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Der Drache und der Bischof (2) von Peter Lässig

Der köstliche Duft von gegrilltem Fisch zog durch das Pfarrhaus, als das Essen aufgetragen wurde. Pater Ponnicraccelone füllte die Gläser mit dem edlen Tropfen und schob ein Glas seinem Freund zu.
"Auf den strahlenden Ritter. Und auf unser Ziel, das nun zum Greifen nahe ist."
Doch Murone blickte nur mürrisch auf seinen Teller.
"Was ist los, mein Freund? Alles läuft nach Plan. Die Menschen glauben, dass es der Drache ist, der sie bedroht. Sie geben mir ihr Geld, damit ich das Untier erlegen kann. Nebenbei habe ich meinen Spaß und auch Du verdienst bei dem Spiel recht gut. Eigentlich verdienen wir alle recht gut dabei. Und schon bald werde ich unser Land von allen Drachen befreit haben. Dafür wird mich der Papst zum Bischof und schließlich zum Kardinal erheben."
"Ja, das ist ja alles schön und gut", räumte Murone ein.
"Aber?"
"Ach, ich habe einfach das Gefühl, dass ich dabei zu kurz komme. Ich bin es leid, mich verstellen zu müssen, den Leuten weis zu machen, dass ich in der Welt herumgekommen bin und Ahnung habe von Drachen. Dabei haben mich diese Biester nie sonderlich interessiert. Aber ich muss meine Zeit verschwenden mit Schriften über ferne Länder und Heldentaten irgendwelcher Ritter, nur, damit ich Deiner Contessa Rede und Antwort stehen kann und sie beeindrucken kann mit meinem Erfahrungsschatz."
Pater Ponnicraccelone lächelte. "Ich verstehe Dich nur zu gut, Murone. Auch ich muss mich verstellen. Meinst Du, es macht mir Spaß, diese regelmäßigen Treffen mit ihr, die endlosen Gespräche? Aber noch ist die gute Gianna nützlich für unsere Geschäfte, und sie hat keine Ahnung, dass sie nur Mittel zum Zweck ist. Es wird der Tag kommen, da können wir sie fallen lassen wie einen stinkenden Fisch. Noch profitieren wir jedoch von ihren guten ?eziehungen zu den höchstgestellten Persönlichkeiten, die sie hat."
"Ach ja?" Murone schob sich ein Stückchen Polenta in den Mund. "Auf den Fürsten hat sie anscheinend keinen Einfluss", schmatzte er.
"Das kann eigentlich nicht sein. Unsere Gianna versteht es, ihren Willen überall durchzusetzen. Hat dieser alte Narr denn Dich nicht ordentlich ausgerüstet?"
"Nein! Das ist es ja. Ich hatte gehofft, dass er mir ein ordentliches Pferd geben würde, einen feurigen Hengst, damit die edlen Fräulein mir besser zu Füßen liegen. Auch wollte ich sie mit einer größeren Lanze beeindrucken."
"Ärgere Dich nicht weiter. Wenn ich erst einmal Bischof bin, dann wird der Fürst tun, was ich verlange. Das garantiere ich Dir. Unser jetziger Bischof ist eine Gefahr für die Mutter Kirche. Bedenke, er studierte Theologie. Als ob man das Wesen unseres Herren in Bücher packen könnte. Einzig die Bibel, das wahre Wort Gottes hätte seine Lektüre sein müssen. Dazu kommt, dass dieser Pietro auch noch ein Anhänger der ketzerischen Lehren dieses Francesco ist. So ein Unsinn: Tiere hätten eine Seele. Dann hätte auch ein Drache, die Ausgeburt der Hölle, eine Seele. Auch seine Freundschaft zu dem Fürsten ist bedenklich. Die Kirche muss die Herrscher führen und leiten, sie darf sich nicht mit ihnen gleichstellen. Nein, es wird höchste Zeit, dass ich Bischof werde. Auf Dein Wohl, mein Freund."

Plötzlich wurde die Tür aufgerissen.
"Verdammt! Er hat mich beinahe umgebracht! Nun ist alles aus. Und Ihr sitzt einfach da und lasst es Euch gut gehen..."
Piccollino stand an der Schwelle, schweißüberströmt. Er zitterte am ganzen Körper, sein Hemd hing ihm in Fetzen herab.
Pater Ponnicraccelone erhob sich. "Was ist passiert, mein Freund? Komm, setz Dich zu uns und trink was, dann geht's Dir gleich wieder besser. Es wird alles gut."
"Nichts wird gut!" rief Piccollino aus und schüttelte den stützenden Arm des Paters ab. "Wir können keine Schuppen mehr holen, der Drache hat mich erwischt. Es ist ein Wunder, dass ich überhaupt noch am Leben bin!"
Vorsichtig ließ er sich auf einem Stuhl nieder und stöhnte auf, als sein geschundener Rücken mit der hölzernen Lehne in Berührung kam.
"Oh, hat das arme Piccolloncinochen Haue bekommen?" feixte Murone.
"Ach, hör doch auf. Schon schlimm genug, dass meine Mutter mich in aller Öffentlichkeit so nennt. Außerdem war das wirklich kein Vergnügen, die Wachen und Kerkermeister des Fürsten sind wahrlich nicht zimperlich. Ich frage mich, was eigentlich der König dazu sagen würde, wenn er wüsste, was da in dem Schloss so passiert. Einkerkern ohne gerichtliches Urteil und solche Sachen."
"Komm, eigentlich hast Du's aber verdient und geschadet hat Dir das bestimmt auch nicht", meinte Pater Ponnicraccelone ohne Mitgefühl. "Ich hab's Dir zig Mal gesagt, lass den Blödsinn. Für uns springt auch so genügend raus bei der Sache. Aber nein, unser Piccolloncinochen muss ja noch sein eigenes Spiel spielen und versuchen, den Fürsten über den Löffel zu barbieren. Von jetzt an hörst Du auf mich, ein für alle mal!"
Piccollino nickte ergeben.
"So, und was ist jetzt mit dem Drachen?"
"Um den kümmere ich mich", schaltete sich Murone ein.
"Oder brauchen wir für unser Spielzeug noch ein paar Schuppen?"
"Wie willst Du Dich um den Drachen kümmern?" frage Piccollino verächtlich. "Du kannst ja noch nicht einmal von Deinem Pferd aus ein Wildschwein spießen."
"Du vergisst, dass ich diese antike Schrift habe. Ich hatte sie damals von einem Kaufmann in Samarkant günstig erworben. Ich traue es mir durchaus zu, mit einem der darin enthaltenen Beschwörungsformeln den Drachen zu erlegen. Ich bräuchte allerdings eine Schuppe von ihm, aber das sollte ja kein Problem mehr sein", meinte Murone leichthin.
"Wartet mal!", bremste Ponnicraccelone.
"So sehr mich der Gedanke lockt, dass endlich dieses Untier vernichtet wird, denke ich, dass wir uns noch in Geduld üben sollten. Schuppen brauchen wir wohl keine mehr, die Tölpel sind nun so ziemlich alle überzeugt, dass der Drache diese Gräueltaten begangen hat. Aber was würde das schon nutzen. Noch hat der Fürst, aber auch dieser Bischof noch zu viel Rückhalt bei den Bauerntrampeln. Nein, ich denke, unser Drachendouble sollte schon noch ein paar Mal zuschlagen. Je öfters dann die Narren den Drachen auf eigene Faust zu erschlagen versuchen und ihn dabei lebendig sehen, umso besser. Außerdem muss ich gestehen, ich habe diese Drachenhaut richtig lieb gewonnen. Und da unser gutes Piccolloncinochen wohl noch Probleme haben wird, sich etwas über den Rücken zu streifen, werde ich mir selbst dann die Haut noch einmal überziehen. Nein, dieses Vergnügen möchte ich mir wirklich nicht entgehen lassen, wenngleich ich aber sagen muss, Murone steht dieser Mummenschanz am Besten von uns."
"Na, ich weiß nicht!" meldete Piccollino seine Bedenken an. "Der Drache hat mich gesehen und vielleicht auch erkannt. Was ist, wenn er eins und eins zusammenzählt, hinter unsere Idee mit der künstlichen Drachenhaut kommt und uns verrät?"
Pater Ponnicraccelone schüttelte energisch den Kopf.
"Unsinn. Du tust ja gerade so, als ob diese Ausgeburt der Hölle denken und sprechen könnte wie ein Mensch. Drachen sind seelenlose Höllendämonen, mehr auch nicht. Und selbst wenn in ihnen etwas wie ein Verstand sein sollte - alleine schon der Gedanke ist blasphemisch vor unserem Herren - selbst wenn also, wem sollte sich dann der Drache dann schon anvertrauen? Kein Mensch würde einem Drachen zuhören."
"Aber... er hat doch mit mir gesprochen. Und er scheint Verstand zu haben", erwiderte Piccollino kläglich.
"Im Gegensatz zu Dir", lästerte Ponnicraccelone.
Beleidigt verließ Piccollino den Raum, während Murone nachdenklich auf einem Stück Fisch herumkaute.

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Der Bischof war gerade erst von seinem Drachen zurückgekommen und zog sich in aller Eile seine Bischofsrobe an.
"Sag ihm, er soll in meinem Arbeitszimmer warten", trug er seinem Diener auf, der ihn von der Ankunft des Fürsten unterrichtet hatte.

"Eminenz", Giuseppe berührte mit seinen Lippen den bischöflichen Ring. "Es ist gut, dass ich Euch antreffe."
"Was gibt es denn so dringendes, mein Freund?"
"Leider wenig erfreuliches, fürchte ich. Ich weiß nur nicht, wo ich anfangen soll."
"Nun, am besten am Anfang", lächelte Pietro und reichte dem Fürsten eine kleine Erfrischung.
Nachdem Giuseppe den Bischof über die Anschuldigungen gegen Pater Ponnicraccelone unterrichtet hatte, fügte er hinzu:
"Und dann liegt mir diese Contessa auch noch damit in den Ohren, dass ich diesen lächerlichen Ritter zu unterstützen hätte. Auch sie ist felsenfest davon überzeugt, dass ein Drache hier sein Unwesen treibt. Aber es gibt keine Drachen! Die Wissenschaft hat bis zu dem heutigen Tage keine Beweise für deren Existenz liefern können."
Der Bischof erhob sich.
"Für deren Nicht-Existenz jedoch auch nicht. Nun, mein Freund, vielleicht solltet Ihr Euren Standpunkt in dieser Sache noch einmal überdenken?"
"Da gibt es nichts zu überdenken", sagte Giuseppe bestimmt.
"Wenn sich dieser Pater wirklich an Kindern vergreift, dann gehört er unschädlich gemacht und den Richtern überantwortet."
"Das steht außer Frage. Ich meinte aber etwas anderes, als ich Euch aufforderte, Euren Standpunkt noch einmal zu überdenken", entgegnete Pellegerò.
"Ich verstehe nicht ganz...", begann Giuseppe.
"Bezüglich Drachen. Vielleicht solltet Ihr deren Existenz doch in Betracht ziehen."
"Dann meint Ihr also auch, dass ein Drache für all diese Gräuel verantwortlich ist? Eure Eminenz, bitte verzeiht mir meine offenen Worte, aber als Euer Freund sei mir das gestattet. Das ist doch blanker Unsinn. Drachen gab es nicht und wird es niemals geben."
Der Bischof schüttelte den Kopf und erhob sich. Er ging zu einer gewaltigen Bücherwand und zog mit schlafwandlerischer Sicherheit eine kunstvoll gebundene Bibel heraus.
Er legte sie vor Giuseppe auf den Tisch und sagte väterlich:
"Ihr erinnert Euch, mein Sohn, was nach der Auferstehung Christi geschah? Ich kann das entsprechende Kapitel nur empfehlen. Richtet dabei Euer besonderes Augenmerk auf den Apostel Thomas."

