Drachenkind von Soleil
5: Die Kälte des Todes

Eryth fröstelte und schlug die Augen auf. Es dauerte mehrere Atemzüge, ehe sie begriff wo sie war, und seltsamerweise fühlte sie nichts als Müdigkeit, als die Erinnerung an die vergangene Nacht zurückkehrte.
Sie schluckte und drehte sich auf die Seite. Als sie die Arme aufsetzte, erzitterte ihr Körper unter der Schmerzenswelle, die sich zielsicher vom Rückgrat bis in die Fingerspitzen ausbreitete. Sie keuchte und knallte mit der Stirn zurück auf den Boden, saugte dann die kostbare Luft ein, hielt sie und zwang ihre Muskeln zu gehorchen und den Körper aufzurichten. Alles um sich ignorierend, stand sie still und erst als sie wieder ausatmete, kehrte der Schmerz zurück. Sie presste Augen und Lippen zusammen und wartete geduldig darauf, dass es vorbeiging, aber je stiller sie stand, desto schlimmer wurde es.
Mit der größten Selbstüberwindung, die sie aufbringen konnte, ignorierte sie den Schmerz und die Übelkeit und sah sich mit verkrampften Händen um.
Drachenkind lag neben ihr auf dem Boden, halb auf die Seite gedreht und so, als habe er versucht allein aufzustehen, allerdings ganz offensichtlich ohne viel Erfolg.
Auf ihrer linken Seite tanzte die inzwischen kalt gewordene Asche im Kamin in den hellen Sonnenstrahlen und ihr wurde klar, weshalb sich alles hier so klamm anfühlte. Das war seltsam, denn sie konnte sich nicht daran erinnern, dass Yaa das Feuer jemals hatte völlig verlöschen lassen. Dieser Gedanke ließ sie sich abrupt umdrehen und halb über Drachenkind stolpernd an Yaas Lager eilen. So spät war sie noch nie aufgestanden und das rechtfertigte auch die vergangene Nacht nicht. Außerdem mussten sie selbst und Drachenkind schon Stunden dort am Boden gelegen haben, wo sie mit ihm zusammengebrochen war.
Noch ehe Eryth es bemerkte, rannen ihr die ersten Tränen über die Wangen und sie kniete sich so langsam und vorsichtig neben das Bett, wie sie nur konnte.
Yaa hatte die Augen geöffnet und richtete den Blick auf Eryth ohne sich zu bewegen. Sie schien um Jahre gealtert zu sein, die Wangen nach innen gefallen, der Mund wie von einem sanften Dreieck umrahmt.
Eryth erschrak und griff nach Yaas Hand, die leblos und kalt an der Seite des kraftlosen Körpers geruht hatte.
"Yaa," schluchzte Eryth.
"Nicht jetzt. Bitte, bitte nicht jetzt."
Yaa verzog die Mundwinkel, obwohl es ihr denkbar schwer fiel, aber sie wusste, dass sie schon zu weit auf der anderen Seite stand, um noch etwas sagen zu können. Sie wäre schon seit Stunden fort, hätte sich fallen lassen wie ein Blatt vom Baum fällt, würde treiben im Wind der Gezeiten und dem Weg folgen, den das Schicksal ihr vorherbestimmt hatte. Aber es fiel so unsagbar schwer, einfach loszulassen und den letzten Schritt zu tun, die letzte Entscheidung im Leben zu treffen.
"Yaa, bitte. Ich brauche dich doch."
Eryth presste die Hand der alten Frau an ihre Wange und Yaa fühlte die salzigen Tränen auf ihrer Haut.
Eryth, ich wünschte, ich könnte bleiben und dich beschützen, aber das geht nicht, denn meine Zeit in dieser Welt ist um.
Eryth weinte so bitterlich, wie sie es noch nie zuvor getan hatte, denn sie ahnte bereits, was genau sie im Begriff war zu verlieren. Sie blickte ihrer Lehrmeisterin in die Augen und fühlte ihr Leben schwinden. Sie hatte es oft genug gesehen und wusste, sie sollte es Yaa leicht machen, ihr helfen, sich nicht unnötig an das zu klammern, was sie sowieso nicht halten konnte, aber sie wusste nicht wie.
"Was soll ich denn jetzt nur tun," flüsterte sie leise und ihr wurde klar, dass sie bald ganz allein sein würde.
Oh Mädchen, dein Weg ist schon seit langer Zeit beschlossen, du musst ihn nur noch beschreiten.
Yaa versuchte Eryths Hand aufmunternd zu drücken, aber ihr Körper gehorchte ihr längst nicht mehr.
Kind, du wirst es gut machen, ich weiß es.
Sie hoffte, dass ihr Blick all das sagte, was ihre Lippen nicht mehr in Worte formen konnten.
Eryth, ich habe dich nicht geboren, aber du bist mir das liebste meiner Kinder. Ich würde beten für dich, aber ich weiß, dass die Götter auch nur tun, was sie müssen. Deshalb nimm meinen Segen und meine Liebe. Ich glaube an dich.
Eryth sah, wie sich Yaas Blick zunehmend verschleierte und erstarrte in ihren Bewegungen ebenso wie in ihren Gedanken.
Sie starb! Sie starb wirklich!
Der alte Körper atmete seichter und seltener und Eryth fühlte, wie der Puls schwächer wurde. Sie verstärkte den Griff, als ob sie Yaa damit halten könnte und wartete mit zusammengepressten Lippen auf das unausweichliche Ende. Sie würde nicht schreien, nicht flehen, Yaa möge nicht gehen und bei ihr bleiben, denn dann hätte es die alte Frau nur ungleich schwerer.
Die Hand Yaas entglitt ihrem zitternden Griff und fiel hinunter auf die Decke, als der Körper das letzte Mal einatmete. Zuerst begriff sie es gar nicht richtig, aber dann schloss sie die Augen der Toten und die allerletzten Kraftreserven flossen aus ihrem eigenen Körper hinaus. Ihr Kopf fiel auf das Lager neben den toten Körper und der Rest von ihr sank einfach nach unten.
Allein!
Nun war sie vollkommen allein in dieser Welt.
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© Soleil
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Und sicher schon bald geht's hier weiter zum 6. Kapitel...

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