Fahleya von T. Schmick
Prolog: Flammenherz

Es war eine dunkle und regnerische Nacht. Wie lange wir wohl schon unterwegs sind?, dachte Phillip.
Er war ein 19-jähriger Erwachsener, der bereits seinen Führerschein eingesackt und das schriftliche Abi hinter sich hatte. Er hatte tiefbraunes Haar, war immer gut gebräunt, doch er hatte stechend grüne Augen, was sehr ungewöhnlich war, da weder seine Mutter noch sein Vater grüne Augen hatten. Doch der Vaterschaftstest, den sein Vater vorsichtshalber gemacht hatte, ergab ganz eindeutig, dass Phillip sein Sohn war.
Er, seine zwei Jahre jüngere Schwester Marie und seine Eltern waren in dem kleinen Minibus schon sehr lange auf Tour. Ihr Ziel war eine kleine Pension am Rande eines halb verlassenen Dorfes, irgendwo im Nirwana. Phillip versuchte auf seine Armbanduhr zu schauen, doch die Uhr verschwamm aufgrund der Dunkelheit zu einer undefinierbaren Masse. Verdammt, ich kann nichts erkennen!, dachte er. Da schaltete sich sein schläfriges Hirn ein und ihm fiel ein, dass die Uhr automatisch aufleuchtete, wenn man irgendeinen Knopf betätigte. Folglich tat er das und erkannte, dass es jetzt schon 0:37 Uhr war. Das Leuchten der Uhr erlosch langsam, doch kurz bevor das Licht komplett von der Dunkelheit eingenommen war, glaubte er zu sehen, wie die Uhr 0:36 Uhr anzeigte.
Verwirrt klopfte er gegen die dünne Glasschicht, doch es war bereits wieder zu dunkel, um etwas zu erkennen. Zu faul, um noch einmal das Licht einzuschalten, fragt er seine Mutter, die auf dem Beifahrersitz saß: "Du, Mama? Wie spät haben wir’s jetzt eigentlich?"
Phillips Mutter guckte kurz auf ihre Uhr und antwortete dann: "Gleich 0:40 Uhr. Wieso?"
Kurze Zeit war er gewillt, ihr von seiner Uhr zu erzählen, doch er antwortete schließlich ausweichend: "Ach, nur so."
Vorsichtshalber schaltete er das Licht seiner Uhr noch einmal an und tatsächlich: Die Uhr zeigte 0:38 Uhr an. Verdutzt lehnte er seinen müden Kopf an die Kopflehne des Sitzes und schlief auch kurz danach ein.

***

Am nächsten Morgen wachte er in einem gemütlich warmen Bett auf. Er wusste nicht mehr, wie er hierher gekommen war, aber das musste er ja auch nicht. Hmm... Das muss die Pension sein. Sein Zimmer war spärlich eingerichtet: Es gab ein Bett und einen Tisch, an dem zwei Sessel standen, einen Fernseher und einen Kleiderschrank. Sein Koffer lag offen auf dem Boden. Das störte ihn nicht so sehr, doch es störte ihn, dass er leer war. Er begann schon fast in Panik zu verfallen, als ihm schließlich klar wurde, dass seine Mutter schon seine Kleider in den Schrank geräumt haben musste. Er stand auf und kleidete sich an. Dabei achtete er darauf, dass keiner durch das Fenster blicken konnte, da es keine Gardinen gab. Doch schon bald merkte er, dass er gar nicht darauf achten brauchte, da hier sowieso keine Menschenseele war.
Wo sind denn bloß die ganzen Leute?, dachte Phillip, als er auf dem leeren Vorhof der Pension stand. Noch nicht einmal die Motorengeräusche von Autos oder Bussen konnte er hören. Doch ihm gefiel das. Ahhhh... Er atmete tief ein und aus. Ruhe und Frieden.
Doch diese Idylle hielt nicht lange an, denn schon stand seine Mutter hinter ihm und schrie ihm direkt ins Ohr: "Guuuuten Moooorgen!!"
Phillip schreckte so heftig zusammen, dass er fast umgekippt wäre.
"Herrlich oder? Komm jetzt endlich rein und frühstück’ mit uns! Nicht, dass du mir noch aus den Latschen kippst!"
Er tat wie geheißen und nach dem Frühstück machte sein Vater eine unangenehme Ankündigung: "Heute ist ein wundervoller Tag! Ein wundervoller Tag zum Wandern!"
Marie und Phillip stöhnten beide so laut auf, dass ihr Vater sie fragend ansah.
"Was denn?", fragte er. "Ist doch wunderbares Wetter dafür! Los, jetzt kommt. Wir wollen noch vor 16:00 Uhr wieder hier sein."

