Eidolon - Das Seelenbild von Beate Sass

Eigentlich hielt sich Branwens Interesse für zeitgenössische Kunst in Grenzen. Um ihrer Bildung Genüge zu tun, besuchte sie zwar hin und wieder die Ausstellungen in den örtlichen Museen, doch für weitere Mühen reichte ihre Energie nicht aus. Sie fand die meisten modernen Bilder nichtssagend, wenn nicht scheußlich, und war der Ansicht, dass hinter der vielen Aussage die Kunstfertigkeit auf der Strecke geblieben war. Aus diesem Grunde hatte sie auch noch nie eine Vernissage besucht. Bis jetzt. Und das auch nur, weil es draußen wie aus Eimern goß und ihr Regenschirm auf dem Rücksitz in ihrem Auto lag.
Einen Moment lang hörte sie dem schlaksigen, blonden Mann zu, der eine lange, mit Fremdworten gespickte Rede hielt. Er war von einer andächtig lauschenden Gemeinde umgeben, die jedes Wort von seinen Lippen saugte. Rasch drückte sie sich in einen Nebenraum, der fast leer war. Sie sah sich um. Es hingen Bilder an den Wänden, die in heiteren Farben strahlten und zum Anschauen lockten. Es waren andere Bilder als sie zu sehen gewohnt war, vollendet bis in das kleinste Detail, fremdartig in dem Dargestellten, bizarr und hinreißend schön, dass die Augen staunten und das Herz lachte. Sie waren keiner ihr bekannten Stilrichtung zuzuordnen. Am ehesten fühlte sie sich an die phantastische Kunst erinnert, jedoch ohne halbnackte, muskelschwellende und schwertschwingende Barbaren, erotische Frauen, die sich lasziv räkelten, ohne die alptraumgeborenen Dämonengestalten.
Sie blieb vor einem Gemälde stehen, das eine Hochzeitsgesellschaft zeigte. Das Brautpaar hatte sich, vom Tanz erhitzt, mit glühenden Wangen unter einen blühenden Baum zurückgezogen und vergaß die Welt in einem Kuß. Eine alte, zahnlose Frau sah das und stieß ihrem verhutzelten Mann, der genußvoll an einer Hähnchenkeule knabberte, den Ellenbogen in die Rippen, grinsend, voller Erinnerungen.
Es wurde getanzt. Die fliegenden bunten Gewänder, die wirbelnden Beine und flatternden Haare suggerierten Bewegung. Die Musikanten, die Fiedler, Flötenspieler und Trommler, mit geröteten Gesichtern und lachenden Mündern waren so natürlich dargestellt, dass Branwen glaubte, die Musik zu hören und es ihr in den Beinen zuckte.
"Gefällt es Ihnen?" fragte jemand neben ihr. Sie sah auf, leicht atemlos. Ein Mann stand neben ihr. Ein junger Mann, mit meerfarbenen Augen und dunklem, holzbraunem Haar, das bis auf seine Schultern reichte.
"Gefallen ist gar kein Ausdruck", sagte Branwen lebhaft und schaute wieder auf das Bild. Ein langohriger Hund mit betont unschuldsvollem Blick stahl eine Wurst vom Teller eines Mannes, der gerade mit seiner sich kokett abwendenden Tischnachbarin schäkerte. Sie lachte darüber. "Das Bild ist wundervoll. Ich könnte es stundenlang ansehen."
"Dann kaufen Sie es doch", schlug der Mann vor.
"Ich habe wohl nicht das Geld dafür", antwortete Branwen bedauernd. "Solche Bilder haben die Angewohnheit, furchtbar teuer zu sein."
"Das ist halb so wild", sagte der Mann mit einem fröhlichen Lachen in den Augen. "Die Preise halten sich in moderatem Rahmen. Das Bild dürfte schätzungsweise so um die 500 Pfund kosten."
"Für ein Kunstwerk ist es nicht teuer."
Der Mann schürzte nachdenklich die Lippen. "Ich bin mir nicht sicher, meine Dame, ob das Kunst ist. Was Kunsttheorie angeht, bin ich eine Niete. Ich weiß nur, was ich schön finde, und was nicht. Obwohl selbst das Häßliche wieder eine gewisse Schönheit besitzt. Man muß sie nur sehen können."
"Was ist an einer großen, fetten, haarigen Spinne schön?" wollte Branwen wissen.
"Eine Spinne hat acht leuchtende Punkte als Augen und sie spinnt Netze, an denen morgens früh Tautropfen wie Kristalle schimmern."
"Ist das Ihre Philosophie? An allem nur das Schöne zu sehen?"
"Nicht ‘nur’ sondern ‘auch’, meine Dame", korrigierte der Mann.
Branwen schmunzelte über die altertümliche Höflichkeit. "Branwen, nicht ‘meine Dame’. Branwen O’Kearny."
"Ich bin erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Branwen. Mein Name ist Donn, Valerian Donn. Lachen Sie bitte nicht." Er grinste dabei, so dass sie das Lachen nicht zurückhalten konnte.
"Entschuldigen Sie."
Valerian seufzte in gespielter Resignation. "So geht es mir öfter. Valerian ist ein römischer Name, der heute selten ist. Auf englisch klingt er schrecklich. Aber er ist mir lieber als Jim oder Jack."
"Der Name Branwen ist auch selten geworden, vor allem außerhalb von Wales."
"Ein Name von tragischer Größe. Die Königstochter war der Grund weshalb viele Helden der Alten den Tod fanden und noch mehr von denen, die keine Helden waren. Das hat ihr das Herz gebrochen. Sie muß eine schöne und liebenswerte Frau gewesen sein – von beneidenswerter Treue und voll Liebe."
Branwen hörte wie gebannt zu. Valerian hatte eine klare, klangvolle Stimme. Er sprach mit irgendeinem Akzent, den sie nicht zuordnen konnte. Er formte seine Sätze in einer Melodie, die leicht in das Ohr eindrang. Noch nie hatte sie jemanden ähnlich sprechen hören, mit Ausnahme vielleicht von ihrer Großmutter, die ihr als kleines Mädchen Geschichten erzählt hatte. Es war eine Freude, ihm zuzuhören. 
"Wenn Sie das Bild haben wollen, sprechen Sie mit dem Galeristen. Der weißhaarige Gentleman in dem grauen Anzug dort hinten." Er deutete in den Hauptraum, wo gerade die Rede ihr Ende fand und beklatscht wurde. Die Menge löste sich in kleine, diskutierende Grüppchen auf.
"Lieber nicht", meinte Branwen. "Ich fürchte, ich würde ihn stören. Er unterhält sich gerade. Wie kommt es, dass die Bilder so günstig sind?"
Valerian lachte, dass seine regelmäßigen Zähne kurz aufblitzten. "Das ist nun wirklich einfach. Wenn sie so teuer wie ein van Gogh wären, würde sie keiner kaufen. Und dann käme so ein Milliardär daherspaziert, der die Bilder als Kapitalanlage in einen Panzerschrank stecken würde." Er schüttelte sich kurz. "Das ist ein grauenhafter Gedanke. Bilder müssen angesehen werden, sonst haben sie ihren Zweck verfehlt."
Branwen zog erstaunt die Augenbrauen hoch. "Das ist eine seltene Ansicht. Heutzutage gilt doch nur das, was teuer ist als qualitativ hochwertige Kunst."
"Ich habe keine Ahnung von Kunst. Ich weiß, was mir gefällt, und was ich mir gern ansehe. Diese Bilder haben einen Materialwert von vielleicht fünfzig Pfund. Dazu kommen die Arbeitszeit, einiges an Phantasie und eine geschickte Hand; das läßt sich ohnehin nicht in Geld umrechnen. Das Bild ist gut, wenn es seinem Betrachter etwas gibt. Wie soll man das in Geld umrechnen? Vielleicht ist das ja die Kunst."
"Sie verstehen mehr von Bildern als so mancher Kunstkritiker. Malen sie?"
"Ein wenig."
"Was denn?"
"Das da." Er nickte zu den Bildern an der Wand.
Branwen schnappte nach Luft. "Das ist nicht fair", sagte sie, "mich so auflaufen zu lassen!"
"Ich habe sie nicht auflaufen lassen", versicherte er mit einem Lachen in den Augen. "Sie sind eine angenehme Gesellschaft. Was treiben Sie, wenn Sie nicht gerade in Galerien sind?"
"Um ehrlich zu sein, ich bin selten in Gemäldegalerien. Mein Kunstgeschmack ist eher antiquiert. Ich bin Fotografin."
"Also auch eine Künstlerin. Als Basis haben wir das gleich Werkzeug: Das Auge. Nur haben Sie die ungleich schwerere Aufgabe, ein Motiv oder Modell in seinem Wesen zu erfassen und abzulichten."
"Endlich treffe ich einmal jemanden, der nicht meint, meine Tätigkeit erschöpfe sich in dem Aufs-Knöpfchen-drücken." 
Valerian legte lauschend den Kopf schief. "Entschuldigen Sie, Branwen, aber ich fürchte, ich muß unser Gespräch jetzt abbrechen. Es schlägt acht, und ich muß rennen, dass ich meinen Zug noch kriege. Auf Wiedersehen. Es ist mir eine Freude, Sie kennengelernt zu haben."
"Die Freude ist ganz auf meiner Seite." Branwen ärgerte sich im Nachhinein, eine so belanglose Floskel gebraucht zu haben, aber sie meinte ihre Worte so, wie sie es sagte.
Es war etwas anderes, die Bilder zu betrachten, jetzt, da sie den Künstler kannte. In jedem Bild sah sie ihn und seine heitere Fröhlichkeit, in der Komposition der Farben hörte sie sein Lachen und in den liebevollen, oft lustigen Details sah sie das vergnügte Zwinkern seiner Augen.
Es wurde spät an diesem Abend.
Sie nutzte eine Regenpause, um zu ihrem Auto zu kommen. Kaum saß sie in den Polstern, als es auch schon wieder anfing. Ihr Heimweg führte sie am Bahnhof vorbei. Sie erkannte die Gestalt in einem durchweichten Trenchcoat, die im Licht der Straßenlaterne die Busfahrpläne studierte. Sie trat auf die Bremse.
"Kann ich Sie ein Stück mitnehmen, Valerian?" fragte sie durch die herunter gekurbelte Scheibe.
Er stützte eine Hand auf den Rahmen. "Wenn es auf Ihrem Weg liegt, gern. Ich wohne in Addington Hall, bei New Addington."
"Sie haben Glück! Steigen Sie ein."
"Danke". Valerian glitt auf den Beifahrersitz. "Zug verpaßt", erklärte er. "Ich fürchte, ich mache Ihre Polster naß. Dieses Ding sollte Drenchcoat heißen." Sie lachte über das Wortspiel.
"Macht nichts, Valerian. Die Zugverbindung nach New Addington ist wohl ziemlich mies, was?"
"Kann man wohl sagen. Der letzte Zug fuhr um Viertel nach acht. Bei solchen Gelegenheiten bedaure ich fast, dass ich kein Auto habe."
"Warum nicht? Es gibt doch schon sehr billige Gebrauchtwagen."
"Daran liegt es nicht. Ich kann nicht fahren. Mit diesen Dingern kann ich nichts anfangen."
"Überzeugter Radfahrer?"
"Nein, Fußgänger. Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel. Und für kürzere Strecken habe ich ein Pferd."
"Wirklich?"
"Ja, wirklich."
"Sie sind ein komischer Kauz."
Valerian lachte leise. "Da haben Sie wohl recht. Aber besser ein komischer Kauz als das zu sein, was heutzutage als modern gilt."
"Was haben Sie dagegen?"
"Ich habe nicht direkt etwas dagegen. Es ist schwer zu sagen. Heutzutage geht so vielen Menschen der Sinn für das Wesentliche ab. Viele verlieren den Blick für das Gute und Schöne ihrer Welt und verschandeln oder zerstören sie nach dem Bild ihres eigenen Herzens. Es tut weh, so etwas sehen zu müssen."
Er schwieg und schaute auf den trüben, gelben Streifen Straße, den die Scheinwerfer aus dem Dunkel schnitten. Branwen schwieg ebenfalls. Sie glaubte, ihren Beifahrer schon lange zu kennen und nicht erst seit wenigen Stunden. War es die Vertrautheit verwandter Geister?
"Es tut gut, jemanden wie Sie kennenzulernen", sagte sie schließlich. "Ihre Bilder sind wundervoll. Es macht Freude, sie anzusehen. Leider war die ‘Hochzeit’ schon verkauft." Sie drehte die Heizung etwas weiter auf. Er mußte in seinen durchweichten Sachen ja frieren!
"Schön, dass sie Ihnen Freude machen. Das sollen Sie auch."
"Nur das?"
"Nur das."
"Und was der Redner erzählt hat?"
"Phil ist ein liebenswerter Mensch und ein Kunstliebhaber. Außerdem redet er gerne. Seine Reden sind Kunstwerke, beziehen sich aber nicht unbedingt auf meine Intentionen. So wie er es ausdrückt, ist es doch gleich von weitaus gehobenerer Qualität."
"Das haben Sie hübsch gesagt."
Das Gespräch erstarb. Der Regen flutete vom Himmel. Nur mühsam konnte der Scheibenwischer seiner Herr werden. Branwen starrte angestrengt auf die kaum noch zu erkennende Straße.
"Darf ich?"
Sie nickte. Valerian drehte das Autoradio an. Leise Musik drang aus den Lautsprechern. Valerian legte den Kopf zurück und schloß die Augen.
So kamen sie nach New Addington. "Die nächste rechts", sagte er. "Aber vorsichtig, die Zufahrt ist in keinem guten Zustand."
"Ich passe schon auf."
Branwen bog in einen schmalen, ungepflasterten Weg ein. Dreck spritzte auf, als sie durch Schlaglöcher rumpelte. Hinter einer Kurve tauchte eine riesige Pfütze auf, deren wahre Ausmaße sich im Scheinwerferlicht nicht einmal abschätzen ließen. Branwen reagierte zu spät. Schmutzwasser und Schlamm schlugen über dem Autodach zusammen und hüllten das Wageninnere kurz in völlige Dunkelheit. Branwen trat heftig auf die Bremse und würgte den Wagen ab. Mit einem ächzenden Quietschen kämpften sich die Scheibenwischer durch die Schlammschicht und gaben nach und nach die Sicht auf eine schwarze, vom Regen zerhackte Wasserfläche frei. Mit zitternden Fingern drehte sie den Zündschlüssel. Der Motor wimmerte und wollte nicht anspringen.
"Scheiße!" fluchte sie aus tiefstem Herzen und schlug mit den Händen aufs Lenkrad.
"Vorschlag", sagte Valerian. "Sie bleiben heute Nacht in Addington Hall und morgen früh schleppe ich mit Ellak ihren Wagen zur nächsten Werkstatt."
"Was bleibt mir anderes übrig?" fragte sie halb ärgerlich, halb resigniert. Sie wollte aussteigen.
"Moment", sagte Valerian und stieg aus. Sie hörte, wie er um den Wagen patschte und schließlich ihre Tür öffnete. "Die Pfütze ist ziemlich tief. Wenn Sie erlauben, werden ich Sie zum Ufer tragen. Ihre Schuhe werden es Ihnen danken."
Branwen starrte ihn entgeistert an. Wieder diese altmodische Ritterlichkeit! "Nein, vielen Dank." Sie wollte aussteigen, doch dann fiel ihr Blick auf das Wasser, das nur noch wenige Zentimeter steigen mußte, um in das Auto hinein zu fließen. Valerian stand bis an die Waden in der schlammigen Brühe. Sie zögerte und sah dann empor zu seinem regennassen Gesicht. "Ich habe es mir überlegt, danke für ihr Angebot. Ich hole nur noch meinen Schirm." Sie langte auf den Rücksitz, wo dieses wichtige Utensil seinen Stammplatz hatte. "Nehmen Sie bitte Ihren Kopf beiseite." Sie öffnete ihn über der Autotür.
Valerian bückte sich unter den Schirm und hob sie scheinbar mühelos aus dem Auto. Mit einem gekonnten Hüftschwung warf er die Autotür zu und schritt in die Dunkelheit. Er schritt wirklich, als gäbe es weder Regen noch das Pfützenwasser, das seine Schuhe überflutet hatte und ihm nun die Hosenbeine hochkroch. Es war wie im Film. Sie hielt den Schirm über ihre beiden Köpfe. Doch ihre Füße wurden naßgeregnet. Am Rande der Pfütze ließ er sie zu Boden gleiten. "Jetzt aber flott", sagte er.
Gemeinsam rannten sie zu dem großen dunklen Gebäude, das als ein schwarzes Schemen am Ende der Zufahrt auf sie wartete. Branwen keuchte, als sie unter dem Vordach anlangten. Valerian suchte in seinen diversen Mantel- und Hosentaschen nach dem Hausschlüssel, nicht im mindesten außer Atem. "Ha!" Er angelte in aus der Hosentasche und fand mit traumwandlerischer Sicherheit das Schlüsselloch. Die Tür schwang auf und dankbar traten sie in das trockene, nach altem Holz duftende Dunkel der Diele. Valerian knipste das Licht an und trat seine aufgeweichten Schuhe von den Füßen. In der gleichen Bewegung streifte er den triefenden Trenchcoat ab und hängte ihn an die Garderobe.
"Kommen Sie mit, ich zeige Ihnen das Badezimmer. Sie werden heiß duschen wollen."
Das Badezimmer lag im ersten Stockwerk. Es war eines der bestausgestatteten Badezimmer, die sie je gesehen hatte.
"Handtücher sind in jenem Schrank dort. Ich suche einen Jogging-Anzug und einen Bademantel für Sie heraus." Damit zog sich Valerian zurück.
Branwen zog Schuhe und Strümpfe aus. Die dicken, flauschigen Matten fühlten sich angenehm unter ihren nackten Fußsohlen an und wärmten sie. Sie nahm zwei große Handtücher aus dem Schrank und begann,  ihr Haar zu lösen. Sie schaute dabei in den Spiegel und fragte sich, ob das wirklich sie war, die sich da anschickte, bei einem fremden Mann zu duschen. Sie, die doch sonst immer so übervorsichtig war? Bislang hatte sie sich noch nie mit einem Mann eingelassen und sich auch bemüht, nie etwas zu tun, um einen Mann zu provozieren. 
