Ihr seid noch älter und noch hässlicher geworden!"
"Dasselbe gilt für euch", gab der Zauberer zurück und schüttelte ihm kräftig die Hand. Dann setzten sie sich an den Tisch und Zurgin stellte ein zweites Glas neben seinen Weinhumpen. Wohl um die Vorlieben seines alten Freundes wissend, verzichtete er darauf, ihm etwas einzuschenken. Lugerto nahm das Gefäß in die Hand und fixierte es einen Moment lang intensiv mit beiden Augen, und plötzlich, von einer Sekunde auf die andere, war es mit uwarischem Starkbier gefüllt. Dann betrachtete er das große Buch auf dem Tisch und meinte: "Ah! Ich hatte gehofft, dass ihr den ´Katalog` mitbringt. Wir haben hier zwar eine umfangreiche Bibliothek, aber die Aufzeichnungen um die Künste der Titanen ist nur sehr unvollständig."
Zurgin lächelte. "Ich weiß - allerdings kenne ich dieses Werk nahezu auswendig, und auf die Fragen, die sich uns in der gegenwärtigen Situation stellen, bietet es keine Antworten."
"Das ist äußerst bedauerlich. Habt ihr euch die Kristalle schon angesehen?"
"Das hatte ich schon gestern vor, aber dann habe ich den ganzen Abend an Anthulius` Tafel verbracht", meinte der Zwerg. "Begleitet mich doch."
Der Zauberer nickte, dann erhoben die beiden alten Männer sich und machten sich auf den Weg in den großen Turm, in dem die Maschinerie des Kristallrings eingebaut war.

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Nach einem mehr als reichlichen Essen hatte Migdo seine lederne Gardemontur angelegt, seinen Waffengurt umgeschnallt und seinen Hammer demonstrativ an seine rechte Seite gehängt. So zurecht gemacht, traf er sich im Hof mit dem jungen Herold - sein Name war Argun - und machte sich mit ihm zusammen auf den Weg zum Schauplatz. Argun hatte für den Zwerg ein Pony und für sich selbst einen Esel organisiert.
Der kurzbeinige Verwandte der großen Pferde, die die Menschen benutzten, war für Migdos Bedürfnisse optimal: er konnte ohne fremde Hilfe in den Sattel steigen und das Tier wackelte beim Laufen wesentlich weniger hin und her als die Hochlandkamele, mit denen er bisher gereist war. Vor allem war es um einiges gutmütiger.
Nach einem etwa halbstündigen Ritt erreichten sie die zerklüftete Südebene des Tals, wo die erst zwei Tage zuvor eingetroffenen Truppen aus Uwarien lagerten. Sie wurden von zwei Lanzenträgern auf riesigen, breithufigen Pferden empfangen, die sie nach einer oberflächlichen Betrachtung passieren ließen. Das Lager bestand aus mehreren Dutzend niedriger Zelte, zwischen denen improvisierte Ställe und etliche Feuerstellen eingerichtet worden waren. Migdo stieg von seinem kleinen Ross, reichte die Zügel einem der Stahlknechte und blickte sich fasziniert um.
Die uwarischen Krieger unterschieden sich enorm von den Soldaten der Grenzstreitkräfte: sie trugen lange Bärte und breite, massive Rüstungen, auf ihren Köpfen saßen schwere, eiserne Helme, häufig mit Hörnern, Federn und Drachenschuppen geschmückt. Breitschwerter und schwere Äxte hingen an ihren Gürteln, es gab kaum Bogenschützen. Auch legten die Uwarier ein absurdes Imponiergehabe an den Tag, wie Migdo es zuvor nur von den Hähnen kannte, die seine Mutter auf ihrem Hof gehalten hatte. Sie stolzierten mit hoch erhobenen Köpfen umeinander herum und schienen sich gegenseitig mit Blicken aufspießen zu wollen. Es herrschte eine andauernde Atmosphäre von Aggressivität und Geltungssucht.
Und Malcolm, der verstoßene Prinz, der sonst so still und nachdenklich wirkte, schien plötzlich wie ausgewechselt: Er schritt mit stolzgeschwellter Brust und übertrieben ernster Miene zwischen den Männern umher, die ihm mit tiefstem, fast ungläubigem Respekt den Weg frei machten. Migdo beobachtete, wie er allerlei Hände schüttelte und auf zahlreiche Rücken klopfte, ein ungewohnt raues Lachen drang immer wieder aus seiner Kehle. Als der Prinz ihn schließlich bemerkte, löste er sich sogleich von seinen Kriegern und kam zu den Ställen hinüber.
