Der köstliche Duft von gegrilltem Fisch zog durch das Pfarrhaus,
als das Essen aufgetragen wurde. Pater Ponnicraccelone füllte die
Gläser mit dem edlen Tropfen und schob ein Glas seinem Freund zu.
"Auf den strahlenden Ritter. Und auf unser Ziel, das nun zum Greifen
nahe ist."
Doch Murone blickte nur mürrisch auf seinen Teller.
"Was ist los, mein Freund? Alles läuft nach Plan. Die Menschen
glauben, dass es der Drache ist, der sie bedroht. Sie geben mir ihr Geld,
damit ich das Untier erlegen kann. Nebenbei habe ich meinen Spaß
und auch Du verdienst bei dem Spiel recht gut. Eigentlich verdienen wir
alle recht gut dabei. Und schon bald werde ich unser Land von allen Drachen
befreit haben. Dafür wird mich der Papst zum Bischof und schließlich
zum Kardinal erheben."
"Ja, das ist ja alles schön und gut", räumte Murone ein.
"Aber?"
"Ach, ich habe einfach das Gefühl, dass ich dabei zu kurz komme.
Ich bin es leid, mich verstellen zu müssen, den Leuten weis zu machen,
dass ich in der Welt herumgekommen bin und Ahnung habe von Drachen. Dabei
haben mich diese Biester nie sonderlich interessiert. Aber ich muss meine
Zeit verschwenden mit Schriften über ferne Länder und Heldentaten
irgendwelcher Ritter, nur, damit ich Deiner Contessa Rede und Antwort stehen
kann und sie beeindrucken kann mit meinem Erfahrungsschatz."
Pater Ponnicraccelone lächelte. "Ich verstehe Dich nur zu gut,
Murone. Auch ich muss mich verstellen. Meinst Du, es macht mir Spaß,
diese regelmäßigen Treffen mit ihr, die endlosen Gespräche?
Aber noch ist die gute Gianna nützlich für unsere Geschäfte,
und sie hat keine Ahnung, dass sie nur Mittel zum Zweck ist. Es wird der
Tag kommen, da können wir sie fallen lassen wie einen stinkenden Fisch.
Noch profitieren wir jedoch von ihren guten ?eziehungen zu den höchstgestellten
Persönlichkeiten, die sie hat."
"Ach ja?" Murone schob sich ein Stückchen Polenta in den Mund.
"Auf den Fürsten hat sie anscheinend keinen Einfluss", schmatzte er.
"Das kann eigentlich nicht sein. Unsere Gianna versteht es, ihren
Willen überall durchzusetzen. Hat dieser alte Narr denn Dich nicht
ordentlich ausgerüstet?"
"Nein! Das ist es ja. Ich hatte gehofft, dass er mir ein ordentliches
Pferd geben würde, einen feurigen Hengst, damit die edlen Fräulein
mir besser zu Füßen liegen. Auch wollte ich sie mit einer größeren
Lanze beeindrucken."
"Ärgere Dich nicht weiter. Wenn ich erst einmal Bischof bin,
dann wird der Fürst tun, was ich verlange. Das garantiere ich Dir.
Unser jetziger Bischof ist eine Gefahr für die Mutter Kirche. Bedenke,
er studierte Theologie. Als ob man das Wesen unseres Herren in Bücher
packen könnte. Einzig die Bibel, das wahre Wort Gottes hätte
seine Lektüre sein müssen. Dazu kommt, dass dieser Pietro auch
noch ein Anhänger der ketzerischen Lehren dieses Francesco ist. So
ein Unsinn: Tiere hätten eine Seele. Dann hätte auch ein Drache,
die Ausgeburt der Hölle, eine Seele. Auch seine Freundschaft zu dem
Fürsten ist bedenklich. Die Kirche muss die Herrscher führen
und leiten, sie darf sich nicht mit ihnen gleichstellen. Nein, es wird
höchste Zeit, dass ich Bischof werde. Auf Dein Wohl, mein Freund."
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen.
"Verdammt! Er hat mich beinahe umgebracht! Nun ist alles aus. Und
Ihr sitzt einfach da und lasst es Euch gut gehen..."
Piccollino stand an der Schwelle, schweißüberströmt.
Er zitterte am ganzen Körper, sein Hemd hing ihm in Fetzen herab.
Pater Ponnicraccelone erhob sich. "Was ist passiert, mein Freund?
Komm, setz Dich zu uns und trink was, dann geht's Dir gleich wieder besser.
Es wird alles gut."
"Nichts wird gut!" rief Piccollino aus und schüttelte den stützenden
Arm des Paters ab. "Wir können keine Schuppen mehr holen, der Drache
hat mich erwischt. Es ist ein Wunder, dass ich überhaupt noch am Leben
bin!"
Vorsichtig ließ er sich auf einem Stuhl nieder und stöhnte
auf, als sein geschundener Rücken mit der hölzernen Lehne in
Berührung kam.
"Oh, hat das arme Piccolloncinochen Haue bekommen?" feixte Murone.
"Ach, hör doch auf. Schon schlimm genug, dass meine Mutter
mich in aller Öffentlichkeit so nennt. Außerdem war das wirklich
kein Vergnügen, die Wachen und Kerkermeister des Fürsten sind
wahrlich nicht zimperlich. Ich frage mich, was eigentlich der König
dazu sagen würde, wenn er wüsste, was da in dem Schloss so passiert.
Einkerkern ohne gerichtliches Urteil und solche Sachen."
"Komm, eigentlich hast Du's aber verdient und geschadet hat Dir
das bestimmt auch nicht", meinte Pater Ponnicraccelone ohne Mitgefühl.
"Ich hab's Dir zig Mal gesagt, lass den Blödsinn. Für uns springt
auch so genügend raus bei der Sache. Aber nein, unser Piccolloncinochen
muss ja noch sein eigenes Spiel spielen und versuchen, den Fürsten
über den Löffel zu barbieren. Von jetzt an hörst Du auf
mich, ein für alle mal!"
Piccollino nickte ergeben.
"So, und was ist jetzt mit dem Drachen?"
"Um den kümmere ich mich", schaltete sich Murone ein.
"Oder brauchen wir für unser Spielzeug noch ein paar Schuppen?"
"Wie willst Du Dich um den Drachen kümmern?" frage Piccollino
verächtlich. "Du kannst ja noch nicht einmal von Deinem Pferd aus
ein Wildschwein spießen."
"Du vergisst, dass ich diese antike Schrift habe. Ich hatte sie
damals von einem Kaufmann in Samarkant günstig erworben. Ich traue
es mir durchaus zu, mit einem der darin enthaltenen Beschwörungsformeln
den Drachen zu erlegen. Ich bräuchte allerdings eine Schuppe von ihm,
aber das sollte ja kein Problem mehr sein", meinte Murone leichthin.
"Wartet mal!", bremste Ponnicraccelone.
"So sehr mich der Gedanke lockt, dass endlich dieses Untier vernichtet
wird, denke ich, dass wir uns noch in Geduld üben sollten. Schuppen
brauchen wir wohl keine mehr, die Tölpel sind nun so ziemlich alle
überzeugt, dass der Drache diese Gräueltaten begangen hat. Aber
was würde das schon nutzen. Noch hat der Fürst, aber auch dieser
Bischof noch zu viel Rückhalt bei den Bauerntrampeln. Nein, ich denke,
unser Drachendouble sollte schon noch ein paar Mal zuschlagen. Je öfters
dann die Narren den Drachen auf eigene Faust zu erschlagen versuchen und
ihn dabei lebendig sehen, umso besser. Außerdem muss ich gestehen,
ich habe diese Drachenhaut richtig lieb gewonnen. Und da unser gutes Piccolloncinochen
wohl noch Probleme haben wird, sich etwas über den Rücken zu
streifen, werde ich mir selbst dann die Haut noch einmal überziehen.
Nein, dieses Vergnügen möchte ich mir wirklich nicht entgehen
lassen, wenngleich ich aber sagen muss, Murone steht dieser Mummenschanz
am Besten von uns."
"Na, ich weiß nicht!" meldete Piccollino seine Bedenken an.
"Der Drache hat mich gesehen und vielleicht auch erkannt. Was ist, wenn
er eins und eins zusammenzählt, hinter unsere Idee mit der künstlichen
Drachenhaut kommt und uns verrät?"
Pater Ponnicraccelone schüttelte energisch den Kopf.
"Unsinn. Du tust ja gerade so, als ob diese Ausgeburt der Hölle
denken und sprechen könnte wie ein Mensch. Drachen sind seelenlose
Höllendämonen, mehr auch nicht. Und selbst wenn in ihnen
etwas wie ein Verstand sein sollte - alleine schon der Gedanke ist blasphemisch
vor unserem Herren - selbst wenn also, wem sollte sich dann der Drache
dann schon anvertrauen? Kein Mensch würde einem Drachen zuhören."
"Aber... er hat doch mit mir gesprochen. Und er scheint Verstand
zu haben", erwiderte Piccollino kläglich.
"Im Gegensatz zu Dir", lästerte Ponnicraccelone.
Beleidigt verließ Piccollino den Raum, während Murone
nachdenklich auf einem Stück Fisch herumkaute.
.
Der Bischof war gerade erst von seinem Drachen zurückgekommen
und zog sich in aller Eile seine Bischofsrobe an.
"Sag ihm, er soll in meinem Arbeitszimmer warten", trug er seinem
Diener auf, der ihn von der Ankunft des Fürsten unterrichtet hatte.
"Eminenz", Giuseppe berührte mit seinen Lippen den bischöflichen
Ring. "Es ist gut, dass ich Euch antreffe."
"Was gibt es denn so dringendes, mein Freund?"
"Leider wenig erfreuliches, fürchte ich. Ich weiß nur
nicht, wo ich anfangen soll."
"Nun, am besten am Anfang", lächelte Pietro und reichte dem
Fürsten eine kleine Erfrischung.
Nachdem Giuseppe den Bischof über die Anschuldigungen gegen
Pater Ponnicraccelone unterrichtet hatte, fügte er hinzu:
"Und dann liegt mir diese Contessa auch noch damit in den Ohren,
dass ich diesen lächerlichen Ritter zu unterstützen hätte.
Auch sie ist felsenfest davon überzeugt, dass ein Drache hier sein
Unwesen treibt. Aber es gibt keine Drachen! Die Wissenschaft hat bis zu
dem heutigen Tage keine Beweise für deren Existenz liefern können."
Der Bischof erhob sich.
"Für deren Nicht-Existenz jedoch auch nicht. Nun, mein Freund,
vielleicht solltet Ihr Euren Standpunkt in dieser Sache noch einmal überdenken?"
"Da gibt es nichts zu überdenken", sagte Giuseppe bestimmt.
"Wenn sich dieser Pater wirklich an Kindern vergreift, dann gehört
er unschädlich gemacht und den Richtern überantwortet."
"Das steht außer Frage. Ich meinte aber etwas anderes, als
ich Euch aufforderte, Euren Standpunkt noch einmal zu überdenken",
entgegnete Pellegerò.