***

Schließlich machten sie sich auf Wandertour. Die meiste Zeit glotzte Phillip nur den Boden an und überlegte über dies und das und über den Sinn des Lebens. Doch ein fernes Rauschen und ein plötzlich auftauchender großer Schatten erregten sein Interesse. Er hob den Kopf und sah über sich einen großen Felsvorsprung. Neugierig betrachtete er das Felsmassiv und sagte dann mit einem gewissem Forschungsdrang in seiner Stimme: "Geht schon einmal vor. Ich will nur auf diesen riesigen Vorsprung da und gucken, was da so rauscht. Den Weg finde ich schon. Keine Sorge. Es gibt ja nur den einen. Räuber oder so was gibt es hier auch nicht, da hier im Umkreis von drei Kilometern sowieso keiner ist."
Phillips Mutter, die gerade hochkonzentriert die Landkarte studierte, um ihre ungefähre Position zu bestimmen, antwortete nur mit den Worten: "Ja, ja."
Also machte er sich an den Aufstieg, der alles andere war als leicht. Immer wieder rutschte er ab und musste sich krampfhaft an den rauen Steinen festhalten. Nach nur kurzer Zeit hatte er schon aufgescheuerte Hände und wiederum kurze Zeit später begannen seine Hände leicht zu bluten. Als er dann irgendwann endlich oben angekommen war, sah er nun auch den Grund des Rauschens: Direkt vor ihm war ein majestätischer Wasserfall und ein kleiner See drumherum.
Und wieso genau bin ich jetzt hier hoch gestiegen? Nur ein lausiger Wasserfall mit ’nem kleinen See. Wieso hab ich mir jetzt dafür die Hände blutig gescheuert?, dachte er.
Doch dann kam etwas was er nicht erwartet hätte. Jemand antwortete ihm ... und zwar in seinem Kopf: Und dann auch noch der Abstieg, nicht wahr?

***

Ok, dachte Phillip, jetzt ist es soweit. Ich werde irre.
Aber wenn du irre bist, was bin dann ich? Ich müsste dann ja wohl schon ohne Hirn rumlaufen! Aber ich muss dich enttäuschen: Soweit ist es dann bei mir doch noch nicht gekommen.
"Ahh!!! Wer seid ihr? Und haut gefälligst aus meinem Kopf ab!", schrie Phillip ziellos durch die Gegend. Langsam aber sicher stieg Furcht in ihm hoch.
Oh, keine Sorge! Ich bin nicht in deinem Kopf. Ich kann lediglich deine Gedanken lesen und telepatisch mit dir in Kontakt treten, sagte die Stimme.
"Was? Meine Gedanken...? Telepatisch...? Moment! Wo seid ihr? Wer seid ihr? Und wie könnt ihr meine..." Er fügte noch in Gedanken hinzu: Gedanken lesen?
Sofort antwortete die Stimme: Nun, genau genommen ist das ganz einfach... für mich. Das jetzt zu erklären würde wohl zu weit führen. Tja... Wo bin ich? Einfache Antwort: In der Höhle hinter dem 'lausigen Wasserfall', wie du ihn nanntest. Na ja... Die Frage wer ich bin, ist dann schon wesentlich schwieriger zu beantworten. Wie du wahrscheinlich schon gewusst hast, bin ich eine weibliche... Person würde ich nicht sagen. Denkende Kreatur finde ich mir gegenüber zwar beleidigend, aber so könnte man es beschreiben.
Die Worte verhallten so plötzlich in seinem Kopf, dass er schon dachte, dass das alles hier nur ein Traum war. Die Stimme hatte ihn gefesselt. Sie war unbeschreiblich schön und jedes Mal, wenn diese Stimme sprach, dachte er, dass er wie in Trance davonfliegen würde, getragen von den Worten, die die Stimme sprach.
Danke schön, sagte die Stimme und es hörte sich wirklich so an, als ob sie geschmeichelt war.
Es war also doch kein Traum, dachte Phillip.
Nein, ich muss dich enttäuschen. Das war es ganz sicher nicht.
Tretet aus der Höhle hervor, damit ich ihr Gesicht sehen kann!
Du würdest es wohl nicht verkraften.
Natürlich kann ich das verkraften!
Also gut. Auf deine Verantwortung.
Kurz danach hörte er ein dumpfes Poltern hinter dem Wasserfall. Jede einzelne Faser seines Körpers war angespannt und neugierig darauf, zu sehen, was da gleich in Erscheinung treten wird. Schließlich war es soweit und... er wurde kreidebleich. In diesem Moment fühlte er rein gar nichts. 
"Na, was hab’ ich dir gesagt?"
Es war dieselbe melodische Stimme, die er zuvor auch in seinem Kopf gehört hatte. Doch es kam aus einem nicht sehr kleinen Maul, das wiederum in einem etwas länglicheren Gesicht saß. Die Kreatur hatte vier kurze Beine, einen großen Rumpf, einen länglicheren Hals, zwei riesige Lederschwingen, die es eng an den Rumpf angelegt hatte, einen langen Schwanz, der peitschend hin- und her zuckte, vier mittellange Hörner auf dem Kopf, die alle weit nach hinten gebogen waren (jeweils zwei auf einer Seite) und der ganze Körper war bedeckt von rot-rötlichen Schuppen, die die Haut darstellen sollten.
Als die Kreatur den leeren Blick Phillips sah, sagte sie: "Na ja, da du mich gesehen hast: Ich bin ein Drache, keine Kreatur."