Es klopfte. "Ich habe die Sachen", sagte Valerian.
Branwen öffnete. "Sie können hereinkommen, ich bin noch angezogen."
Er gab ihr einen weichen, grauen Jogging-Anzug, einen dicken, tiefblauen Frotteebademantel und Hausschuhe. "Ich hoffe, die Sachen passen Ihnen, Branwen."
Sie nahm die Kleidung an. "Ich denke schon. Danke."
Valerian hatte immer noch sein nasses Zeug an. Er sah aus, als habe er vollständig bekleidet ein Bad genommen. Es schien ihm nicht übermäßig viel auszumachen. "Lassen sie sich ruhig Zeit. Ich mache inzwischen das Abendessen. Bis gleich." Er zog die Tür hinter sich zu.
Branwen sah die geschlossene Tür eine Weile traumverloren an. Dann drehte sie den Schlüssel herum und zog sich aus. 
Das Badezimmer war in weiß und blau gehalten, die Armaturen funkelten blitzsauber. Einige der weißen Kacheln an den Wänden trugen blaue Blumenornamente. Branwen sah sich ein paar davon genauer an und kam zu dem Schluß, dass er sie selbst bemalt hatte. Sie lächelte.
Die heiße Dusche tat ihr wohl. Sie wusch sich die Haare und ließ sich solange das Wasser auf die Haut prasseln, bis sie sich ganz eingeschrumpelt fühlte. 

Der Jogging-Anzug war ihr etwas zu groß. Sie ging hinunter und folgte dem Geruch von frisch aufgebrühtem Kaffee. Valerian hatte sich ebenfalls umgezogen und trug nun auch einen bequemen Jogging-Anzug, dunkelblau mit hellgrauen Streifen. Das Haar hing ihm in feuchten, schweren Strähnen auf die Schultern. Es wirkte fast schwarz. So schwarz wie der Kaffee in der Glaskanne vor ihm.
"Schon fertig?" Er sah kurz von seiner Arbeit - Sandwiches machen - auf und lachte sie mit den Augen an. "Das ging aber schnell."
"Schnell? Ich hatte schon befürchtet, viel zu lange das Badezimmer blockiert zu haben."
"Keine Sorge. Dieses Haus ist riesig. Es hat mehrere Badezimmer."
"Und was tun Sie so allein in diesem riesigen Haus?" Im selben Moment in dem die Frage ihre Lippen verlassen hatte, bereute sie sie auch schon. Wie albern mußte das klingen!
"Ich wohne und arbeite hier", gab Valerian bereitwillig Auskunft. "Ich brauche viel Ruhe. Das Haus ist ideal." Er türmte die Sandwiches auf einen Teller und plazierte ihn zusammen mit dem Kaffee, Milch, Zucker, Tassen und Tellern auf einem Tablett. "Gehen wir in den Salon. Ich habe schon Feuer gemacht. Es ist dort gemütlicher als hier in der Küche." Er nickte zu einer braunen Tür hin. Branwen öffnete ihm hilfsbereit.
Das Feuer knisterte und knackte im Kamin, davor lag ein flauschiger Teppich. Die altersdunkle Sitzgarnitur roch nach Leder, die Wände waren in den tanzenden Schatten nur zu erahnen. Valerian setzte das Tablett auf den niedrigen Rundtisch und schob einige herumliegende Blätter zusammen. "Setzen sie sich. Ich mache noch ein paar Lampen an."
Während Branwen sich zwischen den Kissen auf der Couch niederließ, holte Valerian eine Petroleumlampe und einen Kerzenleuchter. Die Kerzen entzündete er an dem Kaminfeuer. Branwen lächelte. Sie war immer noch irritiert. Alles war so ... so fremd. Die Kerzen gaben kaum Licht. Sie erhellten nur den Tisch, das Abendessen und die Sitzgruppe. Valerian setzte sich ebenfalls und schenkte den Kaffee ein.
"Das ist echt kontinentaler Kaffee", bemerkte er, "nicht dieses Bohnenwaschwasser, was man hier auf der Insel normalerweise als Kaffee serviert bekommt. Ich hoffe, sie mögen ihn. Nehmen Sie Milch?"
"Viel Milch und Zucker." Valerian reicht ihr die Tasse, nachdem er die gewünschten Zutaten hineingerührt hatte. "Danke."
Er selber zog sich mit seinem Kaffee in die Ecke der Couch zurück. Gemütlich lehnte er sich in den Zwickel zwischen Arm- und Rückenlehne, ein Bein untergeschlagen. Branwen hockte sich in die andere Ecke und nippte an dem Kaffee. Er schmeckte sonderbar fremd und doch gut. Sie nickte anerkennend. "Sie haben recht. So etwas findet man sonst nicht in Britannien."
Ein paar vorwitzige Strähnen krochen ihm in die Stirn. Gedankenlos strich er sie zurück. Zwecklos. Sofort federte eine Locke zurück. Er ließ ihr den Willen.
"Das ist ein ... seltsames Haus", bemerkte Branwen.
"Genauso seltsam wie sein Besitzer, nicht wahr?" Valerian beugte sich vor und griff nach einem Schinkensandwich.
"Das habe ich eigentlich nicht sagen wollen. Aber es stimmt. Sie erinnern mich an eine Sorte Mensch, die sonst nur in den Romanen vorkommt. Oder in Filmen. Sind  Sie sicher, dass Sie echt sind und nicht nur eine Gestalt meiner überdrehten Phantasie?"
"Probieren Sie ein Sandwich, Branwen. - Nein. Woher soll ich wissen, ob ich echt bin? Für den Fall, dass ich es nicht sein sollte, finde ich es nett, dass Sie mich erfunden haben."
Branwen hatte sich ebenfalls ein Sandwich genommen. "Veralbern Sie mich bitte nicht."
"Entschuldigung. - Mögen Sie Musik?"
"Natürlich ..."
"Lassen Sie mich raten." Valerian schaute sie abschätzend an. Sein Gesichtsausdruck änderte sich fast unmerklich. Für einen winzigen Moment verschwand jede Heiterkeit und machte forschendem, kühlem Ernst Platz, der sofort wieder mit einem vergnügtem Augenzwinkern weggewischt wurde. "Klassik natürlich. Beethoven, Verdi. Vielleicht auch Schubert."
"Schumann", korrigierte Branwen bei ihrem zweiten Sandwich.
"Verzeihung. Modernes: Folk. Irisches, schätzungsweise. Heavy Metal liegt ihnen wohl gar nicht."
"Stimmt weitgehend", sagte sie. "Ich bin wohl leicht zu durchschauen."
Ihre Stimme mußte verärgert geklungen haben, denn für einen Moment war er irritiert. "Nein gar nicht." Valerian schaute kurz in seine Kaffeetasse, die er in den Händen hielt. "Es paßt einfach zu ihnen. Ich überlege mir oft, was zu bestimmten Personen paßt. Das hängt, glaube ich, mit dem Malen zusammen. Mit der Lebendigkeit."
Branwen schüttelte den Kopf, als wollte sie eine Fliege vertreiben. Nachdenklich nippte sie an dem Kaffee. Der Wind trieb den Regen gegen die Fensterscheiben. Er prasselte gegen das Glas, als ob eine Schulklasse Lausbuben mit vollen Händen kleine Kieselsteine dagegen werfen würde. Ihre Augen hatten sich mittlerweile an das flackernde Licht gewöhnt. Die Wände nahmen Gestalt an, mit dunklen Flecken und Umrissen von Bildern. Über dem Kamin hing ein Wappenschild mit zwei gekreuzten Degen. Der geschnitzte Schild zeigte einen doppelköpfigen Vogel.
Valerian erhob sich mit einer geschmeidigen Bewegung, die Branwen an einen Kater erinnerte, und nahm einen der unförmigen Schatten von der Wand. Er entpuppte sich als eine kleine, siebensaitige Harfe aus dunklem Holz. Das Licht flimmerte über die Saiten und ließ die Perlmutteinlagen aufleuchten. Valerian setzte sich hin, stellte die Harfe auf sein Knie und strich sich mit der freien Hand beinahe verlegen seine vorwitzigen Haare aus der Stirn. Branwen lehnte sich zurück und schmiegte ihren Kopf in den auf der Rückenlehne angewinkelten Arm. Valerian vermied es, sie anzusehen. Seine Hand strich über die Saiten, brachte sie ganz zart zum Klingen. Mit schräg gelegtem Kopf lauschte er. Vor dem Kaminfeuer zeichnete sich sein Profil so scharf ab wie auf einer Münze. Branwen betrachtete ihn, während er das Instrument sorgfältig stimmte. Sie bedauerte, ihre Kamera nicht dabei zu haben. Dann klangen die Akkorde zu seiner Zufriedenheit. Er begann zu spielen. Erst einige Akkorde, dann Arpeggien, aus denen eine Melodie wurde. Branwen lauschte hingerissen. Es dauerte eine Weile, bis sie merkte, dass er eine zweite Stimme dazu sang, ohne Worte. Die Melodie trat langsam zurück und überließ seiner Stimme die Führung. Jetzt konnte sie Worte oder Silben hören. Eine Sprache, die sie nicht kannte. Es mußte eine Ballade sein. Seine Stimme verzauberte sie, malte Bilder in ihrem Herzen. Es machte nichts, dass sie keines der Worte rationell verstand. Dann war es vorbei. Das Lied endete wie ein Seufzer, der letzte gebrochene Akkord verklang. Valerian legte die Hand über die Saiten und brachte sie zum Schweigen.
Branwen klatschte. "Das war wundervoll!"
Valerian schüttelte den Kopf. "Das sagt Ihr ... sagen Sie nur, weil Sie keinen Vergleich haben. Es war im großen und ganzen recht schulmäßig. Zugegeben, mit ein paar eigenständigen Spielereien." "Ich wünschte, ich hätte nur die Hälfte Ihres Talentes, Valerian. Ihre Musik ist wunderschön. Was war es?"
"Eine Ballade aus meiner Heimat. Sie erzählt die Geschichte einer unglücklichen Liebe."
"Was für eine Sprache war das? Es hörte sich irgendwie keltisch an, finde ich."
"Keltisch?" Valerian krauste die Stirn. "Ja, Sie haben recht. Es klingt so ähnlich", gab er dann zu. Er ging nicht weiter darauf ein und Branwen vergaß, was sie wissen wollte.
"Es ist beinahe so wie früher, wenn ich meine Großmutter in Wales besuchte. Sie konnte fabelhaft erzählen. Als Sie gesungen haben, fühlte ich mich an die Geschichte von Althea und Gol erinnert." "Die kenne ich nicht. Erzählen Sie."
Branwen begann. Valerian hörte aufmerksam zu. Dann plötzlich holte er einen Block hervor und begann zu zeichnen. Branwen unterbrach sich kurz.
Valerian schaute auf. "Bitte, erzählen Sie weiter, ich höre zu." Irritiert gehorchte Branwen.
"Darf ich es sehen?" fragte sie, als sie zum Ende gekommen war. Er klappte den Block zu.
"Nein. Erst wenn es fertig ist. Sie würden bestimmt auch nicht gerne mit Lockenwicklern ertappt werden."
Branwen ließ die Augenbrauen überrascht emporrutschen. "Ein ulkiger Vergleich."
"Aber treffend. In vielleicht drei Wochen wird das Bild fertig sein. Dann können Sie es sehen."
Das Feuer war niedergebrannt, lebte nur noch glühend in den Scheiten. Es war anheimelnd.
Valerian erhob sich. "Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, ich jedenfalls bin müde. Mein Tag fängt früh an."
Eilig stand Branwen auf. "Mir geht es genauso."
Er schob das Funkengitter vor den Kamin und ergriff den Kerzenleuchter. "Passen Sie auf, wo Sie hintreten", warnte er.
"Haben Sie kein elektrisches Licht?" fragte sie.
"Doch, aber erst in der Küche und in der Diele. Hier mag ich es nicht." Wirklich knipste er auf dem Flur die elektrischen Lampen an und blies die Kerzen aus.
Branwen blinzelte. Einen flüchtigen Moment lang konnte sie nicht begreifen, weshalb sie dieses grelle Licht dem warmen, lebendigen Schein der Kerzen und dem Kaminfeuer vorziehen konnte. Valerian brachte sie zu einem Gästezimmer im ersten Stock, dann zog er sich in seine Räumlichkeiten zurück.
Sie verbrachte die Nacht in tiefem, traumlosen Schlaf. In aller Herrgottsfrühe wurde sie durch das überaus laute, blechern klingende Geschrei eines echten Landhahnes geweckt. Augenblicke lang wußte sie nicht, wo sie war, aber dann erinnerte sie sich. Ihr Wagen steckte in einer riesigen Pfütze in der Auffahrt und sie genoß die Gastfreundschaft dieses seltsamen Künstlers. Sie zog wieder den Jogging-Anzug an, weil sie nicht wußte, wo ihre Kleider geblieben waren. Valerian war bereits auf den Beinen und stand fertig angezogen in der Küche am Herd. Er war bereits so durch und durch wach, dass Branwen argwöhnte, er wäre gar nicht im Bett gewesen.
"Guten Morgen, Branwen", grüßte er munter. "Gut geschlafen?"
"Guten Morgen. Ja, danke der Nachfrage. Sind sie schon lange auf?"
"Wie man’s nimmt." Valerian unterbrach sich kurz, um einige fladenartige Gebäckstücke auf der Ofenplatte zu wenden. "Ich habe die Eier eingesammelt und Ellak versorgt. Mehr noch nicht."
"In Anbetracht der frühen Stunde ist das viel. Kann ich irgendwas helfen?"
"Sie können den Tisch decken, da vorne, am Fenster. Ihre Sachen hängen drüben im Salon vor dem Kamin. Sie sind trocken geworden." Mit einem Kopfnicken zeigte er ihr, wo er sein Geschirr verwahrte. Während sie Tassen und Teller auf dem Tisch arrangierte, bemerkte sie, dass das Küchenfenster auf die Weide hinausging. Draußen stand ein großes, schwarzes Pferd und rupfte Gras.
"Ist das Ellak?"
"Ja, wenn Sie das Fenster aufmachen, kommt er her und steckt seinen großen Kopf in die Küche. Er liebt Gesellschaft." Valerian pickte die Fladen von der Platte und stapelte sie gekonnt auf einem Teller. Zusammen mit Marmelade, Butter und gekochten Eiern deponierte er ihn auf dem Tisch. "Sagen Sie, wenn etwas fehlt. Der Tee kommt noch." Er rückte ihr einen Stuhl zurecht. Als er die dampfende Kanne auf den Tisch stellte, setzte er sich auch hin.
Branwen schenkte ihnen ein. "Sie machen sich zuviel Mühe, Valerian."
"Keineswegs. Ich liebe ein gemütliches Frühstück. Wie finden Sie die Fladen? Altes Familienrezept."
"Sie sind gut. So etwas habe ich noch nie gegessen."
Valerian kicherte vergnügt vor sich hin. "Um so besser, wenn es Ihnen schmeckt. Wann muß Ihr Wagen eigentlich wieder flott sein?"
"Gottogott. Um acht muß ich in der Arbeit sein!"
"Das schaffen wir spielend", versicherte er.
Wieder hatte Branwen das Gefühl der Unwirklichkeit. Sie kam sich beinahe so vor wie in so einer blödsinnigen Reklamesendung für Margarine im Fernsehen. Sogar die Sonne schien so richtig nach Reklameart durchs Fenster. Ein Lachen stieg in ihr auf und machte sich in einem unterdrückten Kichern Luft.
Valerian hob erstaunt eine Augenbraue und lachte dann mit.
"Ich bin so furchtbar albern", brachte sie schließlich hervor.
"Na und?" Valerian wischte sich die Lachtränen aus den Augen. "Was war denn so komisch?"
"Ich mußte gerade an diese Reklame im Fernseher denken und vermißte die freundliche Verkäuferin, die uns die Margarine durchs Fenster wirft."
Für einen Moment wirkte er irritiert. "Ich kenne das nicht", gab er dann zu. "Einen Fernseher besitze ich nicht. Früher einmal war ich fasziniert von den Dingern, bis ich dahinter kam, dass das nur schlecht erzählte Märchen sind."
"Warum schlecht erzählt?"
"Das meiste ist so hohl. Und es bleibt immer gleich. Es ... es ist nicht wirklich." Valerian wand sich förmlich. "Ich kann es nicht in Worte bringen. Es ist ein Gefühl. Am besten Sie machen sich jetzt fertig und ich kümmere mich um Ellak. Okay?"
"Okay."
Wie bisher arbeitete Valerian sehr schnell. Als Branwen vor die Tür trat, wartete er bereits hoch zu Roß. Er hatte dem Pferd ein Zuggeschirr angelegt und saß zwischen den zusammengelegten Riemen und Seilen auf dem bloßen Pferderücken. "Kommen Sie." Er beugte sich herunter und streckte ihr die Hand entgegen.
Branwen fürchtete sich ein bißchen vor dem großen, schwarzen Tier. "Ich kann aber nicht reiten."
"Halb so wild", beruhigte er sie. "Sitzen können sie ja wohl."
Sie fühlte sich plötzlich emporgehievt und saß unvermittelt vor ihm, die Beine seitlich herabhängend. Kaum dass sie oben war, setzte sich Ellak in Bewegung. Einen flüchtigen Moment verspürte sie Angst. Doch dann wurde ihr bewußt, dass ihr keinerlei Gefahr drohte. Ellaks Schritt war sanft und wiegte sie, wie ihr Großvater sie als kleines Kind auf seinem Schoß geschaukelt hatte. Außerdem lag Valerians Arm mit der Selbstverständlichkeit eines Sicherheitsgurtes um ihrer Taille. Branwen genoß diesen kurzen Ritt und sah sich dabei vor ihrem inneren Auge, wie ein Ritter à la Hollywood mit ihr vor sich auf dem Pferd durch die Lande galoppierte. Nur ritt Valerian in diesem Schaukelschritt. Viel zu schnell erreichten sie die Riesenpfütze mit ihrem Auto darin. Gleichmütig patschte das Pferd hinein und trug sie ans andere Ende. Valerian sprang zu Boden und half ihr galant beim Absitzen.
"Besser, Sie warten hier, Branwen", sagte er.
