Teil 4: Die dritte Frage
Das Bild des Seelenbrunnens verblasste. Shelassia
blickte nachdenklich ihrem eigenen Abbild hinterher.
"Ich muss gestehen, dass uns die Wölfe
damals tatsächlich nicht nur geholfen, sondern unsere Augen für
einige wesentliche Aspekte der Schöpfung geöffnet haben",
meinte Shelassia in Gedanken. "Und sie taten es vermutlich nicht einmal
aus eigener Dringlichkeit. Nach unserem damaligen Erkenntnisstand hätten
wir und die Ahaldamar uns nur gegenseitig ausgelöscht. Die Wunden
im Gewebe der Natur wären gewaltig gewesen, aber ihre Bewahrer hätten
es wohl überdauert. Aber was genau will uns der Brunnen mit dieser
Geschichte mitteilen?"
"Ich erkenne zunächst zwei Lehren,
die wir aus dem Gezeigten ziehen können", antwortete Ansalion.
"Manchmal benötigt man eine selbstlos helfende Hand. Wir benötigten
sie damals, und nun sind es die jungen Völker, die unserer bedürfen.
Und weiterhin kann diese Hilfe oftmals nicht zu früh kommen. Hätten
wir damals weiter unwissend unsere schrecklichen Vettern bekämpft,
wäre unsere gegenseitige Vernichtung nicht mehr aufzuhalten gewesen."
"Es fällt schwer das zuzugeben, aber
ich stimme dir zu." Shelassia war aber immer noch beunruhigt. "Ich
bin mir sicher, dass wir einen weiteren Hinweis übersehen. Eine dritte
Botschaft, oder warum sind unsere Seelen noch nicht in unsere Körper
zurückgekehrt?"
Ansalion antwortete nicht sofort. Shelassia
wollte schon auf eigene Faust in die Tiefen des Brunnens eintauchen, als
die lautlose Stimme des goldenen Drachen wieder ihren Geist berührte.
"Auch ich bin mir immer nicht sicher, dass unser Einschreiten die richtige
Entscheidung wäre, denn würden wir damit nicht zu den Wurzeln
unserer größten Bedrohung zurückkehren? Aber du hast recht.
Drei Fragen. Drei Botschaften. Willst du wieder voranschreiten, Shelassia?"
Shelassia nickte in Gedanken und ließ
zum dritten Mal ihr Gespräch mit Ansalion auf den hohen Felsklippen
vor ihrem inneren Auge ablaufen. Die dritte Frage schlug ihr wie ein böser
Fluch ins Gesicht der Erinnerungen: "Wer, frage ich Dich, sollte unsere
Existenz gefährden?"
Shelassia schrie auf, als sie sich in der wahrgewordenen
Hölle wiederfand.
Dunkelheit.
Blind irrt sie umher.
Verdammnis.
Niemand hört ihr Rufen, ihre Schreie.
Leere.
Getäuscht und verraten und ins Nirgendwo
verbannt.
Träume.
Alpträume von einer endlosen Dürre
voll unendlichem Warten.
Unklarheit.
Verschwimmende Visionen aus Blut und im Geiste
verbundener Peiniger.
Unordnung.
Das Verlangen alles, jeden - einschließlich
sich selber - ins Chaos zu stürzen.
Zorn.
Angst, Wut, Trauer, Schrecken, die immer wieder
das verzehrende Feuer des Chaos mit Nahrung anheizen.
Visionen.
Verzerrte Bilder einer gepeinigten Welt und
einer sich krampfartig im Delirium windenden Schöpfung.
Macht.
Grenzenlose Macht, gebändigt und verwehrt
durch ein Gespinst aus Illusionen, Täuschungen, Hingabe und selbstloser
Aufopferung.
Hass.
Die Erkenntnis eins zu sein mit dem verhassten,
reinen Spiegelbild der eigenen, düsteren Seele.
Stimmen.
Sie flüstern verheißungsvoll von
Befreiung und Befriedigung.
Angebot.
Werden sie das Versprechen die Ketten zu zerreißen
einlösen?
Wagnis.
Ein dunkles, starkes Herz mit unersättlicher
Gier reißt unsere Mauern nieder.
Freiheit.
Bald, bald, bald...
