Die Stunde der Meisteringenieure von Imladros
10. Kapitel: Die Schlacht in den Pfaden

Soldat Ithul und Unteroffizier Lakor rannten die Anhöhe hinauf. Ihre Rüstungen wogen schwer und sie waren bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit erschöpft. Der Rest ihrer kleinen Gruppe war fast eine halbe Meile hinter ihnen. Der Kompass des alten Zwergs hatte sie in Rekordzeit zur Zitadelle zurückgeführt, aber nun waren sie erneut in größter Eile: Rauchwolken stiegen aus dem Tal des Hamar auf und lautstarkes Kampfgetöse tönte über das zerklüftete Land.
Sie erreichten die Hügelkuppe.
Das Bild, das sich ihnen bot, war verheerend. Aus den Schildpfaden im Westen, jener Ansammlung von Brüchen im uralten Gestein des Weltenwutgebirges, ergoss sich eine schier endloser Strom von Dunkelelben in die Ebene, aus der sich an einigen Stellen schwarze Rauchwolken erhoben. Nach Kräften mieden sie den Teil des Tals, der vom Schutzkristall beschützt wurde, aber die andere Seite fühlte sich dafür umso schneller. Rund um die Zitadelle hatte die verbliebene Armee der Grenztruppen und der Uwarier Stellung bezogen, vereinzelt preschten Reitertrupps vor und attackierten den anrückenden Feind. Das ganze Tal wirkte wie ein mit emsigen Ameisen gefüllter Hexenkessel.
"Es hat begonnen", versetzte Lakor. "Das Ende ist nah."
In diesem Moment gab es unterhalb der Zitadelle einen Lichtblitz und einen Augenblick später hallte ein ohrenbetäubender Donner über das Tal. Ein dunkler, fettiger Rauchstreifen zog vom Fuß der Trutzburg über den Himmel und mitten in die Reihen des Feindes hinein. Das Ergebnis war eine verheerende Explosion, die die Dunkelelben wie Kieselsteine auseinandersprengte und Dutzende Meter weit durch die Luft schleuderte. Gesteinsbrocken wirbelten hoch und regneten todbringend auf weitere Feindestruppen nieder. Einige Elben flogen in den nördlichen Teil und wurden noch in der Luft von den tödlichen Strahlen des Schutzkristalls weggebrannt.
"Mann!" schnaubte der uwarische Unteroffizier. "Was um alles in der Welt war das!?!"
"Die Zwerge!" rief Ithul begeistert und fassungslos zugleich. "Die Zwerge sind da!"