Dann zog er ohne Umstände Schuhe und Strümpfe aus, rollte Hosenbeine und Ärmel hoch, und ging zurück zum Auto, Ellak am Halfter führend. Branwen beobachtete interessiert, wie er zu Werke ging. Das schmutzige Wasser reichte ihm noch immer bis an die Waden. Ellaks Beine verschwanden bis über die langen Fesselhaare in der schlammigen Brühe. Eine Reihe gelblichbrauner, runder Verfärbungen im Wasser markierte ihre Spur. Valerian prüfte den Sitz eines stabilen Karabinerhakens an dem Zugseil, suchte unter der Heckstoßstange im Wasser nach der Abschleppöse und klinkte den Haken ein. Ellak legte sich auf einen ermunternden Zuruf Valerians ins Geschirr. Ohne große Mühe wurde der Wagen zurück auf die trockene Straße gezogen.
"Ich werde demnächst die Auffahrt reparieren", brummte er, als er das Seil löste. "Oder aber Enten ansiedeln."
Branwen grinste. "Herzlichen Dank für Ihre Hilfe und Ihre großzügige Gastfreundschaft", sagte sie dann und streckte ihm die Hand zu einem - wie sie befürchtete - formellen Abschiedsgruß entgegen.
"Es war mir ein Vergnügen", antwortete er, ihre Hand ergreifend.
"Darf ich Sie noch einmal besuchen und vielleicht ein paar Fotos machen?"
"Wenn Sie sie nicht veröffentlichen gern. So in drei Wochen vielleicht? Bis dahin habe ich auch das Bild fertig."
"Ich ruf sie an, okay?"
"Kommen Sie einfach vorbei. Ich habe kein Telefon."
Branwen öffnete die Wagentür und stellte fest, dass sie den Schlüssel hatte stecken lassen. Aber wer hätte hier schon das Auto stehlen sollen? "Gut, in drei Wochen also."
Valerian nickte. "Auf Wiedersehen, Branwen."
"Auf Wiedersehen."
Sie stieg ein. Er hob seine Schuhe auf, stopfte die Strümpfe in die Hosentaschen und schwang sich auf Ellaks Rücken. Branwen bewunderte seine Eleganz dabei, wie er mit scheinbarer Leichtigkeit mit einem Sprung hinaufkam. Wie ein Cowboy im Film. Mit einem Seufzer startete sie den Wagen. Der Motor jammerte und ächzte, gab eine knallende Fehlzündung von sich. Ellak machte einen erschreckten Satz und stieg, mitten in der Pfütze. Widerwillig sprang der Motor endlich an. Valerian lachte und beruhigte Ellak mühelos, wie sie beruhigt feststellte, bevor sie den Wagen wendete und zur Straße zurückfuhr. Valerian galoppierte neben dem Auto her, winkte ihr noch einmal fröhlich zu, bevor Ellak wie vom Bogen geschnellt vorwärts schoß, die Hecke vor der letzten Kurve übersprang und damit seinen Reiter aus ihrem Blick entführte.
An diesem Morgen kam sie eine Stunde zu spät in dem Fotolabor an, ihre Kleider sahen von dem nächtlichen Schauer etwas angegriffen aus und rochen nach Pferd. Aber sie war rundum zufrieden. In drei Wochen würde sie Valerian Donn wiedersehen. Sie freute sich schon jetzt darauf. Wenn ihr auch nicht klar war, wie sie die lange Zeit bis dahin überleben sollte.

An einem schönen, sonnigen Wochenende war es endlich soweit. Sie packte ihre Fotoausrüstung ein, eine Packung Mon Cherie für Valerian (im blinden Vertrauen auf die Werbung, dass das immer das Richtige war) und Karotten für das Pferd. Das erste, was sie von seinem Anwesen bemerkte war, dass er die Auffahrt repariert und das Riesenschlagloch aufgefüllt hatte. Dann sah sie das Haus. Die Front war mit Efeu bewachsen, das Küchenfenster stand weit offen, davor stand Ellak und hatte seinen Kopf ins Innere gesteckt. Er zog ihn zurück, als er Branwens Auto herankommen hörte. Sie stieg aus. Für einen langen Augenblick fühlte sie sich von den dunklen Pferdeaugen gemustert, dann jedoch entschied er, dass sie keine potentielle Gefahr darstellte, und wandte sich seiner Tätigkeit in der Küche wieder zu.
Branwen betätigte grinsend die Türklingel. Tief drinnen im Haus gongte es. Für eine Weile war das auch das einzige Geräusch. Dann endlich hörte sie Schritte in der Diele und die Tür wurde umständlich geöffnet.
Valerian strahlte ihr entgegen. "Hallo!" sagte er. "Wie schön, Sie wiederzusehen! Ich kann Ihnen leider nicht die Hand geben." Er trug einen mit Farbkleksen übersäten Kittel und rieb mit einem Lappen seine Hände ab, die ebenfalls mit bunten Tupfen übersät war. Ein hellblauer Streifen zog sich quer über seine Nase.
"Hallo", antwortete Branwen, bemüht, ein breites Grinsen zu unterdrücken. "Hier bin ich, wie angedroht."
Valerian gab die Tür frei. "Kommen Sie nur herein. Ich muß mich grad noch ein wenig sauber machen. Sie entschuldigen mich noch für einen Moment?"
"Aber selbstverständlich. Ich hole inzwischen die Fotoausrüstung."
"In Ordnung." Mit einem geschickten Tritt schob er einen Holzkeil unter die Tür.
Branwen kehrte zum Wagen zurück, Valerian verschwand im Haus. Mit ihrer Fototasche bepackt betrat sie wenig später die Diele. Es war eine altmodische, holzgetäfelte Diele, mit zahlreichen Garderobenhaken aus Messing nahe der Tür. Über einem hing der Trenchcoat, über einem anderen eine verwaschene Jeansjacke. Aus dem Schirmständer schauten die gekrümmten Griffe von zwei Schirmen, die eines Golfschlägers und einer Reitgerte. Dazwischen befand sich der kreuzförmige Griff eines Schwertes. Sie schaute noch einmal hin. Es war immer noch ein Schwertgriff. In dem Moment kam Valerian die Treppe herunter, ohne seinen bekleksten Kittel.
"Ein interessantes Sammelsurium haben Sie da", bemerkte Branwen mit einem bezeichnenden Blick auf den kreuzförmigen, mit Leder umwickelten Griff. Er sah abgenutzt aus. Jedenfalls abgenutzter als der des Golfschlägers.
Valerian lächelte unverbindlich. "Es freut mich, dass Sie gekommen sind, Branwen. Ich habe das Bild fertig bekommen. Es ist nur noch nicht ganz trocken. Haben Sie Lust auf Tee?"
"Danke, ja. Wozu haben Sie ein Schwert im Schirmständer?"
"Als Sportgerät. Ich fechte damit. Um fit zu bleiben."
"Gegen wen?"
"Gegen niemanden. Es ist reine Spiegelfechterei, wie das Schattenboxen."
Valerian schloß die Haustür und trug ihre Fototasche in den Salon. Das Tageslicht schien durch die großen Fenster, gefiltert von hauchdünnen Gardinen, herein. Der hintere Teil des Salons wurde von einem riesigen Bücherschrank eingenommen, der von Büchern nahezu überquoll. Die Bilder an den Wänden waren Reproduktionen von berühmten Meistern. Irgendwie paßte diese biedere Einrichtung nicht zu dem Bild, das sich Branwen von Valerian gemacht hatte. Sie gingen hinüber in die Küche. Valerian stutzte und starrte empört auf Ellaks großen Kopf, der immer noch durch das Fenster hereinsah und gerade die letzten Salatblätter aus dem Durchschlag verdrückte.
"Biest", zischte er. Ellak schnaubte unbeeindruckt. "Das war mein Salat. Du hast doch genug Grünzeug, warum mußt du dich an meinem vergreifen?"
Branwen hielt sich die Hand vor den Mund, um nicht laut herauszulachen. Seine Stimme klang nicht verärgert oder gar böse. Es lag nur ein milder Vorwurf in ihr.
Er setzte das Teewasser auf und stellte eine Schale mit Keksen auf den Tisch.
"Selbstgebacken?" fragte Branwen.
"Selbstgekauft", antwortete Valerian mit einem Lachen in den Augen. "Aber sie sind trotzdem gut." Es stimmte, wie sich wenig später herausstellte.
Nach dem Tee zeigte er ihr sein Atelier, das oben im Dachgeschoß lag. Es nahm die gesamte Fläche des Hauses ein und erhielt Licht von großen Dachflächenfenstern zu allen Seiten. Mehrere Staffeleien standen herum mit verschiedenen unfertigen Bildern, andere mit Tüchern verhüllte Rechtecke standen in Regalen mit schmalen Fächern. In der Luft hing ein penetranter Geruch nach Farben, Lösungsmittel und Firnis, obwohl die Fenster geöffnet waren. Branwen warf  neugierige Blicke auf die unfertigen Bilder. Eines stellte eine Stadt in einem von Bergen umschlossenen Tal dar, ein anderes schien ein ganz gewöhnliches englisches Dorf zum Thema zu haben, von einem weiteren existierte erst die Grundierung mit einer raschen Skizze eines laufendes Pferdes. Valerian hob eines der umhüllten Rechtecke auf und plazierte es auf einer leeren Staffel.
"Ich hoffe, es gefällt ihnen." Damit nahm er das Tuch weg.
Branwen verschlug es die Sprache. Das Bild war in zwei Register geteilt. Im unteren erkannte sie sich selbst wieder, an einem Lagerfeuer sitzend in einem beigen Kleid und grünem Mantel, der ihr wie ein dicker Schleier über den Rücken fiel. Das Feuer zauberte goldene Glanzlichter auf ihr gelöstes, langes Haar. Sie saß eifrig vorgeneigt. Ihre Hände gestikulierten. Um sie und das Lagerfeuer herum saßen Leute, Kinder und Erwachsene, die ihr fasziniert zuhörten, und mit den Augen an ihren Lippen hingen. Der Hintergrund verlor sich in einem diffusen Wald. Nebel stieg aus ihm auf und aus diesem Nebel formten sich die Gestalten der bewegenden Erzählung von Gol und Althea. Branwen war fassungslos. Das Gemälde war so detailfreudig wie die anderen von seiner Hand, die sie in der Galerie gesehen hatte. Ständig entdeckte sie neue Einzelheiten. Und sie wurde es nicht müde, ihr Portrait zu betrachten. Sie wußte, dass sie nicht häßlich war, aber es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, sich als schön zu bezeichnen. Doch die Frau auf dem Gemälde war schön - und sehr lebendig. Anders als die Frau, die sie tagtäglich in ihrem Badezimmerspiegel sah. Wenn Valerian sie so sah ...
Sie trat einen Schritt zurück und sah ihn an. "Ich ... ich weiß gar nicht, was ich sagen soll", begann sie. "Es ist wundervoll."
Valerians Gesicht strahlte. "Das freut mich. Am besten lassen wir es noch ein bißchen stehen, bevor wir es einpacken. Es wird aber noch eine Weile dauern, bis es völlig trocken ist."
Branwen schluckte. "Wie... wieviel bekommen Sie dafür, Valerian?"
Er sah sie einen Moment lang belustigt an und schüttelte dann den Kopf. "Sie haben bereits bezahlt, Branwen. Mit ihrer Freude."
Sie verzichtete auf eine Diskussion. Wie schön, dass es noch so romantische Idealisten auf der Welt gab, oder zumindest solche Menschen, die sich romantischen Idealismus leisten konnten.
Sie kehrten in den Salon zurück. "Jetzt bin ich an der Reihe, wenn Sie nichts dagegen haben."
Valerian hatte keine Einwände. Also rüstete sie sich mit ihrer Fotoapparat. Bis zum Tee ließ sich Valerian von ihr herum kommandieren und sie machte jede Menge Aufnahmen von ihm und Ellak. Als sie beim Tee beisammen saßen, hatte sie ein Großteil ihres Materials verbraucht.
"Sie bleiben doch die Nacht über, ja?" fragte Valerian plötzlich.
"Eigentlich wollte ich heute abend nach Hause fahren", antwortete Branwen.
Valerian zuckte bedauernd die Schultern. "Hoffentlich müssen Sie wenigstens nicht allzufrüh aufbrechen, so dass wir noch ausreichend Zeit zum Plaudern haben."
"Das läßt sich arrangieren. Tun Sie mir einen Riesengefallen und spielen noch ein bißchen auf der Harfe?"
"Gern. Wenn Sie noch eine  Geschichte erzählen. Sie können wunderbar erzählen." 
"Es wird mir eine Freude sein. Doch erst muß ich Ellak versorgen. Es dauert nicht lange."
"Ich mache derweil den Abwasch." Branwen rollte die Ärmel ihrer Bluse auf und machte sich fröhlich pfeifend an die Arbeit. Durch das Küchenfenster sah sie Valerian über die Weide gehen, dicht gefolgt von dem großen Pferd, das ihn gelegentlich aufmunternd in den Rücken stupste. Branwen grinste. Der Maler war ein Original! Der Abwasch war schnell erledigt. Sie stellte gerade die letzte Tasse zurück in den Schrank, als sie den Knall hörte, scharf und laut. Branwen zuckte zusammen und ließ vor Schreck die Tasse fallen. Ein Unfall, dachte sie. Ein Autoreifen ist geplatzt! Doch das Quietschen von Bremsen blieb aus. Ein zweiter Knall zerriß den Frieden des Nachmittags, kaum dass der erste verhallt war. Fast gleichzeitig hörte sie Ellak wiehern und sah ihn über die Weide rennen.
Sie stürzte zum Fenster. "Valerian? Ist alles in Ordnung bei Ihnen? Valerian?" Sie erhielt keine Antwort.
Ellak stand am äußeren Rand der Weide und starrte mit gespitzten Ohren in Richtung des Stalles. Von einer dunklen Ahnung gepackt lief sie hinaus und sah sich um. Rechts neben dem Haus mußte der Stall liegen.
"Valerian!"
Keine Antwort. Die Ahnung wurde zu Furcht. Sie lief den Pfad, der um des Haus führte, entlang, bog um die Ecke und blieb entsetzt stehen, einen Schrei mit den Händen erstickend. Valerian lag vor der geschlossenen Stalltür, an der zwei große, verschmierte  Blutflecke hervorstachen. Sein Hemd war blutgetränkt, ebenso der Boden unter ihm. Branwen stand fassungslos da und starrte. Da bemerkte sie, dass sich sein Brustkorb leicht bewegte. Er lebte noch. Sofort war sie bei ihm auf den Knien und untersuchte ihn zitternd.
"Valerian", schluchzte sie. "Bitte, sag irgend etwas." Sie hatte keine Ahnung, was sie tun sollte. Alles was sie je über Erste Hilfe gewußt hatte, war wie weggeblasen. Sein Gesicht war erschreckend weiß, die Hände eisig kalt und überall war Blut. Hilflos drückte sie ihre Hände auf die beiden Wunden in seiner Brust. "Bitte, bitte, nicht sterben", flehte sie.
Sie fühlte, wie sich seine Rippen hoben und gegen ihre Hände drückten, der Atem rasselte und pfiff in seinen Lungen. Mühsam schlug Valerian die Augen auf und schaute sie mit verschleiertem Blick verständnislos an.
"Nicht bewegen", sagte Branwen erleichtert. "Es wird alles gut werden. Ich verspreche es. Nicht bewegen. - Ich ... ich hole nur schnell den Verbandskasten. Ich bin sofort wieder da."
Wie in Trance rannte sie zu ihrem Auto, riß den Verbandskasten vom Rücksitz und kehrte zu dem Verletzten zurück. Sie verband ihn mit dem ersten, was ihr in die Finger kam, den großen Dreiecktüchern, ohne sich die Mühe zu machen, die Wunden freizulegen.
"Ich rufe einen Krankenwagen!" Sie wollte gerade loslaufen, als sie seine kalte Hand auf der ihren fühlte.
"Kein Telefon", erinnerte er sie mit schwacher Stimme.
Branwen konnte nicht verhindern, dass die Tränen aus ihr hervorbrachen. "Aber Sie brauchen einen Arzt und müssen schleunigst in ein Krankenhaus. Sie sterben sonst. - Ich fahre Sie hin!"
Seine Finger umklammerten ihre Hand schon ein wenig fester. "Ich sterbe nicht." Er hustete und spuckte helles Blut aus. "Versprochen." Mühsam versuchte er, sich aufzurichten.
Entsetzt versuchte Branwen, ihn zurückzuhalten. "Um Himmels Willen, nicht bewegen!"
Valerian keuchte und stemmte sich so weit hoch, dass er gegen den Stall gelehnt sitzen konnte. "Irgendwie muß ich doch ins Haus kommen", wandte er ein.  "Hier draußen kann ich nicht bleiben."
"Aber ... Sie sind schwer verletzt ..."
"Es ... geht schon."
"Es geht schon?" Branwen stieß ein verzweifeltes, hilfloses Lachen aus. "Irgendwer wollte Sie erschießen!"
Valerian lehnte den Kopf gegen die Stalltür. "Bitte, Branwen, Sie müssen mir glauben. Ich werde nicht sterben." Seine Stimme hatte an Kraft gewonnen und wirkte in ihrer Eindringlichkeit überzeugend. Auch seine Wangen schienen wieder etwas Farbe zu haben. Sie begann, ihm zu glauben. Er schloß die Augen, um Kraft zu sammeln. Dann streckte er ihr die Hände entgegen. "Helfen Sie mir."
Einen Moment wußte sie nicht, was er von ihr erwartete. Dann begriff  sie. "Das ist Wahnsinn", protestierte sie. Aber dann legte sie sich seinen Arm um den Nacken und half ihm beim Aufstehen. Es war sehr mühsam. Schrittchen für Schrittchen führte sie ihn ins Haus und stützte ihn. Sie ächzte unter seinem Gewicht. In der Küche ließ sie ihn auf einen Stuhl gleiten. Valerian stöhnte durch die fest zusammengebissenen Zähne.
"Setzen Sie Wasser auf. Im Eckschrank im Salon müßte noch etwas Rum sein..."
