Der Wolf von Fayleen

Der Grabstein war grau, genauso wie der ganze Friedhof, und ebenso still. Der Ort wirkte verlassen und farblos, denn er hatte schon längst seine eigentliche Bedeutung verloren. Die Menschen, die hierher kamen und oft auch blieben, suchten nichts mehr; ihre Welt passte zu der Stimmung, die hier vorherrschte.
Eanna hasste diesen Friedhof. Für sie war er ein Symbol für die ganze Stadt, für ihr ganzes Leben, und sie wünschte, sie müsste ihn nie wieder sehen. Und trotzdem stand sie hier und starrte trotzig und wütend auf den Stein ihrer Großmutter, die hier begraben lag und sie einfach allein gelassen hatte. Die alte Frau war vor einem Jahr gestorben, doch sie hatte sich auch vorher nicht um ihre Enkelin gekümmert, denn sie war alt und krank gewesen.
Und trotzdem hatte sich alles verändert, als sie plötzlich gestorben war, denn nun lebte Eanna vollkommen auf Kosten des Waisenhauses, und in genau einem Jahr, wenn sie volljährig wurde, musste sie ihre Sachen gepackt haben und verschwunden sein...
Eanna starrte regungslos vor sich hin. Es war ihr Geburtstag, und sie stand auf einem Friedhof, mitten im Winter, ganz alleine, als hätte es nie ein anderes menschliches Wesen gegeben. Es war kalt, aber sie spürte es nicht, denn die Kälte wohnte schon zu lange und zu tief in ihr drin, als dass es einen Unterschied gemacht hätte.
Sie hatte Angst. Fürchterliche Angst, und am liebsten wäre sie fortgelaufen, aber wohin? Sie war minderjährig. Niemand würde ihr helfen. Sie runzelte die Stirn und versuchte, sich selbst aufzumuntern. Es funktionierte nicht wirklich.
Unschlüssig trat sie von einem Fuß auf den anderen. Sie hatte das eigentümliche Gefühl, auf irgendetwas warten zu müssen, und gleichzeitig verfluchte sie sich dafür, dass sie der Ahnung nachgeben wollte, denn sie wusste, dass es nichts gab, auf das es sich zu warten gelohnt hätte.
Nach einigen Sekunden schüttelte sie das seltsame Bedürfnis ab und wandte dem regungslosen Grabstein entschlossen den Rücken zu. Sie konnte es sich nicht leisten, vor sich hin zu träumen. Dadurch würde sich ihre Situation auch nicht bessern.
Langsam ging sie den Kiesweg zurück. Der Friedhof war ein trostloser Ort, der auch nicht dadurch schöner wurde, dass er auf einem Hügel und somit abgeschnitten vom Alltag lag. Es ließ die Toten nur noch einsamer und vergessener erscheinen.
Aber immerhin brauchte Eanna keinen Fahrer; sie konnte ohne Probleme zu Fuß herkommen. Sie schlang die Arme um sich. Sie fühlte sich taub, gefühllos, aber sie durfte nicht aufgeben.
Ein helles Klingeln riss sie aus ihren Gedanken. Irritiert sah sie sich um. Die Quelle des Geräusches war nicht zu sehen, aber es schien näher zu kommen. Der helle, zauberhafte Klang brachte Eanna durcheinander. Einen Moment lang hatte sie das Gefühl, sie bräuchte nur ihre Hand auszustrecken und schon würde die Welt farbenfroh und gefühlvoll werden...
Eanna schüttelte den Kopf und ging weiter. Sie konnte sich keine Träume leisten...
Vor dem Tor stand jemand. Einen Moment lang hoffte sie naiverweise, dass ihr geheimer Wunsch doch noch wahrgeworden, dass jemand gekommen war, um ihr zu helfen - dann erkannte sie den jungen Mann, und sie sackte unwillkürlich in sich zusammen. Fast gegen ihren Willen ging sie weiter. Es war Drake, er war gekommen, um sie abzuholen.
Eanna begrüßte ihn nicht. Er ging ihr auf die Nerven. Sie wünschte sich, er würde sie endlich in Ruhe lassen. Sie wollte nichts mit ihm zu tun haben. Das Klingeln war verstummt. Die Welt war wieder grau.