-

"Nachladen!" rief Bolbo Eisenbork. Die beiden kräftigen Zwerge, die ihm an der Kanone assistierten, hoben eine weitere Pyrolitladung in die Höhe und stemmten sie mit vereinten Kräften in die Ladeöffnung. Sie hatten bereits vier der etwa zwei Fuß durchmessenden Stahlkugeln verfeuert und damit dem Kampf gegen die heranstürmenden Feinde eine entscheidende Wende gegeben.
Lordprotektor Anthulius stand neben dem weißhaarigen Meisteringenieur und sah in Richtung Osten. Die letzte Explosion war vernichtender als alle voran gegangenen gewesen, die Dunkelelben stürmten panisch in alle Richtungen davon. Die Verteidiger von Hamarsburg hielten sich zurück, um nicht in die Reichweite von Bolbos schrecklicher Waffe zu geraten. Der von Zurgin Muspelmeister ausgesandte Bote hatte ihn auf halbem Wege nach Kyrien getroffen, er hatte sich bereits selbst auf den Weg nach Hamarsburg gemacht. Er und seine Gehilfen waren gerade noch rechtzeitig eingetroffen, um ihre Kanone in Position zu bringen.
"Feuer!"
Alle pressten ihre Hände auf die Ohren. Der größere der beiden Gehilfen, ein rothaariger, breitschultriger Zwerg, schob seine Fackel in eine seitliche Öffnung des Kanonenrohrs und sprang dann beiseite.
Ein ohrenbetäubender Knall ertönte, die massive Metallröhre blähte sich auf und spie einen weißglühenden Feuerstreifen aus, der sich auf seinem Weg über den Himmel in einen fettigen Bogen aus dunklem Qualm verwandelte. Sekunden später wurde eine weitere Gruppe Dunkelelben von einem Feuerball verschluckt, die Schockwelle wirbelte die Reihen des Feindes durcheinander und ließ das ganze Tal erbeben. Massive Gesteinsbrocken lösten sich aus den nächstgelegenen Hängen des Gebirges und rutschten krachend in die Tiefe.
Der Lordprotektor nahm vorsichtig die Hände herunter. Sein Schädel dröhnte. Um ihn herum fluchten die Soldaten und sprachen von schwarzer Magie.
Der alte Zwerg ignorierte sie und gab seinen Helfern weitere Anweisungen. Im Gegensatz zu Zurgin, dem das Alter eine gewisse Würde verliehen hatte, war Bolbo eine schier lächerliche Erscheinung mit seinem langen Kräuselbart unter seiner Knollennase und den unzähligen Zöpfen und Knoten in seinem schlohweißen Haar, gekrönt von seiner weiten Kleidung und dem mit Federn geschmückten Jagdhut auf seinem Kopf.
"Eure Waffe ist wahrlich ein Wunder, Meister Eisenbork!" rief Anthulius.
Der Zwerg nickte, während er das erste von mehreren großen Paketen ins Rohr der Kanone bugsierte, meinte aber mit einem besorgten Blick zu den Schildpfaden: "Aber sie richtet nicht genug Schaden an, alter Junge... dieses Mal scheinen die hässlichen Kalkfressen alles losgeschickt zu haben, was in ihrer stinkenden Grube hinter den Bergen rumkroch..."
Passenderweise kam just in diesem Moment ein Grenzerhauptmann herangeritten und sprang mit einem hörbaren Scheppern aus dem Sattel. Es war Atan Jakasgh, der braungebrannte Sohn eines Söldnerfürsten aus den heißen Ländern südlich von Kyrien. Im Gegensatz zu vielen anderen Herrschern stand sein Vater fest zur alten Tradition, den ältesten Nachkommen nach Hamarsburg zum Grenzdienst zu entsenden. Zwar hatte er nicht geplant, dass dieser dort bleiben und zu einem der höchsten Offiziere aufsteigen würde, aber nachdem sein anderer, jüngerer Sohn sich als hervorragender Staatsmann entpuppt hatte, hatte er ihm seinen Willen gelassen.
"Der Feind hat jede Ordnung verlor’n", berichtete der Koloss mit derbem Akzent, als er den Befehlsstand mit der Kanone erreicht hatte. "Die Explosionen hab’n die Reihen aus’nandergesprengt, aber ihre Zahl is einfach zu groß. Wir könn’n noch einige Wellen zurückschlagen, wenn der Meisteringenieur uns hilft, aber irgendwann werd’n sie uns überrennen!"
"Haltet die Linien zusammen", befahl der Lordprotektor. "Wir werden uns etwas ausdenken."
Der Hauptmann nickte und rannte zu dem ausgeruhten Pferd, das ihm die Stallknechte bereitgestellt hatten.
"Ich fürchte, eure Hilfe wird uns nicht retten, Meister Eisenbork..."
"Abwarten", schnaubte der alte Zwerg. "Achtung - Feuer!"
Die folgende Detonation schien die riesige Kanone fast auseinanderzureißen, alle rissen schmerzerfüllt die Hände an die Ohren und Anthulius konnte seine Zähne regelrecht klirren hören. Das Rohr der bebenden Zwergenwaffe spie eine ganze Wolke von Pyrolitladungen aus, die sich im Flug entzündeten und als roter Flammenteppich auf das auseinanderstürmende Heer der Dunkelelben herabregneten. Hunderte von gedrungenen Gestalten wurden von dem feurigen Vorhang eingehüllt und verbrannten, vor Schmerzen brüllend, zu einem Nebel aus Glut und Asche. Obwohl der Lordprotektor den Aberglauben vieler seiner Soldaten nicht teilte, machte auch er das Zeichen des Regens vor der Brust, als ein Teil der Ebene vor ihnen sich in ein tosendes Meer aus Feuer und Tod verwandelte. Die Hitze, die über den Talboden heranbrauste und ihnen entgegenschlug, war fast unerträglich.
Das Heulen des folgenden Sturmwindes ließ rasch nach.
"Das hat geholfen", bemerkte Bolbo Eisenbork so trocken, dass es die Umstehenden merklich erschreckte. "Aber es wird nicht reichen, und ich habe nicht genug konzentriertes Pyrolit für eine weitere Ladung."
Anthulius musste sich verkneifen, ihm zu sagen, dass er sogar ein bisschen froh darüber war. Diese Feuerwaffe war einfach zu schrecklich.
"Ich fürchte, ich weiß nur noch einen Ausweg", meinte der Zwerg.
Der Lordprotektor sah den Blick des Meisteringenieurs und antwortete: "Und der wird mir nicht gefallen, stimmt’s?"