Die Bilder verschwanden und Shelassia schrie
auf. Sofort wurde sie von einem Tornado der Sinne erfasst und durch ein
chaotisches Sammelsurium von Gedanken, Erinnerungen und Emotionen geschleudert.
Hilflos wurde sie von einer unbegreiflichen und ungreifbaren Hand gepackt
und umhergewirbelt. Instinktiv griff ihr haltloser Geist nach ihrem Körper.
All ihre Erinnerungen galten nur noch dem Wunsch Herrin über ihren
eigenen Leib zu sein. Sich frei zu bewegen, frei entscheiden zu können.
Einen Gedankenblitz später kam Shelassia
auf dem Marmorboden des Felsendoms liegend wieder zu sich. Neben ihr stöhnte
Ansalion auf. Mühselig richteten sich die beiden Urdrachen in Menschengestalt
auf und sahen sich an.
"Ich kann das nicht glauben", stellte Shelassia
fassungslos mit aufrichtiger Bestürzung fest. "Sag mir, Ansalion,
dass das nicht wahr ist!"
Ansalion blickte seine Drachenschwester ebenso
betroffen an. "Ich wünschte, es wäre unwahr, aber mit einem Mal
passen alle Teile zusammen."
"Dann war das, was wir soeben gesehen, oder
genaugenommen erlebt haben, die Realität?"
Ansalion runzelte seine Stirn. "Davon müssen
wir leider ausgehen. Ich hätte es schon nach der zweiten Botschaft
des Brunnens erkennen müssen, dann hätte uns die dritte Vision
weniger überrascht. Alle Zeichen waren vorhanden. Die Versuchung in
die Angelegenheiten der restlichen Welt einzugreifen, die Erinnerung an
die eigene Bedrängnis und der Hinweis auf unsere größte
Schmach. Hätte ich es nur früher erkannt, wir hätten jetzt
vielleicht die Gelegenheit gehabt, rechtzeitig einzugreifen. Und wieder
waren wir blinde Toren!"
Shelassia nickte bedauernd. "Leider können
wir das jetzt nicht mehr ändern, alter Freund. Bleiben uns nur noch
die Fakten." Grimmig blickte sie ihren Drachenbruder an. "Der Nachtkönig
ist also tatsächlich dieses Risiko eingegangen? Sein Hass auf die
Völker des Lichts und seine Gier nach Rache sind unermesslich. Er
benötigt eine Lektion!"
"Bewahre Geduld und Einsicht, Shelassia",
mahnte Ansalion. "Noch wissen wir nicht mit Sicherheit, dass er Erfolg
hatte."
"Aber wir sollten besser davon ausgehen",
wehrte sie entschlossen seinen Versuch ab, ihre wuterfüllte Leidenschaft
zu zügeln, "und uns darauf einstellen unserem schlimmsten Alptraum
entgegen zu treten."
Ansalion ließ resignierend die Schultern
hängen. "Bei allem was rechtens und uns heilig geworden ist. Dies
wird eine noch größere Herausforderung werden als beim letzten
Mal. Die List mit der Seelenreise und dem Einkerkern unserer dunklen Vettern
im Labyrinth ihrer eigenen wirren, ungezügelten Gedanken wird voraussichtlich
nicht mehr gelingen. Wir müssen uns etwas Neues einfallen lassen,
um sie zu beschäftigen."
Shelassia nickte und fragte enthusiastisch:
"Könnten wir uns ihnen nicht doch Auge in Auge stellen? Dieses Mal
wäre es nicht unser Wirken, welches sie erweckte."
Ansalion hob beide Hände, als wolle er
die gesamte Welt umfassen. "Das ist wohl wahr, ebenso wie wir uns, so hoffe
ich, in den letzten Jahrtausenden unserer Verantwortung bewusster geworden
sind. Doch in welchem Maß können wir in die Schöpfung eingreifen?
Zumal wenn es unsere eigenen Geschöpfe sind?"
Shelassia blickte Ansalion mit leuchtenden
Augen an. "Dann lass es uns ein für allemal herausfinden. Früher
oder später musste dieser Tag kommen. Die Ahaldamar werden die Welt
wieder heimsuchen. Doch dieses Mal sind wir bereit!"
© Elfenfeuer
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