Branwen beeilte sich, seinen Anordnungen nachzukommen. Eine seltsame Ruhe erfüllte sie nun. Sie setzte einen großen Topf Wasser auf und ging hinüber in den Salon. Das Denken fiel ihr schwer. Sie hatte keinerlei Erfahrungen mit Schußverletzungen, doch Valerians Reaktion erschien ihr merkwürdig. Bedeuteten die Blutflecke am Stall, dass die Kugeln durch ihn hindurchgegangen waren? Sie konnte und wollte nicht darüber nachdenken. Valerian hatte versprochen, dass er nicht sterben würde. Er mußte es wissen, nicht wahr? Sie fand den Rum und brachte ihn in die Küche.
Valerian dankte ihr mit einem Blick. "Und zwei Gläser."
Sie stellte die Gläser zu der Flasche auf den Tisch. "Meinen Sie, dass das jetzt gut ist?"
Er schenkte zittrig zwei Fingerbreit in jedes Glas. "Trinken Sie! Es bringt... Ihre Lebensgeister wieder auf Trab."
Branwen nippte an ihrem Glas. Der Rum brannte auf ihren Lippen, sein Aroma machte sie leicht schwindelig. "Wer hat das getan? Warum leben Sie noch?" Sie wunderte sich über ihre eigenen Fragen.
Valerian grinste gequält. "Ich bin nicht so leicht totzukriegen", sagte er. Er hörte sich an, wie  der Held eines schlechten Abenteuerfilms.
"Bitte nicht." Sie schüttelte schwach den Kopf. "Ich bin kein Mediziner, aber ich bin auch nicht dumm. Sie dürften nicht auf den Beinen sein."
Valerian hielt sein Glas mit beiden Händen, ohne zu trinken. "Sie haben natürlich recht", gab er zu. Er betrachtete seine Hände, die von seinem Blut gerötet waren. "Es ist schwer zu erklären." Sein Blick senkte sich in ihre Augen, sie konnte nicht wegsehen. In seinen klaren grauen Augen spielten weitere Farben wie in der See. "Ich bin nicht in Gefahr", sagte er eindringlich, mit einer Stimme, die tief war und sanft, die sich in ihr Ohr schmeichelte. "Die Verletzungen sind nicht so schlimm wie sie aussehen."
Branwen nickte benommen. "Sie haben wohl recht", brachte sie mit schwerer Zunge hervor. War es der Alkohol, der sie so benebelte? Ihr Glas war leer. Natürlich, Valerian mußte recht haben. Wenn er so schwer verletzt wäre, wie es ausgesehen hatte, könnte er nicht hier sitzen und mit ihr sprechen.
"Bitte, helfen Sie mir hinauf ins Bad. Ich... fühle mich ein wenig weich in den Knien."
Branwen half ihm schweigend hinauf in den ersten Stock. Sein Gewicht lastete schwer auf ihren Schultern, als sie sich die Treppe hinauf quälten.
Er rang sich ein Grinsen ab, als sie den oberen Treppenabsatz erreicht hatten. "Danke. Ich denke, ich schaffe es jetzt alleine."
Branwen fühlte sich noch immer benommen, wie in einem Traum gefangen. Langsam kehrte sie in die Küche zurück. Es sah furchtbar hier aus. Systematisch suchte sie nach einem Eimer und einem Lappen und begann aufzuwischen. Überall war Blut, in der Diele, auf dem Küchenboden, dem Stuhl, an ihren Händen und Kleidern. Sie machte sauber, langsam und gründlich. Erst als sie das Wischwasser ausgegossen hatte und sich mit dem Handrücken über Stirn und Augen fuhr, merkte sie, dass sie weinte. Wer hatte ihm das nur angetan? Er tat niemandem etwas zu leide. Er war charmant und so altmodisch und er malte so hinreißende Bilder. Warum wollte man ihn erschießen? Und wer?
Sie setzte sich auf den noch feuchten Stuhl und barg das Gesicht in den Händen. Die Tränen flossen schneller und reicher. Sie begann zu schluchzen. Durch das geöffnete Fenster wehte ein warmer Wind. Er strich über ihren Nacken, wie eine sanfte Berührung. Von draußen hörte sie die dumpfen Hufschläge von Ellak, der auf der Weide unruhig hin und her lief. Ein Scharren ganz in der Nähe ließ sie erschreckt auffahren.
Valerian ließ sich gerade auf dem Stuhl neben ihr nieder. "Nicht weinen, Branwen. Es macht mich ganz unglücklich." Scheu legte er ihr die Hand auf die Schulter. Noch immer war er tödlich blaß, mit grauen Schatten unter den Augen. Er trug einen blaugrauen Jogging-Anzug, seine feuchten Haare hinterließen dunkle Flecken an den Schultern und er verströmte einen leichten Duft nach Männerseife. Bis auf seine Blässe und die schwach zitternden Hände erinnerte nichts daran, dass ihm vor einer guten halben Stunde jemand zwei Kugeln durch die Brust geschossen hatte, und er eigentlich tot sein müßte. Branwen rieb eine Hand über ihre schmerzenden Augen. Sie fühlte sich schwindelig. Valerian legte ihr beschwörend und beruhigend eine Hand auf den Unterarm. "Es geht mir gut, Branwen, ehrlich. Dank Ihrer Hilfe."
Sie konnte ihn aus ihren tränenverschleierten Augen kaum erkennen. "Das ist unmöglich", brachte sie mit erstickter Stimme hervor. "Völlig unmöglich." Danach wußte sie nichts mehr.

Licht schimmerte durch ihre geschlossenen Lider und weckte sie. Unwillig zwang sie ihre Augen, sich zu öffnen. Müdigkeit klebte zäh an ihr und ließ sich nur mühsam abschütteln. Die Sonne schien durch das Fenster und erfüllte einen Raum mit Licht, den sie nicht gleich erkannte. Zarte Gardinen wölbten sich im Luftzug, der zusammen mit Vogelgezwitscher durch das einen Spalt weit geöffnete Fenster hereinwehte. Sie setzte sich auf und rieb über ihre schmerzenden Augen. Die Lider fühlten sich geschwollen an. Schlagartig erinnerte sie sich. Jemand hatte auf Valerian Donn geschossen. In einem Anflug von Panik sprang sie aus dem Bett, warf sich einen bereit liegenden Bademantel über und stürzte zur Tür. Schwacher Kaffeeduft drang an ihre Nase. Verwirrt hielt sie inne. Sie war schon einmal in diesem Zimmer erwacht und von dem Geruch nach frisch gebrühtem Kaffee und gebratenem Speck begrüßt worden. Mit einem eigenartigen Gefühl ging sie hinunter in die Küche.
Valerian stand am Herd und briet Speckstreifen für das Frühstück in einer schweren eisernen Pfanne. 
"Guten Morgen", sagte Branwen. "Geht es Ihnen gut?" Hinter ihrer Stirn begann es leicht zu summen und ihr war schwindelig zumute. Hatte sie alles nur geträumt? Der Maler sah nicht aus wie ein Schwerverwundeter.
Er strahlte sie an. "Sicher. Guten Morgen. Haben sie gut geschlafen?" 
"Nicht besonders, um ehrlich zu sein." Branwen zog den Bademantel mit einer Hand über der Brust zusammen und lehnte sich gegen den Türrahmen. Diese Gegenstände schienen momentan das einzig Reale zu sein. In den Mantel gekuschelt sah sie ihm zu, wie er das Frühstück vorbereitete. Sie erinnerte sich daran, wie sie ihn in seinem Blute liegend gefunden hatte, wie sie ihn verbunden und ins Haus geschafft hatte. Es war keine Erinnerung an einen Traum. 
"Warum leben sie noch?" fragte sie plötzlich. "Sie müßten auf einer Intensivstation liegen oder tot sein. Wieso stehen sie hier und machen Frühstück?"
Valerian hielt in der Bewegung inne und sah sie mit offenkundigem Erstaunen an. "Wie bitte?"
Branwen platzte der Kragen. "Verdammt", fauchte sie. "Versuchen Sie nicht, mich für dumm zu verkaufen. Ich weiß doch, was ich gesehen habe. Irgend jemand hat Ihnen gestern zwei Kugeln in die Brust geschossen und sie stehen jetzt hier vor mir, als sei nichts gewesen. - Versuchen Sie nicht, mir etwas anderes einzureden! Was wird hier eigentlich gespielt?" Beschwörend starrte sie ihn an, in der bangen Erwartung, in seinen Augen die Vermutung zu bemerken, dass sie verrückt sei.
Doch Valerian wandte den Blick ab und ließ die Schultern hängen. Übertrieben sorgfältig nahm er den Speck aus der Pfanne und verteilte ihn auf zwei Teller. "Es war nicht so schlimm, wie es aussah", sagte er lahm. 
"Nicht so schlimm? Ich habe gestern all das Blut aufgewischt..." Sie schlug die Hände vor ihr Gesicht, als  ihr die schrecklichen Bilder vom Vortag wieder gegenwärtig wurden. "Oh mein Gott", stöhnte sie. "Alles war rot. Ich habe noch nie soviel Blut gesehen!"
Valerian umfaßte sanft ihre Hände und zog sie herunter. "Das ist vorbei. Schau mich an. Sieh in mein Gesicht. Ich bin gesund. Wirklich."
Sie gehorchte und blickte ihn an, sah in seine klaren, grauen Augen, die so unendlich tief waren. Die furchtbaren Bilder verschwanden. 
"Aber wie kann das sein?"
"Es ist so etwas wie eine Gabe", erläuterte er zögernd. "Eine Kunst. Wie autogenes Training."
"Autogenes Training?"
"Ja. Die Beherrschung des Körpers durch die Kraft des Geistes. Auch Heilprozesse lassen sich damit beschleunigen."
"Und das soll ich glauben?"
Valerian zuckte mit den Schultern und ließ sie los. "Na schön! Sie haben mich erwischt. Ich gebe auf. In Wirklichkeit bin ich ein Magier aus einer anderen Welt," sagte er leichthin. "Das Frühstück wartet."
Branwen schnaufte zornig. "Veralbern kann ich mich alleine. Sie sind nicht fair mit mir."
Der Maler lächelte sie freundlich an. "Warum sollte ich Sie veralbern, Branwen? Es stimmt schon; ich bin jemand, den Sie am ehesten als Magier bezeichnen würden. Und ich stamme von Caer Donn in Asarhaddon." 
Branwen starrte ihn an, als ob er den Verstand verloren habe, und mußte sich erst einmal setzen. Natürlich! Ein Mann, der so perfekt war wie er, konnte nicht echt sein. Kopfschüttelnd beobachtete sie, wie er den Tisch fertig zu Ende deckte. Seine Bewegungen waren so geschmeidig wie eh und je. Nur sein Gesicht mit den jungenhaften, fröhlichen Augen schien eine Spur ernster und konzentrierter. Er schenkte den Kaffee ein und setzte sich.
"Ich weiß, was Sie denken", sagte er, während er einen warmen Toast mit Butter bestrich. "Aber Sie irren sich. Ich bin weder verrückt noch ein Spinner." Hungrig hieb er seine Zähne in das Brot.
Branwen verspürte keinen Appetit. Mehr aus Pflichtgefühl nahm sie auch eine Scheibe und knabberte daran. "Ich weiß nicht, was ich denken oder glauben soll." Ihr Blick schweifte durch das geöffnete Fenster hinaus. Über der Weide hing Bodennebel. Die Morgensonne schmolz bereits seine oberen Schichten. Es würde ein wunderschöner Tag werden.
Valerian akzeptierte ihr Schweigen und unterbrach es erst, als sie mit dem Frühstück fertig waren. "Es ist ein herrlicher Morgen. Was halten Sie von einem Spaziergang oder einen Ausritt?"
"Eine gute Idee", stimmte Branwen zu. "Die frische Luft wird mir guttun."
"Aber vorher sollten wir uns etwas anderes anziehen. In dem Dielenschrank oben sind frische Kleider." 
Wenig später schlenderten sie gemeinsam um das Haus. Branwens Schritte wurden langsamer als sie sich dem Stall näherten. Die Erinnerung an den gestrigen Tag drängte mit Macht zurück. Sie begann zu zittern. Wie beiläufig legte Valerian den Arm um ihre Schultern. Er verströmte Ruhe und Sicherheit. Ihre Angst war wie weggeblasen. Der Stall barg keinen Schrecken mehr für sie. Die geschlossenen Türen wiesen auf ihrer oberen Hälfte zwei Löcher mit zersplitterten Rändern auf. Doch zu ihrem Erstaunen waren das die einzigen Spuren, die von dem Mordversuch zeugten. Ellak wieherte, als er sie hörte. Valerian rief etwas in seiner keltisch klingenden Sprache und öffnet die obere Türhälfte. Sofort erschien Ellaks schwarzer Kopf. Er rieb seinen großen Kopf zärtlich an der Brust seines Herrn und nahm das trockene Brot, das ihm geboten wurde, entgegen. Valerian ergriff den Halfter und führte das Pferd heraus und band es an. Branwen zog sich etwas zurück und sah zu, wie er Ellak putzte und dabei leise vor sich hin sang. Das Pferd spielte mit den Ohren, um sich ja nichts entgehen zu lassen. Schließlich war Valerian fertig, löste den Knoten und brachte ihn auf die Weide. 
Auf dem Weg verharrte er plötzlich.
"Was ist los?" fragte Branwen erschrocken.
"Nichts", winkte er rasch ab. Zu rasch. Zögernd ging er weiter.
"Bitte, lügen Sie mich nicht an."
Valerian warf ihr einen belustigten Blick zu. "Entschuldigung. Ich glaube, dass ich dahinten ein Aufblitzen gesehen habe. Vielleicht von einem Auto." Er deutete mit dem Kinn die Richtung an.
"Sie... Sie meinen, der Mensch von gestern?"
"Möglich."
Branwen schluckte. Wie konnte er so ruhig bleiben, wenn sein Mörder in der Gegend lauerte? Sie erreichten die Weide. Valerian nahm Ellak den Halfter ab und ließ ihn frei. Vom Zaun aus sah er mit halbgeschlossenen Augen zu, wie er sich die Stallsteife aus den Gliedern rannte.
Branwen lehnte sich neben ihm an das Gatter. "Ein herrliches Pferd. Was für eine Rasse ist das?"
"Keine Ahnung. Er stammt von daheim. Eigene Zucht", antwortete er abwesend. Plötzlich versteifte er sich. Sein Gesicht wurde sehr gespannt und konzentriert. "Gehen Sie zur Seite, Branwen", sagte er leise.
Sie gehorchte ohne Frage und wich zögernd zurück, ein unangenehmes Gefühl in ihrer Magengegend. Valerian  drehte sich ohne Hast um und stützte die Ellbogen lässig auf das Gatter.
"Komm heraus und zeig dich", sagte er zu einem unweit entfernten Gebüsch, das er unverwandt ansah. Seine Stimme blieb ganz ruhig, beinahe freundlich.
Einige Sekunden lang geschah gar nichts. Dann teilten sich die Zweige und  ein kleiner Mann trat hervor, einen Revolver in der Hand. Branwen preßte die Hand auf den Mund um nicht zu schreien.
"Wer bist du und warum willst du mich töten?" fragte Valerian mit unveränderter Freundlichkeit.
Die Züge des kleinen Mannes verkrampften sich. Er umklammerte den Revolver fester mit beiden Händen. Der schwankende Lauf zielte auf Valerians Brust. Schweiß perlte über sein Gesicht und klebte Strähnen des blonden Haares in sichelförmigen Locken an die Stirn. "Hannomac", stieß er hervor. "Ich bin Hannomac. Und ich muß Euch töten."
Kaum hatte der Mann die Worte gesprochen, da wandelte sich sein Gesichtsausdruck in schieres Entsetzen. Die Waffe fiel zu Boden, er griff sich an die Brust und stürzte. Valerian und Branwen waren nahezu gleichzeitig bei ihm. Er nahm den Revolver, sicherte ihn und gab ihn Branwen.
"Hier. Passen sie auf das Ding auf."
"Was ist mit ihm?" fragte sie, während sie sich die Waffe in die Hand drücken ließ.
"Er ist ohnmächtig. Ich bringe ihn rein."
Damit hob er ihn auf und trug ihn ins Haus. Branwen lief voraus und öffnete für ihn die Türen. Im Wohnzimmer legte er Hannomac auf die große Couch.
"Er wird gleich wieder wach werden", sagte er bestimmt. "Ich werde ihm ein paar Fragen stellen und dafür sorgen, dass er sie wahrheitsgemäß beantwortet. Sie brauchen keine Angst zu haben, Branwen, es wird niemandem etwas geschehen."
"Ich habe keine Angst. Was soll ich mit der Pistole machen?"
"Spülen Sie sie durchs Klo." Valerian holte eine durchsichtige Kugel auf einem schwarzen Standring aus seinem Sekretär und stellte sie auf den Tisch. "So", sagte er. "Mal sehen, was er zu beichten hat. Halten Sie sich bitte im Hintergrund, Branwen." Sie nickte und wich gegen die Wand zurück.
Valerian schüttelte Hannomac leicht an der Schulter. "He, Hannomac! Wach auf."
Der kleine Mann zuckte und schreckte auf. Er starrte Valerian mit vor Entsetzen geweiteten Augen an. "Bitte, gnädiger Herr, tut mir nichts! Laßt mich leben!" winselte er zitternd.
"Ich werde dir nichts tun, wenn du mir die Wahrheit sagst", erwiderte Valerian freundlich. "Aber wage es nicht, mich anzulügen."
"Ich werde nicht lügen, bestimmt nicht."
"Nun gut. Du wolltest mich töten. Warum?"
"Der Herr Magirus wollte es so."
"Magirus? Warum will er meinen Tod?"
"Ich weiß es nicht, gnädiger Herr. Wer bin ich denn, dass er seine Gedanken mit mir teilt?" Hannomac zitterte vor Angst am ganzen Körper.
"Ganz ruhig", beschwichtigte ihn Valerian. "Es geschieht dir nichts."
Doch er konnte den kleinen Mann nicht beruhigen. Er zitterte heftiger, krümmte sich in Schmerzen und erschlaffte plötzlich. Seine Augen blickten nun leer und als er wieder sprach, war seine Stimme eine andere: Tief, volltönend und arrogant.
"Wie ich sehe, lebst du noch, Valerian. Bedauerlich, sehr bedauerlich. Dieser Trottel Hanno hat alles verdorben. Dabei sind diese Feuerwaffen doch narrensicher!"
"Magirus!" zischte Valerian böse.