Giuseppe biss sich auf die Lippen, er hatte den Wink mit dem ungläubigen Thomas nur allzu gut verstanden. Aber wie konnte das sein? Natürlich hatte er immer wieder Berichte gelesen, die von Begegnungen mit jenen Feuer speienden Ungeheuern handelten, doch als Mann der Wissenschaft hatte er das alles in das Reich der Phantasie verbannt.

"Also gut, angenommen, dieser Drache würde wirklich existieren. Was kann ich dann dagegen unternehmen?"
"Gar nichts, würde ich sagen", meinte der Bischof und trat hinter Giuseppe. "Aber das wird wohl auch nicht nötig sein."
"Das verstehe nicht! Eben noch meintet Ihr, dass..."
"Nein!" unterbrach der Bischof.
"Ich habe lediglich gesagt, dass Ihr Euch mit dem Gedanken anfreunden solltet, dass es vielleicht doch Drachen gibt. Aber ich habe niemals behauptet, dass es ein Drache ist, der das Vieh abschlachtet und Kinder raubt. Und nun, mein Sohn, ich habe noch zu arbeiten. Seid versichert, dass ich mich der Sache mit Pater Ponnicraccelone annehmen werde."

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Das kleine Zimmer, das sich der Ritter Murone für die Dauer seines Aufenthaltes in Gubbio gemütlich eingerichtet hatte, war abgedunkelt. Er hatte das Beschwörungsbuch aufgeschlagen auf ein hölzernes Stehpult gelegt. Links von diesem Pult war mit weißer Kreide ein Pentagramm auf den Boden gemalt, das von schwarzen und roten Kerzen gesäumt wurde.
In der Mitte dieses Schutzsymbols lag auf einem kleinen roten Samtkissen eine einzelne, vertrocknete Drachenschuppe, deren ehemals goldener Glanz nur noch zu erahnen war.
Zwar hatte ihm Ponnicraccelone noch einmal ausdrücklich verboten, in Bezug auf den Drachen etwas zu unternehmen, aber was kümmerte ihn das. Stand er nicht als Drachentöter, ja gar als Ritter, über einem Pater? Abgesehen davon, weshalb sollte Ponnicraccelone über den Tod des Drachens unglücklich sein? Der Hass des Paters auf Drachen war weithin bekannt.
Für Murone war es zudem eine nahezu perfekte Gelegenheit, sich zu profilieren.
Er hatte das Beschwörungsbuch akribisch durchgearbeitet. Die Sache war absolut narrensicher, es bestand keinerlei Risiko für ihn und doch würde es den Anschein haben, dass es sich um ein kompliziertes und vor allem gefährliches Unterfangen handeln würde.
Deshalb hatte er die Contessa zu sich eingeladen. Vor ihren Augen würde er die Beschwörung vollziehen, sie würde beeindruckt sein und er konnte dann alles von ihr bekommen, was immer er auch begehrte.

Contessa Virghuena ließ voller Bewunderung ihre Blicke durch das Zimmer schweifen. Der gereichte Imbiss war vorzüglich gewesen und der Ritter Murone verstand sich auf die Zubereitung von Kaffee. Wenn er nun mit dem gleichen Geschick das gepeinigte Land von dem Drachen befreien würde...
"Ich bin ja schon so aufgeregt. Der liebe Ponnicraccili hat schon erzählt, dass dieses Untier so grauenvoll stark und gefährlich ist. Und da besteht wirklich keine Gefahr, wenn Ihr mit Eurer Zauberei den Drachen hierher holt, um ihm dann den Kopf abzuschlagen?"
"Contessa, ich versichere Euch, wenn Ihr stets in meiner Nähe bleibt, wird Euch nichts passieren. Ihr könnt ihn sogar streicheln, das Pentagramm wird ihn gebannt halten."
Murone verbeugte sich lächelnd und deutete auf die Kerzen.
"Wollen wir anfangen?"
Mit großartigen Gebärden entzündete der Drachentöter jede einzelne von ihnen, rückte sie zurecht und genoss es, die bewundernden Blicke Virghuenas auf sich zu spüren.
"Ach", seufzte sie, "ich bin ja so glücklich, dass mein Sohn Euch zum Freund hat. Piccolloncinochen kann sicherlich noch so viel von Euch lernen. Er ist ja noch so jung."
"Meine gute Contessa, ich muss mich nun konzentrieren. Ganz egal, was passiert, bewegt Euch nicht von der Stelle und gebt keinen Mucks von Euch. Ich beginne nun mit dem heiligen Ritual, das mich der ehrwürdige Ritter Georg höchst persönlich gelehrt hat."
"Ich freue mich schon so, einmal einen Drachen zu berühren. Wie sich wohl seine Schuppen anfühlen? Schleimig? Vielleicht könnte man ja dann für mich aus seinen Schuppen neue Schuhe oder ein nettes Accessoir herstellen", sagte Virghuena voll Euphorie.
"Contessa, bitte!" mahnte Murone eindringlich und trat an das Pentagramm heran.
Er breitete seine Arme aus.
Seine kraftvolle Stimme füllte den Raum und Virghuena lauschte voller Faszination den ihr völlig fremd klingenden Worten.

Draconis Cattivis! Draconis Incommodehja! Draconis Diabolis!
De Sair’iss - Altezza Dell’Est.
De Faf’neer - Altezza Dell’Sud
De Noy’lon - Altezza Dell’Ovest                                                                                                                                                De Gra’il - Altezza Dell Nord                                                                                                                  Audite E Venite - Il Potere Dell’Aria, Delle Fiamme, Delle Acque, Della Terra
Draconis Cattivis! Draconis Regis! Draconis Mortis!

Als die letzte Silbe der Beschwörungsformel verklungen war, trat Murone einen Schritt zurück und griff nach seinem Schwert. Virghuena wollte etwas sagen, doch mit einer knappen Geste bedeutete er ihr zu schweigen.

Ein gleißend helles, rot-goldenes Licht stieg wie eine Feuersäule von der Mitte des Pentagramms auf, es schien seinen Ursprung direkt in der Drachenschuppe zu haben.

Und dann brach der Sturm los. Funken, Blitze, Donner und dazwischen immer wieder schrille Schreie und Gebrüll.
Murone blickte starr in das Chaos und auch Virghuena konnte sich nicht bewegen. Sie blieb stehen, wo sie war, beide Füße wie am Boden festgenagelt vor Furcht und Staunen.
Ein reißender Strom aus Nebel, Licht und purer Energie drohte sie beide zu verschlingen. Die Luft roch und schmeckte metallisch, ihr standen die Haare zu Berge.
Eine schuppige Klaue schoss gleich einem Blitz aus dem Pentagramm heraus, glänzend wie flüssiges Gold, und entriss Murone das Herz, seine Seele, sein Leben.
Der angsterfüllte Schrei hallte Virghuena immer noch in den Ohren, als sie buchstäblich ins Leere griff, um den Ritter festzuhalten.

So plötzlich wie alles begonnen hatte, war es auch schon wieder vorbei. Murone war spurlos verschwunden.
Fassungslos brach Virghuena zusammen.
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Etwas stimmte nicht.
Vorsichtig tastete sich der Bischof im Schein seiner Fackel den gewundenen Gang entlang. Anstelle des vertrauten Drachengeruchs roch es nach Metall und die Luft war so trocken, dass sie förmlich knisterte.
Normalerweise wäre ihm Buonsensello schon längst entgegen gekommen, um ihn durch das labyrinthartige Höhlensystem zu geleiten. Zum Glück war Pietro schon oft genug hier gewesen, so dass er im Großen und Ganzen wusste, welche Abzweigungen er zu nehmen hatte.
Als er um die Ecke bog, trieb ihn der schwere, röchelnde Atem des Drachens zur Eile.
"Freund! Was ist passiert? Bist Du verletzt?"
Der Drache schüttelte matt seinen Kopf. Er versuchte, sich aufzurichten.
"Oh, Du bist schon da, Pietro. Nein, mach Dir keine Sorgen, mir geht es gut. Ich bin nur... ausgelaugt. Ich musste mich nur ein wenig ausruhen."
"Was ist passiert?" fragte der Bischof besorgt und legte eine Hand an die Drachenschnauze. Die Schuppen fühlten sich heiß und trocken an.
"Ein kleines magisches Kräftemessen", seufzte Buonsensello. "Irgendwer hatte versucht, mich aus dieser Höhle irgendwohin zu zerren, mit Magie. Nur, er war nicht sehr geschickt dabei. Anstatt mich zu bannen hat er meine wilden Kräfte entfesselt."
"Warum sollte Dich jemand aus dieser Höhle zerren - außer..."
Der Bischof verstummte entsetzt. Wieder ein Angriff auf seinen Freund.
Buonsensello nickte und bleckte leicht die Zähne. 
"Richtig. Wer auch immer das war, er wollte mich töten. Aber wie gesagt, er war wohl sehr unerfahren, denn ansonsten hätte er wissen müssen, dass nur sehr, sehr wenige Magier in der Lage sind, uns Drachen zu beschwören. Naja, wie auch immer. Mach doch nicht so ein Gesicht, mein Freund."
Der Drache stupste den Bischof mit seiner Schnauze an.
"Mir geht es gut, allmählich kehren auch die Kräfte wieder zurück."
"Und was ist mit dem Attentäter?"
Der Drache lachte leise.
"Ich glaube, um den brauchst Du Dich nicht mehr zu sorgen. Ich habe sofort mit einem Abwehrzauber reagiert und ihn gebannt. Ich habe diese Höhle nicht verlassen, aber ich konnte im Augenblick seines Angriffs einen kleinen, abgedunkelten Raum erkennen, am Boden war ein Pentagramm aufgemalt, das von Kerzen umrahmt wurde. Es war noch jemand anderes in diesem Raum nebst dem Magier."
"Und was ist mit den beiden Personen?"
"Kannst Du Dir das nicht denken? Ich denke mal, dieser Magier ist buchstäblich durch meine Magie verdampft. Von ihm dürfte nicht einmal mehr sein Gewand noch irgendein Knochen übrig sein."
"Und die andere Person?" drängte der Bischof.
"Woher soll ich das wissen?" entgegnete der Drache beleidigt. "Ich habe Dir doch gesagt, dass ich die Höhle nicht verlassen habe. Erzähle Du mir lieber, was es bei Dir für Neuigkeiten gibt."