***

"Ok", sagte Phillip, "ich habe schon wieder Halluzinationen. Ich mach jetzt einfach die Augen zu, gehe drei Schritte rückwärts und zähle bis zehn. Dann mache ich wieder die Augen auf und Schwupps! Dann steht da keine Riesenechse mehr!"
"Hey! Das mit der Riesenechse hab’ ich gehört!"
Doch Phillip hatte schon die Augen zu und zählte: "1... 2... 3... 4... 5... 6... 7"
Währenddessen trat die Drachendame näher an ihn ran, senkte ihren Kopf und guckte ihn nun mit ihren großen schwarzen Augen direkt an.
"...8... 9 und 10!" Wie auf Kommando schlug er die Augen auf und starrte mit entsetztem Blick direkt in ihre Augen. "Whaaaaaaa!!!!"
"Hey, so schlimm sehe ich nun auch nicht wieder aus", sagte sie mit einem leicht kränklichem Unterton.
Erschrocken stolperte Phillip rückwärts und vergaß, dass er schon am Rand des Felsvorsprungs stand. Folglich rutschte er an der Kante aus und fiel. Doch plötzlich packten ihn zwei riesige Pranken und zogen ihn wieder hoch. Er guckte sie wieder an und verlor kurz danach das Bewusstsein.
Alles was er davor noch hörte war die Stimme der Drachendame und ein verächtliches Schnauben aus ihren Nüstern: "Schwächlicher Mensch!" Kurz nachdem er in Ohnmacht verfallen war, fragte sie mehr sich selbst als ihn: "Sehe ich wirklich so schrecklich aus?"