"Verschwinde und wage es nicht noch einmal, meine Wege zu kreuzen."
Magirus lachte spöttisch. "Reg’ dich nicht auf, Valerian. Du weißt, dass das nichts bringt. Und sei versichert, ich finde dich, wo auch immer du dich verkriechst."
"Ich verkrieche mich nicht", warf  Valerian empört ein.
"Ach was! Ich habe viele Diener. Beim nächsten Mal kommst du mir nicht davon. Das glaube mir!"
Der kleine Mann wurde ohnmächtig. Valerian legt ihm die Hand an den Hals und prüfte seinen Pulsschlag.
"Wa... wa... w..." Branwen verstummte, als sie merkte, dass sie nur Stottern herausbrachte. In welches Irrenhaus war sie nur geraten? Ihr schwindelte es, sie mußte sich setzen.
"Er ist soweit in Ordnung", bemerkte Valerian, mehr zu sich selbst. Er beugte sich über die bereitgestellte Kugel und legte seine Hände darum. Ein blauer Funke glomm in ihrem Innern auf, begann knisternd zu tanzen und sich zu vervielfältigen, bis kleine, blauweiße Blitze in der Kugel zuckten. Plötzlich gleißte grelles Licht auf, gefolgt von einem Knall. Branwen schrie auf und schlug die Hände vor ihr Gesicht.
"Entschuldigung", hörte sie Valerian sagen. "Ich hätte Sie warnen sollen. Es ist alles in Ordnung."
Branwen nahm die Hände vom Gesicht und zwinkerte. Es war, als hätte sie versucht, in die Sonne zu sehen. Das Zimmer schien dunkel zu sein. Langsam wurde es wieder heller. Die Couch war leer.
"Was ist passiert? Wo ist dieser Mann?"
"Ich habe ihn nach Hause zurückgeschickt." Valerian sah um zehn Jahre gealtert aus. Die plötzliche Stille lastete auf dem Wohnzimmer.
"Ich denke, Sie schulden mir eine Erklärung, Valerian."
Er hob die Hände in einer ergebenen Geste und warf ihr den verzweifeltsten Blick zu, den sie je gesehen hatte. Doch dann nickte er. "Ja, das denke ich auch. Gehen wir in die Küche? Ich habe noch Erdbeerkuchen... und einen Bärenhunger."
"Gut." Sie gingen in die Küche.
Valerian holte den Kuchen aus dem Kühlschrank und machte sich daran, Sahne zu schlagen. "Ich habe Ihnen gesagt, dass ich so etwas wie ein Zauberer bin", erzählte er dabei. "In Ihren Ohren klingt das nicht sehr wahrscheinlich, ich weiß." Er seufzte leise. "Ich... ähm... bin mit der Gabe geboren. Mein Volk beherrscht vor allem die Kunst der Reisen durch Raum und Zeit, neben einigen anderen Dingen." Er machte eine Pause, um das Rührgerät abzuschalten und die Sahne in eine Glasschale zu füllen. "Ich bin vor einiger Zeit hierher gekommen, um nach meinen Vorstellungen leben zu können, was mir daheim nicht vergönnt ist. Magirus ist ebenfalls von meiner Art. Wir haben uns noch nie leiden können. Aber bisher hat er mich noch nie über die Grenzen unserer Heimat hinaus verfolgt."
"Und wo ist das?"
Er zuckte die Achseln. "Ich weiß es nicht. In einer anderen Zeit und einer anderen Welt." Er verstummte und setzte sich zu ihr an den Tisch. "Das war es im Prinzip."
Branwen nickte. "Sicher. Natürlich." Branwen strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. "Das klingt irgendwie... wenig glaubwürdig." Sie kreuzte ihre Hände sehr bewußt vor sich auf der Tischplatte und schaute sie an. Wenn sie Valerian ins Gesicht sah, würde sie ihm alles glauben. Es war haarsträubend, was er ihr weismachen wollte; es war haarsträubend, was geschehen war. Sie ertappte sich dabei, wie sie sich danach sehnte, ihm zu glauben. "Erzähle mir von deiner Welt."
"Sie ist anders als diese hier", sagte er leise. "Anders, und doch wieder sehr ähnlich. Asarhaddon ist ein grünes Land, mit einfachen Menschen, so wie es England vor langer Zeit einmal war. Die Luft ist so sauber, wie man es sich hier kaum vorstellen kann. Es gibt keine Autos, keine nennenswerte Industrie. Mein Heim ist Caer Donn, eine uralte Burg über der Stadt mit einem wundervollen Blick über das Land. Ich liebe meine Heimat, aber ich kann dort nicht leben. Darum habe ich die Burg verlassen, um in einer anderen Welt ein neues Zuhause zu finden. Die Natur hat mich mit einem Talent gesegnet, für das es in Asarhaddon keine Verwendung gibt."
Die wunderschönen, lebensvollen Bilder. Weiß Gott, das war ein Talent!
"Eines Tages hatte ich festgestellt, dass es mir bestimmt ist, zu malen, anstatt ein gutgläubiges Volk als Gottkönig zu beherrschen. Also habe ich meinen Weggang inszeniert und bin hierher gekommen, in die beste aller Welten für die Art von Leben, die ich mir wünschte. - Darf ich dir ein Stück Kuchen geben?"
"Ja, bitte."
Er balancierte mit dem Messer ein Stück auf ihren Teller und schob ihr das Sahneschüsselchen zu. Die Erdbeeren leuchteten in einem feurigen Rot und bettelten geradezu um einen belebenden Klacks Schlagsahne. Es war unmöglich, der Versuchung länger zu widerstehen. Der Kuchen schmeckte so vorzüglich wie er aussah.
"Ich kann es noch immer kaum glauben", erwiderte sie. "Aber ich glaube, es ist mir egal."
Valerian antwortete nichts darauf. Er stocherte in seinem Kuchen herum und machte einen nachdenklichen, abwesenden Eindruck. Eher zufällig streifte Branwens Blick die Küchenuhr.
Der Schreck fuhr ihr in die Glieder. Scharf sog sie die Luft ein. "Himmel", stieß sie hervor. "Ich muß los. Eigentlich für sich wollte ich ja schon gestern zu Hause sein! Geraldine wird sich Sorgen machen! Geraldine und ich haben eine gemeinsame Wohnung", fügte sie erklärend hinzu.
Valerian erhob sich. "Ich hole dein Bild." Kavalier, der er war, brachte er nicht nur das Bild sondern auch ihr Gepäck in das Auto und hielt ihr die Tür beim Einsteigen auf. "Sehe ich dich irgendwann wieder?" fragte er, die Tür noch in der Hand. "Vielleicht nächstes Wochenende? Ich verspreche auch, dass es nicht wieder so eklige Zwischenfälle geben wird."
"Vielleicht." Branwen lächelte - unverbindlich, wie sie hoffte. Komischer Kauz hin oder her. Er war der galanteste und interessanteste Mann, der ihr je über den Weg gelaufen war. "Sag ja", bat Valerian. "Ich habe kein Telefon."
"Nächstes Wochenende haben ich keine Zeit. Aber das danach. Wenn du magst."
"Es wird mir eine Freude sein."
Sie startete und winkte im Wegfahren aus dem Fenster. Im Rückspiegel sah sie seine Gestalt kleiner werden. Er winkte ebenfalls.

* * *

Es gab kein weiteres Wochenende. Es waren erst zwei Tage vergangen, als Geraldine etwas atemlos zu ihr in die Dunkelkammer kam. "Dein Freund wartet vorne auf dich", sagte sie aufgeregt. Natürlich hatte Branwen ihrer Freundin mit Stolz von ihrer ritterlichen Bekanntschaft erzählt. Doch war das ein Grund, ihn ihren Freund zu nennen?
"Woher willst du wissen, dass es Valerian ist? Du kennst ihn doch gar nicht."
Geraldine kicherte. "Er muß es sein. Er hat vor dem Laden ein Pferd an die Parkuhr gebunden und eine Münze eingeworfen."
Das konnte nur Valerian sein! "Machst du bitte hier weiter?" bat sie und eilte nach vorn. War etwas geschehen? Warum kam er hierher? 
Valerian stand im Laden, das Haar verwegen zerzaust, und betrachtete die Aufnahmen an den Wänden. Er erinnerte weitläufig an einen Cowboy, mit seiner Jeans, den halbhohen Stiefeln und der gefütterten, abgewetzten Lederjacke. Und dem Pferd an der Parkuhr. Durch das Fenster sah Branwen bereits eine Menschenansammlung, die das Pferd begaffte.
"Sie habe ich hier nicht erwartet", sagte sie.
Valerian zauberte ein verlegenes, jungenhaftes Grinsen in sein Gesicht. "Nun ja", dehnte er. "Mir geht es genauso. Ich bin nur vorbeigekommen, um mich zu verabschieden."
"Verabschieden?" Wenn er ihr in den Magen geboxt hätte, hätte er sie nicht heftiger treffen können. Er nickte. "Ja. Ich muß... geschäftlich weg."
"Darf ich erfahren, wohin?"
Leichte Röte überzog seine Wangen. "Salisbury", sagte er. "Ich weiß nicht, wann ich wiederkomme. Es kann etwas dauern, bis ich wieder im Lande bin. Ich melde mich dann, okay?"
Branwen nickte langsam.
"Auf Wiedersehen, Branwen", sagte Valerian. "Ich muß los. Mein Zug fährt gleich." Er gab ihr die Hand. Ein fester, aufmunternder Händedruck.
"Auf Wiedersehen", murmelte Branwen. Dann war Valerian wieder verschwunden. Durch das Fenster sah sie, wie er sich einen Weg durch die Schaulustigen bahnte, die Zügel von der Parkuhr löste und so souverän aufsaß, wie andere in ihr Auto stiegen. Er lächelte ihr noch einmal zu und ritt dann davon.
Branwen lauschte, bis die Hufschläge verklangen. Sie war wie vor den Kopf geschlagen. Was wollte Valerian denn in Salisbury? Hatte es etwas mit den vergangenen Ereignissen, mit diesem Magirus zu tun?
"Ein irrer Typ. Was wollte er?" Geraldine war aus der Dunkelkammer aufgetaucht und stand nun hinter ihr.
"Nur ‘Auf Wiedersehen’ sagen", antwortete Branwen leise. Es war ihr unmöglich, sich noch auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Gegen Mittag nahm sie sich für den Rest des Tages und den folgenden frei.
Ihr war ein Verdacht gekommen. Sie nahm sich kaum die Zeit, Ihre Zahnbürste einzupacken und fuhr stracks nach Süden, nach Salisbury. Es war bereits kurz vor Sonnenuntergang, als sie eintraf. Eigentlich gab es hier nur einen Ort, der für Valerian von Interesse sein konnte. Sie parkte auf dem nun menschenleeren Parkplatz gegenüber der uralten Kultstätte Stonehenge. Das Monument wie auch die Verkaufsbuden hatten bereits geschlossen und das Datum lockte auch niemanden von den New-Age-Freaks oder Neodruiden oder sonstigen Verrückten an. Sie ging hinüber zu dem hohen Zaun und starrte zu den mächtigen grauen Steinen hinüber. In ihrer Kindheit hatte sie einen Schulausflug hierher gemacht. Damals hatte sie erwartet, irgend etwas Rätselhaftes, Geheimnisvolles zu spüren, irgendeine Botschaft über die Jahrtausende hinweg, wie es in den Büchern beschrieben wurde, die sie damals verschlungen hatte. Sie war herbe enttäuscht worden. Es war nichts als eine Ansammlung gewaltiger Steine. So ähnlich empfand sie auch jetzt. Obwohl... etwas war anders, jetzt, wo kein Tourist weit und breit zu sehen war und die abendliche Stille darüber gebreitet lag. Welches Volk hatte sich nur die Arbeit gemacht, die riesigen Trilithen aufzurichten? Und warum? Und wo war Valerian?
Als sei er durch ihre Gedanken herbeigerufen worden, sah sie ihn plötzlich. Er kam ohne besondere Eile entlang der Straße dahergeritten. "Sie hätte ich hier nicht vermutet", bemerkte er, als er auf einer Höhe mit ihr war. Elegant saß er ab.
Branwen lehnte sich gegen den Zaun und hakte ihre Daumen in die Gürtelösen ihrer Hose. "Stonehenge, ja?" sagte sie.
Er wurde feuerrot. "Ja", antwortete er verlegen. "Ich kann nichts dafür."
"Was ist an dem Steinkreis so besonderes?"
"Ich weiß es nicht. Was tun sie eigentlich hier?"
"Ich überprüfe eine Theorie. Was sollte ein Mann wie Sie in Salisbury tun, wenn nicht Stonehenge aufsuchen? Was wollen Sie wirklich hier?"
"Gehen wir ein bißchen von der Straße weg. Nicht, dass eine Polizeistreife auf uns aufmerksam wird."
Gemeinsam überquerten sie die Straße und den Parkplatz. Ellak folgte am langen Zügel.
"Eine gute Frage", bemerkte Valerian dabei. "Und es gibt eine einfache Antwort. Ich muß dringend nach Hause."
"Nach Asarhaddon?"
"Ja. Ich weiß jetzt, was Magirus vorhat. Meine Anwesenheit daheim ist dringend erforderlich."
"Sagen Sie es mir."
"Es droht ein Krieg."
"Krieg?" Branwen blieb geschockt stehen. "Ein richtiger Krieg?"
"Ja, ein schlimmer." Valerian senkte den Kopf.
"Warum wollen Sie denn dahin?" entfuhr es ihr.
"Weil es mein Land ist, Branwen. Meines und das meiner Vorfahren."
Da war sie wieder, diese altmodische Ritterlichkeit. Ohne dass es ihnen bewußt wurde, schoben sich ihre Hände ineinander.
"Aber was können Sie schon ausrichten, wenn Sie dorthin gehen und sich umbringen lassen?" "Ich habe nicht vor, mich umbringen zu lassen. Außerdem ist das nicht so leicht."
"Scherzen Sie bitte nicht darüber."
"Sie brauchen um mich keine Angst zu haben, Branwen. Wenn ich rechtzeitig komme, werde ich vielleicht das Schlimmste verhindern können."
"Sie allein? Mit Zauberei?"
Valerian grinste schief. "Nein, nicht ich allein. Ich hoffe, dass ich genügend von den Unseren zusammenrufen kann, um einen Kreis zu bilden. Vielleicht kann Magirus so zurückgedrängt werden."
"Sie hören sich nicht sehr überzeugt an."
Valerian schwieg darauf. 
Es war für Branwen überdeutlich, dass er sich seiner Sache alles andere als sicher war. "Ich hätte nie gedacht, dass ich das einmal erleben muß", sagte sie leise. "Menschen wie Sie sind selten. Ich meine damit, Menschen mit Ihrem Geist, mit Ihrer Lebenseinstellung, Ihrer Kunst, Ihrer Freundlichkeit. Vielleicht sollte ich es nicht sagen, aber ich habe Sie gern. Und dann kommen Sie daher wie ein mittelalterlicher Ritter und sagen ‘Auf Wiedersehen, ich muß in den Krieg ziehen und mein Land befreien’. Wir leben im zwanzigsten Jahrhundert."
"Ich aber nicht, Branwen. Ich weiß nicht einmal, wann ich nach Ihrer Zeitrechnung geboren bin. Als ich das erste Mal hierherkam, hatten gerade die Römer die Insel verlassen. Meine Heimat ist nach ihrer technischen Entwicklung dem frühen Mittelalter dieser Welt vergleichbar. Und dieses Volk will Magirus mit von hier importierten Gewehren angreifen. Es wird nicht die geringste Chance haben, wenn ich sie im Stich lasse. Sobald es geht komme ich zurück. Vielleicht schon in wenigen Tagen."
"Das eben meine ich. Ihr Edelmut ist so selten heutzutage. Ich möchte Sie nicht in einer anderen Welt oder einer anderen Zeit wissen, ohne sicher sein zu können, dass Sie gesund sind oder zu wissen, ob Sie je wiederkommen. Deshalb werde ich mitkommen." Diese Worte kosteten sie ungeheuer viel. Er mußte sie für eine törichte Gans halten. Sie warf sich ihm ja förmlich an den Hals.
Valerian legte ihr beide Hände auf die Schultern und drückte sie an sich. "Ich liebe Sie für Ihre Worte", sagte er. "Und ich würde Sie gern an meiner Seite wissen, aber ich glaube nicht, dass ich Ihnen das alles zumuten kann."
"Bitte, lassen Sie das meine Sorge sein."
"Gut, wie Sie wollen. Aber Sie wissen nicht, worauf Sie sich da einlassen. Wenn mir in Asarhaddon irgend etwas zustoßen sollte, sitzen Sie dort fest."
"Mein Risiko. Ich werde aufpassen, dass Ihnen nichts geschieht."
Valerian lachte. "Überzeugt. Warten wir noch ein bißchen."
Sie warteten bis es ganz dunkel war und auf der ganzen Länge der Straße keine Scheinwerfer zu sehen waren.
"Ich glaube, es ist Zeit", sagte Valerian schließlich mit rauher Stimme.
Sie hatten gemeinsam im Auto gesessen und aneinander gelehnt Radio gehört. Ellak graste in der Nähe. Branwen nickte unbehaglich. Sie stiegen aus. Branwen verschränkte die Arme. Es war kalt geworden. Valerian holte Ellak. Gemeinsam überquerten sie die Straße und gingen den Maschendrahtzaun entlang. An der von beiden Straßen am weitesten entfernten Stelle blieb Valerian stehen und gab ihr die Zügel in die Hand. Er holte eine riesige Drahtschere aus der Satteltasche und begann in aller Seelenruhe, den Zaun durchzukneifen, bis eine Öffnung entstand, die groß genug war, um das Pferd hindurchzulassen. Branwen schaute fröstelnd dabei zu, die Zügel in ihrer Hand fest umklammert. Sie konnte durch das Leder fühlen, wie Ellak an der Gebißstange kaute und gelegentlich den Kopf bewegte. Jedesmal verkrampften sich ihre Finger. Wie sollte es nur in Valerians Heimat werden? Bestimmt gehörten Pferde dort zur Tagesordnung; sie fürchtete sich schon vor dem gutmütigen Ellak. Valerian verstaute sein sperriges Gerät wieder in der Satteltasche.
"Danke."
