Vorwort
Auch wenn diese Geschichte aus der Ich-Perspektive geschrieben ist,
alle Personen sind frei erfunden. Die den einzelnen Episoden zugrunde liegenden
Ereignisse sind ebenfalls ein Produkt meiner Phantasie, auch wenn sich
diese in ähnlicher Form tatsächlich irgendwo auf dieser Welt
ereignet haben, ereignen und immer wieder ereignen werden.
Inspiriert zu dieser Geschichte wurde ich aus verschiedenen Nachrichtenmeldungen,
die durch die Medienlandschaft geistern, und bei verschiedenen Tierparkbesuchen.
Gewidmet sei diese Geschichte zwei Tigern, die mir sehr viel bedeutet
haben in meinem Leben, damit möchte ich ihr Andenken lebendig erhalten.
.
Prolog
Es ist stickig und heiß in dem großen Kontrollraum, obwohl
dieser voll klimatisiert ist und außerhalb der dicken Mauern tiefster
Winter herrscht.
Ich halte kurz inne und lasse meinen Blick über die ganzen
Monitore und Flachbildschirme im Raum schweifen.
Unzählige Computer sind am Arbeiten, viele Bildschirme sind
jedoch einfach nur Fernsehgeräte. Leider ist das gezeigte Programm
alles andere als erbaulich; zum Teil handelt es sich um Aufzeichnungen,
aber meist sind es aktuelle Bilder, die wir aus aller Welt hierher übertragen
bekommen. Auf dem einen Monitor rast zum wiederholten Male eine Boing 767
in einen der Twin Towers des nun nicht mehr existierenden World Trade Centers,
auf einem anderen Bildschirm ist eine große Fähre zu sehen,
die gerade in Flammen aufgeht, irgendwo im Roten Meer. Jeder Fernseher
zeigt etwas anderes: Brennende Botschaften und Flaggen, entzündet
von einer kochenden Volksseele, die sich wegen ein paar Karikaturen in
ihren religiösen Gefühlen verletzt fühlt. Ein an sich harmloses
Bächlein, das aufgrund heftiger Regenfälle und der Schneeschmelze
in den Alpen zu einem reißenden, tödlichen Strom geworden ist
und gerade mehreren Familien in einem österreichischen Dorf die Existenz
vernichtet.
Manchmal meint man auch etwas idyllisches sehen zu können,
zum Beispiel einen traumhaften Palmenstrand, doch wenn man genau hinsieht,
so kann man den havarierten Tanker auf hoher See erkennen und den Ölteppich,
der auf das Paradies zutreibt, oder die einfachen Landarbeiter, die mit
schweren Motorsägen ihre Schneisen in den jahrtausend alten Regenwald
auf Borneo schlagen, um Holz zu gewinnen, das dann die Chinesen für
die Produktion von Essstäbchen verwenden.
Meine Kollegen und ich haben schon lange aufgehört, uns über
diese Bilder aufzuregen. Mit der Zeit stumpft man einfach ab. Bei uns läuft
diese gewaltige Informationsflut zusammen, wir haben alle Daten gesammelt
und ausgewertet und versucht, regulierend einzugreifen, wie es seit Anbeginn
der Zeit unsere Aufgabe war, weitergegeben von Generation zu Generation.
Es ist kurz vor Feierabend und die meisten von uns sind schon fort,
auf dem Weg nach Hause.
Ich stehe auf und vertrete mir ein wenig die Beine auf unserer Dachterrasse,
von der ich einen herrlichen Blick habe über die große, verschneite
Stadt. Alles sieht so still und friedlich aus, doch auch hier sind die
Zeichen der Zeit kaum zu übersehen und man sieht die Menschen hastig
in ihre Häuser und Keller eilen. Mittlerweile hat es auch der dümmste
Zweibeiner verstanden, dass es so wie bisher nicht mehr weitergehen kann
- oder soll ich sagen: weitergehen wird?
Ich selbst kann noch nicht nach Hause gehen, ich muss noch ein paar
Arbeiten zu Ende bringen.
Interessanterweise haben sich die Bewohner dieser Stadt niemals um
uns gekümmert. Ich frage mich, ob sie überhaupt wissen, was sich
hinter diesen dicken Mauern verbirgt. Wir haben stets darauf geachtet,
dass wir mit unseren Aktivitäten kein Aufsehen erregen. Von diesen
Kontrollzentren hat es viele auf diesem Planeten gegeben, allesamt unbemerkt
inmitten großer Städte. Doch eigentlich spielt das jetzt keine
Rolle mehr.