***

Phillip wachte auf. Er lag wieder auf dem Bett in seinem Zimmer in der Pension. Er war klatschnass geschwitzt und atmete schwer.
Seine Mutter saß neben seinem Bett und fragte: "Wie geht es dir, Liebling?"
Phillip war verwirrt und wusste nicht mehr, was geschehen war. "Was... Was ist denn passiert?" Er zog eine schmerzverzogene Grimasse, als er sich den Kopf kratzen wollte. Verwirrt blickte er auf seine leicht bandagierten Hände und sah, dass sie blutverschmiert waren.
Seine Mutter blickte fürsorglich drein und antwortete ihm: "So genau wissen wir das auch nicht. Nachdem wir eine geschlagene halbe Stunde auf dich gewartet hatten, weil du noch auf irgend so einen Felsvorsprung klettern wolltest, beschlossen wir nach dir zu schauen. Da fanden wir dich. Du lagst bewusstlos auf dem Waldweg und hast wie blöd geblutet." Mit einer Kopfbewegung zu seiner Hand signalisierte sie ihm, dass anscheinend seine Hand so geblutet haben muss. "Wir haben natürlich sofort einen Rettungswagen gerufen, nachdem dein Vater dich aus dem Wald geschlei... tragen hat. Der Arzt gab uns dann zum Glück Entwarnung. Du warst nicht sonderlich schwer verletzt, sondern hattest lediglich ein paar Kratzer an den Händen. Also haben wir den Wagen geholt, dich eingeladen, sind zur Pension gefahren und haben dich ins Bett gelegt."
Phillip, der immer noch nicht alles begriffen hatte, fragte: "Wie lange hab ich denn hier gelegen?"
Seine Mutter ließ ein hysterisches Lachen hören und antwortete: "Seit ungefähr drei Tagen. Wir wussten nicht mehr, was wir machen sollten. Wir hatten schon gefürchtet, dass du gar nicht mehr aufwachst."
Als sie Philips erschrockenen Blick sah, fügte sie noch mit einer beruhigenden Geste hinzu: "Aber wir haben die Hoffnung nie verloren. Ich geh’ jetzt und sag den anderen Bescheid, dass du aufgewacht bist. Jetzt leg’ dich aber erstmal wieder hin und ruh’ dich aus." Mit diesen Worten stand sie auf und verließ den Raum.
Drei Tage!, dachte Phillip, drei ganze Tage! Was wohl in der Zwischenzeit alles passiert ist?
Nichts Besonderes.

***

Phillip fuhr erschrocken hoch und legte sich auch sofort wieder hin, als er den stechenden Schmerz in seiner Schulter merkte. Plötzlich erinnerte er sich wieder an alles: Den Felsvorsprung, den See, den Wasserfall und ... an den Drachen. Er hatte keinen Zweifel: Es war dieselbe Stimme, die auch der Drache hatte. Sein Herz schlug immer schneller und es bildeten sich feine Schweißtröpfchen auf seinem glühend heißen Gesicht. Sie ... sie waren es, oder?, sagte Phillip zu dem Drachen.
Na ja... Kommt darauf an, was du meinst, sagte der Drache. Ja, ich gebe zu, dass du wegen mir umgekippt bist. Aber der Rest... nein. Nein, an dem Rest bin ich nicht schuld. Zumal ich auch gar nicht weiß, was du meinst. Aber ich...
Wo sind Sie im Moment?, fuhr Phillip ihr ins Wort. Ich will sie noch mal sehen.
Soso... du willst mich also noch mal sehen, was? Nur, um wieder in Ohnmacht zu fallen oder was?
Hä? Nein! Eigentlich, um zu sehen, dass ich in Wahrheit nicht irre bin und sie existieren.
Tja, wie schon mal gesagt: Ich laufe noch nicht ohne Hirn rum!
Er merkte, wie sich auf sein Gesicht ein heimliches Lächeln stahl.
Aber, okay, fuhr der Drache fort, was interessiert das mich? Sollst du doch wieder in Ohnmacht fallen! Diesmal trage ich dich dann ganz bestimmt nicht zum Weg! Sollen deine Eltern dann doch sehen, wie sie dich erreichen können. Im Moment bin ich noch da, wo ich gestern auch war.
Damit endete der Drache seine Rede und Phillip versuchte aufzustehen und sich anzukleiden. Das erwies sich allerdings als schwerer als vermutet, aber unter ächzen und stöhnen konnte er doch noch vor die Tür kommen. "Ich mach einen kleinen Spaziergang!", rief er seiner Mutter zu.
Diese kam nach draußen gestürzt und sagte zu ihm mit einem besorgten Blick im Gesicht: "Was? Du bist gerade erst aufgewacht und hast noch nicht einmal gefrühstückt!"
"Ich weiß, aber ich muss meine Beine wieder auf Vordermann bringen. Dauert wirklich nicht lange und außerdem ist es herrlich mild und trocken. Ich geh dann!" Und bevor seine Mutter noch irgendwas erwidern konnte, war Phillip schon vom Vorhof verschwunden und war auf dem Weg in den Wald. 