Nachdem er Argun mit einem dankenden Nicken entlassen hatte, schüttelte er Migdos Hand und murmelte: "Bin ich vielleicht froh, dass du da bist. Zwischen diesen ganzen Spinnern dreh’ ich noch durch!"
Überrascht sah der junge Zwerg zu ihm auf. "Du sahst aus, als würdest du dich ganz wohl fühlen..."
"Ach, weißt du..." Der Prinz stemmte die Hand in die Hüften und sah in die Runde. "Ich weiß nicht, wie viel dir Anthulius erzählt hat. Auf jeden Fall bin ich für diese Männer hier nach wie vor ein Sohn ihres Königs. Zu meinem großen Leidwesen muss ich mich in ihrer Anwesenheit entsprechend verhalten."
"Aber..." Migdo zögerte. "...benehmen sich die Leute in deiner Heimat alle so?"
Malcolm nickte mit einem leicht wehleidigen Gesichtsausdruck. Sie ließen es dabei beruhen und machten sich auf den Weg. Der junge Prinz zeigte ihm das Lager und stellte ihn verschiedenen Offizieren vor, sie besuchten die Ställe und den Kommandostand, wo ein riesiger rotbärtiger Offizier mit einem großen, mit einem Hirschgeweih dekorierten, Stahlhelm sie erwartete. Er stellte sich als Hulth Erickson vor und zeigt ihnen die Pläne für die abschließende Heerschau: Bevor die bisherige uwarische Besatzung in ihre Heimat zurückkehrte, würden die Soldaten gemeinsam mit den sie ablösenden Kameraden eine große Parade abhalten und dem Lordprotektor ein rituelles Zierschwert  überreichen. Auf Migdos Anfrage erläuterte Hulth ihm die Bedeutung dieser ganzen Zeremonie:
Im Gegensatz zu allen anderen Königreichen und Fürstentümern gewährte Uwarien seinen Bürgern nicht die Möglichkeit, freiwillig in den Dienst der Grenztruppen zu treten. Stattdessen unterhielt das Reich von König Haiftan eine gewaltige Berufsarmee, von der immer mindestens eine Garnison in Hamarsburg stationiert war. Alle zwei Jahre wurde die komplette Truppe ausgewechselt und kehrte nach Uwarien zurück, wo sowohl die Offiziere als auch die Soldaten mit großen Ehren empfangen wurden.
Die Parade sollte noch am selben Abend stattfinden, der bisherige Uwarier-Kommandant, Hauptmann Uetan Malkor, befand sich gerade beim Lordprotektor und wurde verabschiedet. Anschließend würden die beiden auf den Schauplatz kommen und der Zeremonie beiwohnen...
Mitten in der Erklärung wurde Hulth vom schallenden Klang mehrerer Hörner unterbrochen, den der Wind von der Zitadelle her über die Ebene trug, und nur wenige Augenblicke später kamen mehrere Wachsoldaten über die zerklüfteten Hügel neben der Hauptstrasse gelaufen und schrieen unverständliche Warnungen. Schließlich stürmte ein Kurier auf einem schlanken Schimmel heran und machte erst Halt, als sein Tier den Kommandostand, an dem Malcolm und seine Begleiter immer noch standen, schon beinahe überrannt hatte.
"Dunkelelben!" schrie er. "Die Dunkelelben greifen an, Mylord!"
Während Migdo den Unglücksboten im ersten Moment nur fassungslos anstarren konnte, reagierten die Uwarier mit der ihnen antrainierten Schnelligkeit: Sie zurrten in Sekundenschnelle ihre Waffen fest und rannten in Richtung der Pferde los, Hauptmann Hulth brüllte Befehle in einem abgehackten Dialekt und trieb seine Männer zu den Ställen. Unteroffiziere stolperten aus ihren Zelten und versuchten, ihre Truppen zu sammeln. In den ersten Minuten entstand der Eindruck eines totalen Chaos, aber nach kurzer Zeit galoppierte ein geordnetes Reiterheer in Richtung Westen, knapp sechzig schwer bewaffnete Männer auf kolossalen Schlachtrössern, angeführt von Hulth und Malcolm. Der Uwarier-Prinz hatte Migdo vor sich auf sein Pferd gesetzt, da sein Pony keinesfalls schnell genug war, um mit den anderen Tieren Schritt zu halten.