"Ich verstehe nicht ganz...", begann Giuseppe.
"Bezüglich Drachen. Vielleicht solltet Ihr deren Existenz doch
in Betracht ziehen."
"Dann meint Ihr also auch, dass ein Drache für all diese Gräuel
verantwortlich ist? Eure Eminenz, bitte verzeiht mir meine offenen Worte,
aber als Euer Freund sei mir das gestattet. Das ist doch blanker Unsinn.
Drachen gab es nicht und wird es niemals geben."
Der Bischof schüttelte den Kopf und erhob sich. Er ging zu
einer gewaltigen Bücherwand und zog mit schlafwandlerischer Sicherheit
eine kunstvoll gebundene Bibel heraus.
Er legte sie vor Giuseppe auf den Tisch und sagte väterlich:
"Ihr erinnert Euch, mein Sohn, was nach der Auferstehung Christi
geschah? Ich kann das entsprechende Kapitel nur empfehlen. Richtet dabei
Euer besonderes Augenmerk auf den Apostel Thomas."
Giuseppe biss sich auf die Lippen, er hatte den Wink mit dem ungläubigen
Thomas nur allzu gut verstanden. Aber wie konnte das sein? Natürlich
hatte er immer wieder Berichte gelesen, die von Begegnungen mit jenen Feuer
speienden Ungeheuern handelten, doch als Mann der Wissenschaft hatte er
das alles in das Reich der Phantasie verbannt.
"Also gut, angenommen, dieser Drache würde wirklich existieren.
Was kann ich dann dagegen unternehmen?"
"Gar nichts, würde ich sagen", meinte der Bischof und trat
hinter Giuseppe. "Aber das wird wohl auch nicht nötig sein."
"Das verstehe nicht! Eben noch meintet Ihr, dass..."
"Nein!" unterbrach der Bischof.
"Ich habe lediglich gesagt, dass Ihr Euch mit dem Gedanken anfreunden
solltet, dass es vielleicht doch Drachen gibt. Aber ich habe niemals behauptet,
dass es ein Drache ist, der das Vieh abschlachtet und Kinder raubt. Und
nun, mein Sohn, ich habe noch zu arbeiten. Seid versichert, dass ich mich
der Sache mit Pater Ponnicraccelone annehmen werde."
.
Das kleine Zimmer, das sich der Ritter Murone für die Dauer
seines Aufenthaltes in Gubbio gemütlich eingerichtet hatte, war abgedunkelt.
Er hatte das Beschwörungsbuch aufgeschlagen auf ein hölzernes
Stehpult gelegt. Links von diesem Pult war mit weißer Kreide ein
Pentagramm auf den Boden gemalt, das von schwarzen und roten Kerzen gesäumt
wurde.
In der Mitte dieses Schutzsymbols lag auf einem kleinen roten Samtkissen
eine einzelne, vertrocknete Drachenschuppe, deren ehemals goldener Glanz
nur noch zu erahnen war.
Zwar hatte ihm Ponnicraccelone noch einmal ausdrücklich verboten,
in Bezug auf den Drachen etwas zu unternehmen, aber was kümmerte ihn
das. Stand er nicht als Drachentöter, ja gar als Ritter, über
einem Pater? Abgesehen davon, weshalb sollte Ponnicraccelone über
den Tod des Drachens unglücklich sein? Der Hass des Paters auf Drachen
war weithin bekannt.
Für Murone war es zudem eine nahezu perfekte Gelegenheit, sich
zu profilieren.
Er hatte das Beschwörungsbuch akribisch durchgearbeitet. Die
Sache war absolut narrensicher, es bestand keinerlei Risiko für ihn
und doch würde es den Anschein haben, dass es sich um ein kompliziertes
und vor allem gefährliches Unterfangen handeln würde.
Deshalb hatte er die Contessa zu sich eingeladen. Vor ihren Augen
würde er die Beschwörung vollziehen, sie würde beeindruckt
sein und er konnte dann alles von ihr bekommen, was immer er auch begehrte.
Contessa Virghuena ließ voller Bewunderung ihre Blicke durch
das Zimmer schweifen. Der gereichte Imbiss war vorzüglich gewesen
und der Ritter Murone verstand sich auf die Zubereitung von Kaffee. Wenn
er nun mit dem gleichen Geschick das gepeinigte Land von dem Drachen befreien
würde...
"Ich bin ja schon so aufgeregt. Der liebe Ponnicraccili hat schon
erzählt, dass dieses Untier so grauenvoll stark und gefährlich
ist. Und da besteht wirklich keine Gefahr, wenn Ihr mit Eurer Zauberei
den Drachen hierher holt, um ihm dann den Kopf abzuschlagen?"
"Contessa, ich versichere Euch, wenn Ihr stets in meiner Nähe
bleibt, wird Euch nichts passieren. Ihr könnt ihn sogar streicheln,
das Pentagramm wird ihn gebannt halten."
Murone verbeugte sich lächelnd und deutete auf die Kerzen.
"Wollen wir anfangen?"
Mit großartigen Gebärden entzündete der Drachentöter
jede einzelne von ihnen, rückte sie zurecht und genoss es, die bewundernden
Blicke Virghuenas auf sich zu spüren.
"Ach", seufzte sie, "ich bin ja so glücklich, dass mein Sohn
Euch zum Freund hat. Piccolloncinochen kann sicherlich noch so viel von
Euch lernen. Er ist ja noch so jung."
"Meine gute Contessa, ich muss mich nun konzentrieren. Ganz egal,
was passiert, bewegt Euch nicht von der Stelle und gebt keinen Mucks von
Euch. Ich beginne nun mit dem heiligen Ritual, das mich der ehrwürdige
Ritter Georg höchst persönlich gelehrt hat."
"Ich freue mich schon so, einmal einen Drachen zu berühren.
Wie sich wohl seine Schuppen anfühlen? Schleimig? Vielleicht könnte
man ja dann für mich aus seinen Schuppen neue Schuhe oder ein nettes
Accessoir herstellen", sagte Virghuena voll Euphorie.
"Contessa, bitte!" mahnte Murone eindringlich und trat an das Pentagramm
heran.
Er breitete seine Arme aus.
Seine kraftvolle Stimme füllte den Raum und Virghuena lauschte
voller Faszination den ihr völlig fremd klingenden Worten.
Draconis Cattivis! Draconis Incommodehja! Draconis Diabolis!
De Sair’iss - Altezza Dell’Est.
De Faf’neer - Altezza Dell’Sud
De Noy’lon - Altezza Dell’Ovest
De Gra’il - Altezza Dell Nord
Audite E Venite - Il Potere Dell’Aria, Delle Fiamme, Delle Acque, Della
Terra
Draconis Cattivis! Draconis Regis! Draconis Mortis!
Als die letzte Silbe der Beschwörungsformel verklungen war,
trat Murone einen Schritt zurück und griff nach seinem Schwert. Virghuena
wollte etwas sagen, doch mit einer knappen Geste bedeutete er ihr zu schweigen.
Ein gleißend helles, rot-goldenes Licht stieg wie eine Feuersäule
von der Mitte des Pentagramms auf, es schien seinen Ursprung direkt in
der Drachenschuppe zu haben.
Und dann brach der Sturm los. Funken, Blitze, Donner und dazwischen
immer wieder schrille Schreie und Gebrüll.
Murone blickte starr in das Chaos und auch Virghuena konnte sich
nicht bewegen. Sie blieb stehen, wo sie war, beide Füße wie
am Boden festgenagelt vor Furcht und Staunen.
Ein reißender Strom aus Nebel, Licht und purer Energie drohte
sie beide zu verschlingen. Die Luft roch und schmeckte metallisch, ihr
standen die Haare zu Berge.
Eine schuppige Klaue schoss gleich einem Blitz aus dem Pentagramm
heraus, glänzend wie flüssiges Gold, und entriss Murone das Herz,
seine Seele, sein Leben.
Der angsterfüllte Schrei hallte Virghuena immer noch in den
Ohren, als sie buchstäblich ins Leere griff, um den Ritter festzuhalten.
So plötzlich wie alles begonnen hatte, war es auch schon wieder
vorbei. Murone war spurlos verschwunden.
Fassungslos brach Virghuena zusammen.
.
Etwas stimmte nicht.
Vorsichtig tastete sich der Bischof im Schein seiner Fackel den
gewundenen Gang entlang. Anstelle des vertrauten Drachengeruchs roch es
nach Metall und die Luft war so trocken, dass sie förmlich knisterte.
Normalerweise wäre ihm Buonsensello schon längst entgegen
gekommen, um ihn durch das labyrinthartige Höhlensystem zu geleiten.
Zum Glück war Pietro schon oft genug hier gewesen, so dass er im Großen
und Ganzen wusste, welche Abzweigungen er zu nehmen hatte.
Als er um die Ecke bog, trieb ihn der schwere, röchelnde Atem
des Drachens zur Eile.
"Freund! Was ist passiert? Bist Du verletzt?"
Der Drache schüttelte matt seinen Kopf. Er versuchte, sich
aufzurichten.
"Oh, Du bist schon da, Pietro. Nein, mach Dir keine Sorgen, mir
geht es gut. Ich bin nur... ausgelaugt. Ich musste mich nur ein wenig ausruhen."
"Was ist passiert?" fragte der Bischof besorgt und legte eine Hand
an die Drachenschnauze. Die Schuppen fühlten sich heiß und trocken
an.
"Ein kleines magisches Kräftemessen", seufzte Buonsensello.
"Irgendwer hatte versucht, mich aus dieser Höhle irgendwohin zu zerren,
mit Magie. Nur, er war nicht sehr geschickt dabei. Anstatt mich zu bannen
hat er meine wilden Kräfte entfesselt."
"Warum sollte Dich jemand aus dieser Höhle zerren - außer..."
Der Bischof verstummte entsetzt. Wieder ein Angriff auf seinen Freund.
Buonsensello nickte und bleckte leicht die Zähne.
"Richtig. Wer auch immer das war, er wollte mich töten. Aber
wie gesagt, er war wohl sehr unerfahren, denn ansonsten hätte er wissen
müssen, dass nur sehr, sehr wenige Magier in der Lage sind, uns Drachen
zu beschwören. Naja, wie auch immer. Mach doch nicht so ein Gesicht,
mein Freund."
Der Drache stupste den Bischof mit seiner Schnauze an.
"Mir geht es gut, allmählich kehren auch die Kräfte wieder
zurück."
"Und was ist mit dem Attentäter?"
Der Drache lachte leise.
"Ich glaube, um den brauchst Du Dich nicht mehr zu sorgen. Ich habe
sofort mit einem Abwehrzauber reagiert und ihn gebannt. Ich habe diese
Höhle nicht verlassen, aber ich konnte im Augenblick seines Angriffs
einen kleinen, abgedunkelten Raum erkennen, am Boden war ein Pentagramm
aufgemalt, das von Kerzen umrahmt wurde. Es war noch jemand anderes in
diesem Raum nebst dem Magier."
"Und was ist mit den beiden Personen?"