Pietro teilte seinem Freund alles mit, was er in den letzten Tagen in Erfahrung gebracht hatte, insbesondere die schweren Anschuldigungen gegen Pater Ponnicraccelone.
"Allmählich ergibt sich ein klares Bild", meinte der Drache.
"Dieser Ponnicraccelone lässt Kinder entführen, um damit seine widernatürlichen Triebe zu befriedigen. Aber als ein Mann der Kirche ist er natürlich über jeden Verdacht erhaben. Damit der Verdacht von ihm vollends abgelenkt wird, erfindet er sozusagen einen Drachen, der für ihn die Entführungen begeht."
"Ja, nur wie kann er die Menschen glauben machen, sie hätten tatsächlich einen Drachen an den Tatorten gesehen?" fragte der Bischof.
Mit einer lässigen Bewegung zog Buonsensello seine Kralle durch ein paar alte, abgeworfene Schuppen. "Du hast den kümmerlichen Dieb vergessen, den ich erwischt habe. Er hat die Schuppen gestohlen. Ich schätze, dieser Pater hat daraus ein Kostüm gebaut und er oder der Dieb hat sich als Drache ausgegeben."
"Nun gut, aber dieser Piccollino kann es nicht gewesen sein", hielt Pellegerò entgegen.
"Was macht Dich da so sicher?"
"In der Woche, in der man diese Witwe tot aufgefunden hat, saß er in den Kerkern des Fürsten."
Buonsensello winkte ungeduldig ab. "Na, und? Dann haben sie eben noch mindestens einen Komplizen. Das würde Sinn ergeben. Sie stehlen meine Schuppen, treiben in einem Drachenkostüm ihr Unwesen und alle Menschen denken, ich wäre der Schurke. Die Menschen beginnen mich zu hassen und man versucht mich zu töten. Nur, was hat dieser Ponnicraccelone davon, dass ich erschlagen werde? Er könnte dann niemals mehr mit seiner Drachenhaut weitere Untaten begehen."
Der Bischof war aufgestanden und lief vor dem Drachen im Kreis herum. Er dachte angestrengt nach.
"Nun", überlegte er, "dieser Pater ist von einem geradezu fanatischen Hass auf Drachen besessen."
"Wieso hasst er meine Art so sehr, dass er mich, der ich ihn noch nie zu Gesicht bekommen habe, töten lassen möchte und mit seinen Taten unseren Ruf bei den Menschen derart zerstört?" erkundigte sich Buonsensello aufgebracht. "Ich hätte nicht übel Lust, diesen Mann aufzusuchen und mit ihm ein paar Worte zu wechseln." Wütend klatschte der Schweif des Drachens auf einen kleinen Haufen Goldmünzen, die daraufhin in alle Richtungen stieben.
"Ich kann es mir höchstens denken", seufzte der Bischof. "Man erzählt sich, seine Eltern seien einst von Drachen gefressen worden."
"Das ist eine infame Lüge!" brüllte Buonsensello zornig. "Kein Drache würde einen Menschen fressen. Vielleicht wurden seine Eltern von einem Drachen getötet. Aber wenn, dann haben diese Menschen das mit Sicherheit provoziert."
"Das spielt ja jetzt auch keine Rolle mehr, die Wahrheit werden wir diesbezüglich wohl nie erfahren", winkte der Bischof ab. "Fest steht, er hasst Euch Drachen bis aufs Blut. Daher wäre Dein Tod mit Sicherheit eine Genugtuung für ihn. Aber Du hast schon Recht, mein geschuppter Freund, da muss es noch mehr geben. Der Pater ist nicht dumm. Er ist ehrgeizig. Aber was mag er nur letztendlich bezwecken?"
Der Drache schnaubte ein Rauchwölkchen aus seinen Nüstern.
"Ist das nicht offensichtlich? Überlege, mein Freund! Wenn sich die Nachricht über meinen Tod bei den Menschen verbreiten würde, dann würde jeder ihn für den Retter in der Not ansehen. Man würde ihn ehren und das könnte er sich zunutze machen."
Pietro schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn.
"Natürlich! Nicht der Fürst hätte das Untier besiegt und seine Leute damit von dieser Geißel befreit, sondern er. Mein Freund Giuseppe würde einen enormen Gesichtsverlust erleiden."
"Nicht nur er. Auch Du", stellte Buonsensello fest. "Denn die Menschen haben sich in ihrer Not auch an Dich gewandt und Du hast in ihren Augen versagt."
"Du hast Recht. Vor allem, das ergibt noch viel mehr Sinn. Denn was hätte Ponnicraccelone schon davon, wenn er den Fürsten diskreditiert? Vielleicht strebt er danach, selbst Bischof zu werden?"
"Nun, wir wissen nicht, weshalb er das tut, was er tut", sagte Buonsensello und erhob sich schwerfällig. "Aber wir müssen diesem Treiben Einhalt gebieten."
"Nur wie?"
"Irgendwie auf frischer Tat ertappen. Wie der Pater gerade wieder ein Kind entführen lässt oder Vieh abschlachtet und sich dabei als mich ausgibt."
"Das ist leichter gesagt, als getan! Wie soll ich Ponnicraccelone überwachen, geschweige denn ihm etwas nachweisen? Alleine schaffe ich das nicht."
"Ich bin doch auch noch da", erinnerte ihn der Drache und knabberte zärtlich an der Schulter des Bischofs.
"Du kannst Dich nicht draußen blicken lassen. Nein, wir brauchen Unterstützung."
"Wie wär's denn mit Deinem Freund, dem Fürsten?"
"Giuseppe? Ja, ich habe auch schon an ihn gedacht."
"Aber?"
"Das Problem ist, er will nicht an Deine Existenz glauben."
Die Reptilienaugen glitzerten vergnügt.
"Das lass nur meine Sorge sein. Ich habe da schon eine Idee."

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Unruhig wälzte sich der Fürst in seinem Bett herum. Er war todmüde, doch er konnte keinen Schlaf finden.
Am Abend hatte ihn eine verstörende Nachricht erreicht: Contessa Virghuena hatte ihm völlig aufgelöst wirres Zeug erzählt vom Verschwinden des Drachentöters in einem Pentagramm. 
Giuseppe wusste nicht, was er davon halten sollte. Nicht, dass ihm dieser Mann besonders leid tat, zumal weithin bekannt war, dass die Ausübung von Magie nun einmal mit Risiken für Leib und Leben verbunden war. Ihn beunruhigte viel mehr die Tatsache, dass wieder jemand felsenfest davon überzeugt gewesen war, dass ein Drache in Gubbio sein Unwesen treiben würde.
Das andere war die Reaktion der Leute auf das Verschwinden dieses Mannes. Man würde ihm, dem Fürsten, vorhalten, dass er sich zu wenig um das Problem kümmern würde und die Contessa hatte, was eigentlich auch zu erwarten war, durchblicken lassen, dass sie ihm die Mitschuld an dem Tod des armen Murönchen gab. Schließlich war er so geizig gewesen und hatte den edlen Ritter nicht gut genug ausgerüstet. Wie sollte ein Drachentöter mit einer zu kleinen Lanze schließlich auch gegen einen Drachen bestehen?
Giuseppe hatte schließlich die Contessa in die Obhut des Paters Ponnicraccelone empfohlen. Er würde sich schon gut um Virghuena kümmern in seiner Eigenschaft als Seelsorger.

Giuseppe seufzte schwer und zog sich die Decke über den Kopf. Der Vollmond erhellte trotz der schweren Vorhänge das Schlafgemach.
Doch nun störte Giuseppes Schlummer nicht mehr das Mondlicht, dafür drang ein Brausen an sein Ohr, als ob draußen ein schwerer Sturm toben würde.
Irritiert schlug er die Decke zurück und zuckte zusammen, als irgendetwas gegen die Fensterscheibe krachte. Es war beinahe so, als ob jemand Kieselsteinchen an das Fenster schmeißen würde, ein absolut absurder Gedanke. Wer sollte schließlich mitten in der Nacht etwas von ihm wollen - einmal von der Contessa, der man so etwas durchaus zutrauen konnte, abgesehen. Andererseits hatte er sein Schlafzimmer im obersten Stockwerk, da war es schon sehr unwahrscheinlich, dass jemand das Fenster traf.
Dennoch meinte er nun auch Stimmen zu hören und wieder gab es dieses prasselnde Geräusch. Es wurden tatsächlich Kieselsteinchen geworfen.
Gereizt öffnete er das Fenster und hörte gerade noch eine kraftvolle Stimme sagen: "Die taugen alle nichts, sage ich Dir. Viel zu klein. Jetzt werfe ich mal diesen Stein hier..."
Danach sah Giuseppe Sterne, doch es waren nicht die des mondhellen Firmaments. Er taumelte benommen zurück und griff sich an den Kopf. Das, was er in diesem Augenblick vor sich sah, war mit Sicherheit von dem Treffer verursacht, denn es konnte einfach nicht wahr sein.
Vor der hellen Mondscheibe flatterte etwas Riesenhaftes. Eine vertraute Stimme drang an seine Ohren: "Alles in Ordnung, mein Sohn? Verzeiht bitte, aber mein Freund meinte es wohl ein wenig zu gut mit dem Aufwecken."
Giuseppe machte ein paar Schritte rückwärts. "Ich halluziniere", sagte er nur.
"Nein, keineswegs", meinte die vertraute Stimme.
Entsetzt beobachtete der Fürst, wie sich von der gewaltigen Form eine kleinere löste und sich anschickte, durch sein Fenster zu klettern. Mit zitternden Händen entzündete Giuseppe ein paar Lampen und sehr plötzlich ließ er sich auf einem Stuhl nieder.
"Eure Eminenz?" fragte er entgeistert.
"In Persona", lächelte der Bischof und deutete auf die schwebende Gestalt vor dem Fenster.
"Bitte verzeiht meinen etwas theatralischen Auftritt. Aber es ist von solcher Dringlichkeit, dass ich Euch bitte, mich unverzüglich zu begleiten."
Fürsorglich reichte Pietro dem Fürsten seinen Mantel und trat dann ans Fenster.
"Warte unten vor dem Tor auf uns, mein Freund. Ich komme gleich zusammen mit Giuseppe hinunter."

