Die Prüfung von Tobyas Durant

"So, du willst also ein Kleriker im Dienste St.Cuthberts werden? Nun, du bist jung und stark, in deinen Adern pulsiert das Blut eines Abenteurers, aber wie ich sehe, hast du noch keine Ahnung, was es bedeutet, ein Kleriker zu sein. Sicher hat dir Bruder Geblinos schon von seinen Aufgaben im Tempel erzählt. Er bereitet die Gebetsstunden vor und kümmert sich um die Opferlieferungen. Er hat sich völlig dem Leben im Tempel verschrieben. Doch ich glaube, das wäre nichts für dich. Ich sehe doch, wie dein Blick jeden Tag in die weite Einöde schweift und wie du jeden Tag eine neue Herausforderung suchst.

Nun, ich will dir eine Geschichte erzählen:
Als ich so alt war wie du wollte ich auch unbedingt ein Kleriker  St.Cuthberts werden. Mich faszinierten die Geschichten von mächtigen Priestern, die mit Hilfe ihres Gottes Wunder vollbringen konnten. Ich bin in einem kleinen Dorf nahe unserer Stadt Luth Kalin aufgewachsen und führte dort ein ruhiges Leben. Ich sah nicht viel von der Welt. Bis ich mit 15 Jahren nach Luth Kalin ging. Was war ich begeistert von den prächtigen Gebäuden, den hohen Türmen und dem prunkvollen Palast. Es war alles so gigantisch. Eines Tages sah ich dort die Kleriker des St.Cuthbert Tempels auf der Straße. Sie trugen alle eine purpur bestickte Robe und einem Schuppenpanzer darunter. der Glanz ihrer Waffen und Rüstungen blendete mich und ich konnte einfach nur dastehen und staunen wie die Kleriker würdevoll vorbeischritten und von der Menge freudig gegrüßt wurden. Dann wusste ich: so wollte ich auch später mal werden. Ich folgte den Klerikern, ich hatte keine andere Wahl. Sie liefen zu einem mit goldenen Ornamenten verzierten Tempel. Auf einmal wurde einer der Priester auf mich aufmerksam und fragte mich, wieso ich ihnen hinterherliefe. Ich antwortete, dass ich auch ein Kleriker werden wollte wie sie und auch gerne alles dafür machen wollte. Sie lachten laut und herzlich und nach einer Weile sagte einer von ihnen: "Nun, wir können das nicht entscheiden, das muss der Leiter unseres Tempels tun. Komm mit!"
Ich werde nie vergessen, wie ich in dieser großen Halle stand, um mich herum Kleriker und der Leiter des Tempels, der Gatos hieß.
Er musterte mich genau und sagte schließlich: "Du willst also ein Anhänger St.Cuthberts werden?"
"Ja", sagte ich und kam mir ziemlich verloren vor, zwischen all den hohen Würdenträgern.
"Es ist nicht leicht, ein Kleriker zu sein", fuhr er fort, "weißt du, du trägst große Verantwortung und du musst auf vieles verzichten im Leben. Du musst auch dein Leben für den Orden riskieren, wenn es nötig ist."
Ich schluckte. Dann sagte ich: "Ich bin bereit, alles zu tun, um ein Kleriker zu werden." Ich sah mich um. Alle Menschen im Raum schienen mich mit ihren Blicken zu durchbohren. Ich blickte zu Gatos auf.
Auf seinem Gesicht erschien ein Lächeln: "Willkommen im Orden, junger Freund."