Er nahm ihr die Zügel aus der Hand, trat das herausgeschnittene Stück Zaun nieder und führte Ellak hinein. Ein gutes Stück vor ihnen ragten die riesigen Trilithen in den Nachthimmel, zeichneten sich wie große, schwarze Tore vor den Sternen ab. Am Nachmittag hatte Branwen nichts bei ihrem Anblick empfunden. Doch jetzt spürte sie eine geheimnisvolle Ausstrahlung, die ihr Herz flattern ließ und ein Prickeln durch ihre Adern sandte. Sie beeilte sich, zu Valerian aufzuschließen, der bereits im Sattel saß.
"Stellen Sie Ihren Fuß in den Steigbügel und nehmen Sie meine Hand", sagte er.
Mühsam manövrierte sie ihren Fuß in den Bügel und angelte nach seiner Hand. Dann hatte sie sie. Valerian zog sie hinter sich aufs Pferd.
"Gut festhalten", mahnte er.
Sie legte gehorsam die Arme um seine Taille und bemühte sich um einen möglichst sicheren und bequemen Sitz. Valerian  lenkte Ellak langsam in die Mitte des Steinkreises, in der einen Hand die Zügel, in der anderen hielt er die Kugel. Im Zentrum des Monumentes blieb das Pferd stehen.
"Schließen Sie die Augen und halten Sie sich gut fest. Lassen Sie mich unter keinen, unter gar keinen Umständen los."
"Darauf können Sie Gift nehmen!"
Sie hakte ihre Hände vor seinem Magen ineinander und kniff ihre Augen zusammen. Wieder hörte sie das Knistern der Kugel. Ellak wurde unruhig, begann zu tänzeln. Valerian brummte beruhigend. Dann war da wieder das grelle Licht, es war durch ihre geschlossenen Lider zu sehen. Eine plötzliche eisige Kälte erfaßte sie, dann angenehme Wärme Ellak machte einen Satz und stieg schrill wiehernd. Branwen fühlte, wie sie den Halt verlor und anfing zu rutschen. Sie schrie auf, als sich ihr Griff löste. Rücklings plumpste sie in hohes Gras. Verwundert riß sie die Augen auf. Es war noch immer dunkel, doch die Sterne schienen viel größer und heller als die, die sie gerade noch gesehen hatte. Die Trilithen von Stonehenge waren verschwunden. Statt dessen bemerkte sie aus dem Augenwinkel eine kompakte, schwarze Masse zu ihrer rechten Seite, die einen Teil des Sternenhimmels verdeckte. 

Ellak stampfte nervös und ließ den Boden erzittern. "Ho!", rief Valerian, "Ho! Ruhig, mein Junge, ruhig!" Mit seiner Stimme und seinen Händen gelang es ihm, das mächtige Pferd zu beruhigen. Er saß ab und half Branwen auf die Füße. "Willkommen auf Caer Donn", sagte er, eine formvollendete Verbeugung ausführend und einen imaginären Hut schwenkend. "Leider scheint niemand mit unserer Ankunft gerechnet zu haben." Er musterte Branwen. "Alles in Ordnung?"
"Ja. Es ist nichts passiert."
Valerian nahm Ellak Sattel und Zaumzeug ab und ließ ihn laufen. "Gehen wir hinein." Er wies auf den mächtigen Schatten hochragender Mauern und führte sie durch den verwilderten Garten, in dem sie gelandet waren, ins Haus. 
Als sie durch die Eingangstür getreten waren, erschien ein gelbes Licht vor ihnen und führte sie durch lange Gänge in ein geräumiges Schlafgemach.
"Was ist das?" fragte Branwen leise.
"Zauberei", antwortete Valerian schmunzelnd. Er sah sich in dem Gemach um, soweit es von dem trüben Licht erhellt wurde. Eine dicke Staubschicht lag überall.
"Es sieht so verlassen aus", flüsterte Branwen.
Valerian nickte nur. Er ging zum Fenster und stieß den Laden auf. Dann deckte er das Bett auf, sehr behutsam, um nicht mehr Staub aufzuwirbeln als absolut notwendig. "Schlafen wir erst einmal. Das Putzen verschiebe ich auf morgen." Sie kletterten so wie sie waren in das Bett und waren bald eingeschlafen.
Als Branwen am nächsten Morgen erwachte, war sie allein. Verwirrt setzte sie sich auf. Die Sonne schien ins Zimmer. Alles war blitzsauber und aufgeräumt. Auf einem Waschtisch stand eine Schüssel mit einem Krug Wasser und einem frischen Handtuch. An der halboffenen Tür eines Wandschrankes hing ein langes, grünes Kleid bereit. Sie ließ sich in das Kissen zurückfallen. Für eine Weile lag sie regungslos auf dem Rücken, bemüht, ihre Gedanken zu ordnen. Nach und nach fiel ihr alles wieder ein. "Das muß ein ganz wilder Traum gewesen sein", brummte sie. Doch gleichzeitig wußte sie, dass es alles andere als ein Traum war. Wo war Valerian? 
Sie stand auf und machte sich auf die Suche. Ihr Zimmer lag am Ende eines langen, mit Fackelhaltern bestückten Ganges. Es war unheimlich still. "Valerian?" Sie wagte nicht, laut zu rufen, die Stille lastete zu schwer auf dem Gemäuer. Zögernd betrat sie den Gang. Warum hatte er sie allein gelassen? Langsam ging sie den Gang entlang, mit dem unangenehmen Gefühl, allein in einem riesigen, ehrwürdigen Museum zu sein. Sie gelangte an eine Wendeltreppe und stieg sie empor. Die Treppe führte in ein helles Turmzimmer mit großen, geöffneten Fenstern. Valerian saß dort hinter einem mächtigen Tisch aus dunklem Holz und starrte in seine Kristallkugel. Bei ihrem Eintreten sah er kurz auf und konzentrierte dann seine Aufmerksamkeit wieder auf die Kugel. Obwohl ihr viele Fragen auf der Zunge brannten, schwieg sie. Sie hätte schwören mögen, dass er in der Nacht nicht geschlafen hatte. Trotzdem sah er gut gelaunt und frisch aus. Er trug ein besticktes, goldgrünes Gewand, dessen Schnitt sie nicht näher bestimmen konnte. Es wirkte irgendwie mittelalterlich, wie aus einem alten Hollywoodfilm. Es verschaffte ihm eine Aura des Ehrwürdigen. In dem Zimmer fiel ein großer Spiegel auf, der neben dem Tisch vor der Wand stand. Ihr Spiegelbild sah unmöglich aus, mit zerknitterter Kleidung und zerzausten Haaren. Sie seufzte innerlich und begann ihre Haare mit den Fingern zu ordnen.
"Hast du gar nicht geschlafen", fragte sie, als Valerian sich in seinem Stuhl zurücklehnte.
"So gut wie gar nicht", gestand er. "Es gab so irrsinnig viel zu tun."
"Hast du das ganze Schloß allein geputzt?"
"Nein, natürlich nicht. Als ich das letzte Mal gegangen bin, habe ich das Schloß versiegelt. Eigentlich hätte hier nicht einmal Staub liegen dürfen. Ich habe damals wohl einen Fehler gemacht." Er verstummte, den Blick nachdenklich auf seine Fingerspitzen gerichtet. "Ich habe ein bißchen Ordnung gemacht, mich im Land umgeschaut und versucht, einige meiner Freunde zu erreichen."
"Umgeschaut?"
Valerian nickte. "Mit der Kugel. Ich zeige es dir."
Die blauen Blitze begannen wieder zu knistern. Einer züngelte aus der Kugel heraus und berührte den Spiegel. Im Nu war dieser von einem blauen Gespinst überzogen, dann verschwand es und statt seiner erfüllte ein Landschaftsbild die Spiegelfläche. Den Horizont begrenzte eine im Dunst verschleierte Bergkette. Rasch glitt die Landschaft dahin, wie aus einem Flugzeug aufgenommen. Dann sah sie eine Siedlung. Das Bild schien darauf zuzustürzen. Dann wurde es langsamer und glitt in geringer Höhe darüber hinweg, so dass sie die Leute in den Straßen und Gassen sehen konnte. Dann begann es zu flimmern und erlosch.
Branwen drehte sich überrascht um. Der Kristall war erloschen, Valerian lehnte in seinem Stuhl und massierte mit Daumen und Zeigefinger seinen Nasenrücken. "Was ist mit dir?"
"Nichts, ich bin nur müde."
Branwen nickte verstehend. Sie trat hinter ihn und begann, seine Schultern und den Nacken zu massieren. Sämtliche Muskeln waren verspannt, hart und voller Knoten.
"Bist du nicht glücklich, wieder daheim zu sein?"
"Nicht übermäßig", gestand er leise. "Ich liebe Asarhaddon und ich mag die Leute hier, weil sie zu Asarhaddon gehören. Aber es ist schwer, hier glücklich zu sein."
"Obwohl du es so sehr liebst?"
"Liebe allein ist nicht alles."
Für einen Moment erstarrte sie, doch dann massierte sie weiter. Der letzte Satz hatte traurig geklungen, trotz der harten Aussage. "Was fehlt dir denn zum Glück?"
"Du wirst es bald merken, Branwen. Möchtest du dich nicht umziehen? Wir werden bald Besuch bekommen."
"Besuch von wem? Von deinen Freunden?"
"Nein. Das dauert noch etwas. Aus dem Dorf. Die Leute wären von deiner Tracht höchst überrascht."
"Das grüne Kleid?"
"Ja. Grün steht dir so gut. Wenn du willst, kann ich dir helfen. Es hat irrsinnig viele Knöpfe. Eigentlich brauchst du eine Zofe."
"Na schön. Dann ziehe ich es an. Aber das kann ich alleine."
Valerian lachte leise. "Wie du willst. Findest du den Weg zurück?"
"Ja. Ruh dich aus."
Er nickte zwar, doch Branwen glaubte nicht, dass er es wirklich tun würde. Vielleicht brauchte er weniger Schlaf als ein normaler Sterblicher. Sie fand das Zimmer ohne Schwierigkeiten wieder. Nachdem sie sich gewaschen und die Zähne gebürstet hatte, sah sie sich das Kleid näher an. Es hatte tatsächlich sehr viele Knöpfe, und alle hinten. Mit einem Gefühl, das zwischen Mißtrauen und Bewunderung schwankte, untersuchte sie jede einzelne Falte. Sie bedauerte plötzlich, dass sie sich nie für die Mode vergangener Zeiten interessiert hatte. Wie sollte sie da nur hineinkommen? Sie schaffte es irgendwie. Gerade hatte sie angefangen, sich mit den unzähligen Knöpfen abzuplagen, als Valerian nach höflichem Klopfen eintrat.
"Darf ich behilflich sein?"
"Ausnahmsweise." Sie beobachtete im Spiegel, wie er hinter sie trat und begann, die Knöpfe zu schließen. Langsam gewann das Kleid an Kontur und umschmiegte eng ihren Körper. Es stand ihr wunderbar.
"Wem gehört es?" fragte sie unvermittelt. "Oder pflegst du, Frauenkleider in deinen Schränken zu sammeln?"
Sie sah im Spiegel, wie Valerian den Kopf hob und einen Moment lang in den Spiegel starrte. Dann wurde sein Blick wieder lebendig und er sah sie im Spiegel an. "Es gehörte meiner Frau." Seine Stimme klang härter, als sie es gewohnt war. Sie wußte nicht, was sie mehr schockte, dieser fremde Klang oder die Tatsache, dass er verheiratet war. "Unsere Ehe dauerte nur kurz. Sie starb vor... nun... es müssen etwa hundert Jahre seitdem vergangen sein. In dieser Welt." Branwen fühlte sich plötzlich schwindelig.
"Und nach deiner Zeit?"
"Fünf Jahre." Valerian neigte den Kopf und küßte sie zärtlich in die Halsbeuge. "Laß uns keine Erinnerungen heraufbeschwören. Bitte."
Branwen drehte sich um und schlang die Arme um seinen Hals. "Ich liebe dich, Valerian", sagte sie inbrünstig.
"Ich liebe dich auch", erwiderte er zärtlich. "Aber es wird nicht leicht sein."
Sie bestätigten sich ihre Worte mit einem langen Kuß. Plötzlich versteifte sich Valerian und hob lauschend den Kopf.
"Was ist?" fragte Branwen irritiert.
Valerian eilte wortlos zum Fenster. Sie folgte ihm und nun sah sie auch, was seine scharfen Ohren gehört haben mußten. Ein langer Zug von Menschen näherte sich singend dem Schloß. Alle hatten ihre Festtagskleidung angelegt und schienen etwas zu tragen. Die einen hatten Blumen in den Händen oder Körbe in der Armbeuge. Einige Frauen trugen flache, geflochtene Körbe auf den Köpfen, andere waren umgeben von Kindern.
"Wer sind all diese Leute?" fragte Branwen erstaunt.
"Sie leben in den umliegenden Dörfern und kommen, uns willkommen zu heißen. Wir sollten hinuntergehen und sie empfangen."
Im Fernsehen hatte Branwen schon viele Empfänge und Paraden gesehen, doch was sie hier erlebte, stellte alles in den Schatten. Die Leute kamen in einem endlos erscheinenden Zug und brachten Geschenke. Sie warfen sich vor ihnen zu Boden und wagten nicht, die Augen zu ihnen zu erheben. Valerian schien wie ausgewechselt. Seine fröhliche Unbekümmertheit war einem unnahbaren Ernst gewichen. Er wirkte wie der gestrenge Herrscher aus einem Märchenbuch. Gelegentlich sprach er zu den Leuten, steif und wohlgesetzt. Einigen bedeutete er, in das Schloß zu gehen und in seine Dienste zu treten. Damit schien er den Betroffenen eine große Freude zu bereiten.
Später schlenderten sie gemeinsam durch den verwilderten Obstgarten. "Das war alles sehr merkwürdig", sagte Branwen nachdenklich. "Die Leute scheinen dich geradezu zu vergöttern."
Valerian seufzte aus tiefstem Herzen. "Das eben ist mein Problem"; sagte er leise. "Und das macht mir mein Leben hier nahezu unerträglich. Es ist nicht leicht ein Gott zu sein, wenn man auch nur sterblich ist."
Er klang so bekümmert, dass Branwen ihren Arm ganz fest um ihn legte.
Das Schloß war jetzt lebendiger, da nun menschliche Diener seine Gänge und Flure bevölkerten. Aber sie schienen in einer anderen Welt zu leben. Alle machten einen respektvollen Bogen um Branwen und Valerian. Wenn sich ein Zusammentreffen nicht vermeiden ließ, verbeugten sich die Diener so tief, dass es unmöglich war, ihr Gesicht zu erkennen. Es kostete Branwen Überwindung, dann einfach vorbeizugehen, ohne die gebeugten Menschen zu beachten.
"Sie betrachten es als große Ehre, hier zu dienen", erklärte Valerian, aber wenn wir ihnen zuviel Aufmerksamkeit widmen, ist es ihnen unangenehm. Es macht ihnen sogar Angst."
"Warum kommen sie dann her?"
"Es war schon immer so." Valerian ließ sich mit der nachlässigen Eleganz einer Katze auf dem bemoosten Rand eines Brunnens nieder. "Ich bin ein miserabler Herrscher", sinnierte er, den Kopf leicht zurückgebeugt, um sie ansehen zu können. "Lasse mein Volk für Generationen allein."
"Nimmt dein Volk es dir übel?"
"Ich glaube nicht." Valerian lachte leise und rückte etwas beiseite, damit auch Branwen Platz fand.
"Beinahe könnte ich vergessen, dass es England überhaupt gibt," sagte sie. "Ein komisches Gefühl. Hängt es mit deiner Zauberei zusammen?"
"Nein. Wohl eher mit der Psyche. Wie heißt es doch gleich? Aus den Augen, aus dem Sinn."
Branwen schwieg. Was kümmerte sie im Augenblick England? Sie war hier in Asarhaddon bei Valerian.
Da begann die Luft vor ihnen plötzlich zu flimmern und teilte sich. Für Sekundenbruchteile erfüllte gleißende Helligkeit den Garten, dann wurde alles in Dunkelheit getaucht. Als Branwen mit tränenden Augen wieder sehen konnte, stand ein alter, weißhaariger Mann vor ihnen. Ein fröhliches Grinsen teilte seinen gepflegten Bart und er breitete seine Arme aus.
"Valerian, mein Junge! Schön, dich endlich einmal wieder zu sehen. Es muß Ewigkeiten her sein!"
Valerian war aufgesprungen und fiel ihm unbekümmert in die Arme. "Shandar! Wie schön, dass du gekommen bist!" Die Männer lösten sich lachend und schulterklopfend voneinander. "Darf ich dir Branwen O’Kearny vorstellen? Sie kommt aus England. Branwen, das ist Shandar von Grahuna,  mein bester Freund und Mentor."
Mit freundlichem Lächeln reichte Branwen dem alten Mann die Hand. Shandar ergriff sie und führte sie mit einer galanten Verbeugung an die Lippen. "Es freut mich, Eure Bekanntschaft zu machen, edle Dame." Seine Stimme war tief und samtig.
"Die Freude ist ganz auf meiner Seite, Herr Shandar", antwortete sie.
Shandars Bart teilte sich in einem vergnügten Lächeln. "Ich kenne England", sagte er unverbindlich. "Vor langer Zeit war ich einmal da. Es herrschte gerade Krieg zwischen den Häusern Tudor und Lancaster. Wer hat eigentlich gewonnen?"
"Das Haus Tudor. Aber das ist vierhundert Jahre her."
"Wie die Zeit vergeht!" Shandar warf Valerian einen kurzen Blick zu. "Vielleicht können wir unser Gespräch ins Haus verlegen. Es wird langsam frisch hier draußen."
Valerian machte eine einladende Handbewegung.
"Hast du inzwischen umgeräumt oder ist der Weg noch derselbe wie früher", fragte Shandar, während er seinem Freund und Schüler folgte.
"Es ist alles beim Alten geblieben."
"Du kommst nicht oft hierher, was Junge?"
"Selten, Shandar."
Sie hatten die Tür noch nicht erreicht, als die Helligkeit neben dem Brunnen erneut aufblitzte. Neben dem Brunnen erschien eine schöne Frau mit langen, tiefschwarzen Haaren, die ihr wie ein Schleier bis zum Gürtel reichten.