Auf halben Weg schlossen sich ihnen Roban, Kijena und ein Dutzend Reiter der Grenztruppen an.

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"Da sind sie", rief Meister Lugerto und deutete auf einen Punkt im äußersten Nordwesten des Tals. Obwohl das helle Licht der Mittagssonne seinen Blick ein wenig trübte, konnte Zurgin den Strom winziger Kreaturen erkennen, der sich aus den Nischen im glatten Fels des Weltenwut-Gebirges in die Ebene ergoss. Es waren so viele!
"Das ist ja eine ganze Streitmacht", murmelte er besorgt. Der alte Zauberer und er waren auf den Kristallring geklettert und standen nur auf dessen etwa sechs Meter breiter, glatter Oberfläche. Einige Wachleute traten neben sie und sahen ebenfalls besorgt nach Westen.
"Ganz so schlimm ist es nicht", erklärte Lugerto mit erstaunlich gelassener Stimme. "Sie werden sich verteilen und versuchen, von mehreren Seiten zu attackieren. Das machen sie immer so..."
Mit einem raschen Blick zu den Schutzkristallen erkannte Zurgin, dass es noch mindestens eine Stunde dauern würde, bis die noch funktionierenden Kristalle den Bereich anvisieren konnten, in dem die Dunkelelben vorstießen. Sie hatten offenbar genau gewusst, wann sie sich in Bewegung setzen mussten.
"Unsere Truppen sind bereits unterwegs", erklärte Lugerto. "Malcolm wird den Feind zurückschlagen. Wir beide können im Augenblick nichts tun."
Zurgin sah zu der gewaltigen Mechanik hinüber, die den Kristallring drehte. "Vielleicht doch", knurrte er und setzte seine kostbare Brille aus Ulderland-Quarz wieder auf. "Kommt mit."

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Migdo wurde beinahe abgeworfen, als Malcolms Pferd einen spitzen, aus dem Boden ragenden Felsengrat mit einem Satz übersprang. Das Gelände wurde immer unebener, je weiter das stetig wachsende Heer von Reitern nach Westen vordrang. Vor ihnen ragten dunkle, scharfkantige Felsen auf, zwischen denen zahllose geifernde Dunkelelben hervor krochen. Sie sahen denen, die Migdo in Kel Utaz gesehen hatte, ähnlich, aber im Gegensatz zu dem Spähtrupp von damals waren die hier auf ihn zu stürmenden Exemplare alle mit scharfkantigen Säbeln und Äxten bewaffnet, einige trugen sogar schwere Armbrüste und Schleudern bei sich.
Schon pfiffen die ersten Geschoße durch die Luft, ein Mann rechts von Malcolm und Migdo wurde von einem armlangen Bolzen durchbohrt und glitt mit einem gurgelnden Stöhnen aus dem Sattel. Ein knappes Dutzend Reiter teilte sein Schicksal, bevor die kompakte Wand aus berittenen Kriegern wie ein Wirbelsturm zwischen die Dunkelelben fuhr. Die erste Welle von Gegnern wurde einfach von den breiten Hufen der riesigen Schlachtrösser zertrampelt, Speere wurden geschleudert und massive Äxte prallten auf die grob gezimmerten Holzschilde, die einige der schwarzhäutigen Kreaturen mit sich trugen. Malcolm ließ sein Pferd mitten im Getümmel eine elegante Drehung vollführen, bei der er Migdo packte und auf dem Boden absetzte. Bevor der junge Zwerg wusste, wie ihm geschah, war er von wütenden Dunkelelben umgeben, die mit ihren Säbeln nach ihm hackten und sein ungeschütztes Gesicht zu treffen versuchten.
Hastig zog er seinen Hammer und ließ ihn in das erstbeste hineinkrachen, das ihm in den Weg geriet. Ein aus nur drei brüchigen Latten gefertigter Schild zerbarst zu winzigen Splittern, der Dunkelelb, der ihn trug, wurde von der Wucht des Hiebes zurückgeschleudert. Bevor Migdo jedoch auch nur das Ziel seines Schlages erkannt hatte, fügte ihm ein Speer einen schmerzhaften Stich in die Seite zu. Mit einem wütenden Schnauben fuhr er herum und schlug den Elb, der ihm die Wunde zugefügt hatte, mit der bloßen Faust nieder.