Von da an brach eine schöne Zeit für mich an. Soradas, ein Kleriker um die 30, nahm sich meiner an und brachte mir alles bei, was ich wissen musste, sei es nun die Religionslehre oder der Umgang mit dem Streitkolben und anderen Waffen. Ich musste zwar hart arbeiten, aber ich hatte nicht mehr Pflichten als jeder andere im Tempel. Schon bald lebte ich mich ein und bekam meine erste Novizenrobe. Ich war wahnsinnig stolz darauf.
Zwei Kleriker waren im Tempel, die gerade erst ihr Novizendasein zurückgelassen hatten. Sie gaben mir nützliche Ratschläge und brachten mir viel bei. Einer redete dauernd von meiner großen Aufgabe und tat sehr geheimnisvoll. Ich wusste damals nicht, was er damit meinte, doch ein Jahr später sollte ich es herausfinden. 
Ich saß gerade in meiner Kammer und hatte mein Gebet beendet, da kam Soradas, mein Lehrer, hinein. Ich wollte gerade aufstehen, doch er gebot mir, wieder Platz zu nehmen.
Er sagte: "Junger Freund. Ich habe dir alles beigebracht, was du als Kleriker wissen musst. Du warst ein guter Schüler und ich bin stolz, dass du es so weit gebracht hast."
Ich schaute ihn fragend an; ich wusste nicht, worauf er hinaus wollte.
Er sprach weiter: "Allerdings, junger Freund, liegt noch eine große Aufgabe vor dir, um zu beweisen, ob du dich als Kleriker eignest. Ein großer Test, der deine Fähigkeiten unter Beweis stellen soll."
So langsam wurde mir klar, was einer der Neu-Kleriker mit der großen Aufgabe gemeint hatte.
"Ich kann und darf dir noch nicht sagen, was das für ein Test sein soll, aber er beginnt für dich heute Nacht um Punkt ein Uhr. Nun schlaf, denn heute Nacht wird sich alles entscheiden." Mit diesen Worten verliess er den Raum.
Du kannst dir vorstellen, wie verwirrt und verstört ich zu diesem Zeitpunkt war. Schlafen konnt ich schon gar nicht, es war schließlich erst Nachmittag und ich war überhaupt nicht müde. Also ging ich in meiner Kammer auf und ab und zermarterte mir den Kopf darüber, WAS das denn für eine Aufgabe sein sollte. Ich hatte das üble Gefühl, dass dieser Test sehr gefährlich sein würde, sonst hätte mein Lehrer nicht so ein Geheimnis daraus gemacht. Da es an diesem Tag für mich nichts mehr zu tun gab, war ich völlig mit meinen Gedanken alleingelassen. Das waren wohl die schlimmsten Stunden meines Lebens.

Punkt eins, als es schon ziemlich dunkel draußen war, hörte ich die Schritte von Soradas. Ich atmete tief durch, doch mein Herz raste wie verrückt. Er öffnete die Tür, nickte mir schweigend zu und bat mich, ihm zu folgen. Wir gingen den Gang entlang nach draußen und wechselten nur wenige Worte. Wir schritten in den Hof, wo die anderen Kleriker, übrigens auch Gatos, auf uns warteten. Fackeln waren in die Erde gesteckt worden und erleuchteten den Platz in einem schummrigen Licht. Mir war kalt.
Als Soradas sich zu den anderen Klerikern gestellt hatte, sprach Gatos: "Wir haben uns hier zusammengetroffen, um diesen Novizen dem Initiationsritus unseres Ordens zu unterziehen und seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen". Dann sprach er zu mir: " Was weißt du über Ghoule?"
Die Frage traf mich völlig unerwartet. Ich stotterte: " G...Ghoule, d...das sind, das sind Untote, die sich von menschlichem Fleisch ernähren u...und mit ihrem Angriff Lähmungserscheinungen hervorrufen können. Ausserdem haben sie keine Haut sondern bestehen aus verwesendem Fleisch." Ich erschauderte selbst bei meinen Worten.
"Gut", sagte Gatos ernst, "denn heute Nacht wirst du einen Ghoul töten!"
In Gedanken schrie ich auf: "Einen Ghoul töten? Ich? Das ist doch völliger Wahnsinn. Ghoule, das sind Kreaturen, erschaffen von der Finsternis selbst. Ausgeburten des Bösen. Und ich sollte einen bezwingen?"
Gatos lächelte bei meinem erschrockenen Gesichtsausdruck: "Keine Angst. Du musst keinen ausgewachsenen Untoten besiegen. Ein gewöhnlicher Ghoul reicht völlig!"
Diese Worte beruhigten mich in keinster Weise, ein gewöhnlicher Ghoul war immer noch ein schrecklicher Gegner.
"Schließlich bist du jetzt schon zu weit gekommen, um aufzugeben, oder sehe ich das falsch?"
"Nein, natürlich nicht.Verzeiht mir bitte meine Furcht. Ich werde die Aufgabe natürlich annehmen!" Ich wunderte mich selbst über meine mutigen Worte.
"Gut. Dann lasst uns aufbrechen", sagte Gatos.
So zogen wir los durch die finstere Wüste. Es war eine sternklare Nacht, ab und zu zogen Sternschnuppen über das Firmament. Ich hatte gehört, wenn man eine Sternschnuppe sieht, darf man sich etwas wünschen und das ginge dann in Erfüllung. Weißt du, was ich mir gewünscht habe? Ich habe mir gewünscht, dass ich den nächsten Morgen noch erblicke!! Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, wie wir so durch die Einöde liefen. Die meisten der Kleriker trugen Fackeln, und Gatos beschwor mit seiner Magie ein helles Licht, das in seiner Hand leuchtete.
Soradas lief ein Stück neben mir. "Keine Angst, mein Freund", sagte er, "wenn dein Herz rein und gut ist, dann wird St.Cuthbert dich beschützen. Und, verdammt, wenn du es nicht schaffst, wer dann?" Er lächelte mir aufmunternd zu und ging dann wieder zu den anderen Klerikern.
Meine Kehle war zugeschnürt, ich hatte einen dicken Kloß im Hals. War ich wirklich würdig? War ich stark genug, diese Prüfung zu überstehen? Ich wusste es nicht.
Nach einer Ewigkeit, wie es mir schien, kamen wir zu einer großen, dunklen Höhle. Ich wusste, dass das das Ziel unserer Wanderung war. Ich schluckte, als ich sah, dass der Eingang der Höhle in eine tiefe Schwärze getaucht war. Gatos blieb stehen und sagte den anderen Klerikern, sie sollten einen Kreis bilden und mich in die Mitte nehmen.
Sie murmelten Gebete und Beschwörungsformeln, um mich auf meinem Weg in die Dunkelheit zu beschützen, doch ich wusste, dass ich jetzt im Endeffekt auf mich alleine gestellt war.
Als die Gebete verstummten, reichte mir Soradas eine Fackel und sagte: "Ghoule hassen das Licht. Wenn dir einer zu Nahe kommt, dann treib ihn mit der Fackel zurück!"
Ich nahm die Fackel. Ein anderer Kleriker reichte mir einen glänzenden Streitkolben mit dunkelrotem Kopf. Das Zeichen St.Cuthberts war in den Waffenkopf eingraviert.
"Nimm die Waffe unseres Gottes, sie wird heute mit Blut befleckt werden!"
Ich spürte eine Woge wilder Entschlossenheit in mir aufsteigen. Die Waffe schien mir Kraft zu geben. Ich umschloss den Streitkolben mit der rechten und die Fackel mit der linken Hand. Ein letztes Mal blickte ich in die vertrauten Gesichter. Dann stieg ich hinab in die Dunkelheit.