-

"Wir müssen die Schildpfade stürmen", erklärte Anthulius mit fester Stimme.
Die um ihn herum am Befehlsstand versammelten Offiziere bedachten ihn mit zweifelnden bis entsetzten Blicken, und einigen fiel es sichtlich schwer, ihre Einsprüche zurückzuhalten. Leutnant Vaklor, ein hünenhafter Lurrier mit kurz geschorenem, dunkelblau schimmerndem Haar, sprach schließlich aus, was alle dachten: "Lord Protektor, wie um alles in der Welt sollen wir das machen - und warum?"
Bevor Anthulius antworten konnte, brummte Bolbo Eisenbork, der neben ihm stand: "Ich weiß ja nicht, ob's dir aufgefall'n is, Jüngelchen, aber wir steh'n kurz davor, hier alle vor die Hunde zu gehen." Mit dem Daumen deutete er nach Westen zum Gebirge, wo die Dunkelelben ihre Reihen ordneten und sich auf einen neuen Angriff vorbereiteten. Noch immer strömte ihre Verstärkung aus den Falten in der sonst massiven Gesteinswand. "Wenn wir die Pfade nicht verschließen, wird dieses Tal bald bis zum Rand mit Kalkfressen gefüllt sein."
Alle blickten etwas säuerlich drein, konnten ihm aber kaum widersprechen.
"Meister Eisenbork bereitet eine weitere Sprengladung vor", fuhr der Lordprotektor fort. "Eine, die stark genug sein wird, die Wände des Berges einzureißen und so hoch mit messerscharfem Geröll zu füllen, dass die Dunkelelben mindestens ein halbes Jahrtausend brauchen werden, um die Schildpfade wieder freizuräumen - wenn sie es überhaupt versuchen."
"Der Haken an der Sache ist," fügte Bolbo hinzu, "dass ich und einer meiner Gehilfen die Ladungen - es sind zwei - an den Wänden im Inneren der Pfade anbringen müssen. Wir müssen also in die Schildpfade hinein."
"Wir dürfen das nicht tun", wand plötzlich Jainen Wohkarson ein, ein alter grauhaariger Hauptmann, nach dem Lordprotektor der dienstälteste Offizier von Hamarsburg. "Es widerspricht Seiner Warnung!"
Einige jüngere Offiziere runzelten die Stirn oder verdrehten sogar abfällig die Augen. Wenn man bei den Grenzern von Ihm sprach, meinte man den ersten Lordprotektor, der von Ulwaith dem Großen, dem ersten König von Kyrien, vor unzähligen Jahrhunderten mit der Verteidigung der Östlichen Reiche betraut worden war und die Zitadelle errichtet hatte. Sein Name war in der Geschichte verschwunden, aber seine Lehren, allen voran die Warnung, die Schildpfade niemals zu verschließen, egal wie verlockend oder notwendig es auch erscheinen mochte, hatten bis heute Bestand.
"Unsinn!" blaffte Jakasgh, der braungebrannte Hüne. "Er konnte nicht ahnen, dass die Schrecken noch einmal so mächtig werden würden."
"Es sind Seine Lehren!" gab Wohkarson empört zurück.
"Wenn wir es nicht tun, wird bald niemand mehr hier sein, um sich an Seine Lehren zu erinnern!"
"Aufhören." Der Lordprotektor sprach nicht besonders laut oder mit scharfer Stimme, aber die aufkeimende Diskussion verstummte abrupt. Alle Blicke richteten sich auf ihn, und er wusste, dass er nun eine wichtige Entscheidung zu treffen hatte. Als Lordprotektor war es seine Aufgabe, die Lehren der alten Zeit zu bewahren, aber zugleich war es sein vorrangigster Auftrag, jede tödliche Gefahr vom Land seiner Väter abzuwenden...
"Was ist euer genauer Plan, Meister Eisenbork?" fragte er.
Alle schwiegen, nur Jakasgh schnaufte erleichtert.
"Ein Ablenkungsmanöver muss her!" erläuterte der alte Zwerg. "Ihr und eure Männer müsst die Dunkelelben so sehr ablenken, dass niemand von ihnen mehr darauf achtet, was über ihren Köpfen passiert."
"Und was werdet ihr tun?" knurrte Hauptmann Wohkarson. "Über ihre Köpfe hinwegfliegen?"
Der Meisteringenieur wandte sich zu dem alten Offizier um. Ein breites Grinsen legte sich auf seine Lippen.