Valerian strahlte. "Irina!"
Die Frau blickte sich suchend um und kam dann auf die Gruppe zugeschwebt. Ihr langes blaues Kleid fiel über die Füße und sie bewegte sich so vollendet, als würde sie den Boden gar nicht berühren.
"Valerian!" Selbst ihre Stimme war vollendet. "Wie schön, dich wieder zu sehen." Sie umarmten sich und küßten sich auf die Wangen.
Branwen preßte die Lippen aufeinander. Sie mochte diese vollendete Frau nicht. Obwohl diese ein gutes Stück kleiner war, als sie selbst, vermittelte sie ihr ein Gefühl der Kleinheit und Tolpatschigkeit. Irina löste sich von Valerian und begrüßte Shandar mit der Wärme einer langjährigen Freundin. Dann wurde sie Branwen vorgestellt, die sie bis dahin gar nicht wahrgenommen hatte. Die beiden Frauen musterten sich kurz.
"Ich bin erfreut, Eure Bekanntschaft zu machen, meine Liebe", sagte Irina mit dem gewinnenden Lächeln einer Fernsehansagerin..
"Die Freude ist ganz auf meiner Seite, meine Liebe" erwiderte Branwen mit der Freundlichkeit einer Katze, die auf Sahne hofft. Valerian und Shandar tauschten vielsagende Blicke.
"Gehen wir in den Turm. Ich glaube nicht, dass uns noch viel Zeit bleibt." Valerian machte eine einladende Geste zum Tor hin.
"Wen hast du noch gerufen?" fragte Shandar, als sie zusammen auf das Tor zuschritten. Branwen und Irina schlossen sich an. Der Höflichkeitssatz von ‘Ladies first’ schien hier keine Geltung zu haben. Aber vielleicht galten in dieser mittelalterlich anmutenden Welt andere Regeln. Vielleicht mußten die Männer hier vorangehen, um die Sicherheit des Terrains zu sondieren.
"Jeden, den ich erreichen konnte", antwortete Valerian. "Midir wird wohl noch kommen und vielleicht auch Elwe."
Shandar seufzte. "Das sind nicht viel."
"Nein, wahrlich nicht. Aber wir dürften genug sein."
Sie stiegen die steile Wendeltreppe zu dem Turmzimmer empor, in dem Branwen Valerian gefunden hatte. Branwen bildete das Schlußlicht. Sie trat sich zweimal auf den Saum und stolperte. Neidvoll beobachtete sie, wie elegant Irina ihren Rock mit einem Finger anhob, gerade genug, um ihre Füße sicher zu setzen und doch nicht mehr als die Spitzen ihrer kleinen, blauen Schuhe sehen lassend. Branwen kam sich vor wie ein Trampel. Sie war an kurze Röcke und Hosen gewöhnt.
Im Turmzimmer schoben sie Stühle zusammen und ließen sich darauf nieder. Nur Branwen nahm auf der Fensterbank Platz. Von hier aus konnte sie Valerian sehen und hinaus über das Land blicken. Es war ein schönes Land. Entfernt erinnerte es an die sonnigen Höhen von Somerset. Die Luft jedoch war klarer und frischer, unberührt von dem Lärm und dem Gestank von Autos und Industrie. Etwas später traf Midir ein, ein junger Mann, der aussah wie ein Bilderbuch-Ire, und danach Elwe, eine androgyne Gestalt, die Branwen erst nach einer Weile als Mann erkannte.
Der Abend war inzwischen hereingebrochen. Diener kamen herein, entzündeten Lichter und stellten Platten mit Käse, Braten und Brot auf den mächtigen Schreibtisch. Schalen mit Obst, Krüge mit hellem Wein und geschliffene Gläser. Dann verschwanden sie wieder wie Schatten.
Nachdem sie gegessen und getrunken hatten, begann Valerian das Problem zu schildern. Er berichtete von dem Anschlag, der in England auf sein Leben verübt worden war, und von Magirus’ Waffentransporte in ihre Welt. "Es sind fürchterliche Waffen", schloß er. "Die Welt, in der ich weilte, hatte einige Kriege damit hinter sich gebracht. Allein die Bilder davon sind grauenhaft. Und unsere Leute haben nur Schwerter, Pfeil und Bogen um Kugeln und Schlimmeres abzuwehren."
"Dich haben die Kugeln nicht getötet", bemerkte Elwe. Seine Stimme war außergewöhnlich melodisch, fast wie ein Singen.
"Wenn Hannomac ein bißchen besser gezielt und mein Herz statt meiner Lunge durchlöchert hätte, wäre ich so tot, wie man sich nur vorstellen kann", erwiderte Valerian trocken.
Shandar hatte die Brauen zusammengezogen und betrachtete ihn mit einem besorgten, fürsorglichen Blick.
Elwe schürzte die Lippen. "Ich kenne keine Gewehre oder Pistolen", verteidigte er sich. "Meine Welt ist nicht so kriegerisch, wie deine. Ich verstehe sowieso nicht, was dich an diesem England so fesselt, von dem Mädchen vielleicht abgesehen."
"Wir alle entstammen derselben Welt", sagte Shandar ruhig. "Und keiner von uns kann einen gewissen kriegerischen Sinn leugnen, auch wenn wir ihn gewöhnlich zu beherrschen gelernt haben. Auch du Elwe, sonst wärst du nicht auf Valerians Ruf gekommen."
"Ich wußte nicht, worum es geht, sonst wäre ich daheim geblieben."
"Wie wäre es, wenn du dann nach Hause gingest", fragte Midir übertrieben freundlich, aber in seinen Augen funkelte es unheilverkündend.
"Das überlasse getrost mir", erwiderte Elwe, eine Spur von Schärfe in der Stimme.
Valerian räusperte sich vernehmlich. "Gewehre in unserer Welt sind eine Katastrophe", sagte er. "Ein Kind könnte damit zahlreiche Menschen töten. Und Magirus wird sie einsetzen, das ist gewiß."
"Hast du einen Plan?" fragte Irina und schaute ihn dabei auf eine Art an, die Branwen veranlaßte, wieder aus dem Fenster zu blicken.
Kriegerisch! Ja, sie fühlte sich ausgesprochen kriegerisch. Valerian verschränkte seufzend die Finger ineinander. "Ich dachte an einen Kreis", sagte er schwer. "Wenn wir unsere Kräfte in einem Kreis vereinen, können wir ihn bannen. Er kann nicht so stark sein, dass er gegen uns alle ankommt."
"Vielleicht ist er nicht allein", gab Irina zu bedenken.
"Jede Minute, die wir reden", warf Shandar ein, "kann er uns ausspionieren und austricksen. Laßt uns beginnen."
Die anderen nickten zu seinen Worten. Sie ließen sich im Kreis auf Sitzkissen nieder und legten ihre Hände, Handfläche gegen Handfläche übereinander, ohne sich jedoch zu berühren.
Branwen sah diesem Ritual mit gemischten Gefühlen zu. Sie hatte keine Ahnung, was dieser Kreis bewirken sollte. Doch sie erinnerte sich an ein Wohnzimmer in einer anderen Welt, wo Valerian einen kleinen Mann hatte verschwinden lassen. Ein unangenehmes Gefühl stieg in ihrem Magen auf.
Die fünf Magier saßen regungslos mit ausgestreckten Armen im Kreis, mit geschlossenen Augen und starren Gesichtern. Zuerst geschah nichts, doch dann begannen zwischen ihren Händen blaue Funken zu tanzen. Zuerst bei Shandar  und Valerian, dann zwischen Valerian und Midir, schließlich zwischen Shandar und Irina und zuletzt auch bei Elwe. Da erst verbanden sie ihre Hände zu einem festen Kreis.
Branwens Haut kribbelte. Sie tauchte tiefer in die Nische der Fensterhöhlung ein, plötzlich von einer tiefen Besorgnis erfüllt. Welche Kräfte waren da neben ihr, in diesem Raum am Werk? Für einen flüchtigen Moment wünschte sie sich nach Hause zurück. Wenn Valerian etwas zustoßen sollte, würde sie nie wieder zurückkommen. 
Sie ließ ihren Blick über die Magier gleiten. Valerian, dessen angespanntes Gesicht hölzern wirkte, jeder Muskel und jede Falte scharf ausgebildet. Er sah so wenig nach dem jungenhaften Künstler aus, den sie in seinem Haus besucht hatte. Aus diesem Gesicht sprach Willen, Tatkraft und Entschlossenheit. Midir neben ihm hatte das gespannte Wesen eines Raubtieres. Wenn sie ihn ansah, fühlte sie sich an die legendären Fianna erinnert, die in uralten Zeiten die irischen Hügel durchstreiften. Elwe dagegen hatte die geschlechtslose Schönheit eines Engels. Die Konzentration auf seinem Gesicht erinnerte sie an die Statue des Erzengels Michael, der den Drachen durchbohrt, in ihrer Heimatkirche. Irina wirkte jetzt älter. Mit Befriedigung bemerkte Branwen Linien von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln und um die Augen. Flüchtig fragte sie sich, welches Interesse diese Frau wohl an Valerian haben mochte. Hatten sie einst eine Beziehung gehabt? Mit einem Stich der Eifersucht erinnerte sie sich daran, dass er verwitwet war. Shandar war mit Abstand der älteste des Kreises und wahrscheinlich auch der mächtigste. Sie mußte an einen Berg denken, wenn sie ihn betrachtete, an einen alten Berg.
Die Zeit floß dahin.
Da schien plötzlich eine Bewegung durch den Kreis zu gehen, ein Zittern der Hände. Und noch einmal ein stärkeres Vibrieren. Shandar wurde plötzlich bleich und sank in sich zusammen. Seine Hand löste sich von Valerians. Auch er wurde plötzlich totenblaß und wankte. Doch dann griff er nach Shandars schlaffer Hand. Noch einmal lief ein Zittern durch den ganzen Kreis, dann brach er vollends auseinander.
Valerian umfaßte den alten Mann bei den Schultern und bettete ihn sanft auf den Boden. "Shandar!" rief er. Seine Stimme zitterte vor Besorgnis. "Shandar!"
Midir schob ihm seinen zusammengelegten Mantel unter den Kopf. "Wie geht es ihm?" fragte er.
"Schlecht", stieß Valerian hervor. Mit fliegenden Fingern fuhr er seine Halsseiten entlang und suchte den Puls. Midir nestelte ihm das Gewand auf. Er legte dem Alten beide Hände auf das Herz. Tiefe Falten äußerster Konzentration erschienen auf seinem glatten Gesicht. Valerian legte ihm die Hände an die Schläfen und schloß die Augen.
Branwen beobachtete alles von ihrem Platz am Fenster aus, bleich und elend, unfähig, sich zu rühren oder auch nur zu denken. Was, um Himmels Willen, war geschehen?
Shandar stöhnte leise und hob eine Hand zum Kopf. "Wie ist mir?"
"Wenn du es nicht weißt...", sagte Elwe. "Der Kreis ist zerbrochen."
Ein leises höhnisches Lachen klang durch das Zimmer. Rote Linien zischelten über den Spiegel und wichen dann dem Bild eines Mannes, der Valerian auf den ersten Blick wie ein Bruder ähnelte. Doch sein Gesicht wirkte dunkler und härter und seine Stimme war tiefer. Branwen erkannte die Stimme, die aus dem verängstigten Hannomac gesprochen hatte.
"Ist das alles, was du zu bieten hast, Valerian?" fragte er spöttisch. "In dem Fall solltest du Caer Donn besser gleich an mich übergeben. Keinem deiner Menschen wird dabei ein Haar gekrümmt - und vielleicht lasse ich sogar dich am Leben."
"Verschwinde, Magirus!"
Magirus schüttelte bedauernd den Kopf. "So wütend kenne ich dich gar nicht. Denk darüber nach. Das Angebot ist mehr als fair. Wenn du es vorziehst, gegen mich zu kämpfen, wirst du die Folgen tragen müssen!" Er lachte wieder. Sein Bild verblaßte.
"Er hat einen Fünferkreis gesprengt!" sagte Shandar. "Ich kann nicht glauben, dass er eine solche Kraft sein eigen nennt!"
"Wenn der Bastard Caer Donn hat, wird er sich auf uns stürzen, keine Frage", knirschte Midir. Elwe strich sich mit Daumen und Zeigefinger über den Nasenrücken. "Das ist die Frage", meinte er. "Vielleicht gibt er sich ja auch mit Caer Donn zufrieden. Du bist derjenige, der Streit mit ihm hat, Valerian, nicht wir."
"Magirus wird nicht vergessen, dass ihr diesen Kreis mit mir geformt habt."
Elwe verzog den Mund. "Nichts als Ärger hat man! Aber was mich doch sehr interessiert, wie konnte der Kreis zerbrechen? Eine solche Macht, einen Fünferkreis zu sprengen, hat niemand. Nicht einmal Shandar in seiner besten Zeit oder du. Geschweige denn dieser Angeber."
Valerian hatte sich einen Pokal Wein genommen und nippte gedankenvoll daran. "Ich bin völlig deiner Meinung, Elwe. Das kann nur bedeuten, dass ihm jemand dabei geholfen hat."
Die anderen vier Magier starrten ihn entsetzt an.
"Einer von uns soll mit ihm paktieren?" fragte Midir entgeistert.
"Ja. In dieser Zeit befinden sich nur wir fünf. Das heißt, die anderen können oder wollen nicht kommen."
"Wahrscheinlich hast du recht, Junge", sagte Shandar bekümmert. "Wer von uns sollte so tief sinken..."
"Bitte, sprich nicht weiter, Shandar. Ich kann mir nur einen Grund denken, aus dem man mit Magirus ein Bündnis eingeht und ihn unterstützt." 
Er warf Irina einen Blick zu, der sie bis unter die Haarwurzeln erröten ließ. "Du liebst ihn, nicht?"
Irina reckte trotzig das Kinn. "Ja, ich liebe ihn. Ist das ein Verbrechen?"
"Du Verräterin!" fauchte Midir. "Fast hättest du Shandar auf dem Gewissen gehabt!"
"Du hast kein Recht, mich so zu nennen", gab Irina wütend zurück. "Magirus ist nicht so schlecht, wie Valerian ihn macht. Er will eine bessere Welt für die Menschen, die uns anvertraut sind. Mit Maschinen, die das Leben erleichtern. Ihr dagegen laßt Eure Völker in primitiven Leben dahindämmern und gefallt Euch als Götter. Du hältst es ja nicht einmal in deinem eigenen Zuhause aus, Valerian!"
"Wenn meine Leute Maschinen bauen wollen, sollen sie es tun. Das steht ihnen frei", erwiderte Valerian ungehalten.
"Das führt alles zu nichts", klagte Elwe. "Ich denke, ich kehre zurück. Du nimmst es mir nicht übel, Valerian, oder? Wie du sagst, ein neuer Kreis wäre sinnlos."
Valerian nickte gelassen. "Danke für dein Kommen, Elwe. Wir sehen uns."
"Ich finde den Weg."
Midir räusperte sich verlegen. "Wie es aussieht, muß ich mich um die Verteidigung von Caer Idril kümmern. Magirus wird danach ebenfalls die Hand ausstrecken. Oder brauchst du mich noch?"
"Nein, Midir. Anscheinend muß ich diesen Kampf allein ausfechten. Ich werde dir später berichten." Dann wandte Valerian sich Irina zu. "Du solltest besser auch gehen. Und halte dich von Magirus fern. Es könnte ungemütlich werden."
"Du darfst ihm nichts antun!"
"Er wird Caer Donn nicht bekommen." 

Branwen sah der schönen Irina nach. Nur der alte Shandar war noch geblieben, augenscheinlich noch zu zittrig in den Knien, um zu gehen. Sie stieg von ihrer Fensterbank herab. Schöne Freunde, dachte sie. Kein Wunder, dass Val sein Haus in England vorzog. "Was nun?" fragte sie leise.
"Vielleicht solltet auch Ihr nach Hause zurückkehren, junge Dame", schlug Shandar vor. "So lange es noch möglich ist."
"Es sind schon so viele gegangen. Ich möchte bleiben", antwortete sie.
Valerian sah sie dankbar an. "Du bist ein wahrer Freund", sagte er.
Branwen wandte sich geschmeichelt zur Seite. "Ich würde dir gerne helfen, aber ich weiß nicht wie."
"Ich weiß es auch nicht." Müde senkte Valerian seinen Blick in den Pokal und seufzte lautlos.
"Ist Magirus wirklich so stark?" Mit einem unbehaglichen Gefühl dachte sie an den jungen, herausfordernden Mann im Spiegel. Vielleicht lasse ich dich am Leben... "Warum haßt er dich so?" fragte sie interessiert. "Was hast du ihm getan, dass er dich umbringen will?" Er hatte es versucht und einen seiner Leute geschickt, um Valerian in einer anderen Welt zu erschießen. Valerian sah alt aus. Sehr viel älter als der fröhliche Maler, den sie kennengelernt hatte.
"Ich bin sein Prüfstein", sagte Valerian ernst. "Wenn er mich überwindet, kann ihn von den anderen keiner aufhalten."
"Das klingt ziemlich überheblich", warf Shandar ein, "aber es ist so. Valerian ist einer der stärksten Magier, die ich kenne. Magirus wäre gar kein Problem, wenn er nicht seinen ganzen Ehrgeiz darauf verwenden würde, Bildchen zu pinseln."
"Ich dachte, das Thema hätten wir schon ausdiskutiert", antwortete Valerian ärgerlich. Branwen bewunderte ihn um seine unerschütterliche Gelassenheit. Sie selbst wäre angesichts solcher Freunde schon längst zur Furie geworden.
"Du weißt, dass du deine Kraft vergeudest", sagte Shandar wie ein besorgter Vater. "Nichts für ungut. Bist du mir böse, wenn ich dich mit deiner Freundin allein lasse? Ich bin sehr erschöpft."
Valerian läutete nach einem Diener, der Shandar ein Zimmer zu einem der Gästezimmer geleitete.
"Ich verstehe, dass du nicht gern hier bist", sagte Branwen mitfühlend.
"Es gibt Schlimmeres. Shandar ist schon in Ordnung. Ich kann mich immer auf ihn verlassen."
"Ist er ein Verwandter?"
"Ein entfernter Onkel." Er lächelte müde. "Man merkt es ihm an, ja?"
