Die Eisprinzessin von Falkenauge
1. Kapitel

Der tennisballgroße Feuerball flog durch das kleine Turmzimmer und verpuffte an der Steinwand. Das 15-jährige Mädchen, das ihn geschleudert hatte, strahlte über das ganze Gesicht. Es  hatte lange blonde Haare, die hinten von einem schmalen Lederband zusammen gehalten wurden. Ihre Augen waren tiefblau und ihre Haut war von den vielen Stunden in der Sonne braun gebrannt. Die spitzen Ohren deuteten darauf hin, dass es sich um eine Elbin handelte. Sie trug die typische Schuluniform der Mârin-hir, der Schule der Aufständischen: eine lange Lederhose und eine dünne Seidenbluse.
Jetzt wandte es sich zu dem alten Mann um, der in der Ecke auf einem Schaukelstuhl saß. Er lächelte. "Das war sehr gut, Lista", lobte er seine Schülerin und klatsche in die Hände. "Ich wusste schon immer, dass du die talentierteste Schülerin auf der Schule bist." "Das war doch nur ein kleiner Feuerball", wandte Lista verlegen ein. "Nur ist gut. Die Feuermagie gehört neben der Eismagie zu den schwierigsten Magiearten, die es gibt", erklärte Meister Figs. Meister Figs war der älteste Magier an der Schule. Eigentlich hatte er sich schon vor zwei Jahren zurückgezogen, doch als er sah, wie gut Lista war, hatte er beschlossen sie aus dem regulären Unterricht herauszuholen. Während die anderen Schüler in Klassen von bis zu zehn Mädchen und Jungen beigebracht bekamen, wie man Magie einsetzte, stieg Lista jeden Tag in das kleine Turmzimmer hinauf, in dem Meister Figs wohnte und er lehrte sie alles, was er wusste.
Mühsam stand Meister Figs auf und legte Lista die Hand auf die Schulter. "Aus dir wird noch eine große Magierin." Lista errötete und sah zu Boden. "Können wir vielleicht mit dem Unterricht weitermachen, Meister?" "Oh, ja, natürlich." Figs ließ sie los. "Probiers noch mal mit einem Feuerball." Sofort verschwand Listas Verlegenheit. Sie straffte sich und stellte sich wieder in die Mitte des Zimmers. Konzentriert legte sie die Handflächen aneinander. Als sie sie langsam wieder öffnete, glühte in ihrer rechten Hand ein glühender Lavaball auf, den sie mit einer energischen Geste von sich schleuderte. Wie der erste, den sie beschworen hatte, prallte er an der Steinwand ab und verschwand.
Den Rest des Vormittags verbrachte sie damit immer neue Bälle zu formen und als der Unterricht endlich beendet war, war sie total erschöpft.

Als Lista zum Mittagessen in die Große Halle kam, saßen die anderen Schüler bereits an den Tischen. Schnell nahm sie sich einen Teller, häufte sich einen riesigen Berg Gemüse darauf und nahm sich noch zwei Hähnchenkeulen dazu, bevor sie sich an den anderen vorbei zu einem Tisch ganz in der Ecke der Halle schlängelte, an dem ihre Freundin Asmiralda saß. Asmiralda war ebenfalls eine Elbin, hatte schwarze Haare und grüne Augen.
Aufatmend ließ Lista sich auf den Stuhl neben ihr fallen. Asmiralda sah auf. "Na, wie war’s?" "Anstrengend", war Listas kurze Antwort.
"Was hast du denn gemacht?"
"Feuerbälle beschworen."
Asmiralda pfiff anerkennend durch die Zähne. "Feuerbälle, beschwört man die nicht erst im achtzehnten Semester?" Lista zuckte nur mit den Schultern und biss in die erste Hähnchenkeule.
Auf der Mârin-hir gab es insgesamt zwanzig Semester. Je weiter man kam, desto schwieriger wurde es und nicht wenige hörten schon beim fünfzehnten Semester auf. Lista und Asmiralda waren im zehnten Semester.
Die beiden aßen schweigend weiter.