-

Lordprotektor Anthulius schwang sich in den Sattel und sah zu Hofzauberer Hijbudan hinüber, der sich, umstellt von Offizieren, die alle mindestens einen Kopf größer waren als er, sichtlich unwohl fühlte. Er hatte dem jungen Magier das Kommando über die Zitadelle übertragen, was viele der dienstälteren Soldaten mit merklichem Unwillen gesehen hatten.
"Ihr wisst Bescheid, Hijbudan", rief er. "Wenn wir die Schildpfade erreichen, gebt ihr Meister Eisenbork das Signal."
"Verstanden, Lord Protektor."
Der alte Offizier nickte, ließ seinen Hengst wenden und rief den etwa neunzig versammelten Reitern zu: "Abmarsch!"
Mit militärischer Präzision setzte sich die kleine Armee in Bewegung, die Pferde trampelten lautstark über den Felsboden in den nördlichen Teil der Ebene. In einer lang gezogenen Prozession durchquerten sie den nördlichen Teil der Ebene in schnellem Trab, um dann umzuschwenken und direkt auf die Öffnung der Schildpfade zuzuhalten. Die Dunkelelben geiferten sie wütend an, konnten ihnen aber auf der vom Kristall beschützten Seite des Tals nichts anhaben. Uwarische Reiterschützen schwenkten an den Flanken aus und machten ihre Bögen bereit.
Jakasgh ritt dichter an den Lordprotektor heran und rief: "Es sind viele!"
Der alte Befehlshaber nickte und beschleunigte sein Tier. Die ganze Armee folgte ihm nach und verfiel in einen schnellen Galopp, das Donnern der Hufe ließ den Boden erbeben. Schwert und Lanzen wurden gezogen, Speere gezückt und Visiere heruntergeklappt.
"Arthor!" brüllte der Lordprotektor, und als die Schützen das Feuer eröffneten und kurz darauf die erste Reihe von Reitern in die Dunkelelben hineinkrachte und alles unter den Hufen der Schlachtrösser begrub, dröhnte der Name des uwarischen Kriegsgottes aus allen Kehlen.

-

"Sie haben die Elben angegriffen", rief Hijbudan und ließ das kunstvoll verzierte Fernrohr sinken. "Es geht los." Er hatte sich auf den Kristallring teleportiert und stand neben der absurd anmutenden Maschine, die Bolbo Eisenbork gemeinsam mit seinen Gehilfen aufgebaut hatte. Es sah aus wie eine Art Schlitten mit lederbespannten Flügeln und einem mit leicht entzündlichem Gas gefüllten Ballon an der Oberseite. Auch verschiedene Getriebe und Auspuffrohre waren zu erkennen, und irgendwo im Inneren des mechanischen Leibes ratterten bereits schwere eiserne Zahnräder.
Eisenbork und der große rothaarige Zwergengehilfe waren auf zwei hölzerne Sitze auf der Oberseite geschnallt. Sie trugen Pelzjacken und große, lächerlich wirkende Brillen mit daumendicken Gläsern sowie lederne Kappen.
"Bereit?" rief der junge Hofzauberer.
Der Zwerg nickte.
Hijbudan hob die Hände und murmelte einige leise Beschwörungen. Einen Moment lang erfüllte ein goldener Schimmer die Luft um das fremdartige Gefährt, dann verschwammen seine Formen und es war weg.
"Die Tarnung wird nicht lange halten!" rief er in die scheinbar leere Luft vor sich. "Wahrscheinlich nicht mehr als fünf Minuten!"
Im nächsten Augenblick ertönte ein dumpfer Knall, dann setzte eine Art Motorengeräusch ein. Hijbudan spürte einen heftigen Windzug, als das unsichtbare Fluggerät vom Rand des Kristallrings schlitterte.