Wie in Trance zog sich Giuseppe an und folgte dem Bischof ins Freie. Das alles konnte doch nur ein Traum sein.
"Das ist also Dein Freund, sagst Du? Und den darf ich auch nicht verzehren, was für eine Verschwendung! Aber vielleicht mal ein Stückchen von ihm probieren?"
Die Stimme klang gleich einer großen Domglocke in Giuseppes Ohren.
Beinahe reflexartig bekreuzigte er sich. "Allmächtiger. Ein Drache. Ein leibhaftiger Drache."
"Na, Ihr ungläubiger Thomas?" sagte der Bischof verschmitzt.
"Ich habe Euch doch gesagt, Ihr solltet Euren Standpunkt noch einmal überdenken. Nun seht ihr nicht nur einen Drachen, sondern in Kürze werdet Ihr sogar auf seinem Rücken fliegen. Leider fehlt jetzt die Zeit für Erklärungen, steigt einfach auf und haltet Euch gut fest."
Als Giuseppe zögerte, fügte Pietro hinzu: "Und keine Sorge, Buonsensello wird Euch nicht beißen. Das war nur der unvermeidliche Drachenhumor."
So ganz schien der Fürst jedoch nicht davon überzeugt zu sein, denn der Drache grollte leise und entblößte wie zufällig sein furchteinflößendes Gebiss.
Völlig unbeeindruckt davon schwang sich Pietro auf Buonsensello und deutete auf die freie Stelle zwischen ihm und einem der Zacken, die gleich einem Kamm den gesamten Drachenrücken - zum Schwanz hin sich verjüngend  - hinab liefen.
"Am Besten setzt Ihr Euch vor mich hin, mein Freund."
Der Fürst war von der Gelenkigkeit des Bischofs, der doch schon ein gewisses Alter erreicht hatte, sichtlich überrascht.
"Ihr habt gut reden, Eminenz. Ich bin schon froh, wenn ich in den Sattel eines Pferdes steigen kann. Wie macht Ihr das bloß?"
"Glaubt mir, wenn man so viel Zeit wie ich mit einem Drachen verbracht hat, dann entwickelt man ein gewisses Talent. Ihr stellt Euch aber auch ungeschickt an!"
In der Tat war Giuseppe nie besonders sportlich gewesen und mit Fünfzig war er auch nicht mehr so gelenkig wie früher. Eine gewisse Leibesfülle kam noch erschwerend hinzu. Doch nach neun Versuchen schaffte er es schließlich, wenngleich auch Buonsensello mit seiner Schnauzenspitze und der Bischof mit seiner ausgestreckten Hand ein klein wenig nachhelfen mussten.
Ein Ruck lief durch den mächtigen Drachenkörper, als sich Buonsensello auf seine Pranken erhob. Er breitete seine gewaltigen Schwingen aus und schwang sich kraftvoll in die mondhelle Nacht.
Der Fürst spürte den Wind mit der Macht einer geballten Faust über sich hinweg streichen, die hohe Geschwindigkeit presste ihn gegen den Bischof.
Er wollte etwas sagen, doch die Worte wurden ihm förmlich entrissen, als Buonsensello ohne Vorwarnung in einen steilen Sinkflug überging.
Pietro jauchzte, er genoss jeden Augenblick auf dem Rücken seines riesenhaften Freundes. Hier war er frei von all seinen Verpflichtungen und doch fühlte er sich gerade da Gott weitaus näher und enger verbunden als bei der Ausübung seines bischöflichen Amtes. Natürlich war er an die fallenden und steigenden Bewegungen gewöhnt, doch aus Rücksicht auf ihren Fluggast bedeutete er dem Drachen, auf das Beschreiben eines Loopings zu verzichten.

"Na, wie fandest Du den Ritt, Mensch?" fragte der Drache, der sich köstlich über die grünliche Gesichtsfarbe des Fürsten amüsierte.
Der Flug hatte nicht sehr lange gedauert, doch der Fürst war sichtlich erleichtert, wieder festen Boden unter seinen Füssen zu spüren.
"Wie einen Traum. Ich kann es immer noch nicht glauben", antwortete Giuseppe tapfer und wandte sich an den Bischof: "Eure Eminenz, ich glaube, ich muss Euch Abbitte leisten."
"Wenn überhaupt, nicht mir, mein Sohn, sondern meinem Freund", stellte Pellegerò richtig.
Giuseppe verbeugte sich vor dem Drachen: "Es tut mir leid, dass ich an Eurer Existenz gezweifelt habe."
Buonsensello schnaubte ein kleines Rauchwölkchen und drückte dem Fürsten spielerisch eine Krallenspitze gegen die Brust.
"Es sei Dir verziehen. Ich will Dir einen Vorschlag machen: Wenn Du an mich glaubst, werde ich auch an Dich glauben. Einverstanden?"
"Natürlich", antwortete der Fürst und fuhr sich gedankenverloren mit einer Hand durch sein Haar. Anscheinend waren Drachen auch noch Philosophen...
"Aber das stellt mich vor ein Problem. Denn da es nun offensichtlich doch Drachen gibt, muss ich dem nachgehen, was die Leute alle behaupten. Es wurde immer wieder ein Drache gesehen, kurz bevor man das Vieh abgeschlachtet vorfand oder irgendein Kind spurlos verschwand."
"Du meinst, man hat immer nur das gesehen", entgegnete der Bischof bitter und hielt Giuseppe ein paar abgefallene Drachenschuppen hin.
"Es deutet immer mehr darauf hin, dass irgendwer eine Art Drachenkostüm gebaut hat, um Buonsensello Verbrechen anzulasten, die er niemals begehen würde."
"Wer sollte aber so etwas tun?" fragte Giuseppe.
"Wir können es nicht mit Sicherheit sagen, da uns dazu die Beweise fehlen", seufzte Pietro und verteilte die erste Runde von dem mitgebrachten Wein.
"Deswegen haben wir Euch geholt, mein lieber Freund. Wir sind auf Eure Unterstützung angewiesen. So wie es aussieht, haben der Pater Ponnicraccelone und dieser Piccollino etwas damit zu tun."

Es wurde eine lange Nacht und so mancher Becher Wein wurde geleert, als Drache und Bischof gemeinsam dem Fürsten mitteilten, was sie in dieser Angelegenheit in Erfahrung gebracht hatten.
"Es scheint immer mehr, dass Pater Ponnicraccelone nach meiner Position strebt. Dass er dabei auch den einen oder anderen Drachen vernichten kann, kommt ihm natürlich sehr gelegen", erklärte der Bischof abschließend.
"Also, wenn ich richtig verstanden habe, verkleidet sich der Pater oder irgendwer anderes aus seinem Umfeld als Drache, richtet dann vor allem unter Schafherden wahre Blutbäder an und entführt auch das eine oder andere Kind, um die Bauern gegen Eure Eminenz und auch gegen mich aufzuwiegeln. Die Kinder jedoch dienen alleine der Befriedigung der perversen Gelüste Ponnicraccelones, während eben das Viehabschlachten die Angst vor dem Drachen schüren soll. Und offensichtlich wollte Piccollino auch für sich noch einen Vorteil daraus ziehen, denn er hat ja versucht, von mir Entschädigungen für angeblich getötetes Herdenvieh zu fordern", fasste Giuseppe zusammen.
"Richtig", bekräftigte der Bischof und fügte hinzu: "Wobei ich davon ausgehe, dass sie nicht nur einfach die Schafe sinnlos abschlachten, dazu sind die beiden zu habgierig. Nein, ich vermute mal, dass sie das eine oder andere Tier stehlen und das dann irgendwo weiterverkaufen. Ein verschwundenes Schaf fällt nicht weiter auf in einem blutigen Haufen von Knochen, Wolle und Fleisch."
Giuseppe nickte grimmig. "Das würde einen Sinn ergeben."
"Genau. Die Nichtsnutze verdienen dabei recht gut, auch an diesen ominösen Spenden, mit denen angeblich die sogenannten Drachentöter bezahlt werden. Der Pater kann ohne Gefahr seinen dunklen Gelüsten frönen und sich nebenher bei der Obrigkeit beliebt machen und mit der Rückendeckung von oben mir meinen Posten streitig machen. Obendrein kann der versuchen, Buonsensello zu ermorden, entweder mittels aufgebrachter Bauern oder irgendwelchen Drachentötern, die er von Zeit zu Zeit einstellt. So wie diesen Murone", fügte Pietro hinzu.
"Ach, um den brauchen wir uns wohl nicht mehr sorgen. Die Contessa Virghuena hat mir vor ein paar Stunden wirres Zeug erzählt von einem Pentagramm und einer goldenen Klaue, die ihn da hineingezogen hat", meinte Giuseppe leichthin.
"Oh, der war das also", schnaubte Buonsensello verächtlich. "In der Tat, von diesem Tor dürfte nicht einmal mehr ein Häufchen Asche zurückgeblieben sein."
In der Stimme des Drachens lag eine tiefe Befriedigung, doch sofort schien ihn ein schlechtes Gewissen zu beschleichen, denn er sagte zu dem Bischof:
"Mein Freund, Du musst mir glauben, ich habe niemals beabsichtigt, ihn zu töten. Ich hoffe, Du weißt das. Doch mein Abwehrzauber wirkt auf alle Angriffe dieser Art gleich. Ich habe da wirklich keinen Einfluss darauf."
"Ist schon gut, edler Drache", sagte Giuseppe tröstend und tätschelte das Kinn des Drachens. Es war das erste Mal in dieser Nacht, dass er sich traute, abgesehen von dem Ritt auf dem Drachen, Buonsensello zu berühren und er empfand das Gefühl der samtigen Schuppen als sehr angenehm.
"Ich denke mal nicht, dass jemand, der klar bei Verstand ist, um diesen Murone trauert. Ich halte ihn immer noch für einen Hochstapler."
Doch der Drache schenkte Giuseppes Worten kaum Beachtung, er hatte seinen Blick starr auf seinen Freund, den Bischof gerichtet. Dessen Absolution war es, was er wollte.
Pietro streckte seinerseits die Hand nach der Drachenschnauze aus.
"Es ist schon gut, mein Freund", sagte er leise. "Auch wenn ich seinen Tod nicht billige. Aber er hat sein Schicksal selbst herausgefordert, indem er sich entschlossen hatte, den Weg der Magie zu beschreiten. Nicht umsonst steht in der Heiligen Schrift geschrieben, dass es Menschen nicht zusteht, sich mit diesen okkulten Künsten zu befassen. Magie sollte Euch Drachen vorenthalten bleiben, denn nur Ihr besitzt die Weisheit und die erforderliche Kraft, damit umzugehen. Ego te absolvo."