"Kannst Du Dir das nicht denken? Ich denke mal, dieser Magier ist
buchstäblich durch meine Magie verdampft. Von ihm dürfte nicht
einmal mehr sein Gewand noch irgendein Knochen übrig sein."
"Und die andere Person?" drängte der Bischof.
"Woher soll ich das wissen?" entgegnete der Drache beleidigt. "Ich
habe Dir doch gesagt, dass ich die Höhle nicht verlassen habe. Erzähle
Du mir lieber, was es bei Dir für Neuigkeiten gibt."
Pietro teilte seinem Freund alles mit, was er in den letzten Tagen
in Erfahrung gebracht hatte, insbesondere die schweren Anschuldigungen
gegen Pater Ponnicraccelone.
"Allmählich ergibt sich ein klares Bild", meinte der Drache.
"Dieser Ponnicraccelone lässt Kinder entführen, um damit
seine widernatürlichen Triebe zu befriedigen. Aber als ein Mann der
Kirche ist er natürlich über jeden Verdacht erhaben. Damit der
Verdacht von ihm vollends abgelenkt wird, erfindet er sozusagen einen Drachen,
der für ihn die Entführungen begeht."
"Ja, nur wie kann er die Menschen glauben machen, sie hätten
tatsächlich einen Drachen an den Tatorten gesehen?" fragte der Bischof.
Mit einer lässigen Bewegung zog Buonsensello seine Kralle durch
ein paar alte, abgeworfene Schuppen. "Du hast den kümmerlichen Dieb
vergessen, den ich erwischt habe. Er hat die Schuppen gestohlen. Ich schätze,
dieser Pater hat daraus ein Kostüm gebaut und er oder der Dieb hat
sich als Drache ausgegeben."
"Nun gut, aber dieser Piccollino kann es nicht gewesen sein", hielt
Pellegerò entgegen.
"Was macht Dich da so sicher?"
"In der Woche, in der man diese Witwe tot aufgefunden hat, saß
er in den Kerkern des Fürsten."
Buonsensello winkte ungeduldig ab. "Na, und? Dann haben sie eben
noch mindestens einen Komplizen. Das würde Sinn ergeben. Sie stehlen
meine Schuppen, treiben in einem Drachenkostüm ihr Unwesen und alle
Menschen denken, ich wäre der Schurke. Die Menschen beginnen
mich zu hassen und man versucht mich zu töten. Nur, was hat dieser
Ponnicraccelone davon, dass ich erschlagen werde? Er könnte dann niemals
mehr mit seiner Drachenhaut weitere Untaten begehen."
Der Bischof war aufgestanden und lief vor dem Drachen im Kreis herum.
Er dachte angestrengt nach.
"Nun", überlegte er, "dieser Pater ist von einem geradezu fanatischen
Hass auf Drachen besessen."
"Wieso hasst er meine Art so sehr, dass er mich, der ich ihn noch
nie zu Gesicht bekommen habe, töten lassen möchte und mit seinen
Taten unseren Ruf bei den Menschen derart zerstört?" erkundigte sich
Buonsensello aufgebracht. "Ich hätte nicht übel Lust, diesen
Mann aufzusuchen und mit ihm ein paar Worte zu wechseln." Wütend klatschte
der Schweif des Drachens auf einen kleinen Haufen Goldmünzen, die
daraufhin in alle Richtungen stieben.
"Ich kann es mir höchstens denken", seufzte der Bischof. "Man
erzählt sich, seine Eltern seien einst von Drachen gefressen worden."
"Das ist eine infame Lüge!" brüllte Buonsensello zornig.
"Kein Drache würde einen Menschen fressen. Vielleicht wurden
seine Eltern von einem Drachen getötet. Aber wenn, dann haben diese
Menschen das mit Sicherheit provoziert."
"Das spielt ja jetzt auch keine Rolle mehr, die Wahrheit werden
wir diesbezüglich wohl nie erfahren", winkte der Bischof ab. "Fest
steht, er hasst Euch Drachen bis aufs Blut. Daher wäre Dein Tod mit
Sicherheit eine Genugtuung für ihn. Aber Du hast schon Recht, mein
geschuppter Freund, da muss es noch mehr geben. Der Pater ist nicht dumm.
Er ist ehrgeizig. Aber was mag er nur letztendlich bezwecken?"
Der Drache schnaubte ein Rauchwölkchen aus seinen Nüstern.
"Ist das nicht offensichtlich? Überlege, mein Freund! Wenn
sich die Nachricht über meinen Tod bei den Menschen verbreiten würde,
dann würde jeder ihn für den Retter in der Not ansehen.
Man würde ihn ehren und das könnte er sich zunutze machen."
Pietro schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn.
"Natürlich! Nicht der Fürst hätte das Untier besiegt
und seine Leute damit von dieser Geißel befreit, sondern er. Mein
Freund Giuseppe würde einen enormen Gesichtsverlust erleiden."
"Nicht nur er. Auch Du", stellte Buonsensello fest. "Denn die Menschen
haben sich in ihrer Not auch an Dich gewandt und Du hast in ihren Augen
versagt."
"Du hast Recht. Vor allem, das ergibt noch viel mehr Sinn. Denn
was hätte Ponnicraccelone schon davon, wenn er den Fürsten diskreditiert?
Vielleicht strebt er danach, selbst Bischof zu werden?"
"Nun, wir wissen nicht, weshalb er das tut, was er tut", sagte Buonsensello
und erhob sich schwerfällig. "Aber wir müssen diesem Treiben
Einhalt gebieten."
"Nur wie?"
"Irgendwie auf frischer Tat ertappen. Wie der Pater gerade wieder
ein Kind entführen lässt oder Vieh abschlachtet und sich dabei
als mich ausgibt."
"Das ist leichter gesagt, als getan! Wie soll ich Ponnicraccelone
überwachen, geschweige denn ihm etwas nachweisen? Alleine schaffe
ich das nicht."
"Ich bin doch auch noch da", erinnerte ihn der Drache und knabberte
zärtlich an der Schulter des Bischofs.
"Du kannst Dich nicht draußen blicken lassen. Nein, wir brauchen
Unterstützung."
"Wie wär's denn mit Deinem Freund, dem Fürsten?"
"Giuseppe? Ja, ich habe auch schon an ihn gedacht."
"Aber?"
"Das Problem ist, er will nicht an Deine Existenz glauben."
Die Reptilienaugen glitzerten vergnügt.
"Das lass nur meine Sorge sein. Ich habe da schon eine Idee."
.
Unruhig wälzte sich der Fürst in seinem Bett herum. Er
war todmüde, doch er konnte keinen Schlaf finden.
Am Abend hatte ihn eine verstörende Nachricht erreicht: Contessa
Virghuena hatte ihm völlig aufgelöst wirres Zeug erzählt
vom Verschwinden des Drachentöters in einem Pentagramm.
Giuseppe wusste nicht, was er davon halten sollte. Nicht, dass ihm
dieser Mann besonders leid tat, zumal weithin bekannt war, dass die Ausübung
von Magie nun einmal mit Risiken für Leib und Leben verbunden war.
Ihn beunruhigte viel mehr die Tatsache, dass wieder jemand felsenfest davon
überzeugt gewesen war, dass ein Drache in Gubbio sein Unwesen treiben
würde.
Das andere war die Reaktion der Leute auf das Verschwinden dieses
Mannes. Man würde ihm, dem Fürsten, vorhalten, dass er sich zu
wenig um das Problem kümmern würde und die Contessa hatte, was
eigentlich auch zu erwarten war, durchblicken lassen, dass sie ihm die
Mitschuld an dem Tod des armen Murönchen gab. Schließlich
war er so geizig gewesen und hatte den edlen Ritter nicht gut genug ausgerüstet.
Wie sollte ein Drachentöter mit einer zu kleinen Lanze schließlich
auch gegen einen Drachen bestehen?
Giuseppe hatte schließlich die Contessa in die Obhut des Paters
Ponnicraccelone empfohlen. Er würde sich schon gut um Virghuena kümmern
in seiner Eigenschaft als Seelsorger.
Giuseppe seufzte schwer und zog sich die Decke über den Kopf.
Der Vollmond erhellte trotz der schweren Vorhänge das Schlafgemach.
Doch nun störte Giuseppes Schlummer nicht mehr das Mondlicht,
dafür drang ein Brausen an sein Ohr, als ob draußen ein schwerer
Sturm toben würde.
Irritiert schlug er die Decke zurück und zuckte zusammen, als
irgendetwas gegen die Fensterscheibe krachte. Es war beinahe so, als ob
jemand Kieselsteinchen an das Fenster schmeißen würde, ein absolut
absurder Gedanke. Wer sollte schließlich mitten in der Nacht etwas
von ihm wollen - einmal von der Contessa, der man so etwas durchaus zutrauen
konnte, abgesehen. Andererseits hatte er sein Schlafzimmer im obersten
Stockwerk, da war es schon sehr unwahrscheinlich, dass jemand das Fenster
traf.
Dennoch meinte er nun auch Stimmen zu hören und wieder gab
es dieses prasselnde Geräusch. Es wurden tatsächlich Kieselsteinchen
geworfen.
Gereizt öffnete er das Fenster und hörte gerade noch eine
kraftvolle Stimme sagen: "Die taugen alle nichts, sage ich Dir. Viel zu
klein. Jetzt werfe ich mal diesen Stein hier..."
Danach sah Giuseppe Sterne, doch es waren nicht die des mondhellen
Firmaments. Er taumelte benommen zurück und griff sich an den Kopf.
Das, was er in diesem Augenblick vor sich sah, war mit Sicherheit von dem
Treffer verursacht, denn es konnte einfach nicht wahr sein.
Vor der hellen Mondscheibe flatterte etwas Riesenhaftes. Eine vertraute
Stimme drang an seine Ohren: "Alles in Ordnung, mein Sohn? Verzeiht bitte,
aber mein Freund meinte es wohl ein wenig zu gut mit dem Aufwecken."
Giuseppe machte ein paar Schritte rückwärts. "Ich halluziniere",
sagte er nur.
"Nein, keineswegs", meinte die vertraute Stimme.
Entsetzt beobachtete der Fürst, wie sich von der gewaltigen
Form eine kleinere löste und sich anschickte, durch sein Fenster zu
klettern. Mit zitternden Händen entzündete Giuseppe ein paar
Lampen und sehr plötzlich ließ er sich auf einem Stuhl nieder.
"Eure Eminenz?" fragte er entgeistert.
"In Persona", lächelte der Bischof und deutete auf die schwebende
Gestalt vor dem Fenster.
"Bitte verzeiht meinen etwas theatralischen Auftritt. Aber es ist
von solcher Dringlichkeit, dass ich Euch bitte, mich unverzüglich
zu begleiten."
Fürsorglich reichte Pietro dem Fürsten seinen Mantel und
trat dann ans Fenster.
"Warte unten vor dem Tor auf uns, mein Freund. Ich komme gleich
zusammen mit Giuseppe hinunter."
Wie in Trance zog sich Giuseppe an und folgte dem Bischof ins Freie.