Ich schalte einige der Monitore ab und fahre auch einige Systeme
herunter, die nun nicht mehr benötigt werden.
In den letzten Wochen war ich sehr fleißig gewesen, das große
Regal neben meinem Schreibtisch ist vollgestellt mit großen Folianten;
allesamt enthalten sie Protokolle, Aufzeichnungen und Ergebnisse unserer
Forschungsarbeiten, alles von mir akribisch gesammelt und niedergeschrieben.
Es ist noch Platz für einen Band, und dieser liegt aufgeschlagen vor
mir auf dem Tisch, daran arbeite ich gerade. Zum Feierabend muss ich unbedingt
mit den Aufzeichnungen fertig werden.
Meine Kollegen haben mich immer belächelt, weil ich meine Gedanken
nicht einfach auf dem Keyboard in den PC tippe oder sie einfach diktiere
und ein Spracherkennungsmodul den Rest der Arbeit machen lasse. Aber ich
habe für diesen Schnickschnack nichts übrig. Für mich bedeutet
das Schreiben eine hohe Kunst und ich bin der Meinung, dass man unseren
Arbeiten einen würdigen Rahmen verpassen sollte. Tinte ist angemessen
und Pergament hatte schon bei den Babyloniern Stil - weshalb sollte das
also heute anders sein?
Noch einmal lese ich durch, was ich bisher geschrieben habe, über
all meine Erinnerungen und meine Eindrücke, die sich so in den vergangenen
Jahren angesammelt haben. Mein Herz ist schwer von Sehnsucht und voll Heimweh
nach jenen unwiederbringlichen Tagen und Stunden, als unsere Arbeit noch
sinnvoll erschien und man Hoffnung hegen durfte.
Meine Domäne ist der Natur- und Artenschutz.
Schon gleich von Anfang an hat mich die Vielfältigkeit des
Lebens auf diesem Planeten in ihren Bann gezogen, dieses fragile Gleichgewicht,
das allem innewohnt. Mit der Zeit hat sich dann immer mehr herauskristallisiert,
dass es jene Lebewesen waren, die die Menschen schlicht als Raubtiere bezeichnen,
die mich besonders faszinierten, seien es nun Füchse oder Wölfe
oder Krokodile.
Aber am meisten schlägt mein Herz für die Katzen, die
großen, und da vor allem für den Tiger. Deren goldenen Felle
mit jenen merkwürdigen Runen; die Chinesen sagen, dass diese Zeichen
auf der Stirn ihrem Schriftzeichen für 'König' entsprechen, deshalb
bezeichnen wir den bengalischen Tiger auch als 'Königstiger', bei
den Malaien beispielsweise heißt das Tier 'Herrscher des Tages',
also 'Hari Mau'. Diese herrlichen bernsteinfarbenen Augen eines Tigers,
ihr Körperbau, elegant und kraftvoll zugleich.
Wieviel Zeit meines Lebens habe ich damit verbracht, ihnen, meinen
Lieblingen, nahe zu sein: Ich habe sie studiert in Büchern und Folianten,
mich aus dem Internet mit immer neuen Informationen über diese Geschöpfe
versorgt, ich war ihnen nahe in ihren natürlichen Lebensräumen,
nahm Abdrücke ihrer Tatzen in den Wäldern Sibiriens und war bei
der Errichtung der großen Nationalparks Indiens zugegen. Das waren
meine aktiven Zeiten des Artenschutzes, den ich neben meiner, oder besser
gesagt, im Rahmen meiner eigentlichen Tätigkeit praktizierte. All
die unzähligen Stunden vor und in den Gehegen und Käfigen in
zoologischen Gärten, Zirkussen und Tierhandlungen rund um den Globus.
All das wird wieder lebendig vor meinen Augen, wenn ich durch diesen
Band vor mir blättere, der jetzt förmlich danach schreit, vollendet
zu werden.
Also greife ich nach dem Füllfederhalter und ich versuche, weitere
Erinnerungen einzufangen.
.
Tiger I
Es war wohl eines der Kindheitserlebnisse, das mich bis zum heutigen
Tage am meisten geprägt hat.
Wenn damals der Zirkus in die Stadt kam, war das für uns Buben
das Höchste. Ungeachtet aller Ermahnungen und Verbote seitens unserer
Eltern und der Zirkusleute strolchten wir während der Aufbauarbeiten
auf dem Zirkusgelände herum, waren den Zeltarbeitern im Weg und nervten
mit neunmalklugen Fragen.