Zufrieden setzte sich der Drache zurück, seinen Schweif um die Hinterläufe gewickelt. Er streckte ein wenig seine Flügel und fragte mit glitzernden Augen voller Tatendrang:
"Jetzt, wo eigentlich alles geklärt ist, was machen wir? Ich könnte losfliegen und dem Pater in seiner Kirche einheizen. Diesen Piccollino..."
"Nein! Halte ein, mein Freund!" rief der Bischof erschrocken aus.
Er kannte Buonsensello gut genug um zu wissen, dass er diese Worte eben ernst gemeint hatte.
"Es steht uns nicht zu, über das Leben dieser Menschen zu richten. Denke an das fünfte Gebot: Du sollst nicht töten. Nein, wir müssten sie auf frischer Tat ertappen und der Justiz überantworten."
"Pah!" schnaubte der Drache. "Was Du nur immer hast! Wer würde diese Nichtsnutze denn schon vermissen? Ich könnte dafür sorgen, dass von ihnen nicht mehr übrig bleibt als von diesem Murone."
Kleine Flämmchen züngelten aus den Drachennüstern und Giuseppe rückte erschrocken ein wenig weg von Buonsensello. Der Bischof war aufgestanden und hatte seine Hand gehoben.
"Versündige Dich nicht, mein Freund. Eben noch wolltest Du noch Gottes Vergebung und nun möchtest Du willentlich Menschen töten. Schwöre mir, dass, egal, was passiert, Du ihr - wenngleich auch nutzloses - Leben schonen wirst."
"Und wenn ich mein oder Euer beider Leben verteidigen muss?" hielt Buonsensello hitzig dagegen.
Der Bischof ließ sich nicht beirren. "Sie bleiben am Leben", forderte er. "Buonsensello, bitte sei vernünftig. Möchtest Du Dich wirklich vor Gott versündigen? Das sind diese Menschen gewiss nicht wert."
Buonsensello senkt knurrend den Kopf.
"Also gut, ich schwöre, dass ich keinerlei Leben nehmen werde."
"Seid unbesorgt", schaltete sich Giuseppe ein. "Wenn wir die beiden Übeltäter auf frischer Tat ertappt haben, dann werden sie in Peruggia vor Gericht gestellt. Sie werden mit Sicherheit ihre gerechte Strafe bekommen."
Die Augen des Drachens funkelten: "Ich glaube, ich habe eben doch klar gesagt, dass ich diese Menschen nicht töten werde. Dabei wollen wir es belassen. Aber ich möchte nun eine Alternative von Euch hören, nachdem Ihr ja meinen Lösungsvorschlag nicht akzeptiert."
"Wo könnten wir sie wann auf frischer Tat ertappen?" sinnierte der Bischof.
"Am Besten wäre es, wir würden sie beim Vieh auf einer Weide erwischen. Da sie wohl nur nachts zuschlagen, würden auch keine unbeteiligten Menschen gefährdet werden. Andererseits, ich kann nicht die gesamte Stadtwache an allen Viehweiden postieren."
"Das ist allerdings richtig", sagte Pietro.
"Nur, welche Möglichkeiten haben wir noch?"
"Selbst wenn wir genügend Leute zusammenbrächten, ich wüsste nicht, wo wir uns verstecken sollten. Sie dürften uns nicht bemerken und wir müssen aber trotzdem nahe genug bei ihnen sein, um sie zu überwältigen", gab der Fürst zu bedenken.
"Weshalb schickt Ihr nicht einfach den Wolf im Schafspelz?" ergriff Buonsensello das Wort.
"Was meint Ihr damit?" fragte Giuseppe und auch der Bischof konnte sich momentan keinen Reim aus dieser Wortmeldung machen.
Der Drache schüttelte den Kopf und brummte: "Zweibeiner! Du scheinst genauso schwer von Begriff wie mein Freund hier. Denke doch einmal ganz genau nach. Was ist denn ein Wolf im Schafspelz?"
Dem Bischof dämmerte es: "Meinst Du etwa...?"
"Genau", sagte der Drache zufrieden und klopfte mit seiner Schweifspitze auf den Boden.
"Wenn sich die Bösewichte in eine Drachenhaut hüllen, warum solltet Ihr Euch dann nicht als Schafe verkleiden. Ihr mischt Euch unter die Herde und wenn die Schurken ihre Untaten begehen wollen, dann zeigt Ihr Euch. Ich könnte mich versteckt halten für den Fall, dass sie fliehen."
"Dann bräuchten wir nur noch eine geeignete Weide", stellte Giuseppe fest.
"Und einen Viehbesitzer, der uns seine Tiere zur Verfügung stellt."
"Weideflächen sind kein Problem, die Kirche hat sehr viele Flächen in ihrem Besitz. Aber wie wäre es mit Euren Tieren, mein Sohn?"
Der Fürst schüttelte den Kopf: "Ich habe leider keine Schafe. Meine Familie hat die Schafszucht schon vor Generationen aufgegeben. Ein paar Ziegen und einige Kühe, das könnte ich anbieten. Die Frage ist jedoch, ob diese Art von Vieh für Pater Ponnicraccelone noch interessant ist, denn vor einigen Wochen wurden ein paar meiner eigenen Ziegen Opfer seines Treibens. Es muss doch einen Grund dafür geben, dass er und seine Spießgesellen sich bisher immer nur an Schafen vergriffen haben."
"Ich denke mal, das liegt daran, dass ein totes Schaf oder eben auch eine Ziege von einem Mann ohne weiteres weggebracht werden kann. Kühe sind doch zu groß und Pferde gibt es eigentlich nur auf dem Gestüt von Piccollino", meinte der Bischof.
"Dann scheiden also meine Kühe aus", resümierte Giuseppe.
Der Drache stieß einen langgezogenen Seufzer aus.
"Wie schade", meinte er traurig. "Dabei schmecken Kühe so lecker."
"An den Schafen sollte es nicht scheitern", versprach Pietro, "wenn Ihr auch noch Eure Ziegen zur Verfügung stellt. Denn ich denke mal, für unsere Staturen wären Ziegenkostüme doch besser geeignet."

Der Morgen graute bereits, als sich Fürst und Bischof zu Fuß auf den Nachhauseweg machten. Sie hatten ihren Plan detailliert ausgearbeitet und jeder von ihnen wusste, was er zu tun hatte. Nun ging es an die Ausführung. Mit ein wenig Glück und Gottes Segen würde dieser Landfleck bald von seiner Geißel erlöst sein.
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Das Gotteshaus war an diesem Sonntag besonders gut gefüllt.
Die Nachricht, dass dem Drachen erneut ein Mensch zum Opfer gefallen war, hatte sich wie ein Lauffeuer in Gubbio verbreitet. Allerdings wusste niemand so recht, wer genau von der Bestie getötet worden war. Eine Antwort auf diese Frage erhofften sich die Menschen von Pater Ponnicraccelone, der in diesen Wochen der Not beinahe als eine Art Messias verehrt wurde. Hatte doch schließlich die weltliche Macht, namentlich der Fürst, aber auch der König im fernen Rom, versagt. Auch dem Bischof traute man nicht mehr. Für die Nöte der kleinen Leute schien er sich nicht zu interessieren und er tat offensichtlich alles, dem guten, ja nahezu heiligen Pater Ponnicraccelone Steine in den Weg zu legen. Überhaupt wäre dieser Mann der bessere Bischof, wenn nicht gleich ein hoch qualifizierter Kardinal.

"...Und siehe, ein großer, grausamer Drache, der hatte sieben Häupter und zehn Hörner und auf seinen Häuptern sieben Kronen, und sein Schwanz fegte den dritten Teil der Sterne des Himmels hinweg und warf sie auf die Erde. Und der Drache trat vor die Frau, die gebären sollte, damit er, wenn sie geboren hätte, ihr Kind fräße. Meine Brüder und Schwestern! Unser Prophet Johannes hat in der Offenbarung im zwölften Kapitel beschrieben, was uns nun heimsucht. Der Beginn der Apokalypse!"
Der Pater genoss das aufgeregte Gemurmel in den Kirchenbänken während seiner dramatischen Kunstpause und fuhr kurz darauf fort:
"Wieder ist ein Geschöpf Gottes dem Teufel zum Opfer gefallen, doch diesmal wart es Ihr, ja, Ihr, die den von Gott persönlich auserwählten Retter verraten habt. Weil Euer Fürst und - ja, ich schäme mich wahrhaft, dies zu sagen - der Bischof, wohl angestachelt durch eben diesen Fürsten - dem edlen Ritter Murone die Unterstützung in dem Kampf gegen den Drachen, gegen Satan daselbst, versagt hat. Anstatt ihm ein kampferprobtes Ross und zum Drachentöten geeignete Waffen zu reichen, zwangen sie den Unglücklichen, von Gottes Pfaden abzuweichen, um mit Hilfe der Hexerei das Böse zu besiegen. Ein Unterfangen, das natürlich zum Scheitern verurteilt gewesen ist. Meine Brüder und Schwestern! Ritter Murone, der stolze Drachentöter, hat, wie Jesus Christus, sein Leben und sogar seine Seele für Euch und Eure Kinder geopfert. Lasset uns daher beten und die Herzen erheben..."
Zufrieden beobachtete Ponnicraccelone, wie sich die Kirchgänger alle bekreuzigten und gemeinsam mit ihm das dem sogenannten Märtyrer gewidmete Gebet murmelten. In ihren Gesichtern konnte er vielfach Entsetzen und Furcht erkennen.
Mit einer ausladenden Geste dankte der Pater Gott und entließ die Menschen mit den Worten:
"Gehet nun hin in Frieden und seid ohne Furcht. Die gute Contessa Virghuena hat sich bereit erklärt, vor der Kirche Eure Spenden für den Kampf gegen den Drachen entgegen zu nehmen. Sie war Augenzeuge des schrecklichen Todes unseres heldenhaften Ritters, dennoch hat Gott ihr die innere Stärke gegeben, sich für den Kampf gegen das Böse an unserer Seite einzusetzen."