"Ja." Branwen schaute nachdenklich in den Spiegel. Er zeigte ihre Reflexion in dem ungewohnten Kleid. Ein unbehagliches Gefühl nahm von ihr Besitz. Wann würde das Glas einen anderen zeigen? Sie riß sich los. "Kannst du Magirus in einem Zweikampf besiegen?"
"Ich weiß es nicht. Vielleicht. - Aber es muß einen anderen Weg geben."
Valerian stand auf, schwerfällig, als ob eine unsichtbare Last auf seinen Schultern ihn niederdrückte. Er trat an das Fenster, öffnete es und sah hinaus. Branwen trat neben ihn.
"Asarhaddon ist wunderschön", sagte sie leise.
Valerian nickte und legte den Arm um sie. "Ja. Und ich will, dass es so bleibt. Meine Leute sollen ihr Schicksal selbst bestimmen und nicht zum Spielball von uns Magiern werden."
Branwen erlaubte sich, den Kopf an seine Schulter zu lehnen und die Aussicht zu genießen. Warme Luft wehte herein und brachte den Duft des Sommers mit sich. Sie hörte unzählige Vögel. Daheim wurden die Sommertage immer durch Motoren- und Rasenmäherlärm  gestört. Sie erinnerte sich an den Geruch von Abgasen, der ein natürlicher Teil ihres Alltags war, weil es ihn hier nicht gab.
Valerian runzelte die Stirn. Seine Augen nahmen sichtlich nicht wahr, was sie anschauten.
"Man muß ihn überraschen", sinnierte Branwen.
Valerian sah sie erstaunt an. "Wie meinst du das?"
"Nun, ich kenne diesen Magirus nicht und von Magie habe ich auch keine Ahnung. Aber wenn man sich nicht so verhält, wie es von einem erwartet wird, kann man seinen Gegner so verblüffen, dass er nicht mehr schnell genug reagieren kann." Sie vermied es, Valerian anzusehen. Es machte sie nervös, diesen klaren Augen, die geradewegs in ihre Seele blickten, standzuhalten, wo sie das Gefühl hatte, Unsinn zu reden. "Bislang hast du genau das getan, was er von dir erwartete, oder nicht?" 
Plötzliches Verstehen malte sich auf seinen Zügen. "Du hast recht, Branwen!"
"Was ist dein nächster logischer Schritt?"
Valerian seufzte und schaute wieder hinaus. "Eine Armee zusammenrufen und eine geeignete Strategie ausdenken, mit der man mit Pfeil und Bogen gegen Gewehre ankommen kann - und es in einem Zweikampf mit Magirus austragen. Und verlieren."
Branwen drückte ihm mitfühlend den Arm. "Warum bist du so sicher, dass du verlierst?"
"Weil ich den Krieg nicht ertrage. Wahrscheinlich werde ich mich vorher ergeben. Das Leben in Asarhaddon wird sich zum Schlechten wenden, aber wenigstens leben sie. Magirus selbst kann ich allein nicht magisch angreifen, solange er in seiner Zitadelle sitzt. Diesen Vorteil gibt er nicht zur Unzeit auf."
Branwen schauderte. Sie mußte wieder an das Bild im Spiegel denken. Vielleicht lasse ich dich am Leben! Ein Zittern überlief sie. Und sie bewunderte Valerian für seine Ruhe, im Angesicht der Gefahr. Magirus würde ihn bestimmt nicht am Leben lassen. Etwas von Valerians Ruhe übertrug sich auf sie. Es steigerte sich sogar zur Zuversicht. Sie hatte doch nicht diesen außergewöhnlichen Mann kennengelernt, nur um ihn sofort wieder zu verlieren.
"Der Spiegel", sagte sie. "Was ist das für ein Gerät? So etwas wie ein Videophon?"
"Ein was?" Valerian brauchte ein paar Sekunden, um sich zurechtzufinden. Er lachte leise. "So in der Art. Aber man braucht Magie dafür."
"Auch wir haben Magie", sagte Branwen nachdenklich. "Für die meisten ist es Aberglaube oder Scharlatanerie. Vielleicht ist aber auch mehr dran..."
"Worauf willst du hinaus?"
"Manche Naturvölker glauben, wenn man ein Foto von einem Menschen macht, habe man mit seinem Bild auch seine Seele. Beim Voodoo benutzt man eine Puppe, der man anstelle des Opfers etwas antut. Wenn du Magirus dazu bringen könntest, noch einmal im Spiegel zu erscheinen, kann ich ein Foto von ihm machen. Würdest du etwas damit anfangen können?"
"Aber ja!" Valerians Gesicht hellte sich auf. Seine Augen bekamen wieder Leben. "Laß dich küssen, Branwen!" Er schloß sie in die Arme und drückte ihr einen Kuß auf die Lippen. "Er erwartet bestimmt keinen Angriff aus dieser Richtung. Los, hol deinen Apparat! Magirus soll uns kennenlernen." 
Branwen eilte die Turmstiegen hinab. Sie verlief sich dreimal, bevor sie ihr Gemach fand. Wie gut, dass sie an ihre Ausrüstung gedacht hatte! Hastig raffte sie alles zusammen und eilte zurück. Außer Atem kam sie im Turmzimmer an. "Ich werde eine Dunkelkammer zum Entwickeln brauchen", japste sie. "Und ein paar Chemikalien."
"Kein Problem", versicherte Valerian. "Sag mir, welche du  brauchst."
Branwen spulte die Liste herunter, während sie die Kamera aufbaute.
Valerian nickte und schickte seine Diener nach den gewünschten Dingen. "Es wird ein Weilchen dauern, bis alles beisammen ist", sagte er, während er den Spiegel nach Branwens Anweisungen so rückte, dass das Tageslicht ihn optimal beleuchtete.
"Es wird noch länger dauern, bis das Foto entwickelt ist. Ich habe kein Labor", erwiderte sie.
Valerian grinste schief. "Gut Ding will Weile haben. Ist es so gut?"
"Goldrichtig."
"Ich wußte gar nicht, wie schwer dieses Monstrum ist." Er strich mit der Hand über den schweren vergoldeten Rahmen. "Bist du soweit, Branwen? Ich werde jetzt versuchen, die Zitadelle zu rufen. Und aufpassen, dass Magirus nichts davon merkt. Unser Plan kann nur gelingen, wenn er absolut ahnungslos bleibt." Ein Glitzern hatte sich in seine Augen gestohlen, das Branwen irgendwie stutzig machte. Doch sie kontrollierte nochmals wortlos ihre Kamera.
"Von mir aus kann’s losgehen", sagte sie ein bißchen zu munter. "Zeige mir was ich auf Zelluloid bannen soll und ich mache dir ein exzellentes Bild."
Valerian setzte sich an seinen Arbeitstisch und enthüllte die Kristallkugel. Sehr ruhig und konzentriert legte er seine Hände darüber, wie damals, in einer anderen Zeit und Welt, in England. Dann hob er noch einmal den Blick. Seine ernsten, klaren Augen senkten sich in die ihren. "Ich werde versuchen, die Zitadelle zu erreichen", sagte er mit seiner samtweichen, eindringlichen Stimme. "Ich möchte, dass du sie von allen Seiten fotografierst, lückenlos. Geht das?"
"Ja", antwortete sie. "Ich habe genug Filme dabei." Ihre Mundwinkel zuckten unwillkürlich, als Valerian sich wieder der Kugel zuwandte. Hinter seinem Ernst lauerte der Schalk, die Spitzbübischkeit eines Jungen, der gerade einen neuen Streich ausgeheckt hat.
Diesmal dauerte es ungleich länger, bis die Kristallkugel zu sprühenden Leben erwachte und auf den Spiegel übergriff. Das Bild war unscharf, ein Teppich bunter Flecken, der über die Fläche schoß. Valerian saß starr da, das Gesicht vor Konzentration ausdruckslos. Schweiß begann sich auf seiner Stirn zu bilden. Das Bild im Spiegel beruhigte sich. Die Farbflecken wuchsen zu Formen zusammen und zeigten einen ausgedehnten Landstrich, auf dem Ackerflächen und Forste einander abwechselten. Im Hintergrund erhob sich eine mauerumwehrte Stadt, über der wie eine Glucke eine gewaltige, wehrhafte Burg hockte. Das mußte die Zitadelle sein! Das Bild machte einen Satz. Die Zitadelle füllte den größten Teil des Spiegels; in allen Einzelheiten klar erkennbar: Der grauschwarze Felsen, auf dem die Mauern gegründet waren, die zinnengekrönten Mauern, die Gebäude, und sogar Menschen, die ihrer Arbeit nachgingen. Branwen tauchte hinter ihren Apparat und fotografierte. Das Bild änderte sich rasch, wie bei einem Rundflug mit einem Flugzeug oder Ballon.
Nachdem der Ausgangspunkt wieder erreicht war, erlosch das Bild. Valerian sank über seiner Kugel erschöpft zusammen. Branwen war sofort bei ihm und berührte ihn besorgt an der Schulter. "Val? Alles in Ordnung?"
Er war schweißgebadet. "Ja", stöhnte er leise. "Ich bin nur... völlig fertig. Er hatte.... starke Barrieren aufgebaut."
Branwen schenkte Wein in ein Glas und drückte es ihm in die Hand. Ein paar Minuten lang rührte sich der Magier nicht. Dann richtete er sich schwerfällig auf und trank mit kleinen Schlucken.
"Wie lange wirst du zum Entwickeln brauchen?" fragte er.
"Nicht lange", erwiderte sie. "Was mir mehr Sorgen macht, sind die Abzüge. Es gibt hier kein Fotopapier. Ich muß es erst herstellen und dabei könnte ich Hilfe gebrauchen."
"Shandar kann das tun. Er hat sich lange genug ausgeruht." Der Geist eines Lächelns huschte über sein müdes Gesicht.
"Silbernitrat. Ich brauche vor allem Silbernitrat..." Sie wurde unsicher. Fotoarbeiten waren eine hochgiftige Sache in einer Welt wie dieser. Die nötigen Chemikalien mußten erst hergestellt werden. Bestenfalls würde es Tage dauern. Ihr Mut sank plötzlich. Vorhin hatte sie im Eifer des Gefechtes nicht weit genug gedacht. Zu Hause, im Labor waren Entwicklung und Abziehen eine Kleinigkeit. Aber hier? Hätte sie gewußt, was sie erwartet, hätte sie alles mitbringen können.
Valerian rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel. "Ich brauche möglichst große Abzüge, und gestochen scharf", sagte er. "Es wird am besten sein, wenn du es Zuhause machst, hm?"
Branwen ließ sich von der Beiläufigkeit seiner Worte nicht täuschen. "Und so ganz nebenbei hast du mich aus der Gefahrenzone", bemerkte sie. "Ich lasse dich nicht im Stich."
Valerian stand auf und legte seine Arme um sie. "Mir ist natürlich wohler, wenn ich dich in Sicherheit weiß", sagte er. "Und ich brauche diese Bilder so schnell wie möglich und in einer Spitzenqualität. Du weißt so gut wie ich, dass du dazu ein modernes Labor brauchst. Shandar wird dich begleiten und wieder hierher zurückbringen. Vertrau mir."
Branwen gab ihren Widerstand auf. Er hatte recht und sie wußte das auch. Und doch wollte sie ihn nicht allein lassen. Sie drückte sich minutenlang an ihn, fühlte das Schlagen seines Herzens und das flimmernde Zittern seiner erschöpften Muskeln.
"Wie lange kannst du allein standhalten?" fragte sie schließlich, um einen sachlichen Ton bemüht.
"Lange genug", erwiderte er. Das jungenhafte Grinsen flammte wieder in seinem Gesicht auf.

Branwen verging fast vor Sorge, als sie zum zweiten Mal auf diese merkwürdige, sinnverwirrende Weise in Caer Donns verwildertem Garten ankam. Sie strauchelte, fühlte sich aber sofort von Shandar am Ellenbogen gestützt. "Alles in Ordnung, mein Kind?"
"Ja. - Sind wir noch rechtzeitig eingetroffen?"
Shandar hob wie witternd das Gesicht. "Ich denke schon. Es ist weit und breit kein Kampf zu spüren."
Ein Diener trat auf sie zu, begrüßte sie ehrerbietig und führte sie wieder in das Turmzimmer. 
Es hatte sich verändert. Sämtliche Möbel waren unter breiten Stoffbahnen verschwunden. Neben dem Fenster stand eine riesige Staffelei mit einer fertig grundierten Leinwand. Auf dem bedeckten Tisch lag ein Sortiment Pinsel und kleine Farbtöpfchen. Shandar schaffte es, gleichzeitig die Stirn zu runzeln und die Brauen zu heben. Die Tür zu einer Nebenkammer flog auf und Valerian stürzte herein, ein weiteres Farbtöpfchen in den Händen.
"Branwen! Shandar! Wie schön, dass ihr wieder da seid. Entschuldigt, ich kann niemandem die Hand geben." Seine Finger und Hände strahlten in allen Farben des Regenbogens. 
"Valerian!" Branwen war ungemein erleichtert, ihn gesund und munter zu sehen. "Alles in Ordnung?" Sie wäre ihm gerne um den Hals gefallen, aber sie unterdrückte den Impuls. "Ich hatte solche Angst, dass wir zu spät kommen!" Sie hielt ihm die Mappe mit den Abzügen hin. "Meisterstücke sind es nicht gerade geworden, aber ich will ja auch keine Ausstellung damit bestreiten. Wozu brauchst du sie?"
Valerian hatte die Farbe zu den anderen gestellt und sich sorgfältig die Finger gereinigt. Gespannt wie ein Kind zu Weihnachten öffnete er die Mappe und breitete die Fotos aus. "Sie sind phantastisch!" rief er aus, während er sie ordnete und einige auswählte. Aneinandergelegt ergaben sie eine vollständige Rundumansicht der Zitadelle. Valerian schien alles um sich herum völlig zu vergessen. Er leimte die Bilder zusammen und klebte das Panorama anschließend auf die Leinwand. Dann griff er zu Palette und Pinsel. Eine Zeitlang verharrte er in regungsloser Konzentration. Seine Lippen bewegten sich zu geflüsterten Worten, die mehr und mehr Gestalt annahmen und sich in einer fremdartigen Melodie bewegten. 
Die Falten auf Shandars Gesicht vertieften sich. Er zog Branwen zu den Sitzkissen und drückte sie nieder. "Bleibt ruhig sitzen, junge Dame, und lenkt ihn nicht ab. Ich weiß nicht, was er treibt, aber es ist sehr starke Magie. Ich muß den Turm abschirmen." Branwen verzichtete auf Fragen.
Shandar legte die Hände auf Valerians Kristallkugel und fiel in Trance. Valerian begann, ohne seine Intonation zu unterbrechen, die Farben auf der Palette zu mischen und mit kühnen Strichen auf der Leinwand mit den Fotos zu verteilen. Der Pinsel hinterließ eine merkwürdig glühende Spur, die Sekunden später scheinbar in den Malgrund gesunken war und nur die eigentliche Farbe zurückließ. Ein flacher Regenbogen überspannte nun die Zitadelle und spiegelte sich zu Füßen des Felsmassivs. Sie gingen harmonisch ineinander über. Die Photos verschwanden unter einer deckenden Farbschicht. Die Einzelheiten wurden mit filigranen Pinselstrichen hervorgehoben oder verfremdet. Nach und nach büßte der Regenbogen seine Flachheit ein und wurde zur Kuppel Einmal begann der Spiegel zu flackern und ein Bild wollte sich formen, doch es fiel kraftlos in sich zusammen. 
Valerian verstummte und trat von der Staffelei zurück. Sein plötzliches Schweigen ließ den Turm still und einsam erscheinen. Branwen trat zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter. Das Bild war anders als alle, die sie bislang von ihm kannte. Die Zitadelle war noch erkennbar, aber die Wahl der Farben verzerrte den Eindruck. Eine stumme Bedrohung schien in ihnen zu lauern. 
"Magie, Branwen", sagte Valerian mit einem erschöpften, aber dennoch schadenfrohem Grinsen. Er sah sich kurz nach Shandar um, der gerade aufstand und sich streckte. "Völlig neu. Ich habe Magirus in seine Zitadelle gebannt. Die Magie des Eidolon, des Seelenbildes, gepaart mit der Kraft der Farben und meinem Bann. Das ist so unorthodox, dass er Jahre braucht, um da wieder herauszukommen."
Shandar kam an seine andere Seite und betrachtete das Gemälde. Er wurde eine Spur blasser. "Das ist...", begann er. Der Satz blieb unvollendet.
"Und was ist mit den Menschen?" fragte Branwen besorgt. "Sind sie auch gebannt?" Sie erschauerte bei der Vorstellung, ihre Heimatstadt nicht mehr verlassen zu können.
"Ja. Zumindest die, die in der Zitadelle  sind. Die Stadt ist frei. Sie werden sich daran gewöhnen müssen, nicht mehr von Magirus gegängelt zu werden."
"Wenn sie die Waffen schon haben, können sie trotzdem angreifen", warnte Shandar.
Valerian zuckte die Schultern. "Wenn es tatsächlich so weit kommen sollte, wird mir etwas einfallen. Aber ich glaube, ohne Magirus, der sie antreibt, werden sie uns in Frieden lassen. Laßt uns nun nach unten gehen. Ich habe einen Bärenhunger."
Shandar nickte und ging voran, um der Dienerschaft Anweisungen zu geben. 
Valerian nahm Branwen in die Arme. "Habe ich schon danke gesagt? Ohne deine Fotos hätte ich das Eidolon, das genaue Abbild der Zitadelle, nie schaffen können."
Sie schüttelte den Kopf. "Noch nicht."
"Danke, Branwen." Valerian drückte ihr einen Kuß auf die Lippen. "Ohne dich wäre ich verloren gewesen. Kann ich mich mit einer Einladung zu einigen Tagen Ferien auf Caer Donn revanchieren, bevor wir nach Hause gehen?"
"Wir? Du willst wieder nach England?"
Er hob erstaunt die Brauen. "Aber sicher. Dort bin ich nichts weiter als ein Mensch. Das gefällt mir."
Branwen lächelte. "Mir auch." Vor allem gefiel ihr der Gedanke, ihn auch zukünftig in erreichbarer Nähe zu wissen.

Ende

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