Genauso grau wie das Waisenhaus, genauso unbedeutend wie die ganze Stadt mit ihren grauen Massen und verwischten Gesichtern. Nichts bedeutete hier irgendetwas, und die Leute waren zufrieden damit. Eanna hatte dauernd das Gefühl, gleich ersticken zu müssen. Fort...
Drake redete auf sie ein. Sie hörte ihm nicht zu; sie hatte ihm noch nie zugehört. Sie wusste ja, was er von ihr wollte, und ließ ihn reden. Es war ihr egal. Sie reagierte nur noch, wenn er ihr zu nahe kam.
Sylvia dagegen, das wusste Eanna, würde Drake liebend gern etwas näherrücken lassen, aber er interessierte sich nicht für sie. Eanna wusste das, denn Sylvia war ihre beste - und einzige - Freundin, und ihr hörte sie zu. Was sie allerdings nicht wusste, war, was Sylvia insgeheim von ihr dachte...
Sie erfuhr es am Tag nach ihrem Geburtstag. Sie wollte ihrer Freundin einen Schal bringen, den sie im Zimmer vergessen hatte, und ging deshalb zur Sporthalle. Sie wusste, dass Sylvia zusammen mit ein paar von den anderen Heimmädchen dort einen Tanzkurs belegte, aber sie hatte sich noch nie dafür interessiert. Sie konnte irgendwie keinen Sinn in diesem Sport sehen, und sie wollte auch nichts vorspielen.
Eanna zögerte kurz vor der Tür. Sollte sie sie wirklich stören? Sie fürchtete sich vor den Blicken. Sie hasste es, wenn die anderen Mädchen sie ansahen, als ob sie von einem anderen Stern käme. Und trotzdem wollte - und konnte - sie sich nicht anpassen.
Da hörte sie plötzlich Sylvias Stimme. Sie redete über sie... "...wenn sie nicht meine Zimmernachbarin wäre. Sie tut mir leid, ja, aber- Nur weil sie nicht zurecht kommt, heißt das nicht, dass ich- das auch nicht tue. Ich bin gerne hier, wirklich..." Aber Eanna hörte nicht mehr zu. Sie legte den Schal sanft auf den Boden, drehte sich um und ging, die Augen geschlossen, los. Sie hatte das Gefühl, ihr wäre der Boden unter den Füßen weggerissen worden, aber das spielte nun sowieso keine Rolle mehr.
Sie durfte Sylvia nicht auch noch grau werden lassen... Sie konnte nichts dagegen tun, aber sie würde es sich nicht ansehen, wie ihre Freundin sich langsam in einen Schatten verwandeln ließ.
Zuerst ging sie langsam, dann wurde sie immer schneller, bis sie schließlich lief, die Augen weit aufgerissen, aber trotzdem trocken und blind für diese Welt, in der es ohnehin nichts zu sehen gab... Auch das leise Klingeln, das wie aus weiter Ferne zu kommen schien, um sie zu trösten, drang nicht in ihr Bewusstsein vor.
Leise Schneeflocken fielen langsam auf die Stadt und tanzten einen wirbelnden Tanz um Eanna. 
Erst als sie sich müde gelaufen hatte, kamen die Tränen, doch noch immer spürte sie nichts. Sie passte kaum auf, wo sie hinging. Es reichte schon aus, dass sie sich bewegte. Ins Heim würde sie nun ohnehin nicht mehr zurückkehren, deshalb machte es keinen Unterschied, wohin sie sich wandte. Sie nahm die Geschäfte rundherum kaum wahr, sie schienen die Hintergrundkulisse zu bilden, doch sie sahen alle gleich aus.
Sie war gerade im Begriff, über die Straße zu gehen, als ihr aus den Augenwinkeln heraus etwas auffiel. Sie blieb stehen und sah zu dem Ladenfenster zurück. Das Klingeln im Hintergrund wurde beständig lauter, doch sie nahm es immer noch nicht bewusst wahr. Sie runzelte die Stirn. War da nicht gerade...? Aber nein, das konnte nicht sein. Ein Wolf in einer Stadt, und niemand reagierte? Sie musste sich die Spiegelung eingebildet haben... Hier gab es sowieso nichts zu sehen, was es nicht überall gegeben hätte... Trotzdem zögerte sie noch ein wenig.
Das rettete ihr das Leben.