Ein übelriechender Gestank schlug mir entgegen als ich die Höhle betrat. Es roch nach verwestem Fleisch. Die Fackel tauchte die Höhle in ein gespenstisches Licht und ich sah meinen eigenen Schatten dreifach vergrößert an der Höhlenwand. Ich leuchtete auf den Boden. Er war mit abgenagten Knochen übersät. Auch mit Menschenknochen. Ich ging vorsichtig weiter. Selbst im Licht der Fackel konnte ich nicht besonders viel erkennen in der Höhle. Nur, dass sie viele dunkle Ecken hatte. Brrrr! Ich leuchtete vorsichtig jeden Winkel der Höhle aus.
Plötzlich und völlig unerwartet sprang etwas aus der Dunkelheit. Eine etwa menschengroße Kreatur huschte aus dem Schatten. Im schlechten Licht konnte ich nur zwei rote bösartige Augen sehen. Plötzlich sprang sie auf mich zu, wie ein fleischfarbener Blitz. Reflexartig hielt ich meinen Streitkolben und die Fackel schützend vor mich. Der Schatten prallte mit einem Kreischen davon ab und landete behende wie eine Katze auf dem Boden. Jetzt sah ich es deutlich. Es war ein Ghoul!
Ich hatte Ghoule bisher nur auf Abbildungen in Büchern gesehen und selbst da hatten sie mich zu Tode erschreckt. Doch jetzt in ein paar Metern Entfernung sah diese Kreatur noch viel schrecklicher aus! Sie war tatsächlich so groß wie ein Mensch, vielleicht etwas kleiner als ich. Sie hatte Raubtierhafte Züge mit spitzen Eckzähnen und Augen wie glühende Kohlen, die mich hasserfüllt ansahen. Und was das Schrecklichste war, diese Bestie hatte wirklich keine Haut, ich konnte ganz deutlich die angespanten Muskeln und das rote Fleisch sehen. Was bitteschön hielt diese Kreatur zusammen?!
Ich hatte keine Zeit, um diese Frage zu beantworten, denn schon setzte sie zu einem neuen Sprung an. Doch diesmal war ich vorbereitet. Ich machte einen Schritt zurück und der Ghoul prallte gegen die Felswand. Ich fuchtelte mit der Fackel hin und her.
"Du hast doch nicht etwa Angst vor Feuer?!" rief ich.
Die Bestie schien fast auszurasten und kreischte vor Wut. Doch diesmal griff ich an. Ein Fehler wie sich herausstellte. Ich schlug mit meinem Streitkolben nach ihr, doch diese Kreatur war höllisch schnell und wich dem Schlag aus, so dass der Waffenkopf nur Funken auf dem Stein schlug. Blitzschnell riss ich meine Waffe wieder hoch wie ich es gelernt hatte und führte einen Seitwärts-Streich gegen den Ghoul. Diesmal war die Bestie nicht schnell genug. Sie wich nach hinten, doch der Schlag erwischte sie noch an der Schulter. Der Ghoul schrie auf, als sein Arm von dem Schlag abgetrennt wurde und zu Boden fiel. Ich sah kein Blut. Diese Kreatur musste innen schon völlig ausgetrocknet sein.
Im Kampfrausch stürmte ich vor und wollte ein weiteres Mal zuschlagen, um die Bestie zu töten, doch der Ghoul wich geschickt aus, so dass ich ins Leere schlug und die Wucht des Hiebs mich nach vorne riss. Blitzschnell schlug der Ghoul zu und traf mich in der Seite. Ich schrie auf und taumelte zurück. Dann blickte ich an mir herab. Ich war von einem Ghoul verwundet worden. Die Krallen hatten den Schuppenpanzer durchdrungen und mir eine tiefe Wunde an der Seite zugefügt.
Siegessicher lächelte der Ghoul. Es war ein unmenschliches Lächeln. Er leckte sich den Mund, als ob ich schon sein Fressen wäre. Alles verschwamm vor meinen Augen, ich wusste, dass die Bestie mich infiziert hatte. Sofort wurde mir klar, dass ich nun keine Chance mehr hatte. Der Ghoul hatte mich vergiftet und schon bald würde ich mich nicht mehr bewegen können. Es sah wirklich übel für mich aus. Ich konnte schon bald nicht mehr stehen, mir wurde schlecht und ich liess mich auf den Boden sinken und kämpfte dagegen an, die Besinnung zu verlieren. Langsam kam der Ghoul auf mich zu. Er wusste, dass ich nun leichte Beute war. Ich roch seinen schrecklichen Atem und als er sich über mich beugte, sah ich seine spitze Zunge, seine scharfen Reißzähne, die er gleich in meinen Körper schlagen würde.
Doch mit letzter Kraft konnte ich meinen linken Arm noch bewegen. Alle anderen Körperteile waren schon gelähmt. Ich hob den Arm an. Er schien Tonnen zu wiegen. Gerade als der Ghoul zubeißen wollte, stieß ich ihm die Fackel mit meiner letzten Kraft in den Schädel. Sie durchstieß sein weiches Fleisch und entzündete es sofort.
Der Ghoul sprang schreiend auf. Wie eine lebende Fackel rannte er brennend und kreischend, halb wahnsinnig in der Höhle herum. Ich konnte nur noch verschwommen einen grellen Lichtpunkt sehen, der mit einem letzten Stöhnen völlig erlosch. Dann wurde ich endlich ohnmächtig.