Doch während meine Freunde sich eher für den ganzen technischen
Firlefanz interessierten, sei es nun die PS-Zahl der Zugmaschinen oder
die Leistung der zirkuseigenen Stromaggregate, war ich aus einem ganz anderen
Holz geschnitzt.
Von Anfang an zog es mich zu den Tieren, zu den prachtvollen Rössern,
den mächtigen Elefanten - vor allem aber zu den großen Katzen
und da wiederum vorzugsweise zu den Tigern.
So auch an jenem Tag, als der österreichische Nationalcircus
bei uns im Dorf gastierte - ich weiß gar nicht mehr, welchen Namen
der Circus damals trug.
Jedenfalls stand ich mit einem Mal völlig allein und wie verzaubert
vor den schweren Eisengittern und aus der dahinter liegenden Dunkelheit
glühten mich zwei grün-gelbe Lichter an und ein leises Fauchen
drang an meine Ohren.
Ich blickte mich um, nervös wie ein Lausbub, der einen Streich
plante; niemand war zu sehen. Meine Freunde waren irgendwo auf der anderen
Seite des Geländes und auch sonst war weit und breit kein Mensch zu
sehen.
Was mich letztlich immer näher an den Käfigwagen trieb,
kann ich heute nicht mehr sagen, vielleicht war es einfach meine Bestimmung.
Oder aber ich wollte mit gerade mal neun Jahren einfach nur mutig sein.
Vor dem Tiger hatte ich keine Angst, als ich verstohlen meine Hand
zwischen die Stäbe schob, es war eher die begründete Angst, dabei
von irgendwem erwischt zu werden. Wenn ich heute daran zurückdenke
- das Wort 'Leichtsinn' ist für diese Aktion nicht mehr angebracht,
schon eher 'Dummheit', und ich warne jeden Leser ausdrücklich davor,
mir in diesem Punkt nachzueifern.
Aber damals war ich beseelt von dem Wunsch, einmal einen Tiger zu
streicheln. Dieser drohte ein wenig mit dem Fang und fauchte mich an. Sein
scharfer Raubtiergeruch schlug mir entgegen. Doch dann blickte er mich
mit einem nur schwer zu beschreibenden Blick an, der tief in mein Innerstes
reichte, in die dunkelsten und verborgensten Winkel meiner Seele,
und legte sich dann vor mir nieder, seine Vordertatzen zwischen den Gitterstäben
heraushängen lassend. Er stieß einen leisen Raunzer aus und
für mich klang es geradezu wie eine Aufforderung, ihm erst die eine,
dann die andere der schweren Pranken zu kraulen.
Ich weiß nicht, wie lange ich bei ihm verweilte, ich konnte
mich einfach nicht von der prächtigen Großkatze loseisen - es
schien, als hatte sie mich mit ihren glühenden Augen und ihrem wohligen
Brummeln hypnotisiert.
Als ich mich endlich löste und mich umdrehte, zuckte ich zusammen.
Ich blickte geradewegs in das entsetzte Gesicht eines Stallburschen und
mir war klar, dass es nun mächtig Ärger geben würde. Doch
es kam anders als erwartet.
"Komm da weg, Bürscherl", sagte er leise und ich konnte sehen,
wie sich mit jedem meiner Schritte weg vom Käfig seine Gesichtszüge
entspannten.
"Host Du an Klopfer, oder wos? Heast, des war fei leichtsinnig.
Woaßt Du überhaupt, was do oiß hät' passieren können?
Und jetzta schleich Dich, Saubua."
Ich wollte irgendwas drauf erwidern, doch sein Blick verriet mir,
dass ich gerade noch so um ein Donnerwetter herumgekommen war.
Losgelassen hat mich dieses Erlebnis freilich nicht mehr und heute,
gute dreißig Jahre später, stehe ich wieder dicht an den Gitterstäben
eines Tigergeheges, den unbeschreiblich weichen und dichten Brustpelz einer
sibirischen Tigerin zausend.
Ich hatte hier mein persönliches Paradies gefunden. Nach amerikanischen
Vorbildern war dieser Erlebnistierpark im Herzen des Landes errichtet worden:
Die Besucher werden in einer Art Safari-Bus durch das weitläufige
Gelände gefahren, die Tiere, freilich in gewisser Weise beschränkt,
konnten sich in sehr weitläufigen Freigehegen bewegen und es war nicht
selten, dass man im offenen Bus nur die Hand ausstrecken brauchte, um sie
zu streicheln - was natürlich strengstens untersagt war.