Das alles konnte doch nur ein Traum sein.
"Das ist also Dein Freund, sagst Du? Und den darf ich auch nicht
verzehren, was für eine Verschwendung! Aber vielleicht mal ein Stückchen
von ihm probieren?"
Die Stimme klang gleich einer großen Domglocke in Giuseppes
Ohren.
Beinahe reflexartig bekreuzigte er sich. "Allmächtiger. Ein
Drache. Ein leibhaftiger Drache."
"Na, Ihr ungläubiger Thomas?" sagte der Bischof verschmitzt.
"Ich habe Euch doch gesagt, Ihr solltet Euren Standpunkt noch einmal
überdenken. Nun seht ihr nicht nur einen Drachen, sondern in Kürze
werdet Ihr sogar auf seinem Rücken fliegen. Leider fehlt jetzt die
Zeit für Erklärungen, steigt einfach auf und haltet Euch gut
fest."
Als Giuseppe zögerte, fügte Pietro hinzu: "Und keine Sorge,
Buonsensello wird Euch nicht beißen. Das war nur der unvermeidliche
Drachenhumor."
So ganz schien der Fürst jedoch nicht davon überzeugt
zu sein, denn der Drache grollte leise und entblößte wie zufällig
sein furchteinflößendes Gebiss.
Völlig unbeeindruckt davon schwang sich Pietro auf Buonsensello
und deutete auf die freie Stelle zwischen ihm und einem der Zacken, die
gleich einem Kamm den gesamten Drachenrücken - zum Schwanz hin sich
verjüngend - hinab liefen.
"Am Besten setzt Ihr Euch vor mich hin, mein Freund."
Der Fürst war von der Gelenkigkeit des Bischofs, der doch schon
ein gewisses Alter erreicht hatte, sichtlich überrascht.
"Ihr habt gut reden, Eminenz. Ich bin schon froh, wenn ich in den
Sattel eines Pferdes steigen kann. Wie macht Ihr das bloß?"
"Glaubt mir, wenn man so viel Zeit wie ich mit einem Drachen verbracht
hat, dann entwickelt man ein gewisses Talent. Ihr stellt Euch aber auch
ungeschickt an!"
In der Tat war Giuseppe nie besonders sportlich gewesen und mit
Fünfzig war er auch nicht mehr so gelenkig wie früher. Eine gewisse
Leibesfülle kam noch erschwerend hinzu. Doch nach neun Versuchen schaffte
er es schließlich, wenngleich auch Buonsensello mit seiner Schnauzenspitze
und der Bischof mit seiner ausgestreckten Hand ein klein wenig nachhelfen
mussten.
Ein Ruck lief durch den mächtigen Drachenkörper, als sich
Buonsensello auf seine Pranken erhob. Er breitete seine gewaltigen Schwingen
aus und schwang sich kraftvoll in die mondhelle Nacht.
Der Fürst spürte den Wind mit der Macht einer geballten
Faust über sich hinweg streichen, die hohe Geschwindigkeit presste
ihn gegen den Bischof.
Er wollte etwas sagen, doch die Worte wurden ihm förmlich entrissen,
als Buonsensello ohne Vorwarnung in einen steilen Sinkflug überging.
Pietro jauchzte, er genoss jeden Augenblick auf dem Rücken
seines riesenhaften Freundes. Hier war er frei von all seinen Verpflichtungen
und doch fühlte er sich gerade da Gott weitaus näher und enger
verbunden als bei der Ausübung seines bischöflichen Amtes. Natürlich
war er an die fallenden und steigenden Bewegungen gewöhnt, doch aus
Rücksicht auf ihren Fluggast bedeutete er dem Drachen, auf das Beschreiben
eines Loopings zu verzichten.
"Na, wie fandest Du den Ritt, Mensch?" fragte der Drache, der sich
köstlich über die grünliche Gesichtsfarbe des Fürsten
amüsierte.
Der Flug hatte nicht sehr lange gedauert, doch der Fürst war
sichtlich erleichtert, wieder festen Boden unter seinen Füssen zu
spüren.
"Wie einen Traum. Ich kann es immer noch nicht glauben", antwortete
Giuseppe tapfer und wandte sich an den Bischof: "Eure Eminenz, ich glaube,
ich muss Euch Abbitte leisten."
"Wenn überhaupt, nicht mir, mein Sohn, sondern meinem Freund",
stellte Pellegerò richtig.
Giuseppe verbeugte sich vor dem Drachen: "Es tut mir leid, dass
ich an Eurer Existenz gezweifelt habe."
Buonsensello schnaubte ein kleines Rauchwölkchen und drückte
dem Fürsten spielerisch eine Krallenspitze gegen die Brust.
"Es sei Dir verziehen. Ich will Dir einen Vorschlag machen: Wenn
Du an mich glaubst, werde ich auch an Dich glauben. Einverstanden?"
"Natürlich", antwortete der Fürst und fuhr sich gedankenverloren
mit einer Hand durch sein Haar. Anscheinend waren Drachen auch noch Philosophen...
"Aber das stellt mich vor ein Problem. Denn da es nun offensichtlich
doch Drachen gibt, muss ich dem nachgehen, was die Leute alle behaupten.
Es wurde immer wieder ein Drache gesehen, kurz bevor man das Vieh abgeschlachtet
vorfand oder irgendein Kind spurlos verschwand."
"Du meinst, man hat immer nur das gesehen", entgegnete der Bischof
bitter und hielt Giuseppe ein paar abgefallene Drachenschuppen hin.
"Es deutet immer mehr darauf hin, dass irgendwer eine Art Drachenkostüm
gebaut hat, um Buonsensello Verbrechen anzulasten, die er niemals begehen
würde."
"Wer sollte aber so etwas tun?" fragte Giuseppe.
"Wir können es nicht mit Sicherheit sagen, da uns dazu die
Beweise fehlen", seufzte Pietro und verteilte die erste Runde von dem mitgebrachten
Wein.
"Deswegen haben wir Euch geholt, mein lieber Freund. Wir sind auf
Eure Unterstützung angewiesen. So wie es aussieht, haben der Pater
Ponnicraccelone und dieser Piccollino etwas damit zu tun."
Es wurde eine lange Nacht und so mancher Becher Wein wurde geleert,
als Drache und Bischof gemeinsam dem Fürsten mitteilten, was sie in
dieser Angelegenheit in Erfahrung gebracht hatten.
"Es scheint immer mehr, dass Pater Ponnicraccelone nach meiner Position
strebt. Dass er dabei auch den einen oder anderen Drachen vernichten kann,
kommt ihm natürlich sehr gelegen", erklärte der Bischof abschließend.
"Also, wenn ich richtig verstanden habe, verkleidet sich der Pater
oder irgendwer anderes aus seinem Umfeld als Drache, richtet dann vor allem
unter Schafherden wahre Blutbäder an und entführt auch das eine
oder andere Kind, um die Bauern gegen Eure Eminenz und auch gegen mich
aufzuwiegeln. Die Kinder jedoch dienen alleine der Befriedigung der perversen
Gelüste Ponnicraccelones, während eben das Viehabschlachten die
Angst vor dem Drachen schüren soll. Und offensichtlich wollte Piccollino
auch für sich noch einen Vorteil daraus ziehen, denn er hat ja versucht,
von mir Entschädigungen für angeblich getötetes Herdenvieh
zu fordern", fasste Giuseppe zusammen.
"Richtig", bekräftigte der Bischof und fügte hinzu: "Wobei
ich davon ausgehe, dass sie nicht nur einfach die Schafe sinnlos abschlachten,
dazu sind die beiden zu habgierig. Nein, ich vermute mal, dass sie das
eine oder andere Tier stehlen und das dann irgendwo weiterverkaufen. Ein
verschwundenes Schaf fällt nicht weiter auf in einem blutigen Haufen
von Knochen, Wolle und Fleisch."
Giuseppe nickte grimmig. "Das würde einen Sinn ergeben."
"Genau. Die Nichtsnutze verdienen dabei recht gut, auch an diesen
ominösen Spenden, mit denen angeblich die sogenannten Drachentöter
bezahlt werden. Der Pater kann ohne Gefahr seinen dunklen Gelüsten
frönen und sich nebenher bei der Obrigkeit beliebt machen und mit
der Rückendeckung von oben mir meinen Posten streitig machen. Obendrein
kann der versuchen, Buonsensello zu ermorden, entweder mittels aufgebrachter
Bauern oder irgendwelchen Drachentötern, die er von Zeit zu Zeit einstellt.
So wie diesen Murone", fügte Pietro hinzu.
"Ach, um den brauchen wir uns wohl nicht mehr sorgen. Die Contessa
Virghuena hat mir vor ein paar Stunden wirres Zeug erzählt von einem
Pentagramm und einer goldenen Klaue, die ihn da hineingezogen hat", meinte
Giuseppe leichthin.
"Oh, der war das also", schnaubte Buonsensello verächtlich.
"In der Tat, von diesem Tor dürfte nicht einmal mehr ein Häufchen
Asche zurückgeblieben sein."
In der Stimme des Drachens lag eine tiefe Befriedigung, doch sofort
schien ihn ein schlechtes Gewissen zu beschleichen, denn er sagte zu dem
Bischof:
"Mein Freund, Du musst mir glauben, ich habe niemals beabsichtigt,
ihn zu töten. Ich hoffe, Du weißt das. Doch mein Abwehrzauber
wirkt auf alle Angriffe dieser Art gleich. Ich habe da wirklich keinen
Einfluss darauf."
"Ist schon gut, edler Drache", sagte Giuseppe tröstend und
tätschelte das Kinn des Drachens. Es war das erste Mal in dieser Nacht,
dass er sich traute, abgesehen von dem Ritt auf dem Drachen, Buonsensello
zu berühren und er empfand das Gefühl der samtigen Schuppen als
sehr angenehm.
"Ich denke mal nicht, dass jemand, der klar bei Verstand ist, um
diesen Murone trauert. Ich halte ihn immer noch für einen Hochstapler."
Doch der Drache schenkte Giuseppes Worten kaum Beachtung, er hatte
seinen Blick starr auf seinen Freund, den Bischof gerichtet. Dessen Absolution
war es, was er wollte.
Pietro streckte seinerseits die Hand nach der Drachenschnauze aus.
"Es ist schon gut, mein Freund", sagte er leise. "Auch wenn ich
seinen Tod nicht billige. Aber er hat sein Schicksal selbst herausgefordert,
indem er sich entschlossen hatte, den Weg der Magie zu beschreiten. Nicht
umsonst steht in der Heiligen Schrift geschrieben, dass es Menschen nicht
zusteht, sich mit diesen okkulten Künsten zu befassen. Magie sollte
Euch Drachen vorenthalten bleiben, denn nur Ihr besitzt die Weisheit und
die erforderliche Kraft, damit umzugehen. Ego te absolvo."