Als ich wieder aufwachte, war das Erste, was ich fühlte, ein stechender Schmerz in der Seite und das erinnerte mich an meinen Kampf mit dem Ghoul. Als ich die Augen öffnete, standen viele Kleriker um mein Bett herum, auch Gatos und Soradas, mein Lehrer.
Ich fühlte mich noch zu schwach zum Reden, trotzdem brachte ich die Worte heraus: " Ich... der Ghoul... Kampf... hat, hat mich gelähmt... tot."
Gatos lächelte, dann holte er seine Hand hervor, in der er einen ausgebrannten Ghoul Schädel hielt. "Herzlichen Glückwunsch. Du hast die Prüfung bestanden. Du bist nun ein richtiger Kleriker."
Gatos nickte Soradas zu und mein Lehrer übergab mir freudig meine Kette und meine Symbole, die mich als rechtmäßigen Kleriker kennzeichneten. Außerdem hielt er meine purpurne Robe hoch.
"Du bist bald wieder auf den Beinen. Du musst spätestens morgen wieder gesund sein. Du willst doch nicht dein eigenes Aufstiegsfest verpassen?"
Die anderen lachten. In dem Moment dankte ich St.Cuthbert, dass er mich für würdig befunden hatte.

Auch du, junger Freund, wirst deine Aufgabe bekommen, allerdings weiß ich nicht, wie sie bei dir aussieht. Sie ist bei jedem verschieden. Vielleicht musst du einen Untoten vernichten, ein Goblin-Nest ausheben, oder etwas völlig anderes. Die anderen meinten, ich solle dir noch nichts über die Prüfung erzählen, doch ich hielt es für richtig, dich zu informieren, bevor du deine Entscheidung triffst. Denn ich bin sicher, dass du deine ganz besondere Prüfung bekommen wirst. Ob als Kleriker oder anderswo im Leben..."
 

© Tobyas Durant
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