Natürlich hatten die Tiere jederzeit die Möglichkeit,
sich an geschützte Orte zurückzuziehen und nur des Nachts und
bei ungünstiger Witterung waren sie in großen Stallungen und
Gehegen untergebracht.
Als Pfleger und langjähriger Freund der Betreiberfamilie gehörte
ich quasi schon zum Inventar dieses Parks.
Sehr zur Freude des Betreibers und auch der Zuschauer, vor allem
der jüngeren Gäste, betrieb ich auch eine kleine Großkatzendressur,
ich arbeitete mit einer Gruppe von drei sibirischen Tigern. Nichts Besonderes,
ich würde mich selber niemals als Dompteur bezeichnet haben, auch
wenn das damals einer meiner Traumberufe gewesen ist - kleinere gesundheitliche
Probleme standen diesem Berufsbild jedoch entgegen. So beschränkte
ich mich auf einfache, kleinere Kunststücke wie Pfote schütteln,
Küsschen geben und durch Reifen springen lassen.
Nun ist dieses Thema sehr umstritten und kaum ein anderes wird mit
solchen Emotionen diskutiert. Gegner und Befürworter, beide haben
gute Argumente pro und contra der Dressur, nur leider habe ich bisher nur
ganz wenige Menschen getroffen, mit denen man sachlich darüber diskutieren
konnte, und noch weniger haben sich gründlich genug mit der Materie
auseinandergesetzt, die entsprechende Fachliteratur kritisch gelesen, um
sich ein objektives Urteil erlauben zu können.
Es war kurz nach Sonnenaufgang und es würde wieder ein heißer
Sommertag werden. Ich war bereits mit meinen morgendlichen Arbeiten fertig,
hatte auch die morgendliche Begrüßungsrunde bei meinen Schützligen
hinter mir und wollte mit meinem besonderen Liebling noch ein paar Augenblicke
in trauter Zweisamkeit verbringen.
Mit schmeichelnden Fingern kraulte ich die Tigerin unter ihrem Kinn
und sie prustete und schnaubte in wohligem Behagen. Wir tauschten Küsschen
und Schmeicheleien aus und die Freundschaft, die mich mit diesem prächtigen
Geschöpf verband, erfüllte mich mit unsäglichem Stolz. Ungefähr
so mussten sich Sportler fühlen, die nach hartem Wettkampf bei einer
Olympiade mit einer Goldmedaille dekoriert werden.
Doch auch wenn mein Umgang mit meinen Schützlingen sehr innig
und herzlich war, ich respektierte stets ihre Privatsphäre und betrat
ihre Gehege nur zum Säubern.
Der Schatten des Besitzers fiel auf mich, ich hatte sein Kommen nicht
einmal bemerkt.
"Na, alles klar? Kommst Du bitte mal mit zum Haus? Es ist Besuch
gekommen und wir haben ein Anliegen. Naja, eigentlich sogar zwei."
"Was ist denn?" fragte ich.
"Geh mit, dann erfährst Du's", gab mein Freund zurück
und ich folgte ihm zum großen Wohnhaus, das mitten auf dem Parkgelände
stand - natürlich nicht ohne meine Freundin noch einmal zum Abschied
hinter den Ohren zu kraulen. Mit ihren bernsteinfarbenen Augen blickte
sie mir nach und trottete danach ins Freie.
Wahrscheinlich würde sie heute ohnehin die meiste Zeit in dem
kleinen See verbringen, der durch einen kleinen Fluss, der sich durch das
Gelände schlängelte, gespeist wurde. Im Gegensatz zu anderen
Katzen lieben Tiger gerade in den Sommermonaten das kühlende Nass
über alles.
Vor dem Haus parkte ein großer Kombi und ein älterer Herr
stand zusammen mit der Frau des Parkbetreibers auf der Terrasse.
Nachdem wir einander vorgestellt wurden, dieser Herr war Professor
der zoologischen Fakultät der Universität Heidelberg, rückte
mein Freund mit der Sprache heraus: "Würdest Du ihn bitte mit unseren
Tigern bekannt machen? Er ist übrigens so ein Tigernarr wie Du."
"Das kann ich schon machen, es ist mir eine Freude", entgegnete
ich und konnte in diesem Augenblick ein Hauch von Eifersucht in meiner
Stimme entdecken. Da wollte wer anderes 'meine' Tiger kennenlernen...