***

Es wurde immer dunkler im Wald, weil die Bäume immer dichter wurden. Aber immerhin fand er schließlich den Felsvorsprung. Er betrachtete nachdenklich die massive Felswand vor ihm, denkend: Umpf... Vielleicht sollte ich doch kehrt machen. Ich will mir nicht schon wieder die Hände blutig kratzen!
Wenn du jetzt kehrt machst, sorge ich persönlich dafür, dass du nicht wieder nach Hause kommst, sagte die Drachendame ärgerlich. Also schwing deinen lahmen Hintern gefälligst hier hoch oder ich werde nachhelfen!
Jaja, ist ja gut. Also machte er sich zum zweiten Mal an den beschwerlichen Aufstieg. Mit großer Motivation des Drachens - wie zum Beispiel: Los, Los, Los!!, Ja weiter so!, Du schaffst es! oder Schneller jetzt oder ich spieß dich auf und verbrenne dich gleichzeitig! - schaffte Phillip den Weg fünfmal schneller, als beim ersten Mal.
Oben angekommen sagte er zum Drachen: "So, ich bin dann jetzt oben! Sie können jetzt rauskommen!"
Darauf schallte es aus der Höhle: "Du kannst mich auch gerne duzen. Ich heiße übrigens Sheldenêra. Für meine Freunde: Sheldana." Mit diesen Worten kam Sheldana aus der Höhle.
Alles, was Phillip bei dem Anblick des Drachens über die Lippen kam, war: "Wow..." Mit weit aufgerissenen Augen betrachtete er Sheldana von Kopf bis Schwanz. Er näherte sich ihr vorsichtig und fragte: "Darf ich?" Darauf nickte sie nur kurz und er berührte vorsichtig eine ihrer stahlharten und messerscharfen, rot-rötlichen Schuppen. Sie fühlte sich eigenartig glatt an und verströmte eine gewisse Wärme. Phillip atmete tief ein und brachte nur ein Huu... raus.
Sheldana senkt ihren Kopf und sagte: "Komm schon! Steig auf!"
Er schaute sie fragend an und sie sagte wieder: "Na los! Steig endlich auf!"
Verwirrt näherte er sich ihrem Kopf und stieg dann doch noch auf. Er saß auf ihrem Rücken und fühlte sich plötzlich eigenartig frei.
Sie stolzierte ein wenig herum, als sie schließlich sagte: "So. Und jetzt halt dich fest!" 
"Was? Wieso das?" Sie drehte ihren Kopf zu ihm um, lächelte verschmitzt und sagte noch einmal: "Halt dich fest! Es geht los!"
Sie kauerte sich am Boden zusammen und stieß sich kurz darauf so ruckartig ab, dass er fürchtete, er könnte herunterfallen. Ein entsetzter Aufschrei drang aus seinem Mund, doch sie dachte gar nicht daran wieder zu landen. Sie stieg immer höher und höher, bis sie schließlich über den Wolken waren. Seine anfängliche Furcht wich purer Begeisterung.
Sie spürte das und sagte: Es freut mich, dass es dir gefällt. Es war kaum zu überhören, welche Freude von ihrer Persönlichkeit ausging.
Dass es mir gefällt? Das ist atemberaubend!
Sie summte merklich fröhlich vor sich hin, während sie immer weiter flogen. Als sich schließlich die Wolken langsam orange färbten, sank sie und setzte zum Landeanflug an. Mit einem dumpfen Rums stand sie wieder vor der Höhle auf dem Plateau.
Er stieg ab und seine Stimme bebte vor Freude: "Das war unglaublich! Man fühlt sich so herrlich frei und ..." Er schwärmte noch immer, als Sheldenêra sich langsam zurückzog.
Sie sagte in Gedanken zu ihm: Du musst jetzt gehen. Deine Familie macht sich sicherlich schon Sorgen.
Das riss ihn aus seinen Gedanken, er drehte sich um, betrachtete sie einige Sekunden lang, kam anschließend auf sie los gerannt und umarmte stürmisch ihren Hals. Er merkte deutlich, wie es ihr die Sprache verschlug und die Schamesröte in ihr Gesicht stieg.
Ich komme morgen wieder!, versprach er ihr, drehte sich um und machte sich an den Abstieg.