-

Lordprotektor Anthulius ließ sein Breitschwert kreisen und schlitzte mehreren Dunkelelben zugleich die Brustkörbe auf. Eine weitere der glutäugigen Abscheulichkeiten wollte ihn von der Seite attackieren, aber Jakasgh war bereits heran und trennte ihr mit einem wuchtigen Lanzenhieb den Kopf ab, bevor er zwei weitere Elben niederritt. Sie hatten sich mitten im Ausgang der Hauptschlucht der Schildpfade festgesetzt und hieben nach vorn und hinten hartnäckig auf den Feind ein. Die Dunkelelben waren von dem Manöver merklich überrascht und wichen teilweise zurück; es würde jedoch nicht mehr als den Befehl eines etwas besonneneren Kommandanten brauchen, um das Schicksal der menschlichen Angriffstruppe zu besiegeln.
"Der Zwerg müsste jetzt unterwegs sein", rief Jakasgh. "Aber ich sehe nichts!"
"Gut!" gab der Lordprotektor über das Schlachtgetümmel hinweg zurück. "So soll es sein!"
Eine herrenlose Axt wirbelte an ihm vorbei und riss einen bärtigen Uwarier aus dem Sattel. Mit einem erstickten Gurgeln verschwand er in der schwarzen Masse der Elben, die ihn sogleich wie hungrige Aaskäfer überschwemmten. Das reiterlose Pferd ging durch, trat wild um sich und stolperte schließlich, um im Tode noch mehrere der schwarzen Ungetüme unter sich zu begraben.
"Haltet euch eng beieinander", befahl Anthulius. "Wir müssen noch eine Weile aushalten!"

-

Bolbo Eisenborks weiße Zöpfe flatterten im Sturmwind, als er die klappernde und schnaufende Flugmaschine über die Ebene steuerte. Wilde Turbulenzen wirbelten durch das Tal, er hatte Mühe, den Kurs auf die Schildpfade zu halten. Sein Gehilfe Jörgi saß hinter ihm und steuerte die Dampfmaschine, die für Vortrieb sorgte. Das Klappern seiner Zähne war selbst jetzt noch zu hören.
"Druck halten!" schrie Bolbo.
"Versuch’s ja!" gab der jüngere Zwerg zurück.
Die Maschine war ein Prototyp, dessen Erprobung Bolbo die letzten zehn Jahre vor sich hergeschoben hatte. Obwohl er dieses Wunderwerk der Technik selbst konstruiert und gebaut hatte, stand er doch wie die meisten Zwerge lieber mit beiden Füßen fest auf der Erde. Erst die aktuelle Notsituation hatte ihn überzeugt, das Gerät anzuwenden.
Und zu seiner großen Überraschung machte es ihm großen Spaß.
Ein Windstoß von Steuerbord traf das Fluggerät und neigte es um fast sechzig Grad. Jörgi schrie einige wütende Zwergenflüche, während sein Meister nur breit grinste und die wilde Fahrt genoss.