Um ihn herum war der Kampf nun in vollem Gange, immer mehr Uwarier stiegen von ihren Pferden und rieben die Reihen der Dunkelelben mit ihren Streitäxten auf. Längst drängten sie den Feind zurück, aber von den Bergen kamen immer noch weitere Abscheulichkeiten herab, die sich mit wütenden Kampfschreien auf die Menschen warfen.

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Lugerto beugte sich zu Zurgin hinab und sah ihm über die Schulter. "Das klappt nie", meinte er stirnrunzelnd.
Der Zwerg ignorierte ihn und grub seine Hände noch tiefer in die undefinierbare Ansammlung von Kabeln und Zahnräder, die sich vor ihm auftat. Scharfe Metallkanten hatten bereits ein gutes Dutzend roter Schrammen auf seinen Handrücken hinterlassen. "Redet nicht so viel", brummte er schließlich. "Reicht mir lieber den Schraubendreher!"

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Ein Schwerthieb traf einen narbengesichtigen Dunkelelb und schleuderte ihn durch die Luft, so dass Migdo ihm gerade noch ausweichen konnte. Mit einem kräftigen Tritt stieß er zwei weitere Gegner aus dem Weg und versetzte einem lanzenschwingenden Elb mit halb zerrissenen Ohren den Todesstoß. In den letzten Minuten hatten die Grenztruppen empfindliche Verluste einstecken müssen; die Zahl der aus dem Westen heranströmenden Feinde dagegen schien sich überhaupt nicht zu verringern.
Migdo wandte sich um und suchte in der brodelnden Masse aus Körperteilen und Waffen nach Malcolm oder Kijena. Nach einigen Sekunden entdeckte er Roban, der sich mit einer Axt in der Linken und einem Schwert in der Rechten gegen drei Gegner gleichzeitig wehrte. Gerade als der Zwerg sich zu ihm durchkämpfen wollte, machte der große Mensch zwei Schritte nach hinten, stolperte über eine aus dem Boden ragenden Felsen und taumelte rückwärts - genau auf Kijena zu, die gerade einen geifernden Dunkelelb mit bloßen Händen niederrang. Robans Schulter traf sie im Nacken und stieß sie zu Boden, so dass ihr abscheulicher Gegner sich befreien konnte und sofort seine Klauen nach ihrer Kehle ausstreckte.
"Helft mir", schrie sie, aber Roban war zu sehr mit den drei Elben beschäftigt, die mit ihren Säbeln auf ihn einschlugen. Also sprang Migdo vor, packte den Elb im Genick und zog ihn von der Menschenfrau herunter. Inzwischen befand er sich im Zustand purer Raserei, seine Zwergenfäuste hieben mit ungeheurer Brutalität auf das fahlhäutige kleine Monstrum ein.
Plötzlich fuhr eine schwarze Klauenhand in sein Blickfeld, feuchte, schwielige Finger gruben sich in seinen Bart und rissen blutige Büschel heraus. Er schrie schmerzerfüllt und ließ seinen Hammer kreisen, aber es tauchten bereits weitere Gegner auf, die sich auf ihn warfen und ihm die Waffe zu entreißen versuchten.
Gerade als einer der Dunkelelben seinen Säbel drohend über Migdos Gesicht schwang, geschah plötzlich etwas Unvorstellbares: Der junge Zwerg spürte, wie sich die Luft um ihn herum innerhalb weniger Augenblicke um mehrere Grad erwärmte. Ein blutrotes Flimmern hüllte alles in seiner nächsten Umgebung ein, dann gab es einen schmerzhaften Lichtblitz, der die Haare auf seinem Arm und die Spitzen seines Bartes versengte. Und die Dunkelelben über ihm und um ihn herum lösten sich in Luft auf!
Es war ein beängstigender und zugleich faszinierender Anblick. Umgeben von dem immer intensiveren roten Glühen wurden die geifernden Kreaturen zu verzerrten Silhouetten, die innerhalb weniger Sekunden zerfaserten und sich komplett auflösten.