***

Auf dem Vorhof in der Pension angekommen, war er immer noch tief in seinen Gedanken versunken, als seine Mutter mit besorgtem Gesichtsausdruck aus der Pension gestürmt kam.
Sie sagte zu ihm: "Mein Gott Phillip! Wo zum Teufel warst du so lange? Wir haben uns solche Sorgen gemacht! Für einen kleinen Morgenspaziergang warst du ungefähr sechs Stunden unterwegs! Und dann auch noch nichts gegessen! Los jetzt komm rein und iss erstmal was!"
Sechs Stunden?, dachte Phillip. Erst jetzt merkte er, wie hungrig er eigentlich war. Er hätte eine ganze Kuhherde verdrücken können. Also kam er der Bitte seiner Mutter nach und ging in die Pension, um etwas zu essen. Nach beendetem Mahl ging er in sein Zimmer, zog sich aus und legte sich schlafen. Er sinnierte noch einige Zeit lang über die Geschehnisse des heutigen Tages, beschloss dann aber, dass er versuchen sollte einzuschlafen.
Kurz bevor er einschlief hörte er noch Sheldenêra sagen: Gute Nacht, mein Kleiner!

***

Von nun an ging er jeden Tag zu Sheldana. Sie flogen ab und zu, unterhielten sich über dies und das und abends saßen sie, Phillip an den Bauch von ihr gelehnt, beisammen und beobachteten den Sonnenuntergang.
Doch nach vier Tagen sagte seine Mutter zu ihm, als er sich gerade wieder auf nach Sheldana machen wollte: "Tut mir Leid, aber heute kannst du nicht spazieren gehen! Wir reisen heute ab! Sag bloß das hast du vergessen?"
Phillip schaute sie erschrocken an und sagte schließlich: "Ähm... Nein, eigentlich nicht."
"Na, macht doch nichts. Pack jetzt deine sieben Sachen. In zwei Stunden müssen wir hier raus sein."
Bedrückt und zu tiefster Trauer aufgelegt schlenderte er gemächlich zu seinem Zimmer. In Gedanken rief er Sheldana und sie antwortete kurz darauf:
Was ist los? Wieso bist du noch nicht hier?
Wir reisen heute ab, sagte er eintönig.
Was? Das geht doch nicht. Was soll ich denn jetzt machen? Wem soll ich etwas erzählen und mit wem kann ich denn jetzt meine Freude über das Fliegen teilen? Die Trauer in ihrer Stimme war kaum zu überhören.
Ich weiß es doch nicht!
Moment... Ich habe eine Idee. Wohin fahrt ihr?
Nach Hause.
Ja, das weiß ich. Ich meinte eher, ob es dort Bäume gibt.
Jetzt endlich begriff er, was sie vorhatte, und ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Sie wollte ihm nach Hause folgen.
Es gibt dort sogar sehr viele Bäume.
Na, dann ist doch prima. Ich folge eurem Auto und schwupps! Schon bin ich bei dir zu Hause!
Hmm... Das könnte sogar klappen.
Natürlich klappt es!
Ok. Dann folge uns unauffällig!
Jaja. Jetzt beeil dich.
Also packte Phillip seine Sachen und zwei Stunden später fuhren sie los, nach Hause. Auf der Autobahn schaute Phillip immer wieder aus dem Fenster gen Himmel. Ab und zu sah er einen undeutlichen rötlichen Fleck am Himmel, von dem er wusste, dass es Sheldana war. Er unterhielt sich die gesamte Fahrt über mit ihr und er erklärte ihr, wie es bei ihm zu Hause sein würde. Es schien ihr zu gefallen, denn in ihrer Stimme vernahm Phillip Begeisterung.
Nach geschlagenen vier Stunden Fahrt waren sie dann endlich zu Hause angekommen und Sheldenêra suchte sich sofort einen geeigneten Platz, um dort zu verweilen. Zum Glück gab es in der Nähe von Phillips Haus einen großen Wald, in dem sie sich hervorragend verstecken konnte.
Hier bei ihm zu Hause ging es genauso, wie in der Pension auch, bloß, dass er jetzt nur nachts zu ihr kam, wenn seine Eltern schliefen. Sie betrachteten dann immer gemeinsam den Mond und redeten über dieses und jenes.
Doch eines Tages, als es wieder Nacht war und er wieder zu Sheldana wollte, sagte er zu ihr: Ich bin krank. Heute kann ich nicht kommen.
Mit großer Besorgnis in der Stimme sagte sie zu ihm: Was hast du denn, mein Kleiner?
Ich weiß auch nicht so recht. Ich mag nichts mehr essen, mein Bauch tanzt Rumba, richtig und klar denken kann ich auch nicht mehr.