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Nach der flammenden Predigt war Ponnicraccelones Kehle rau wie Pergamentpapier und er trank durstig den Kelch leer, bevor er sich zufrieden zurück lehnte und Piccollino quer über den Tisch hinweg anstarrte. Bisher hatte dieser noch nie eine Entscheidung des Paters in Frage gestellt.
"Warum ich Deine Mutter, die Contessa, bei mir aufgenommen habe? Aus christlicher Nächstenliebe, natürlich. Wie würdest Du Dich fühlen, wenn vor Deinen Augen ein Freund verschwindet?"
Doch Piccollinos Mine verriet nur allzu deutlich, dass dieser den Worten Ponnicraccelones keinerlei Glauben schenkte. Daher fügte der Pater lächelnd hinzu:
"Vertrau mir, ich weiß schon, was ich tue. Die gute Virghuena wird sich für uns schon als nützlich erweisen, da bin ich sicher."
"Und falls nicht?" fragte Piccollino zweifelnd. "Müssen wir sie wirklich einweihen? Muss sie wirklich heute Nacht dabei sein, wenn der Drache erneut zuschlägt?"
"Nun, momentan sammelt sie gerade das Geld für einen neuen Drachentöter. Nichts öffnet den Beutel der Menschen lieber als eine so Leid geprüfte, junge Frau aus dem Adel. Heute Abend wird sie uns gute Dienste leisten. Die Viehweide ist sehr groß und unübersichtlich, sie wird von einem dichten Waldstück begrenzt. Aber auf der anderen Seite grenzt sie an das bischöfliche Anwesen. Mich wundert nur, dass Cercandore neben dem Weinbau sich nun dem lieben Vieh widmet und vor allem, dass er ausgerechnet Weideland vom Bischof gepachtet hat, wo doch dieser seinen Wein als Messwein verschmäht hat. Jedenfalls, die Contessa könnte nützlich werden, falls irgendwer aus dem bischöflichen Anwesen überraschend auftauchen sollte. Man kennt sie und niemand wird Verdacht schöpfen. Schließlich ist sie nach den ganzen Ereignissen verwirrt und hat sich in die Stille der Natur zum Nachdenken zurückgezogen."
"Mir gefällt der ganze Plan nicht", knurrte Piccollino. "Eigentlich haben wir doch den Menschen schon genügend Geld abgeknüpft. Die letzten Schafe haben auf dem Viehmarkt in Florenz auch einiges eingebracht. Die Position des Fürsten und auch die des Bischofs ist wacklig, selbst Rom wurde schon hellhörig. Nun ausgerechnet den Drachen zu unserem Gegner zu schicken, das erscheint mir äußerst wagemutig, um nicht zu sagen tollkühn!"
"Aber genau darum geht es ja, mein lieber Piccollino. Stell Dir die Reaktion vor, wenn der Drache das Vieh abschlachtet, das der Cercandore der kirchlichen Obhut anvertraut hat. Damit wäre für den letzten Bauerntölpel klar, dass weder Bischof noch Fürst in der Lage sind, das Drachenproblem zu lösen. Und wir werden als strahlende Retter in der Note erscheinen und..."

Ponnicraccelone brach abrupt ab, als die Contessa Virghuena den Raum betrat.
"Hallo, Ihr Lieben!"
Sie warf dem Pater den prall gefüllten Klingelbeutel in den Schoß und setzte sich zu den beiden Männern.
Piccollino reichte ihr auch einen Kelch mit Wein, den sie dankbar leerte.

Diese Dankbarkeit empfand sie jedoch hauptsächlich für den Pater, der ihr in diesen düsteren Stunden das Gefühl von Geborgenheit und Stärke vermittelte. Sie hatte den Ritter Murone lieb gewonnen und nun war ihr Freund von dieser Bestie in den Schlund der Hölle gerissen worden. Schuld daran war nur dieser Geizhals, der Fürst, der sogar den Bischof angestachelt hatte mit seiner vernunftorientierten Denkweise, wie dieser es selbst auszudrücken pflegte. Vernunft, welch ein Unsinn. Als Contessa war sie eine subtilere Vorgehensweise gewöhnt: Man besprach sich mit Menschen, die Einfluss hatten und knüpfte Kontakte in die höchsten Reihen. Irgendwann hatte man einen Konsens erzielt und es würden genau jene einflussreichen Personen sein, die dann genügend Druck ausüben konnten auf irgendwelche Menschen im Hintergrund, die die Arbeit letztlich erledigen würden. Diese Menschen würden jedoch niemals auf die Idee kommen, etwas in Frage zu stellen, was zuvor beschlossen worden war.
Dieser Fürst mit seinem aufklärerischen Gedankengut, das sich ganz den Naturwissenschaften verschrieben hatte, passte damit so gar nicht in ihre Weltanschauung: Hinterfragen und Forschen. So konnte man doch keine Probleme lösen, es war doch nur allzu deutlich zu sehen: Vieh wurde abgeschlachtet und Kinder entführt und nun auch der gute Ritter Murone. 
Und der Bischof war, obwohl er als Mann der Kirche eigentlich gegen diese Form der Ketzerei mit aller Härte vorgehen hätte müssen, auch noch empfänglich für das schleichende Gift, das der Fürst verbreitete. 

Sie musste den letzten Gedanken laut ausgesprochen haben, denn Ponnicraccelone tätschelte gütig lächelnd ihre zitternde Hand.
"Keine Sorge, meine Liebe. Gottes Zorn wird auch noch der Bischof zu spüren bekommen. Schon früher als er zu erahnen vermag."
Daraufhin hielt Ponnicraccelone die Predigt seines Lebens, in der er in seiner Eigenschaft als Pater und Lehrer Piccollinos immer wieder darauf hinwies, wie glücklich sich die Contessa schätzen konnte, dass ausgerechnet ihr Sohn von Gott für diese Aufgabe mit ausgewählt wurde, Seite an Seite mit dem unglücklicherweise verschiedenen edlen Ritter Murone zu kämpfen.

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Das Prasseln des Landregens und das Rauschen der Wipfel im Wind verschluckten nahezu jedes Geräusch. Ihre Augen hatten sich relativ schnell an die Dunkelheit gewöhnt, als sie unter einem Baum stand und Ausschau hielt.
Das Gebäude im Hintergrund lag dunkel und still an einen Hügel geschmiegt. Beinahe wie ein schlafender Drache, schoss es ihr durch den Kopf.
Ein gelegentliches Blöcken und Meckern durchdrang den Regen, das Vieh graste und schlief friedlich. Von ihrem Sohn war nichts zu sehen und auch nicht von Pater Ponnicraccelone - geschweige denn von dem Ungeheuer, das sie diese Nacht wieder zum Leben erwecken wollten. 
Contessa Virghuena war dankbar dafür, dass sie der Pater zum Wacheschieben abgestellt hatte. Auf diese Weise war sie mit sich und ihren Gedanken alleine. Der Geruch der regenschweren Erde und des nassen Grases entspannte sie.
Natürlich war es für sie ein gewaltiger Schock gewesen, als sie erfahren hatte, dass ihr über alles geliebter Sohn eine so tragende Rolle bei den rätselhaften Vorgängen der letzten Monate hatte. Allmählich kamen ihr auch Zweifel, ob nicht vielleicht der Fürst doch damit Recht hatte, ihren Sprössling des Betruges zu bezichtigen.
Andererseits, der Pater als Murones Lehrer und als Mann der Kirche würde schon wissen, was vor den Augen des Herren richtig war. Abgesehen davon war dieser ein Verfechter der alten Ordnung, von Werten und antiken Herrschaftsstrukturen. Wie also könnte das, was sie taten, moralisch bedenklich sein? Schließlich war es nur Vieh, das geschlachtet wurde. Die Kinder, die der Drache angeblich raubte, stammten allesamt aus ärmlichen Verhältnissen und hätten keinerlei Aussicht auf eine glückliche Zukunft gehabt. Ponnicraccelone ließ sie alle in ein weiter entferntes Kloster bringen, wo man sich gut um sie sorgte und sie im Namen Christi erzog.
Zumindest hatte ihr das der Pater so erzählt und sie sah keinerlei Anlass, an seinen Worten zu zweifeln.

Virghuena war so sehr in ihren Gedanken versunken, wohl hatte sie auch das gleichmäßige Rauschen und Prasseln ein wenig schläfrig gemacht, dass sie das schwarze Etwas, das sich langsam auf sie zu bewegt hatte, erst im allerletzten Augenblick bemerkt hatte.
"Määäh", machte es und gerade, als ihr bewusst wurde, dass dieses Schaf sich irgendwie aus der Umzäunung hatte befreien können, war es schon wieder verschwunden.
Dafür sah sie nun etwas Riesenhaftes, das sich langsam an die grasende Herde heran schob.
Nun geht es also los, dachte sie und konzentrierte sich auf ihre Aufgabe.
Ihre Augen durchdrangen die Dunkelheit, aber niemand war zu sehen. Wer würde sich auch um diese nächtliche Zeit und bei diesem Wetter freiwillig ins Freie begeben. Links und rechts ließ sie ihre Blicke schweifen, sie prüfte die Fläche, die vor ihr lag und drehte sich auch immer wieder um, doch nach oben blickte sie nicht.

Buonsensello war froh um den Regen, der das Rauschen seiner schlagenden Flügel dämpfte. Er spürte nicht, wie die Tropfen gegen ihn schlugen und an seinem Leib abperlten, zu sehr konzentrierte er sich. Es war nicht einfach, ein Trugbild aufrecht zu erhalten, doch nun hatte es seine Aufgabe erfüllt und er konnte seinem Freund die Bilder aus der Sicht des Schafes übermitteln.
Piccollino hatte er bereits vorher schon ausgemacht, im Wald verborgen, und nun die Contessa.
Schließlich entdeckte er einen kriechenden Schemen. Das musste wohl der Pater sein, der in der Drachenhaut steckte. Wie gerne hätte Buonsensello einen versengenden Feuerstrahl nach unten geschickt, doch er hatte sein Ehrenwort gegeben, die Leben dieser Spitzbuben zu schonen.
Der Drache ließ seinen Blick über die Weide streifen und schnaubte überrascht auf, als er eine weitere Gestalt sah, die sich ganz langsam vorwärts bewegte. Sie näherte sich den beiden großen Ziegenböcken, die so ziemlich in der Mitte der Weidefläche waren, ein wenig abseits von der übrigen Herde. Buonsensellos scharfem Blick entging das flüchtige Aufblitzen von Metall nicht.

Der eine Bock bewegte sich ein wenig schwerfällig zu dem anderen heran.
"Ich halte das nicht mehr aus", flüsterte Giuseppe. "Der Gestank des nassen Ziegenfells und diese stickige Hitze, ich kann kaum atmen!"
"Nur Geduld, mein Sohn. Es geht gleich los. Buonsensello ist auch schon in der Luft. Ich warte nur noch auf sein Zeichen, damit... Warte!"
Der andere Ziegenbock, in dem der Bischof steckte, reckte seinen Kopf, soweit es ihm möglich war.
"Was ist, Eure Eminenz?" fragte Giuseppe.
"Schhhh! Still!"
Schließlich flüsterte er: "Es geht los. Ponnicraccelone steckt in der Drachenhaut und Piccollino wird sich wohl in seiner Deckung an die Schafe heranschleichen. Aber Ihr werdet es nicht glauben, die Contessa steht Wache."
"Die Contessa Virghuena?" entfuhr es Giuseppe ein wenig zu laut.
"Seid doch still", herrschte der eine Bock den anderen an.
Aber es war nichts zu hören als der Regen, das Rupfen des Grases und das gelegentliche Grunzen und Schmatzen des Viehs.
"Ich hoffe, dass die Leute Eurer Stadtwache auf ihren Posten sind, so kurzfristig wie Ihr sie in unsere Pläne eingeweiht habt. Also, sobald das erste Schaf blöckt, springen wir aus unserer Verkleidung und überwältigen..."