Als das rote Licht sich verflüchtigt hatte, war von ihren Gegnern nichts mehr übrig bis auf die Metallfragmente ihrer Waffen. Im Umkreis von fünf Metern war nichts mehr übrig, und die weiter entfernten Dunkelelben starrten entsetzt auf die Stelle, an der Migdo und Kijena lagen. Im nächsten Augenblick wiederholte sich das Ereignis einige Meter weiter: ein mehrere Meter durchmessender Strahl aus blutrotem Licht schoss von Südosten heran und verdampfte jedes Geschöpf Nargons, das in seinen Einflussbereich geriet. Ein Dunkelelb wurde nur zur Hälfte aufgelöst, während der Rest rauchend zur Seite kippte.
Roban half Kijena auf die Füße, während Migdo sich selbst zur Seite rollte und aufstand. Seine Haut war gerötet und brannte leicht, aus seinem Bart stiegen ein paar kleine Rauchfäden auf. Nachdem er seinen lockigen Gesichtsschmuck mit leichter Panik gelöscht hatte, wanderte sein Blick zur Zitadelle hinüber, wo einer der intakten Schutzkristalle immer wieder hell aufleuchtete und seine tödlichen Strahlen aussandte. So also sahen diese uralten Waffen in Aktion aus...

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Innerhalb weniger Minuten hatte der Schutzkristall auch die letzten Dunkelelben von der Oberfläche des Tals gebrannt, während die Grenztruppen mit der Versorgung ihrer Verwundeten beschäftigt waren. Weitere Truppen und Feldsanitäter trafen ein, ein uwarisches Reiterkommando verfolgte die wenigen Feinde, die sich zwischen die felsigen Vorsprünge des Gebirges geflüchtet hatten.
Migdo saß wieder vor Malcolm auf dessen Pferd und hielt seinen schmerzenden Arm fest. Sie ritten langsam auf die Zitadelle zu, flankiert von Roban, Kijena und einem halben Dutzend uwarischer Gardisten. Hauptmann Hulth hatte sich nicht davon abbringen lassen, dem Prinzen eine persönliche Bewachung an die Seite zu stellen. Migdo war derweil damit beschäftigt, seinen völlig zerzausten Bart zu glätten und wüst über den Elb zu schimpfen, der seinem liebsten Gesichtsschmuck so übel mitgespielt hatte.
Als sie die Tore Hamarsburgs fast erreicht hatten, kam ihnen Lordprotektor Halion Anthulius auf seiner schneeweißen Stute entgegen. "Wie sieht es aus?" fragte er, als er sie erreichte.
Malcolm schluckte schwer und erstattete Bericht. "Wir haben mindestens dreiundvierzig Männer verloren, davon dreißig aus Hulths Reiterheer. Etwa zwanzig Männer sind schwer verletzt und werden in diesem Augenblick versorgt. Die Dunkelelben sind zurückgeschlagen und werden noch ein wenig durch die Berge gejagt."
Der alte Mann strich sich einen Moment gedankenverloren über seinen Schnurrbart und sah an ihnen vorbei nach Westen. "Wir haben ziemliches Glück, dass es Meister Zurgin gelungen ist, die Drehgeschwindigkeit des Kristallrings zu erhöhen..."
Malcolm und die anderen Kämpfer sahen ihn überrascht an, dann nickte der Prinz und meinte: "Ich hatte mich schon gewundert, dass die Kristalle uns so schnell zur Hilfe kamen. Eigentlich hätte der Zyklus viel länger dauern müssen."
"Zum Glück weiß Zurgin Dinge über die Technik der Titanen, von denen selbst Meister Lugerto noch nie etwas geahnt hat", gab der Lordprotektor zurück und wendete sein Reittier. "Kommt, er erwartet uns auf dem Ring - er will uns unbedingt etwas zeigen."
Wenig später hatten sie die schier unendlichen Treppen des Turms erklommen und traten einer nach dem anderen auf die glatte Oberfläche des Kristallrings hinaus. Ein kräftiger Südostwind wehte ihnen entgegen, sie mussten sich an den nachträglich installierten Geländern aus rostigem Stahl festhalten. Zurgin und der Zauberer Lugerto erwarteten sie vor dem dritten Schutzkristall, der im Gegensatz zu den anderen beiden immer noch leer und glasig in seiner Halterung hing.
"Was habt ihr für uns?" fragte Anthulius.