Zufrieden setzte sich der Drache zurück, seinen Schweif um die
Hinterläufe gewickelt. Er streckte ein wenig seine Flügel und
fragte mit glitzernden Augen voller Tatendrang:
"Jetzt, wo eigentlich alles geklärt ist, was machen wir? Ich
könnte losfliegen und dem Pater in seiner Kirche einheizen. Diesen
Piccollino..."
"Nein! Halte ein, mein Freund!" rief der Bischof erschrocken aus.
Er kannte Buonsensello gut genug um zu wissen, dass er diese Worte
eben ernst gemeint hatte.
"Es steht uns nicht zu, über das Leben dieser Menschen zu richten.
Denke an das fünfte Gebot: Du sollst nicht töten. Nein,
wir müssten sie auf frischer Tat ertappen und der Justiz überantworten."
"Pah!" schnaubte der Drache. "Was Du nur immer hast! Wer würde
diese Nichtsnutze denn schon vermissen? Ich könnte dafür sorgen,
dass von ihnen nicht mehr übrig bleibt als von diesem Murone."
Kleine Flämmchen züngelten aus den Drachennüstern
und Giuseppe rückte erschrocken ein wenig weg von Buonsensello. Der
Bischof war aufgestanden und hatte seine Hand gehoben.
"Versündige Dich nicht, mein Freund. Eben noch wolltest Du
noch Gottes Vergebung und nun möchtest Du willentlich Menschen töten.
Schwöre mir, dass, egal, was passiert, Du ihr - wenngleich auch nutzloses
- Leben schonen wirst."
"Und wenn ich mein oder Euer beider Leben verteidigen muss?" hielt
Buonsensello hitzig dagegen.
Der Bischof ließ sich nicht beirren. "Sie bleiben am Leben",
forderte er. "Buonsensello, bitte sei vernünftig. Möchtest Du
Dich wirklich vor Gott versündigen? Das sind diese Menschen gewiss
nicht wert."
Buonsensello senkt knurrend den Kopf.
"Also gut, ich schwöre, dass ich keinerlei Leben nehmen werde."
"Seid unbesorgt", schaltete sich Giuseppe ein. "Wenn wir die beiden
Übeltäter auf frischer Tat ertappt haben, dann werden sie in
Peruggia vor Gericht gestellt. Sie werden mit Sicherheit ihre gerechte
Strafe bekommen."
Die Augen des Drachens funkelten: "Ich glaube, ich habe eben doch
klar gesagt, dass ich diese Menschen nicht töten werde. Dabei wollen
wir es belassen. Aber ich möchte nun eine Alternative von Euch hören,
nachdem Ihr ja meinen Lösungsvorschlag nicht akzeptiert."
"Wo könnten wir sie wann auf frischer Tat ertappen?" sinnierte
der Bischof.
"Am Besten wäre es, wir würden sie beim Vieh auf einer
Weide erwischen. Da sie wohl nur nachts zuschlagen, würden auch keine
unbeteiligten Menschen gefährdet werden. Andererseits, ich kann nicht
die gesamte Stadtwache an allen Viehweiden postieren."
"Das ist allerdings richtig", sagte Pietro.
"Nur, welche Möglichkeiten haben wir noch?"
"Selbst wenn wir genügend Leute zusammenbrächten, ich
wüsste nicht, wo wir uns verstecken sollten. Sie dürften uns
nicht bemerken und wir müssen aber trotzdem nahe genug bei ihnen sein,
um sie zu überwältigen", gab der Fürst zu bedenken.
"Weshalb schickt Ihr nicht einfach den Wolf im Schafspelz?" ergriff
Buonsensello das Wort.
"Was meint Ihr damit?" fragte Giuseppe und auch der Bischof konnte
sich momentan keinen Reim aus dieser Wortmeldung machen.
Der Drache schüttelte den Kopf und brummte: "Zweibeiner! Du
scheinst genauso schwer von Begriff wie mein Freund hier. Denke doch einmal
ganz genau nach. Was ist denn ein Wolf im Schafspelz?"
Dem Bischof dämmerte es: "Meinst Du etwa...?"
"Genau", sagte der Drache zufrieden und klopfte mit seiner Schweifspitze
auf den Boden.
"Wenn sich die Bösewichte in eine Drachenhaut hüllen,
warum solltet Ihr Euch dann nicht als Schafe verkleiden. Ihr mischt Euch
unter die Herde und wenn die Schurken ihre Untaten begehen wollen, dann
zeigt Ihr Euch. Ich könnte mich versteckt halten für den Fall,
dass sie fliehen."
"Dann bräuchten wir nur noch eine geeignete Weide", stellte
Giuseppe fest.
"Und einen Viehbesitzer, der uns seine Tiere zur Verfügung
stellt."
"Weideflächen sind kein Problem, die Kirche hat sehr viele
Flächen in ihrem Besitz. Aber wie wäre es mit Euren Tieren, mein
Sohn?"
Der Fürst schüttelte den Kopf: "Ich habe leider keine
Schafe. Meine Familie hat die Schafszucht schon vor Generationen aufgegeben.
Ein paar Ziegen und einige Kühe, das könnte ich anbieten. Die
Frage ist jedoch, ob diese Art von Vieh für Pater Ponnicraccelone
noch interessant ist, denn vor einigen Wochen wurden ein paar meiner eigenen
Ziegen Opfer seines Treibens. Es muss doch einen Grund dafür geben,
dass er und seine Spießgesellen sich bisher immer nur an Schafen
vergriffen haben."
"Ich denke mal, das liegt daran, dass ein totes Schaf oder eben
auch eine Ziege von einem Mann ohne weiteres weggebracht werden kann. Kühe
sind doch zu groß und Pferde gibt es eigentlich nur auf dem Gestüt
von Piccollino", meinte der Bischof.
"Dann scheiden also meine Kühe aus", resümierte Giuseppe.
Der Drache stieß einen langgezogenen Seufzer aus.
"Wie schade", meinte er traurig. "Dabei schmecken Kühe so lecker."
"An den Schafen sollte es nicht scheitern", versprach Pietro, "wenn
Ihr auch noch Eure Ziegen zur Verfügung stellt. Denn ich denke mal,
für unsere Staturen wären Ziegenkostüme doch besser geeignet."
Der Morgen graute bereits, als sich Fürst und Bischof zu Fuß
auf den Nachhauseweg machten. Sie hatten ihren Plan detailliert ausgearbeitet
und jeder von ihnen wusste, was er zu tun hatte. Nun ging es an die Ausführung.
Mit ein wenig Glück und Gottes Segen würde dieser Landfleck bald
von seiner Geißel erlöst sein.
.
Das Gotteshaus war an diesem Sonntag besonders gut gefüllt.
Die Nachricht, dass dem Drachen erneut ein Mensch zum Opfer gefallen
war, hatte sich wie ein Lauffeuer in Gubbio verbreitet. Allerdings wusste
niemand so recht, wer genau von der Bestie getötet worden war. Eine
Antwort auf diese Frage erhofften sich die Menschen von Pater Ponnicraccelone,
der in diesen Wochen der Not beinahe als eine Art Messias verehrt wurde.
Hatte doch schließlich die weltliche Macht, namentlich der Fürst,
aber auch der König im fernen Rom, versagt. Auch dem Bischof traute
man nicht mehr. Für die Nöte der kleinen Leute schien er sich
nicht zu interessieren und er tat offensichtlich alles, dem guten, ja nahezu
heiligen Pater Ponnicraccelone Steine in den Weg zu legen. Überhaupt
wäre dieser Mann der bessere Bischof, wenn nicht gleich ein hoch qualifizierter
Kardinal.
"...Und siehe, ein großer, grausamer Drache, der hatte sieben
Häupter und zehn Hörner und auf seinen Häuptern sieben Kronen,
und sein Schwanz fegte den dritten Teil der Sterne des Himmels hinweg und
warf sie auf die Erde. Und der Drache trat vor die Frau, die gebären
sollte, damit er, wenn sie geboren hätte, ihr Kind fräße.
Meine Brüder und Schwestern! Unser Prophet Johannes hat in der Offenbarung
im zwölften Kapitel beschrieben, was uns nun heimsucht. Der Beginn
der Apokalypse!"
Der Pater genoss das aufgeregte Gemurmel in den Kirchenbänken
während seiner dramatischen Kunstpause und fuhr kurz darauf fort:
"Wieder ist ein Geschöpf Gottes dem Teufel zum Opfer gefallen,
doch diesmal wart es Ihr, ja, Ihr, die den von Gott persönlich
auserwählten Retter verraten habt. Weil Euer Fürst und
- ja, ich schäme mich wahrhaft, dies zu sagen - der Bischof, wohl
angestachelt durch eben diesen Fürsten - dem edlen Ritter Murone die
Unterstützung in dem Kampf gegen den Drachen, gegen Satan daselbst,
versagt hat. Anstatt ihm ein kampferprobtes Ross und zum Drachentöten
geeignete Waffen zu reichen, zwangen sie den Unglücklichen, von Gottes
Pfaden abzuweichen, um mit Hilfe der Hexerei das Böse zu besiegen.
Ein Unterfangen, das natürlich zum Scheitern verurteilt gewesen ist.
Meine Brüder und Schwestern! Ritter Murone, der stolze Drachentöter,
hat, wie Jesus Christus, sein Leben und sogar seine Seele für Euch
und Eure Kinder geopfert. Lasset uns daher beten und die Herzen erheben..."
Zufrieden beobachtete Ponnicraccelone, wie sich die Kirchgänger
alle bekreuzigten und gemeinsam mit ihm das dem sogenannten Märtyrer
gewidmete Gebet murmelten. In ihren Gesichtern konnte er vielfach Entsetzen
und Furcht erkennen.
Mit einer ausladenden Geste dankte der Pater Gott und entließ
die Menschen mit den Worten:
"Gehet nun hin in Frieden und seid ohne Furcht. Die gute Contessa
Virghuena hat sich bereit erklärt, vor der Kirche Eure Spenden für
den Kampf gegen den Drachen entgegen zu nehmen. Sie war Augenzeuge des
schrecklichen Todes unseres heldenhaften Ritters, dennoch hat Gott ihr
die innere Stärke gegeben, sich für den Kampf gegen das Böse
an unserer Seite einzusetzen."
.
Nach der flammenden Predigt war Ponnicraccelones Kehle rau wie Pergamentpapier
und er trank durstig den Kelch leer, bevor er sich zufrieden zurück
lehnte und Piccollino quer über den Tisch hinweg anstarrte. Bisher
hatte dieser noch nie eine Entscheidung des Paters in Frage gestellt.
"Warum ich Deine Mutter, die Contessa, bei mir aufgenommen habe?
Aus christlicher Nächstenliebe, natürlich. Wie würdest Du
Dich fühlen, wenn vor Deinen Augen ein Freund verschwindet?"
Doch Piccollinos Mine verriet nur allzu deutlich, dass dieser den
Worten Ponnicraccelones keinerlei Glauben schenkte. Daher fügte der
Pater lächelnd hinzu:
"Vertrau mir, ich weiß schon, was ich tue. Die gute Virghuena
wird sich für uns schon als nützlich erweisen, da bin ich sicher."