Plötzlich war die Welt um Giuseppe und seinem Freund herum in Aufruhr. Sie waren kurzzeitig in gleißende Helligkeit getaucht und spürten Hitze von außen durch das Ziegenfell dringen. Schreie und Meckern und Blöcken zerrissen die Stille der Regennacht.
"Verdammt!" rief Giuseppe und riss sich die Verkleidung herunter. Der Bischof schälte sich nur einen Sekundenbruchteil später aus seiner Haut.
"Er wollte Euch umbringen!"
Die Drachenstimme donnerte durch die Nacht. Unter seinen Klauen zuckte ein Mensch, als sich der Drache kraftvoll vom Boden abstieß.
"Piccollino! Der Drache! Sie fliehen, haltet sie!" rief der Fürst in die Nacht.
Es herrschte Chaos. Das halbe Dutzend Männer der Stadtwache war nun ebenfalls aus ihren Tarnungen gesprungen und setzten Piccollino nach, der in panischer Angst vor dem echten Drachen davon lief - genau auf das Versteck der Contessa zu.

Pater Ponnicraccelone war durch das schwere Schuppenkleid sehr in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Vor allem aber konnte er sich nicht aus eigener Kraft aus diesem Kostüm schälen.
"Du gestattest, dass ich mir meine Schuppen zurückhole!"
Der Pater schrie auf in Angst, als sichelartige Krallen durch die Drachenhaut schnitten und den Menschen entblößten gerade so, als würde man den Panzer eines Hummers lösen, um an dessen zartes Fleisch zu gelangen.
Dass dabei die Krallenspitzen gelegentlich das Gewand und die darunter liegende Haut des Paters ritzten, war unvermeidlich.
Schließlich fühlte sich Ponnicraccelone grob gepackt und in die Luft gehoben.

Die beiden Festgenommenen leisteten keinen Widerstand und boten im strömenden Regen einen erbärmlichen Anblick.
Verhältnismäßig behutsam setzte der Drache den Pater bei ihnen ab und warf dem Bischof einen kurzen Blick zu. "Es ist sonst niemand mehr da."
Pietro nickte kurz und musterte die Gefangenen.
"Haben wir Euch also zu guter Letzt erwischt", sagte er zufrieden.

Giuseppe hingegen war zu dem immer noch zuckenden, auf dem Bauch liegenden Mann herangetreten. Der Drache hatte ihn schwer verwundet, dennoch hielt der Mensch den Dolch immer noch fest in seiner Hand.
Vorsichtig drehte der Fürst den Verwundeten auf den Rücken und prallte entsetzt zurück.
"Du? Aber... warum?" keuchte er.
Obwohl der Mann im Sterben lag, lag ein gewisser Trotz in seiner Stimme, als er antwortete.
"Es geht nicht gegen Euch persönlich, Herr. Aber ich wollte mehr aus meinem Leben machen. Als Euer Diener und Mundschenk hätte ich keine Chance gehabt für einen Aufstieg. Aber Pater Ponnicraccelone hatte mir eine Perspektive gegeben, zumal er sehr einflussreich ist. Ich hätte bloß Euch und den Bischof töten müssen und ich wäre ein gemachter Mann gewesen."
Er hustete einen Schwall Blut, das vor seinem Mund schäumte.
"Ich... ich hätte jeden getötet... ich..."
Sièvveres Körper zuckte noch einmal und lag schließlich still.
Angewidert wandte sich der Fürst ab und ging zu seinem Freund, der bei den anderen Gefangenen stand. Offensichtlich kam es dort gerade zu einem Tumult.

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"Das war alles die Idee vom Pater, das müsst Ihr mir glauben", winselte Piccollino und wand sich unter dem eisernen Griff seines Wächters.
"Er und meine Mutter wollten..."
"Sei still", zischte Ponnicraccelone.
Er hatte erstaunlich schnell seine Fassung wiedererlangt und mit wohl gewählten Worten begann er zu sprechen:
"Ich möchte nicht abstreiten, dass wir einen Angriff auf Vieh des alten Cercandore geplant hatten, der dann erneut dem Drachen zugeschrieben worden wäre. Aber Ihr müsst mir glauben, mein Schüler, der gute Piccollino, und ich, wir handelten ausschließlich auf höchsten Befehl."
"Ach ja?" fragte Giuseppe unwillig.
"Und wer gab den Befehl? Vielleicht Gott höchstpersönlich? Oder der Papst?"
"Na, wer wohl", erwiderte der Pater spöttisch. "Die Contessa."
"Das ist gelogen!" begehrte Virghuena auf.
"Eure Eminenz, mein Fürst, Ihr kennt mich doch schon länger. Ich würde niemals..."
"Ruhe!"
Alle Augen waren plötzlich auf den Drachen gerichtet, aus dessen Nüstern kleine Funken stoben.
"Euer Gezeter geht mir auf die Nerven."
Buonsensello wandte sich an den Bischof: "Bitte, mein Freund, lass es mich auf meine Art lösen. Ein kurzer Happs und sie sind alle weg."
Pietro schüttelte den Kopf. "Du weißt, dass das nicht geht. Nein, die Richter in Peruggia werden die Wahrheit schon herausfinden."
"Wie Du willst", grollte der Drache. "Ich aber bin der Meinung, dass wir uns das sparen könnten. Lasse mich nur einen Augenblick mit ihnen alleine."
"Er hat Recht", schaltete sich Giuseppe in die Diskussion ein und flüsterte etwas dem Bischof zu.
Als dieser schließlich nickte, wandte sich der Fürst an die Wache: "Lasst uns mit dem Gesindel alleine. Der Drache sollte als Bewachung ausreichen. Bringt meinen Diener weg und verbrennt die Leiche des Verräters."
"Und nun will ich die Wahrheit hören", sagte Giuseppe drohend und blickte die Contessa an.
"Ich schwöre, ich wusste bis heute von nichts. Ich habe dem Pater vertraut, ich...", schluchzte Virghuena.
Verächtlich winkte der Fürst ab und warf einen Blick auf Buonsensello, der sich bequem hingelegt hatte und scheinbar gelangweilt auf die Gefangenen starrte.
"Und Du, Piccollino? Immerhin hast Du schon einmal versucht, mich zu hintergehen."
"Herr, ich schwöre es, ich bin unschuldig. Wie es mein Lehrer, Pater Ponnicraccelone schon gesagt hat, das war alles die Idee meiner Mutter. Sie wollte damit ihre Position als Contessa festigen. Aber ich bereue aufrichtig, dass ich von Euch Schadensersatz für Schafe erschleichen wollte, die ich niemals besessen hatte. Das war eine Dummheit und ich habe für diese Sünde schon in Eurem Kerker gebüßt. Ich bitte um Gnade..."
Buonsensello stieß bei diesen Worten ein verächtliches Schnauben aus.
"Du bist sicher, mein lieber Piccollino, dass es tatsächlich die Contessa war, die Dich und auch den gottesfürchtigen Pater dazu angestiftet hat? Bist Du Dir darüber bewusst, welche Tragweite Deine Worte vor Gericht haben?"
Piccollino nickte stumm, vermied dabei jedoch jeden Blickkontakt mit Virghuena.
"Du weißt, dass Du damit Deine eigene Mutter an den Galgen bringst?"
"Ja, Herr."
"Und doch bleibst Du bei Deiner Aussage?" bohrte Giuseppe nach.
"Ja, Herr. Meine Mutter hat meinen Lehrer und mich damit beauftragt, da sie Euch und auch den Bischof stürzen wollte..."
"Das ist eine infame Lüge!"
Selbst im Dunkel der Nacht konnte man die Zornesröte in Virghuenas Gesicht erkennen. Piccollino senkte seinen Kopf, sein Schluchzen wurde von dem Regenprasseln verschluckt.
Der Bischof schob seine Hand unter das Kinn des Angeklagten und hob dessen Kopf leicht an. Er blickte Piccollino schweigend an und trat dann einige Schritte zurück, so dass der Drache direkten Blickkontakt mit dem Menschen halten konnte.
"Weißt Du, mein fehlgeleiteter Sohn", sprach Pellegerò bedächtig, "dass Du Vieh abgeschlachtet und Kinder entführt hast, das sind verwerfliche Taten, für die Du Dich vor einem weltlichen Gericht verantworten musst. Doch egal, wie da das Urteil ausfällt, wenn Du aufrichtig Deine Tat bereust, dann würdest Du trotz dieser Verbrechen vielleicht Gnade vor den Augen unseres Herren finden, nachdem Du auf dieser Welt ausreichend dafür gebüßt hast. Aber der Allmächtige wird Dir mit Sicherheit nicht das einzig Gute verzeihen, das Du hier und jetzt nicht getan hast. Daher überdenke noch einmal Deine Antwort. Ist Contessa Virghuena diejenige, die dieses Komplott geschmiedet hat?"
"Sie ist es, Eure Eminenz", flüsterte Piccollino.
"Und ehe der Hahn zum dritten Male kräht, wirst Du mich verraten", zitierte der Bischof die heilige Schrift und nickte dem Drachen zu.
"Es war nicht nur Judas, der Jesus verraten hatte. Auch Petrus, sein bester Freund, verleugnete ihn. Lebe fortan mit der Schande, Deine eigene Mutter, die unschuldig ist, verraten zu haben."