Der alte Zwerg räusperte sich und erklärte: "Zuerst einmal habe ich den Mechanismus entdeckt, mit dem man die Geschwindigkeit des Rings und sogar seine Drehrichtung ändern kann – es ist eine ganz simple Mechanik, die man erst bei genauem Hinsehen erkennt. Aber viel entscheidender ist, was Lugerto und ich entdeckt haben, bevor die Dunkelelben auftauchten." Er ging zu den Kontrollelementen des farblosen Kristalls hinüber und öffnete eine etwa armbreite Klappe dicht über dem Boden. Der dahinter sichtbare Hohlraum enthielt eine aus goldfarbenem Metall gefertigte Halterung, die eine der zentralen Energieleitungen fixierte. Zurgin drehte den achtseitigen Hauptring der Halterung langsam und entnahm ihm dabei acht massive Stäbchen, die in etwa die Länge und Dicke seines Daumens hatten. Als er alle hatte, trat er an Lugertos Seite und zeigte allen seine Mitbringsel.
"Dies", erklärte er, "sind die so genannten Sicherheitsspulen. Jede von ihnen ist mit einem anderen Schutzzauber belegt und dient dazu, Unregelmäßigkeiten im Strom der magischen Kräfte wahrzunehmen und die Energiezufuhr zu unterbrechen, falls Gefahr besteht." Er hob eine der Spulen in die Höhe, so dass alle sie deutlich sehen konnten. Sie war länglich und rund, ihre Oberfläche war mit ungemein detailliert gearbeiteten Verzierungen bedeckt. Der alte Meisteringenieur erläuterte weiter: "Für das bloße Auge sehen beide Enden gleich aus, und das sind sie auch - bis auf minimale Unterschiede in der Beschriftung." Er trat zurück und begann, die Spulen wieder in die für sie vorgesehenen Aushöhlungen einzusetzen. "An sich ist es völlig egal, wie herum man sie einsetzt, aber wenn man alle mit dem gleichen, nämlich dem positiven Pol zuerst einsetzt..." Er fügte alle bis auf eine ein und hielt diese dann triumphierend in die Höhe. "...und diese spezielle Spule mit dem Minuspol..." Seine dicken Finger drehten das letzte Stäbchen und ließen es dann in seine Fassung gleiten. "...ist dies das Ergebnis", sagte er und deutete auf den Kristall über ihnen, der weiterhin durchsichtig und leer wie ein Stück Glas in der metallischen Aufhängung steckte.
"Ändern wir dagegen die Kombination..." Zurgin zog eine der anderen Spulen wieder heraus, drehte sie um und schob sie zurück. Ein leises Summen ertönte, dann vibrierte der ganze Hohlraum und kurz darauf schoss ein hellroter Schwall magischer Energie durch die Leitung. Nur Sekunden später glomm im Zentrum des ruhenden Kristalls ein rubinfarbener Lichtpunkt auf, der sich rasch vergrößerte, und bald wirkte der ganze Stein wie in frisches Blut getränkt, er leuchtete und schien von innen heraus zu pulsieren.
Migdo kam es sogar vor, als würde der reaktivierte Schutzkristall noch heller strahlen als seine beiden Brüder.
Während die ganze Gruppe zurück trat und das Schauspiel mit Raunen und Lobrufen bewunderte, zog Zurgin in aller Seelenruhe einen etwa handtellergroßen, farblosen Glassplitter aus seiner Tasche und zupfte dem Lordprotektor am Ärmel, so dass dieser rasch zu ihm hinab sah. Nach einem kurzen Austausch von Blicken mahnte er die übrigen Anwesenden zur Ruhe und sagte: "Was gibt es noch, Meister Zurgin?"
"Nun..." Der Daumen des alten Zwergs strich über die glatte Oberfläche des Splitters. "Das hier ist eines der Bruchstücke des ersten Kristalls. Ich habe es gründlich untersucht und kann euch nun eines hundertprozentig sagen: Dies ist, ebenso wie alle anderen Splitter, die ich untersuchen konnte, ein Stück Ulderland-Quarz, das in eine spezielle Mischung aus Pyrolit und Trollblut getränkt wurde, um ihm die magische Signatur eines Schutzkristalls zu verleihen. Es wurde offenbar hier zurückgelassen, um uns zu täuschen, Lord Protektor."
Die Augen des alten Offiziers weiteten sich. "Ihr meint...?"
"Ihr vermutet leider richtig: Der zweite Kristall wurde sehr geschickt manipuliert, und der erste wurde nicht zerstört - er wurde gestohlen."
 

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Und schon geht es weiter zum 6. Kapitel: Verrat

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