"Und falls nicht?" fragte Piccollino zweifelnd. "Müssen wir
sie wirklich einweihen? Muss sie wirklich heute Nacht dabei sein, wenn
der Drache erneut zuschlägt?"
"Nun, momentan sammelt sie gerade das Geld für einen neuen
Drachentöter. Nichts öffnet den Beutel der Menschen lieber als
eine so Leid geprüfte, junge Frau aus dem Adel. Heute Abend wird sie
uns gute Dienste leisten. Die Viehweide ist sehr groß und unübersichtlich,
sie wird von einem dichten Waldstück begrenzt. Aber auf der anderen
Seite grenzt sie an das bischöfliche Anwesen. Mich wundert nur, dass
Cercandore neben dem Weinbau sich nun dem lieben Vieh widmet und vor allem,
dass er ausgerechnet Weideland vom Bischof gepachtet hat, wo doch dieser
seinen Wein als Messwein verschmäht hat. Jedenfalls, die Contessa
könnte nützlich werden, falls irgendwer aus dem bischöflichen
Anwesen überraschend auftauchen sollte. Man kennt sie und niemand
wird Verdacht schöpfen. Schließlich ist sie nach den ganzen
Ereignissen verwirrt und hat sich in die Stille der Natur zum Nachdenken
zurückgezogen."
"Mir gefällt der ganze Plan nicht", knurrte Piccollino. "Eigentlich
haben wir doch den Menschen schon genügend Geld abgeknüpft. Die
letzten Schafe haben auf dem Viehmarkt in Florenz auch einiges eingebracht.
Die Position des Fürsten und auch die des Bischofs ist wacklig, selbst
Rom wurde schon hellhörig. Nun ausgerechnet den Drachen zu unserem
Gegner zu schicken, das erscheint mir äußerst wagemutig, um
nicht zu sagen tollkühn!"
"Aber genau darum geht es ja, mein lieber Piccollino. Stell Dir
die Reaktion vor, wenn der Drache das Vieh abschlachtet, das der Cercandore
der kirchlichen Obhut anvertraut hat. Damit wäre für den letzten
Bauerntölpel klar, dass weder Bischof noch Fürst in der Lage
sind, das Drachenproblem zu lösen. Und wir werden als strahlende Retter
in der Note erscheinen und..."
Ponnicraccelone brach abrupt ab, als die Contessa Virghuena den Raum
betrat.
"Hallo, Ihr Lieben!"
Sie warf dem Pater den prall gefüllten Klingelbeutel in den
Schoß und setzte sich zu den beiden Männern.
Piccollino reichte ihr auch einen Kelch mit Wein, den sie dankbar
leerte.
Diese Dankbarkeit empfand sie jedoch hauptsächlich für
den Pater, der ihr in diesen düsteren Stunden das Gefühl von
Geborgenheit und Stärke vermittelte. Sie hatte den Ritter Murone lieb
gewonnen und nun war ihr Freund von dieser Bestie in den Schlund der Hölle
gerissen worden. Schuld daran war nur dieser Geizhals, der Fürst,
der sogar den Bischof angestachelt hatte mit seiner vernunftorientierten
Denkweise, wie dieser es selbst auszudrücken pflegte. Vernunft, welch
ein Unsinn. Als Contessa war sie eine subtilere Vorgehensweise gewöhnt:
Man besprach sich mit Menschen, die Einfluss hatten und knüpfte Kontakte
in die höchsten Reihen. Irgendwann hatte man einen Konsens erzielt
und es würden genau jene einflussreichen Personen sein, die dann genügend
Druck ausüben konnten auf irgendwelche Menschen im Hintergrund, die
die Arbeit letztlich erledigen würden. Diese Menschen würden
jedoch niemals auf die Idee kommen, etwas in Frage zu stellen, was zuvor
beschlossen worden war.
Dieser Fürst mit seinem aufklärerischen Gedankengut, das
sich ganz den Naturwissenschaften verschrieben hatte, passte damit so gar
nicht in ihre Weltanschauung: Hinterfragen und Forschen. So konnte man
doch keine Probleme lösen, es war doch nur allzu deutlich zu sehen:
Vieh wurde abgeschlachtet und Kinder entführt und nun auch der gute
Ritter Murone.
Und der Bischof war, obwohl er als Mann der Kirche eigentlich gegen
diese Form der Ketzerei mit aller Härte vorgehen hätte müssen,
auch noch empfänglich für das schleichende Gift, das der Fürst
verbreitete.
Sie musste den letzten Gedanken laut ausgesprochen haben, denn Ponnicraccelone
tätschelte gütig lächelnd ihre zitternde Hand.
"Keine Sorge, meine Liebe. Gottes Zorn wird auch noch der Bischof
zu spüren bekommen. Schon früher als er zu erahnen vermag."
Daraufhin hielt Ponnicraccelone die Predigt seines Lebens, in der
er in seiner Eigenschaft als Pater und Lehrer Piccollinos immer wieder
darauf hinwies, wie glücklich sich die Contessa schätzen konnte,
dass ausgerechnet ihr Sohn von Gott für diese Aufgabe mit ausgewählt
wurde, Seite an Seite mit dem unglücklicherweise verschiedenen edlen
Ritter Murone zu kämpfen.
.
Das Prasseln des Landregens und das Rauschen der Wipfel im Wind
verschluckten nahezu jedes Geräusch. Ihre Augen hatten sich relativ
schnell an die Dunkelheit gewöhnt, als sie unter einem Baum stand
und Ausschau hielt.
Das Gebäude im Hintergrund lag dunkel und still an einen Hügel
geschmiegt. Beinahe wie ein schlafender Drache, schoss es ihr durch
den Kopf.
Ein gelegentliches Blöcken und Meckern durchdrang den Regen,
das Vieh graste und schlief friedlich. Von ihrem Sohn war nichts zu sehen
und auch nicht von Pater Ponnicraccelone - geschweige denn von dem Ungeheuer,
das sie diese Nacht wieder zum Leben erwecken wollten.
Contessa Virghuena war dankbar dafür, dass sie der Pater zum
Wacheschieben abgestellt hatte. Auf diese Weise war sie mit sich und ihren
Gedanken alleine. Der Geruch der regenschweren Erde und des nassen Grases
entspannte sie.
Natürlich war es für sie ein gewaltiger Schock gewesen,
als sie erfahren hatte, dass ihr über alles geliebter Sohn eine so
tragende Rolle bei den rätselhaften Vorgängen der letzten Monate
hatte. Allmählich kamen ihr auch Zweifel, ob nicht vielleicht der
Fürst doch damit Recht hatte, ihren Sprössling des Betruges zu
bezichtigen.
Andererseits, der Pater als Murones Lehrer und als Mann der Kirche
würde schon wissen, was vor den Augen des Herren richtig war. Abgesehen
davon war dieser ein Verfechter der alten Ordnung, von Werten und antiken
Herrschaftsstrukturen. Wie also könnte das, was sie taten, moralisch
bedenklich sein? Schließlich war es nur Vieh, das geschlachtet wurde.
Die Kinder, die der Drache angeblich raubte, stammten allesamt aus ärmlichen
Verhältnissen und hätten keinerlei Aussicht auf eine glückliche
Zukunft gehabt. Ponnicraccelone ließ sie alle in ein weiter entferntes
Kloster bringen, wo man sich gut um sie sorgte und sie im Namen Christi
erzog.
Zumindest hatte ihr das der Pater so erzählt und sie sah keinerlei
Anlass, an seinen Worten zu zweifeln.
Virghuena war so sehr in ihren Gedanken versunken, wohl hatte sie
auch das gleichmäßige Rauschen und Prasseln ein wenig schläfrig
gemacht, dass sie das schwarze Etwas, das sich langsam auf sie zu bewegt
hatte, erst im allerletzten Augenblick bemerkt hatte.
"Määäh", machte es und gerade, als ihr bewusst wurde,
dass dieses Schaf sich irgendwie aus der Umzäunung hatte befreien
können, war es schon wieder verschwunden.
Dafür sah sie nun etwas Riesenhaftes, das sich langsam an die
grasende Herde heran schob.
Nun geht es also los, dachte sie und konzentrierte sich auf
ihre Aufgabe.
Ihre Augen durchdrangen die Dunkelheit, aber niemand war zu sehen.
Wer würde sich auch um diese nächtliche Zeit und bei diesem Wetter
freiwillig ins Freie begeben. Links und rechts ließ sie ihre Blicke
schweifen, sie prüfte die Fläche, die vor ihr lag und drehte
sich auch immer wieder um, doch nach oben blickte sie nicht.
Buonsensello war froh um den Regen, der das Rauschen seiner schlagenden
Flügel dämpfte. Er spürte nicht, wie die Tropfen gegen ihn
schlugen und an seinem Leib abperlten, zu sehr konzentrierte er sich. Es
war nicht einfach, ein Trugbild aufrecht zu erhalten, doch nun hatte es
seine Aufgabe erfüllt und er konnte seinem Freund die Bilder aus der
Sicht des Schafes übermitteln.
Piccollino hatte er bereits vorher schon ausgemacht, im Wald verborgen,
und nun die Contessa.
Schließlich entdeckte er einen kriechenden Schemen. Das musste
wohl der Pater sein, der in der Drachenhaut steckte. Wie gerne hätte
Buonsensello einen versengenden Feuerstrahl nach unten geschickt, doch
er hatte sein Ehrenwort gegeben, die Leben dieser Spitzbuben zu schonen.
Der Drache ließ seinen Blick über die Weide streifen
und schnaubte überrascht auf, als er eine weitere Gestalt sah, die
sich ganz langsam vorwärts bewegte. Sie näherte sich den beiden
großen Ziegenböcken, die so ziemlich in der Mitte der Weidefläche
waren, ein wenig abseits von der übrigen Herde. Buonsensellos scharfem
Blick entging das flüchtige Aufblitzen von Metall nicht.
Der eine Bock bewegte sich ein wenig schwerfällig zu dem anderen
heran.
"Ich halte das nicht mehr aus", flüsterte Giuseppe. "Der Gestank
des nassen Ziegenfells und diese stickige Hitze, ich kann kaum atmen!"
"Nur Geduld, mein Sohn. Es geht gleich los. Buonsensello ist auch
schon in der Luft. Ich warte nur noch auf sein Zeichen, damit... Warte!"
Der andere Ziegenbock, in dem der Bischof steckte, reckte seinen
Kopf, soweit es ihm möglich war.
"Was ist, Eure Eminenz?" fragte Giuseppe.
"Schhhh! Still!"
Schließlich flüsterte er: "Es geht los. Ponnicraccelone
steckt in der Drachenhaut und Piccollino wird sich wohl in seiner Deckung
an die Schafe heranschleichen. Aber Ihr werdet es nicht glauben, die Contessa
steht Wache."
"Die Contessa Virghuena?" entfuhr es Giuseppe ein wenig zu laut.
"Seid doch still", herrschte der eine Bock den anderen an.
Aber es war nichts zu hören als der Regen, das Rupfen des Grases
und das gelegentliche Grunzen und Schmatzen des Viehs.