-

Als das absurde Fluggerät mit den beiden Zwergen an Bord die in die schwarzen Felswände gebrochene Schlucht der Schildpfade erreichte, hatte Hijbudan mehr und mehr Mühe, es zu erkennen. Zwar machte das magische Fernrohr, das Meister Eisenbork ihm überlassen hatte, den Tarnzauber unwirksam und vergrößerte seine Sichtweite enorm, aber nun stieß es langsam an seine Grenzen.
"Meister Hijbudan", rief ein junger Unteroffizier, der gerade auf den Kristallring heraustrat. "Die Bewohner sind im Aufruhr! Sie drängen in die höheren Ebenen und verlangen Einlass in den Turm!"
Auch das noch, dachte der junge Hofzauberer, straffte sich und drehte sich auf dem Absatz um. "Nehmt Euch ein paar Wachen und bringt die Leute unter Kontrolle. Sagt ihnen, dass ihnen keine Gefahr droht."
"Könntet Ihr nicht..."
"Nein", erwiderte er scharf. "Ich muss hier oben bleiben. Nehmt euch alle Wachen, die ihr finden könnt, und bringt die Leute zur Ruhe!"
"Jawohl, Meister Hijbudan", sagte der Offizier knapp und verschwand.
Er selbst wandte seinen Blick wieder der fernen Schlacht zu. Mehr und mehr Dunkelelben drangen ins Freie, das schrumpfende Heer des Lordprotektors wurde zusehends zurückgedrängt und eingekreist.
Hijbudan wurde plötzlich klar, was bevorstand. Er schloss die Augen und ließ das Fernrohr sinken. Seine seit Kindertagen geschulten Sinne tasteten nach dem unsichtbaren Strom hinter der Wirklichkeit, suchten Kontakt zu jener schwer greifbaren zweiten Realität, aus der er die Kraft für den bevorstehenden Akt ziehen würde.

-

"Langsamer!" dröhnte Bolbo.
Jörgi trat in ein spezielles Pedal, woraufhin ein am Bug des Fluggeräts angebrachtes Rohr eine heiße Dampfwolke ausspie. Sie wurden langsamer und gerieten einen Moment ins Trudeln. Die Felswand kam ihnen bedrohlich nahe, dann riss Bolbo das schwere Steuer herum und sie schwebten in die Schildpfade hinein.
"Du meine Güte", knurrte sein Gehilfe und sah hinab. Tief unter ihnen stürmten immer mehr Dunkelelben durch die schmale Felsengasse, um sich auf die menschlichen Verteidiger zu werfen.
Plötzlich ertönte ein leises Zischen und Bolbo hatte den Eindruck, um sie herum würde eine riesige Seifenblase platzen.
"Das war’s", sagte er halblaut. "Der Zauber hat sich aufgelöst."
Mit schlimmsten Befürchtungen sahen sie erneut hinab, aber keine der schwarzhäutigen Kreaturen sah nach oben, niemand bemerkte sie. Entschlossen wandten sie sich wieder ihrer Aufgabe zu und steuerten das Fluggerät tiefer in die Schlucht, bis einige tiefe Felsspalten in Sicht kamen, die in etwa dreihundert Fuß Höhe diagonal über die steinerne Wand zu ihrer Linken verliefen. Sie wirkten, als hätte ein riesiges Tier mit seiner Pranke zwei oder drei Mal tief in den Fels gerammt und so Jahrhunderttausende überdauernde Narben hinterlassen.
"Ein perfekter Platz!" rief Bolbo.
Sie lenkten ihren Flieger so nahe wie möglich an einer der größten Spalten heran, dann bemühte Jörgi sich, die Position zu halten. Der alte Meisteringenieur dagegen schnallte sich ab, nahm ein schweres Paket zur Hand und balancierte vorsichtig über das Gerüst der rechten Tragfläche. Der Flieger neigte sich bereits, Jörgi rief eine Warnung, aber da hatte Bolbo das Paket bereits mit aller Kraft in die Felsspalte geworfen, wo es in einem schartigen Bruch im Gestein hängen blieb. Schnell machte der alte Zwerg sich auf den Rückweg und nahm wieder in seinem Sitz Platz.
"Nächste Spalte!" rief er nach hinten und kramte ein weiteres Paket hervor.