Sie ließ ein Lachen hören und antwortete schließlich: Hahaha. Ich weiß, was du hast. Komm her, dann sag ich es dir.
Aber ich kann doch nicht.
Doch, du kannst! Also jetzt komm schon her!
Umpf... Ok, ich versuch es.
Er bahnte sich einen Weg durch den dunklen Wald zum Versteck von Sheldana. Als er dann vor ihr stand, sagte er zu ihr: "So ich bin jetzt hier. Also was ist es?"
Sie senkte ihren Kopf, so dass sie sich auf Augenhöhe befanden. "Mir geht es genauso wie dir", sagte sie. "Ich weiß, was man dagegen machen kann. Komm näher."
Schulterzuckend kam er näher an sie heran.
"Noch näher!"
Er trat einen weiteren Schritt auf sie zu, so dass er fasst ihr Gesicht berührte. Und plötzlich ohne Vorwarnung schnellte sie ihren Kopf nach vorne und... - sie küsste ihn. Mitten auf den Mund. Er riss die Augen auf vor Entsetzen. Sie hörte auf und schaute ihn an.
"So ist das also", sagte er.
Sie nickte nur.
"Ähm... Tja. Ich muss dir wohl etwas sagen:" Er zögerte einen Moment, guckte auf den Boden und murmelte dann: "Ich... Ich liebe dich, Sheldenêra..."
Sie hob vorsichtig mit einer Klaue seinen Kopf hoch und schaute ihn ernst aus knallharten roten Augen an. Dann plötzlich verschwand das Harte in ihren Augen und wurde weich. Das Ernste in ihrem Gesicht wich einem breiten Lächeln und sie sagte: "Ich dich auch!"
Sie küsste ihn abermals aber diesmal erwiderte er ihren Kuss mit Begeisterung. Er strich währenddessen ihr mit einer Hand zärtlich über eine Wange. Es fühlte sich in ihm an, als ob ein Feuerwerk in ihm hochgeht.
Nach einer halben Ewigkeit, wie es ihm erschien, lösten sie den Kuss und schauten sich liebevoll an.
Phillip brach schließlich die Stille: "Puh... Mein Herz fühlt sich an, als ob es in Flammen steht." Er lachte kurz und leise.
Darauf antwortete Sheldana: "Tja... Mein Herz ist bereits verbrannt."
Beide lachten. Sie setzten sich auf den kühlen Waldboden und Phillip lehnte sich an Sheldana. Sie küsste ihn ab und zu, während sie leise vor sich hin sprachen.
"Irgendwie ist das hier ja eine komische Beziehung", sagte Phillip, "na ja... Immerhin bin ich ein Mensch und du ein Drache."
Sie antwortete mit einer Frage auf die Frage: "Weißt du, warum deine Augen grün sind, obwohl niemand in deiner Familie grüne Augen hat?"
"Ähm... Nein, eigentlich nicht."
"Ich kann es dir sagen. Die Frage ist ja, ob du es wissen willst."
"Öh... Ja klar will ich es wissen!"
"Ok. Dann hör genau zu: Wenn der Mond senkrecht steht und voll ist, komm zu mir. Berühre mich dann und sage: E’stha Shurt’ugal Krevinthae! Dann wirst du dein wahres Ich sehen. Aber sei vorsichtig! Einmal gesprochen wirst du den Zauber nicht mehr rückgängig machen können."
"Zauber?", fragte Phillip verwundert. "Wie sieht denn mein wahres Ich aus?"
"Ganz einfach: Du bist ein Drache. Ein grüner Drache."

***

Diese Botschaft traf ihn so plötzlich, dass es ihm die Sprache verschlug.
"Keine Sorge, mein Kleiner. Du musst das nicht machen." Sheldenêra sah ihn zärtlich an und küsste ihn auf den Mund.
Er musste lächeln und sagte: "Ich möchte es aber. Ich möchte auch mit dir für ewig zusammen sein."
Ihr Gesicht wurde knallrot vor Scham.
Er strich ihr zärtlich über die Wange und sagte: "Ich bin bei Vollmond wieder hier!" Mit diesen Worten wandte er sich um und rannte davon. Zu Hause angekommen überschlugen sich seine Gedanken. Er ließ sich auf das Bett fallen und schlief sofort ein.
Am nächsten Tag schaute er auf seinem Kalender nach, wann der nächste Vollmond ist. Zu seinem Erschrecken war der nächste Vollmond schon in dieser Nacht. Er wusste nicht, warum ihn das so erschrak, aber er war felsenfest entschlossen, zu ihr zu gehen. Er beschloss an diesem Abend ein Abschiedsbrief für seine Mutter zu schreiben, in dem er alles erklärt.
Nach getaner Arbeit macht er sich auf in den Wald.