"Ich hoffe, dass die Leute Eurer Stadtwache auf ihren Posten sind,
so kurzfristig wie Ihr sie in unsere Pläne eingeweiht habt. Also,
sobald das erste Schaf blöckt, springen wir aus unserer Verkleidung
und überwältigen..."
Plötzlich war die Welt um Giuseppe und seinem Freund herum in
Aufruhr. Sie waren kurzzeitig in gleißende Helligkeit getaucht und
spürten Hitze von außen durch das Ziegenfell dringen. Schreie
und Meckern und Blöcken zerrissen die Stille der Regennacht.
"Verdammt!" rief Giuseppe und riss sich die Verkleidung herunter.
Der Bischof schälte sich nur einen Sekundenbruchteil später aus
seiner Haut.
"Er wollte Euch umbringen!"
Die Drachenstimme donnerte durch die Nacht. Unter seinen Klauen
zuckte ein Mensch, als sich der Drache kraftvoll vom Boden abstieß.
"Piccollino! Der Drache! Sie fliehen, haltet sie!" rief der Fürst
in die Nacht.
Es herrschte Chaos. Das halbe Dutzend Männer der Stadtwache
war nun ebenfalls aus ihren Tarnungen gesprungen und setzten Piccollino
nach, der in panischer Angst vor dem echten Drachen davon lief - genau
auf das Versteck der Contessa zu.
Pater Ponnicraccelone war durch das schwere Schuppenkleid sehr in
seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Vor allem aber konnte er sich
nicht aus eigener Kraft aus diesem Kostüm schälen.
"Du gestattest, dass ich mir meine Schuppen zurückhole!"
Der Pater schrie auf in Angst, als sichelartige Krallen durch die
Drachenhaut schnitten und den Menschen entblößten gerade so,
als würde man den Panzer eines Hummers lösen, um an dessen zartes
Fleisch zu gelangen.
Dass dabei die Krallenspitzen gelegentlich das Gewand und die darunter
liegende Haut des Paters ritzten, war unvermeidlich.
Schließlich fühlte sich Ponnicraccelone grob gepackt
und in die Luft gehoben.
Die beiden Festgenommenen leisteten keinen Widerstand und boten im
strömenden Regen einen erbärmlichen Anblick.
Verhältnismäßig behutsam setzte der Drache den Pater
bei ihnen ab und warf dem Bischof einen kurzen Blick zu. "Es ist sonst
niemand mehr da."
Pietro nickte kurz und musterte die Gefangenen.
"Haben wir Euch also zu guter Letzt erwischt", sagte er zufrieden.
Giuseppe hingegen war zu dem immer noch zuckenden, auf dem Bauch
liegenden Mann herangetreten. Der Drache hatte ihn schwer verwundet, dennoch
hielt der Mensch den Dolch immer noch fest in seiner Hand.
Vorsichtig drehte der Fürst den Verwundeten auf den Rücken
und prallte entsetzt zurück.
"Du? Aber... warum?" keuchte er.
Obwohl der Mann im Sterben lag, lag ein gewisser Trotz in seiner
Stimme, als er antwortete.
"Es geht nicht gegen Euch persönlich, Herr. Aber ich wollte
mehr aus meinem Leben machen. Als Euer Diener und Mundschenk hätte
ich keine Chance gehabt für einen Aufstieg. Aber Pater Ponnicraccelone
hatte mir eine Perspektive gegeben, zumal er sehr einflussreich ist. Ich
hätte bloß Euch und den Bischof töten müssen und ich
wäre ein gemachter Mann gewesen."
Er hustete einen Schwall Blut, das vor seinem Mund schäumte.
"Ich... ich hätte jeden getötet... ich..."
Sièvveres Körper zuckte noch einmal und lag schließlich
still.
Angewidert wandte sich der Fürst ab und ging zu seinem Freund,
der bei den anderen Gefangenen stand. Offensichtlich kam es dort gerade
zu einem Tumult.
.
"Das war alles die Idee vom Pater, das müsst Ihr mir glauben",
winselte Piccollino und wand sich unter dem eisernen Griff seines Wächters.
"Er und meine Mutter wollten..."
"Sei still", zischte Ponnicraccelone.
Er hatte erstaunlich schnell seine Fassung wiedererlangt und mit
wohl gewählten Worten begann er zu sprechen:
"Ich möchte nicht abstreiten, dass wir einen Angriff auf Vieh
des alten Cercandore geplant hatten, der dann erneut dem Drachen zugeschrieben
worden wäre. Aber Ihr müsst mir glauben, mein Schüler, der
gute Piccollino, und ich, wir handelten ausschließlich auf höchsten
Befehl."
"Ach ja?" fragte Giuseppe unwillig.
"Und wer gab den Befehl? Vielleicht Gott höchstpersönlich?
Oder der Papst?"
"Na, wer wohl", erwiderte der Pater spöttisch. "Die Contessa."
"Das ist gelogen!" begehrte Virghuena auf.
"Eure Eminenz, mein Fürst, Ihr kennt mich doch schon länger.
Ich würde niemals..."
"Ruhe!"
Alle Augen waren plötzlich auf den Drachen gerichtet, aus dessen
Nüstern kleine Funken stoben.
"Euer Gezeter geht mir auf die Nerven."
Buonsensello wandte sich an den Bischof: "Bitte, mein Freund, lass
es mich auf meine Art lösen. Ein kurzer Happs und sie sind alle weg."
Pietro schüttelte den Kopf. "Du weißt, dass das nicht
geht. Nein, die Richter in Peruggia werden die Wahrheit schon herausfinden."
"Wie Du willst", grollte der Drache. "Ich aber bin der Meinung,
dass wir uns das sparen könnten. Lasse mich nur einen Augenblick mit
ihnen alleine."
"Er hat Recht", schaltete sich Giuseppe in die Diskussion ein und
flüsterte etwas dem Bischof zu.
Als dieser schließlich nickte, wandte sich der Fürst
an die Wache: "Lasst uns mit dem Gesindel alleine. Der Drache sollte als
Bewachung ausreichen. Bringt meinen Diener weg und verbrennt die Leiche
des Verräters."
"Und nun will ich die Wahrheit hören", sagte Giuseppe drohend
und blickte die Contessa an.
"Ich schwöre, ich wusste bis heute von nichts. Ich habe dem
Pater vertraut, ich...", schluchzte Virghuena.
Verächtlich winkte der Fürst ab und warf einen Blick auf
Buonsensello, der sich bequem hingelegt hatte und scheinbar gelangweilt
auf die Gefangenen starrte.
"Und Du, Piccollino? Immerhin hast Du schon einmal versucht, mich
zu hintergehen."
"Herr, ich schwöre es, ich bin unschuldig. Wie es mein Lehrer,
Pater Ponnicraccelone schon gesagt hat, das war alles die Idee meiner Mutter.
Sie wollte damit ihre Position als Contessa festigen. Aber ich bereue aufrichtig,
dass ich von Euch Schadensersatz für Schafe erschleichen wollte, die
ich niemals besessen hatte. Das war eine Dummheit und ich habe für
diese Sünde schon in Eurem Kerker gebüßt. Ich bitte um
Gnade..."
Buonsensello stieß bei diesen Worten ein verächtliches
Schnauben aus.
"Du bist sicher, mein lieber Piccollino, dass es tatsächlich
die Contessa war, die Dich und auch den gottesfürchtigen Pater dazu
angestiftet hat? Bist Du Dir darüber bewusst, welche Tragweite Deine
Worte vor Gericht haben?"
Piccollino nickte stumm, vermied dabei jedoch jeden Blickkontakt
mit Virghuena.
"Du weißt, dass Du damit Deine eigene Mutter an den Galgen
bringst?"
"Ja, Herr."
"Und doch bleibst Du bei Deiner Aussage?" bohrte Giuseppe nach.
"Ja, Herr. Meine Mutter hat meinen Lehrer und mich damit beauftragt,
da sie Euch und auch den Bischof stürzen wollte..."
"Das ist eine infame Lüge!"
Selbst im Dunkel der Nacht konnte man die Zornesröte in Virghuenas
Gesicht erkennen. Piccollino senkte seinen Kopf, sein Schluchzen wurde
von dem Regenprasseln verschluckt.
Der Bischof schob seine Hand unter das Kinn des Angeklagten und
hob dessen Kopf leicht an. Er blickte Piccollino schweigend an und trat
dann einige Schritte zurück, so dass der Drache direkten Blickkontakt
mit dem Menschen halten konnte.
"Weißt Du, mein fehlgeleiteter Sohn", sprach Pellegerò
bedächtig, "dass Du Vieh abgeschlachtet und Kinder entführt hast,
das sind verwerfliche Taten, für die Du Dich vor einem weltlichen
Gericht verantworten musst. Doch egal, wie da das Urteil ausfällt,
wenn Du aufrichtig Deine Tat bereust, dann würdest Du trotz dieser
Verbrechen vielleicht Gnade vor den Augen unseres Herren finden, nachdem
Du auf dieser Welt ausreichend dafür gebüßt hast. Aber
der Allmächtige wird Dir mit Sicherheit nicht das einzig Gute
verzeihen, das Du hier und jetzt nicht getan hast. Daher überdenke
noch einmal Deine Antwort. Ist Contessa Virghuena diejenige, die dieses
Komplott geschmiedet hat?"
"Sie ist es, Eure Eminenz", flüsterte Piccollino.
"Und ehe der Hahn zum dritten Male kräht, wirst Du mich verraten",
zitierte der Bischof die heilige Schrift und nickte dem Drachen zu.
"Es war nicht nur Judas, der Jesus verraten hatte. Auch Petrus,
sein bester Freund, verleugnete ihn. Lebe fortan mit der Schande, Deine
eigene Mutter, die unschuldig ist, verraten zu haben."
Ein herzzereißender Schrei gellte durch die Nacht, als Piccollino
vollständig von dem Drachenfeuer eingehüllt wurde. Niemand machte
Anstalten, ihm zu Hilfe zu kommen, alle waren wie gebannt vor Entsetzen.
Die Form des Menschen schien in den Flammen zu verschwimmen und
die Schreie wurden immer schriller, bis sie schließlich in eine Art
Krächzen übergingen. Doch Piccollino blieb auf wundersame Weise
am Leben, denn Buonsensello hatte niemals die Absicht gehabt, den Menschen
mit seinem Feueratem zu töten.
Ungläubig rieb sich der Fürst die Augen, als er an die
Stelle blickte, an der vor einigen Augenblicken noch Piccollino als lebende
Fackel gestanden hatte.
"Unser Feuer ist nicht immer heiß und verzehrend", erklärte
Buonsensello.
"Aber, wie... was?" fragte Giuseppe und warf dem Bischof einen verzweifelten
Blick zu.
"Die Wege des Herren sind für uns Sterbliche oft nicht zu verstehen,
vor allem, wenn man sich in Gesellschaft eines Drachens befindet", sagte
Pietro schmunzelnd.
"Was denn! Ich habe ihn nicht getötet! Ich habe also mein Wort
nicht gebrochen", verteidigte sich Buonsensello.