-

Ein junger Uwarier wurde vor Anthulius' Augen einfach von seinem Pferd gezerrt und unter einem Heer von Dunkelelben begraben; seine entsetzlichen Schreie hallten noch einen Moment über das Kampfgetümmel, ehe sie abrupt verstummten.
Der Lordprotektor sah sich um. Seine Leute hatten keine Chance. Der Feind hatte sie schon fast eingekreist.
Ein Dunkelelb sprang ihn an und spießte sich selbst auf seinem Breitschwert auf. Anthulius schüttelte ihn ab und wendete sein in Panik um sich tretendes Pferd. "Rückzug!" brüllte er aus Leibeskräften. "Zieht euch zurück! Rückzug!"
Die Reiter reagierten mit der ihnen antrainierten Schnelligkeit, Zügel wurden herumgerissen und Feinde aus dem Weg geworfen, um den Platz für eine schmale Gasse zu schaffen. Nur Augenblicke später galoppierten die knapp zwei Dutzend verbliebenen Reiter vom Kampfschauplatz fort, mähten einige ausfallende Dunkelelben nieder und wollten sich gen Norden wenden, wo die Kristalle sie vor Verfolgung schützen würden. Einer der Klügeren unter den Elben musste dieses Manöver jedoch vorausgeahnt haben; ein kompakter Verband löste sich aus dem Getümmel und bildete mit erstaunlicher Geschwindigkeit eine Sperre zwischen den Reitern und dem Nordtal, Pfeile wurde abgefeuert und ein Unteroffizier links neben dem Lordprotektor sank tödlich getroffen aus dem Sattel.
Anthulius gab dem Befehl zum freien Ritt. Sie mussten versuchen, auf der unsicheren Seite des Tals zu entkommen.

-

Bolbo schleuderte das vierte und letzte Paket in eine lautenförmige Felsspalte, sprang regelrecht in den Sattel und schrie zu Jörgi: "Wenden und weg hier!"
Das Fluggerät drehte sich unbeholfen und schwebte den Weg zurück, den es gekommen war, als plötzlich ein scharfes Sirren ertönte und ein schwarzer Pfeil die Bespannung der linken Tragfläche durchschlug.
"Sie haben uns gesehen!" rief Jörgi in Panik.
Weitere Pfeile folgten, ein breiter Bolzen traf das Luftkissen und riss ein fast handbreites Loch, aus dem sofort heißes Gas zu entweichen begann. Der Flieger geriet ernsthaft ins Trudeln und begann zu sinken.
Bolbo zog grimmig eine gläserne Phiole hervor, in der sich ein zusammengeknülltes und in Öl getränktes Tuch befand. Als er die Phiole öffnete und das Tuch mit einer eilig angesteckten Pyrolitkerze entzündete, gerieten auch dessen magische Zwillinge im Inneren der vier Pakete mit dem mit herkömmlichem Sprengstoff gestreckten Pyrolit in Brand. Nur Sekundenbruchteile später blähten sich die Felsspalten hinter ihnen auf und die gesamte Schlucht wurde auf einer Länge von hundert Fuß auseinander gerissen. Weißglühende Trümmerstücke wirbelten hin und her, ein Orkan aus Feuer, Staub und scharfkantigen Felsbrocken füllte die Schildpfade aus, eine donnernde Schockwelle raste nach Süden und blies die Dunkelelben wie Kieselsteine in die Luft, ehe sie Bolbos und Jörgis Fluggerät erfasste und mit sich riss.