Ein herzzereißender Schrei gellte durch die Nacht, als Piccollino vollständig von dem Drachenfeuer eingehüllt wurde. Niemand machte Anstalten, ihm zu Hilfe zu kommen, alle waren wie gebannt vor Entsetzen.
Die Form des Menschen schien in den Flammen zu verschwimmen und die Schreie wurden immer schriller, bis sie schließlich in eine Art Krächzen übergingen. Doch Piccollino blieb auf wundersame Weise am Leben, denn Buonsensello hatte niemals die Absicht gehabt, den Menschen mit seinem Feueratem zu töten.
Ungläubig rieb sich der Fürst die Augen, als er an die Stelle blickte, an der vor einigen Augenblicken noch Piccollino als lebende Fackel gestanden hatte.
"Unser Feuer ist nicht immer heiß und verzehrend", erklärte Buonsensello.
"Aber, wie... was?" fragte Giuseppe und warf dem Bischof einen verzweifelten Blick zu. 
"Die Wege des Herren sind für uns Sterbliche oft nicht zu verstehen, vor allem, wenn man sich in Gesellschaft eines Drachens befindet", sagte Pietro schmunzelnd.
"Was denn! Ich habe ihn nicht getötet! Ich habe also mein Wort nicht gebrochen", verteidigte sich Buonsensello.
"Aber nicht doch, mein Freund, ich tadle Dich ja nicht. Und was meint Ihr, mein lieber Giuseppe. Fandet Ihr nicht auch, dass der gute, liebe Piccollino immer schon nichts weiter als ein aufgeblasener Kapaun gewesen ist?"
"Passt auf, damit er nicht entkommt!" rief der Fürst aus, als Piccollino in seiner neuen Gestalt ziemlich unbeholfen über den reglos am Boden liegenden Körper seiner mittlerweile in Ohnmacht gefallenen Mutter hüpfte und zu entfliehen versuchte.
"Wie wäre es mit gegrilltem Huhn zum Frühstück?" fragte Buonsensello und fügte mit schuldbewusstem Blick hinzu: "Schließlich ist er ja nun kein Mensch mehr."
"Lasst es gut sein", wehrte der Bischof ab. "Ich denke, das sollte für ihn als Bestrafung genügen."
"Allerdings. Außerdem wird er es wohl als Federvieh künftig schwer genug haben", stimmte Giuseppe zu und wandte sich daraufhin mit grimmigem Blick dem Pater zu, der bei dem Anblick der Verwandlung seines Kumpanen jeglichen Hochmut verloren hatte.
"Nun zu Dir, Ponnicraccelone. Beteuerst Du immer noch Deine Unschuld? Dir wird nicht so ein gnädiges Schicksal zuteil werden wie Deinem Freund, wenn ich Dich in Peruggia dem Gericht überantworte. Auch die Heilige Inquisition wird ihr berechtigtes Interesse an Dir haben."
"Ich... ich... habe nur getan, was sie von mir verlangt hat", sagte er leise und blickte starr auf den Boden.
Erneut in dieser Nacht schnaubte der Drache auf. Giuseppe verlor langsam die Geduld.
"Pater! Weshalb glaubt Ihr, hat der Drache den Piccollino in einen Kapaun verwandelt, die Contessa jedoch verschont? Ist Euch vielleicht in den Sinn gekommen, dass er es vermag, Wahrheit von Lüge zu unterscheiden? Ich frage Euch nun das letzte Mal. Steckt Ihr hinter alledem?"

Erneut beteuerte Ponnicraccelone seine Unschuld, woraufhin der Fürst nüchtern feststellte:
"Nun gut, in Peruggia wird man ihn schon zum Reden bringen. Wenn er erst einmal auf das Rad geknüpft ist und seine Knochen einzeln zerschmettert werden..."
"Nein, bitte habt Gnade!"
Heulend war der Pater zusammengebrochen und warf sich vor dem Bischof auf die Knie.
"Bitte nicht die Inquisition! Ich gestehe, dass ich es gewesen bin, der Euch stürzen wollte. Ich wollte doch nur das Ansehen der Kirche in diesem Lande wieder stärken. Menschen wie dieser Francesco oder Ihr vermitteln unseren Brüdern und Schwestern den Eindruck, dass die Kirche für das Volk da wäre. Dabei haben die Gläubigen unsere Autorität zu fürchten. Auch die weltlichen Herrscher müssen wieder lernen, sich dem Gedankengut des Heiligen Stuhles zu beugen."
"Glaubt Ihr tatsächlich selbst, was Ihr uns da erzählt, Pater? Was ist mit den vielen Kindern, die Ihr entführen habt lassen und an denen Ihr Eure pervertierte Fleischeslust befriedigt habt? Denkt Ihr wirklich, dass dies dem Ansehen der Kirche dienlich ist?" gab der Fürst anstelle des Bischofs zurück.
Ponnicraccelone biss sich auf die Lippen und schluchzte.
"Überlassen wir ihn den Gerichten", meinte Giuseppe. "Ich will mir an diesem Abschaum meine Hände nicht schmutzig machen."
"Wartet, mein Freund." Der Bischof hielt den Fürsten am Ärmel fest. "Ihr wisst, dass ich ein Gegner der Inquisition bin, und ich weiß, dass Ihr im Grunde Eures Herzens auch dagegen seid."
"Ja, und? Dieser Mann hat den Tod verdient."
"Das steht außer Frage", gab ihm Pietro Recht. "Seine Schuld ist unstrittig und es gibt an sich keine angemessene Sühne für seine Verbrechen. Ich frage mich nur, versündigen wir uns nicht selber gegen Gott, wenn wir ihn nun der Folter ausliefern?"
"Ich... ich hätte da einen Vorschlag zu machen", mischte sich Buonsensello ein. "Damit würdet Ihr Euch nicht versündigen, dieser Wurm würde bestraft werden, wie er es verdient, und ich würde trotzdem mein Versprechen nicht brechen."

Im Herzen des Paters entbrannte ein innerer Kampf. Sein Instinkt riet ihm zu fliehen, doch er war nicht in der Lage, auch nur einen einzigen Schritt zu tun. Er war gelähmt vor Furcht und einer bizarren Faszination, die die Geschehnisse um ihn herum auf ihn ausübten.
Fürst und Bischof waren so sehr in das Gespräch mit der Ausgeburt der Hölle vertieft, er könnte fliehen und den Bischof der Ketzerei und des Paktes mit dem Teufel bezichtigen. Genügend Einflüsse dazu hatte er in Rom. Doch der Drache würde ihn zu einem Häufchen Asche verbrennen, noch ehe er einen Meter weit gelaufen wäre. Falls dieses Untier so gnädig wäre, ihn auf diese Weise sterben zu lassen. Da wäre wohl der Scheiterhaufen in Peruggia der leichtere Tod. Andererseits waren die Folterkeller und Kerker Peruggias berüchtigt und gefürchtet.
Er war so sehr in Gedanken versunken, dass er erschrocken zusammen zuckte, als der Bischof das Wort an ihn richtete.
"Ego te excommunicatio ferendae et latae sententiae."

Ponnicraccelone war wie vom Donner gerührt. Das war für einen gottesfürchtigen Menschen, wie er es war, die schlimmste Bestrafung, die über ihn verhängt werden konnte: Als Exkommunizierter durfte er nicht einmal mehr die Sterbesakramente empfangen, geschweige denn sein Amt als kirchlicher Seelsorger weiter ausüben. Wenn, dann könnte nur noch der Papst persönlich die Exkommunikation aufheben.
"Du hast mit Deinen Taten, insbesondere mit der Ermordung von Menschen, das Gerichtsverfahren durch die Heilige Inquisition verdient", fuhr Pietro fort. "Du weißt so gut wie ich, was Dich bei den Verhören in Peruggia erwartet. Auch wird es nur einen möglichen Urteilsspruch geben. Da jedoch sowohl der Fürst als auch ich der Meinung sind, dass die Heilige Inquisition nicht das von Gott gewollte Instrument zur Sühne von Verfehlungen darstellt, überlassen wir Dich der Gnade des Drachens, dessen Feueratem das reinigende Fegefeuer im Namen des Herren sein möge."
Damit wandte sich der Bischof ab und Buonsensello öffnete sein todbringendes Maul.

Die schrillen Schmerzensschreie stieß der Pater nicht aufgrund der Hitze der Flammen, die den Menschen einhüllten, aus, sondern sein Körperbau begann sich zu verändern: Vom aufrecht stehenden Mann hin zur vierbeinigen Kreatur. Knochen und Gewebe wuchsen und bildeten sich zurück und Ponnicraccelone durchlitt jede einzelne Sekunde seiner Transformation, Sekunden, die zu unendlichen Stunden voller Qual wurden.

Nachdenklich betrachtete Buonsensello sein Werk und wandte sich schließlich an seine Freunde: "Sein Herz und sein Verstand waren so sehr mit dem Hass auf meine Art vergiftet, dass ich zuerst erwogen hatte, ihn in einen Artgenossen zu verwandeln. Denn gibt es ein schwereres Los als etwas zu sein, das man sein Leben lang abgrundtief gehasst und leidenschaftlich bekämpft hat? Doch dieser Mann ein Drache - das wäre ein Hohn für meine Art gewesen. Daher habe ich ihn in eine Form gesteckt, die seinem Wesen entspricht. Die Menschen hier haben den Drachen gefürchtet und gehasst, der ihrer Meinung nach ihr Vieh und ihre Kinder raubte. Nicht jedoch die Drachen an sich. Ratten hingegen werden bei den Menschen immer und überall Unbehagen und Abscheu hervorrufen. Mehr habe ich in dieser Angelegenheit nicht mehr zu sagen."
"Eine weise Entscheidung", lobte Giuseppe und lächelte.
"Amen!" fügte der Bischof hinzu.
"Was wird nun aber aus dieser Frau?" fragte der Drache und berührte Virghuena mit seiner Schnauzenspitze. "Sie war die einzige von den Dreien, die heute Nacht nicht gelogen hatte."
Giuseppe warf einen langen, nachdenklichen Blick auf den reglos daliegenden Frauenkörper.
"Da sie seit einiger Zeit verwitwet ist und ihr Sohn Piccollino an sich nicht mehr existiert, zumindest nicht als Mensch, würde ihr von Rechts wegen das Gestüt zustehen. Aber so ganz ohne Mann im Haus?"
"Das mag wohl wahr sein. Vielleicht jedoch hält der Herr in seiner Güte einen Ehemann für sie bereit, der die Arbeit Piccollinos im Sinne seines Vaters fortführen wird. In der Zwischenzeit bedarf sie jedoch des seelischen Beistands, nach alledem, was ihr in letzter Zeit widerfahren ist. Ich werde versuchen, sie in einem der Klöster im Umland unterzubringen. Die Frage jedoch bleibt, ob wir sie der Gerichtsbarkeit ausliefern müssen."
Giuseppe schüttelte den Kopf.
"Dein Drache hat ihre Unschuld zweifelsfrei erwiesen. Dass die Contessa heute Nacht hier draußen war, kann man nicht als Strafgrund gegen sie anführen. Ponnicraccelone und ihr eigener Sohn haben sie aufs Schändlichste hintergangen und verraten. Ihr könnte man höchstens eine gewisse Naivität, mit der sie bisher durch das Leben gegangen ist, zur Last legen, doch kann man daraus mit Gewissheit nicht einen Anklagepunkt konstruieren. Ich würde sagen, das Kloster ist für sie wahrlich der geeignete Ort, damit sie dort zu sich selber finden kann und aus den Vorfällen eine Lehre zieht."

In der Ferne krähte ein Hahn und verkündete damit den Anbruch eines neuen Tages. 
Der Monte Ingino erglühte in einem kupferfarbenen Rot, als die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne die Regenwolken durchbrachen.
Ein stolzer Adler zog hoch in den Lüften seine einsamen Kreise und spähte mit seinen scharfen Augen nach seiner ersten Beute an diesem wunderbaren Morgen.
 

© Peter Lässig
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