Sie spürte einen Luftzug, als das Auto um Zentimeter an ihr vorbeiraste. Sie kam sich vor wie im Traum, und drehte sich wieder zu der Straße hin. Wenn sie hinübergegangen wäre, wie sie es vorgehabt hatte...
Das Klingeln hatte aufgehört. Es fiel ihr auf, denn plötzlich fehlte etwas. Aber sie war zu geschockt, um es wirklich zu realisieren. Zitternd ging sie weiter, allerdings nicht über die Straße, sondern zurück - dorthin, wo keine Autos erlaubt waren. Ohne es zu merken, machte sie einen Bogen um das Waisenhaus und steuerte stattdessen den Friedhof an. Erst als sie dort war, wusste sie, dass sie hier auch übernachten würde. Hier würde niemand sie stören... Nach ihren vielen Besuchen fühlte sie sich hier genauso zu Hause wie in ihrem Zimmer. Es machte nun sowieso keinen Unterschied mehr für sie, abgesehen einmal von dem Bett.
Nach kurzem Herumirren legte sie sich in einer kleinen, warmen Kapelle schlafen. Die Farben des Altars waren schon lange verblasst, doch irgendeine gute Seele schien an dem Symbol zu hängen und sich liebevoll darum zu kümmern. Von außen war davon freilich nichts zu sehen gewesen, so dass anzunehmen war, dass kaum jemand je hier her kam, abgesehen von dem einen gläubigen Menschen. Müde rollte Eanna sich zusammen.
Sie träumte von Wölfen und Glöckchen. Mitten in der Nacht wurde sie von Drakes Stimme geweckt. Er schien nach ihr zu suchen. Einen kurzen Moment lang wollte Eanna antworten, doch dann sah sie einen Schatten um die Kapelle schleichen und presste sich in die Dunkelheit.
Drake war nicht allein. Sie spürte die Gefahr. Er würde ihr nicht helfen, deswegen war er nicht gekommen. Deswegen war er noch nie bei ihr gewesen. Er wollte etwas ganz anderes... Wieder hörte Eanna die Glöckchen, dieses Mal leiser, aber auch näher. Sie schienen ein Lied zu weben, ein Lied wie eine warme Decke, die sie vor aller Kälte beschützen würde...
Eanna kämpfte dagegen an. Sie durfte sich nicht einlullen lassen, sie war in Gefahr. Drakes Bande würden sie früher oder später hier finden, und dann säße sie in der Falle. Sie musste versuchen zu fliehen...
Sie warf die Eisentür auf und begann zu laufen. Sie hatte einen kleinen Vorsprung, doch sie hörte die Männer hinter ihr rufen und stolperte. Sie holten sie ein und umzingelten sie.
Eanna konnte sich denken, was sie vorhatten - Drakes Freunde waren bekannt für ihre Gemeinheiten, aber bis jetzt war Eanna ihnen immer ausgewichen. Sie zitterte nicht mehr. Sie konnte ohnehin nicht fliehen. Das Klingeln schien näher zu kommen und gleichzeitig lauter zu werden. Drake trat aus dem Kreis und auf sie zu. Sie konnte gerade noch seinen gierigen Gesichtsausdruck erkennen, dann wurde er zur Seite geworfen.
Der Wolf landete nahezu geräuschlos, bleckte die Zähne und knurrte drohend. Die Glöckchen um seinen Hals klingelten leise, zornig. Eanna starrte ihn an, bemerkte gar nicht, wie die anderen nun flüchteten. Sie sah nur noch den Wolf, und die Glöckchen. Doch er war plötzlich kein Wolf mehr, sondern ein junger Mann mit weißen Haaren und braunen Augen, der so anders wirkte in dieser grauen Welt. Sie glaubte zu verstehen.
"Wirst du mich mitnehmen?", fragte sie leise, beinahe ängstlich, obwohl sie nun wusste, dass er sie in den vergangen Tagen begleitet hatte. Würde er sie nun auch verraten...?
Er lächelte, streckte die Hand nach ihr aus und antwortete: "Deswegen bin ich hier. Wirst du meine Weggefährtin sein?"
Eanna erwiderte sein Lächeln und nahm seine Hand. "Deswegen bin ich hier."

Eanna Lemans verschwand an diesem Tag und kehrte nie wieder in die graue Stadt zurück. Alleine die drei Göttinnen wissen um ihr Schicksal, und sie werden es für sie bewahren, bis es so weit ist.
 

© Fayleen
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