-

Der Knall war ohrenbetäubend, und im nächsten Moment spie die Öffnung der Schildpfade eine Wolke aus Staub, Trümmern und zerfetzten Leibern aus, die sich über den westlichsten Teil des Hamartals ergossen. Lordprotektor Anthulius und seine Gefährten wurden von ihren Rössern gefegt und landeten unsanft in der Landschaft. Ein dumpfes Heulen wehte über die Ebene, als der Sog der folgenden Implosion die Elben in der Nähe der Schlucht einsaugte. Die Erde begann zu beben und es schien, als würde das komplette Weltenwutgebirge in seinen Grundfesten erschüttert. Rauch und Staub hüllten die Umgebung ein.
Der Lordprotektor spürte eine kräftige Hand am Ellenbogen. Jakasgh hatte sich aufgerappelt und half ihm nun auf die Füße. Um sie herum lagen mehrere tote Pferde, auch einer ihrer Kameraden rührte sich nicht mehr.
"Sammeln und Verteidigungskreis bilden", befahl Anthulius hustend. Viele Dunkelelben waren sicherlich getötet worden, aber noch viel mehr hatten es ins Tal geschafft und würden sie bald attackieren.
Jakasgh rief halblaute Befehle in den sich rasch legenden grauen Nebel und rief die Männer zusammen. Bald waren sie zu acht und bildeten eine lose Phalanx.
"Vorsichtiger Rückzug", knurrte der Lordprotektor. "Wir müssen zusehen, dass..."
Seine Worte wurden von einem wütenden Keifen aus vielerlei Kehlen unterbrochen. Schabende und knirschende Geräusche ertönten, und dann tauchten überall um sie herum bedrohlich funkelnde rote Augenpaare im Nebel auf.
"Kreis bilden!" rief Jakasgh. Im Nu hatten sie sich Rücken an Rücken formiert und hielten den langsam näher kommenden Dunkelelben ihre Schwerter und Äxte entgegen. Es waren viele. Zu viele, um ihrer ohne Pferde Herr zu werden.
"Lord Protektor", murmelte Jakasgh neben ihm.
"Was gibt es, Hauptmann?"
"Es war eine unvergleichliche Ehre, unter Euch zu dienen."

-

Um den Kristallring der Zitadelle wirbelte ein regelrechter Orkan, ein Wirbel aus dunklen Wolkenfetzen umkreiste die Spitze des Turms. Die Luft war aufgeladen und alle starrten auf die im Zentrum des Sturms verharrende Gestalt des Hofzauberers Hijbudan. Sein Haar flatterte hin und her und seine Robe hob sich im Wind, während seine Arme weit ausgestreckt blieben.
Als die Grenze des Erträglichen erreicht war, riss der junge Magier die Arme zusammen und richtete seine ineinander verkrallten Fäuste auf den Punkt in der Ferne, an dem die Dunkelelben den spärlichen Überrest der menschlichen Angriffstruppe eingekreist hatten.
Wie auf Befehl brach aus dem Wolkenwirbel ein weißglühender, weit verzweigter Blitz hervor, der sich in Hijbudans aufleuchtendem Körper bündelte und in das Tal hinabfuhr.

-

Der Lordprotektor hatte gerade sein Schwert zur Verteidigung erhoben, als plötzlich ein Arm aus weißem Feuer in die Dunkelelben vor ihm fuhr und ein halbes Dutzend von ihnen zu Asche verbrannte. Bläuliche Entladungen zuckten über die Körper der Überlebenden, während der zischende Blitz um die Menschen herum durch die Reihen ihrer Feinde tanzte, sie auseinander wirbelte und zu dampfenden Fleischklumpen zerschmolz. Entsetzte Schreie wurden laut und einige Elben versuchten zu fliehen, aber als die schreckliche Naturgewalt nach einigen Augenblicken verpufft war, lagen fast alle tot am Boden.
"Was zur Hölle...?" fragte Atan Jakasgh verdattert.
"Hijbudan", meinte der Lordprotektor nicht ohne einen Hauch von Stolz in der Stimme.
"Seht, Lord Protektor!" rief einer der jüngeren Soldaten und deutete auf die Schildpfade.
Der Nebel hatte sich größtenteils verzogen. Und die Schildpfade gab es nicht mehr. Wo in den vergangenen Jahrtausenden eine tiefe Schlucht in den kolossalen Klippen des Weltenwutgebirges geklafft hatte, türmten sich nun messerscharfe Felsentrümmer, soweit das Auge reichte. Meister Eisenborks Explosivladungen hatten zwar einige Steine ins Rollen gebracht, aber entscheidend war das Beben gewesen, das der Detonation gefolgt war und die komplette Gebirgslandschaft oberhalb des Hamartals umgestaltet hatte. Der Durchgang, der über Äonen hinweg die freien Reiche des Ostens mit dem schwarzen Land der Albträume verbunden hatte, war für immer geschlossen.
 

© Imladros
Vor Verwendung dieser Autoren-EMail-Adresse bitte das unmittelbar am @ angrenzende "NO" und "SPAM" entfernen!
.
Und sicher schon bald geht's hier weiter zum 11. Kapitel...

.
www.drachental.de