"Aber nicht doch, mein Freund, ich tadle Dich ja nicht. Und was
meint Ihr, mein lieber Giuseppe. Fandet Ihr nicht auch, dass der gute,
liebe Piccollino immer schon nichts weiter als ein aufgeblasener Kapaun
gewesen ist?"
"Passt auf, damit er nicht entkommt!" rief der Fürst aus, als
Piccollino in seiner neuen Gestalt ziemlich unbeholfen über den reglos
am Boden liegenden Körper seiner mittlerweile in Ohnmacht gefallenen
Mutter hüpfte und zu entfliehen versuchte.
"Wie wäre es mit gegrilltem Huhn zum Frühstück?"
fragte Buonsensello und fügte mit schuldbewusstem Blick hinzu: "Schließlich
ist er ja nun kein Mensch mehr."
"Lasst es gut sein", wehrte der Bischof ab. "Ich denke, das sollte
für ihn als Bestrafung genügen."
"Allerdings. Außerdem wird er es wohl als Federvieh künftig
schwer genug haben", stimmte Giuseppe zu und wandte sich daraufhin mit
grimmigem Blick dem Pater zu, der bei dem Anblick der Verwandlung seines
Kumpanen jeglichen Hochmut verloren hatte.
"Nun zu Dir, Ponnicraccelone. Beteuerst Du immer noch Deine Unschuld?
Dir wird nicht so ein gnädiges Schicksal zuteil werden wie Deinem
Freund, wenn ich Dich in Peruggia dem Gericht überantworte. Auch die
Heilige Inquisition wird ihr berechtigtes Interesse an Dir haben."
"Ich... ich... habe nur getan, was sie von mir verlangt hat",
sagte er leise und blickte starr auf den Boden.
Erneut in dieser Nacht schnaubte der Drache auf. Giuseppe verlor
langsam die Geduld.
"Pater! Weshalb glaubt Ihr, hat der Drache den Piccollino in einen
Kapaun verwandelt, die Contessa jedoch verschont? Ist Euch vielleicht in
den Sinn gekommen, dass er es vermag, Wahrheit von Lüge zu unterscheiden?
Ich frage Euch nun das letzte Mal. Steckt Ihr hinter alledem?"
Erneut beteuerte Ponnicraccelone seine Unschuld, woraufhin der Fürst
nüchtern feststellte:
"Nun gut, in Peruggia wird man ihn schon zum Reden bringen. Wenn
er erst einmal auf das Rad geknüpft ist und seine Knochen einzeln
zerschmettert werden..."
"Nein, bitte habt Gnade!"
Heulend war der Pater zusammengebrochen und warf sich vor dem Bischof
auf die Knie.
"Bitte nicht die Inquisition! Ich gestehe, dass ich es gewesen bin,
der Euch stürzen wollte. Ich wollte doch nur das Ansehen der Kirche
in diesem Lande wieder stärken. Menschen wie dieser Francesco oder
Ihr vermitteln unseren Brüdern und Schwestern den Eindruck, dass die
Kirche für das Volk da wäre. Dabei haben die Gläubigen unsere
Autorität zu fürchten. Auch die weltlichen Herrscher müssen
wieder lernen, sich dem Gedankengut des Heiligen Stuhles zu beugen."
"Glaubt Ihr tatsächlich selbst, was Ihr uns da erzählt,
Pater? Was ist mit den vielen Kindern, die Ihr entführen habt lassen
und an denen Ihr Eure pervertierte Fleischeslust befriedigt habt? Denkt
Ihr wirklich, dass dies dem Ansehen der Kirche dienlich ist?" gab der Fürst
anstelle des Bischofs zurück.
Ponnicraccelone biss sich auf die Lippen und schluchzte.
"Überlassen wir ihn den Gerichten", meinte Giuseppe. "Ich will
mir an diesem Abschaum meine Hände nicht schmutzig machen."
"Wartet, mein Freund." Der Bischof hielt den Fürsten am Ärmel
fest. "Ihr wisst, dass ich ein Gegner der Inquisition bin, und ich weiß,
dass Ihr im Grunde Eures Herzens auch dagegen seid."
"Ja, und? Dieser Mann hat den Tod verdient."
"Das steht außer Frage", gab ihm Pietro Recht. "Seine Schuld
ist unstrittig und es gibt an sich keine angemessene Sühne für
seine Verbrechen. Ich frage mich nur, versündigen wir uns nicht selber
gegen Gott, wenn wir ihn nun der Folter ausliefern?"
"Ich... ich hätte da einen Vorschlag zu machen", mischte sich
Buonsensello ein. "Damit würdet Ihr Euch nicht versündigen, dieser
Wurm würde bestraft werden, wie er es verdient, und ich würde
trotzdem mein Versprechen nicht brechen."
Im Herzen des Paters entbrannte ein innerer Kampf. Sein Instinkt
riet ihm zu fliehen, doch er war nicht in der Lage, auch nur einen einzigen
Schritt zu tun. Er war gelähmt vor Furcht und einer bizarren Faszination,
die die Geschehnisse um ihn herum auf ihn ausübten.
Fürst und Bischof waren so sehr in das Gespräch mit der
Ausgeburt der Hölle vertieft, er könnte fliehen und den Bischof
der Ketzerei und des Paktes mit dem Teufel bezichtigen. Genügend Einflüsse
dazu hatte er in Rom. Doch der Drache würde ihn zu einem Häufchen
Asche verbrennen, noch ehe er einen Meter weit gelaufen wäre. Falls
dieses Untier so gnädig wäre, ihn auf diese Weise sterben zu
lassen. Da wäre wohl der Scheiterhaufen in Peruggia der leichtere
Tod. Andererseits waren die Folterkeller und Kerker Peruggias berüchtigt
und gefürchtet.
Er war so sehr in Gedanken versunken, dass er erschrocken zusammen
zuckte, als der Bischof das Wort an ihn richtete.
"Ego te excommunicatio ferendae et latae sententiae."
Ponnicraccelone war wie vom Donner gerührt. Das war für
einen gottesfürchtigen Menschen, wie er es war, die schlimmste Bestrafung,
die über ihn verhängt werden konnte: Als Exkommunizierter durfte
er nicht einmal mehr die Sterbesakramente empfangen, geschweige denn sein
Amt als kirchlicher Seelsorger weiter ausüben. Wenn, dann könnte
nur noch der Papst persönlich die Exkommunikation aufheben.
"Du hast mit Deinen Taten, insbesondere mit der Ermordung von Menschen,
das Gerichtsverfahren durch die Heilige Inquisition verdient", fuhr Pietro
fort. "Du weißt so gut wie ich, was Dich bei den Verhören in
Peruggia erwartet. Auch wird es nur einen möglichen Urteilsspruch
geben. Da jedoch sowohl der Fürst als auch ich der Meinung sind, dass
die Heilige Inquisition nicht das von Gott gewollte Instrument zur Sühne
von Verfehlungen darstellt, überlassen wir Dich der Gnade des Drachens,
dessen Feueratem das reinigende Fegefeuer im Namen des Herren sein möge."
Damit wandte sich der Bischof ab und Buonsensello öffnete sein
todbringendes Maul.
Die schrillen Schmerzensschreie stieß der Pater nicht aufgrund
der Hitze der Flammen, die den Menschen einhüllten, aus, sondern sein
Körperbau begann sich zu verändern: Vom aufrecht stehenden Mann
hin zur vierbeinigen Kreatur. Knochen und Gewebe wuchsen und bildeten sich
zurück und Ponnicraccelone durchlitt jede einzelne Sekunde seiner
Transformation, Sekunden, die zu unendlichen Stunden voller Qual wurden.
Nachdenklich betrachtete Buonsensello sein Werk und wandte sich schließlich
an seine Freunde: "Sein Herz und sein Verstand waren so sehr mit dem Hass
auf meine Art vergiftet, dass ich zuerst erwogen hatte, ihn in einen Artgenossen
zu verwandeln. Denn gibt es ein schwereres Los als etwas zu sein, das man
sein Leben lang abgrundtief gehasst und leidenschaftlich bekämpft
hat? Doch dieser Mann ein Drache - das wäre ein Hohn für meine
Art gewesen. Daher habe ich ihn in eine Form gesteckt, die seinem Wesen
entspricht. Die Menschen hier haben den Drachen gefürchtet und gehasst,
der ihrer Meinung nach ihr Vieh und ihre Kinder raubte. Nicht jedoch die
Drachen an sich. Ratten hingegen werden bei den Menschen immer und überall
Unbehagen und Abscheu hervorrufen. Mehr habe ich in dieser Angelegenheit
nicht mehr zu sagen."
"Eine weise Entscheidung", lobte Giuseppe und lächelte.
"Amen!" fügte der Bischof hinzu.
"Was wird nun aber aus dieser Frau?" fragte der Drache und berührte
Virghuena mit seiner Schnauzenspitze. "Sie war die einzige von den Dreien,
die heute Nacht nicht gelogen hatte."
Giuseppe warf einen langen, nachdenklichen Blick auf den reglos
daliegenden Frauenkörper.
"Da sie seit einiger Zeit verwitwet ist und ihr Sohn Piccollino
an sich nicht mehr existiert, zumindest nicht als Mensch, würde ihr
von Rechts wegen das Gestüt zustehen. Aber so ganz ohne Mann im Haus?"
"Das mag wohl wahr sein. Vielleicht jedoch hält der Herr in
seiner Güte einen Ehemann für sie bereit, der die Arbeit Piccollinos
im Sinne seines Vaters fortführen wird. In der Zwischenzeit bedarf
sie jedoch des seelischen Beistands, nach alledem, was ihr in letzter Zeit
widerfahren ist. Ich werde versuchen, sie in einem der Klöster im
Umland unterzubringen. Die Frage jedoch bleibt, ob wir sie der Gerichtsbarkeit
ausliefern müssen."
Giuseppe schüttelte den Kopf.
"Dein Drache hat ihre Unschuld zweifelsfrei erwiesen. Dass die Contessa
heute Nacht hier draußen war, kann man nicht als Strafgrund gegen
sie anführen. Ponnicraccelone und ihr eigener Sohn haben sie aufs
Schändlichste hintergangen und verraten. Ihr könnte man höchstens
eine gewisse Naivität, mit der sie bisher durch das Leben gegangen
ist, zur Last legen, doch kann man daraus mit Gewissheit nicht einen Anklagepunkt
konstruieren. Ich würde sagen, das Kloster ist für sie wahrlich
der geeignete Ort, damit sie dort zu sich selber finden kann und aus den
Vorfällen eine Lehre zieht."
In der Ferne krähte ein Hahn und verkündete damit den Anbruch
eines neuen Tages.
Der Monte Ingino erglühte in einem kupferfarbenen Rot, als
die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne die Regenwolken durchbrachen.
Ein stolzer Adler zog hoch in den Lüften seine einsamen Kreise
und spähte mit seinen scharfen Augen nach seiner ersten Beute an diesem
wunderbaren Morgen.
© Peter
Lässig
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