***

Im Wald angekommen, sah er Sheldana, die ihn wohl schon erwartete. Sie begrüßten sich mit einem Kuss auf den Mund.
Sie fragte ihn: "Bist du bereit?"
Er nickte nur kurz angebunden.
"Bist du sicher, dass du das auch wirklich willst?"
Er nickte heftiger. "Ich bin fest entschlossen", sagte er.
So standen sie da und beobachteten den Vollmond. Er stieg höher und höher, bis er endlich senkrecht über ihnen stand.
"Es ist soweit", sagte er. Er berührte sie an ihrem Hals und sagte: "E’stha Shurt’ugal Krevinthae!"
Und - ein grelles grünes Leuchten erfüllte die Nacht, gefolgt von einem gewaltigen Knall.

***

"Es ist so still", sagte Phillips Mutter. "Ich schau lieber mal nach, was er da oben treibt. Hast du mir überhaupt zugehört, Martin?", fügte sie noch ärgerlich hinzu.
Phillips Vater schaute erschrocken über den Rand seiner Zeitung und guckte sie verwirrt an. "Hä? Was? Hast du was gesagt, Mathilde?"
"Ach, vergiss es", schnaubte sie und stapfte aus dem Wohnzimmer. Sie stieg die Treppen hoch, doch sie hörte noch immer kein Geräusch aus Phillips Zimmer. Ihr Puls wurde schneller, als sie sich Phillips Zimmer näherte. Sie öffnete die Tür und - kein Phillip. Es bildeten sich feine Angsttröpfchen auf ihrer Stirn, als sie den Brief auf seinem Schreibtisch entdeckte. Sie öffnete ihn und las:

Liebe Familie,

zu aller erst: Macht euch keine Sorgen! Mir geht es gut. Ja, wirklich! Habt ihr euch nicht auch gewundert, weshalb ich grüne Augen habe? Nun... Jetzt weiß ich es. Ich bin ein Drache. Ja, ein Drache. Ihr werdet mich für verrückt halten, doch ich habe einen Beweis. Ich habe die Liebe fürs Leben gefunden. Tja... und jetzt ratet mal, wer es ist... Nein! Nicht Anna aus der Elften! Nein, auch nicht Lisa aus der Zwölften! Nein. Es ist Sheldenêra. Ungewöhnlicher Name? Nein. Ungewöhnliche Person! Sie ist eine Drachendame. Wenn ich erwähnen darf: Sehr attraktive Drachendame. Ich weiß. Jetzt haltet ihr mich für völlig meschugge. Wenn ihr mir das hier nicht abkauft, schaut doch mal aus meinem Fenster. Ich stehe neben dem großen Baum, mitten im Garten. Jaja! Gafft nur! Aber ich warne euch! Sie gehört mir! Mir ganz alleine! Vielleicht komme ich euch ja irgendwann einmal besuchen.

Liebe Grüße,

Phillip

Ungläubig starrte sie den Brief an. Sie legte ihn vorsichtig wieder zurück auf den Schreibtisch und näherte sich langsam dem Fenster. Als sie hinausschaute, riss sie die Augen ganz weit auf. Draußen auf ihrem Rasen, neben dem großen Baum, standen zwei große Drachen mit riesigen, fast transparenten Lederschwingen. Als der grüne Drache eine Klaue hob und er ihr zuwinkte, rann eine einzige Träne über ihre Wange und sie flüsterte ganz leise: "Phillip..."
Die beiden Drachen küssten sich, stießen sich gleich darauf ab und flogen gen Horizont.
Mathilde schaute hinterher. Eine Mischung aus Traurigkeit und Fröhlichkeit stieg in ihr auf. "Jetzt ist er endlich erwachsen."
 

© T. Schmick
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Und sicher schon bald geht es hier weiter zum 1. Kapitel...

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