Nach dem Essen gingen sie hinauf in ihr Zimmer. Wie alle Schlafzimmer in der Schule war es nicht besonders groß. Vom Fenster aus konnte man den Hof und den daran angrenzenden Drachenhort, dem hohen Turm, in dem die Drachen der Schüler lebten, gut überblicken. Neben dem Fenster stand ein kleiner Schreibtisch. In der hinteren Ecke stand ein Hochbett. Eine Tür führte ins angrenzende Badezimmer.
Seufzend warf sich Asmiralda auf das untere Bett und sah zu ihrer Freundin hinüber, die gedankenverloren aus dem Fenster blickte. Plötzlich ertönte eine Stimme in Listas Gedanken: Soll ich vielleicht an Langweile eingehen oder kommst du heute noch mal irgendwann? Unwillkürlich musste das Mädchen lächeln. Bin ja schon fast auf dem Weg, Shinja, antwortete sie ihrem Drachen auf die gleiche Weise. "Ich muss jetzt gehen, Shinja wird schon ungeduldig", wandte sie sich an ihre Freundin. "Willst du vielleicht mitkommen, Mira?" "Nö, du weißt doch, dass ich das Fliegen nicht mag", antwortete Asmiralda. Ohne weiter darauf einzugehen griff Lista nach ihrem abgewetzten Pelzumhang. "Spätesten zum Abendessen bin ich wieder zurück." Dann verließ sie das Zimmer.

Na endlich! Wurde sie von Shinja begrüßt, als sie den Hort betrat und die lange Treppe hinaufstieg. Jetzt beeil dich mal. Der große dunkelgrüne Drache stand schon ungeduldig an der Tür und trat von einem Bein aufs andere. Ist ja gut, beruhigte Lista ihren Drachen und zog sich an einer von Shinjas roten Rückenzacken hoch. In seiner Ungeduld vergaß der Drache in die Knie zu gehen, was das Aufsteigen sichtlich erleichtert hätte. So dauerte es etwas länger, bis Lista richtig saß. Kann losgehen, teilte sie Shinja mit. Ohne sich mit einer Antwort aufzuhalten trat Shinja aus dem Hort hinaus, breitete die lederartigen Flügel aus und schwang sich mit einem kräftigen Satz in den Himmel.
Den Nachmittag verbrachten Lista und Shinja damit, über die hohen Gipfel des Menei-Gebirges zu fliegen, in dem die Schule lag.
Erst am Abend kehrten sie nach Mârin-hir zurück.

Asmiralda lag dösend auf ihrem Bett. Als Lista das Zimmer betrat, schreckte sie auf. "Oh, du bist's. War’s schön?", fragte sie gähnend. Lista nickte und zog ihren Mantel aus.
"Eine der älteren Schülerinnen war hier und hat einen Brief für dich abgegeben."
"Einen Brief?", wunderte sich Lista und nahm den Umschlag, den Asmiralda ihr hinhielt. Sie öffnete ihn und zog ein Stück Pergament heraus. Die Nachricht war sehr knapp:

Lista, komme heute Abend, wenn du von deinem Ausflug zurück bist, zu mir. Meister Figs.

Verwundert sah Lista auf. Was konnte Meister Figs noch so spät von ihr wollen? Am besten sie ging gleich zu ihm. "Meister Figs möchte, dass ich zu ihm komme", erklärte sie ihrer Freundin. "Wärst du so nett und hebst ein paar belegte Brote für mich auf, wenn ich bis zum Abendessen noch nicht wieder da bin?"
"Klar."

Meister Figs saß mit ernster Miene in seinem Schaukelstuhl. Wortlos bedeutete er Lista im Sessel neben ihm Platz zu nehmen. Erwartungsvoll sah sie ihn an. Ihr Meister räusperte sich einige Male und fing dann an: "Ich und die anderen Gründer dieser Schule hatte heute Nachmittag ein sehr ernstes Gespräch und wir sind uns einig, dass es nur einen Weg gibt, Saphir aufzuhalten. Wer Saphir ist, weißt du ja, sonst wärst du jetzt nicht hier." Lista nickte. "Also, wir sind zu dem Schluss gekommen, dass es nur noch einen Weg gibt: Jemand muss die Eisprinzessin finden und sie aus ihrem zehntausendjährigen Schlaf erwecken. Und da fiel unsere Entscheidung auf dich, weil du die beste Schülerin unserer Schule bist und wir alle schon zu alt für so etwas sind." "Die Eisprinzessin?", fragte Lista. "Wer ist das?" "Das weiß niemand so genau", antwortete Meister Figs. "Am besten, ich erzähle dir die Legende der Prinzessin, das heißt, wenn du sie hören möchtest."
"Klar, sonst weiß ich ja nicht, worum es überhaupt geht."
"Also gut." Meister Figs räusperte sich noch einmal und begann.
 

© Falkenauge
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