"Aber vorher müssen wir Dir noch was zeigen, auch wenn's kein
schöner Anblick ist", fuhr der Parkbetreiber fort.
"Vielleicht können Sie mir weiterhelfen, Sie sind doch sehr
in Sachen Tierschutz engagiert, auch im größeren Rahmen, wie
man mir berichtet hat", sagte der Professor und öffnete die Heckklappe
des Kombis.
"Im größeren Rahmen?" fragte ich nach.
"Nun, Ihre Fachaufsätze in Bezug auf die Europäische Tierschutzrichtlinie
sind nicht nur in der Fachwelt ein Begriff. Und Sie müssen bedenken,
dank Arbeiten wie der Ihren kann man endlich gegen die brutale Tierquälerei
vorgehen, die allerorts betrieben wird. Zum Glück ist gerade die spanische
Regierung dabei, aufgrund des Drucks der EU, dem furchtbaren Treiben in
Bezug auf die Galgos ein Ende zu bereiten. Eine Sache, in der ich mich
auch selber sehr stark engagiere."
Ich erinnerte mich schwach. Galgos waren spanische Jagdhunde, die
von ihren Herrchen sehr oft auf absolut gesetzeswidrige Art 'entsorgt'
wurden, wenn man ihrer nicht mehr bedurfte. Wurde ein solcher Hund aufgrund
seines Alters zu langsam oder zu schwach, brachte man ihn zum 'Klavierspielen'.
Hinter dieser zynischen Bezeichnung steckte eine an Grausamkeit kaum zu
überbietende Tötung des Hundes: An den Hinterpfoten wird der
Hund in einen Baum gehängt, die Vorderpfoten dabei oft noch am Boden.
Freilich war dies streng verboten und auch strafbar, doch wo kein Kläger,
da auch kein Richter, und abgesehen davon handelt es sich ja dabei - wie
bei den Stierkämpfen auch - um eine Tradition...
Mein Freund hatte untertrieben, was den Anblick des Hundes betraf,
der sichtlich verängstigt aus dem Fahrzeug sprang. Das ehemals hübsche
Gesicht des Golden Retrievers war völlig entstellt durch Brandnarben,
die Ohren waren verstümmelt und sowohl der Kopf als auch der halbe
Rücken wiesen kahle Stellen auf.
"Aber was...", begann ich, aber eigentlich wollte ich die Antwort
gar nicht wissen, denn an sich war offensichtlich, was geschehen war.
"Das ist 'Bello'", stellte uns der Professor den Hund vor. "Er hat
überlebt, die anderen beiden Hunde, ein Schäferhund und ein Husky,
mussten leider eingeschläfert werden - für sie kam jede Hilfe
zu spät. Ich habe ihn aus dem Tierheim."
Nun schaltete sich mein Freund ein: "Tierquäler haben die Hunde
mit Benzin übergossen und in Brand gesteckt. Dann haben sie Wetten
darauf abgeschlossen, welcher Hund noch am weitesten als lebende Fackel
laufen kann. Das Ganze haben sie auch noch mit einer Handykamera gefilmt
und ins Internet gestellt."
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. "Scheiß Kiddies",
fauchte ich.
"Nein, keine Kinder", entgegnete der Professor bitter. "Man hat
die Leute schon festnehmen können, immerhin etwas. Eine Gruppe von
vier Männern im Alter zwischen 25 und 50."
Ich seufzte: "Na toll, die holen irgendeinen Winkeladvokaten und
der weist denen eine schwere Kindheit nach und dann werden sie frei gesprochen.
Kennt man ja."
"Das ist zu befürchten, zumal einer von denen tatsächlich
ein bekannter Rechtsanwalt ist. Das ist auch der Grund, warum ich mich
an Sie wende. Ich möchte, zusammen auch mit anderen Tierschützern,
auf alle Fälle als Nebenkläger auftreten. Damit zumindest das
Gericht das Ganze nicht so ohne weiteres abtun kann. Aber vielleicht sollten
wir rein gehen, ich habe schon einiges an Material gesammelt zu diesem
Fall."
Ich hatte das Gefühl, in ein bodenloses Loch zu fallen. Wie
dekadent war eigentlich die menschliche Gesellschaft geworden, wie weit
würde sie noch gehen?
Heute - ohnehin schon unsagbar schlimm - sind es Tiere, die man
zum Spaß quält und tötet, und morgen? Irgendwelche Rentner
und Obdachlose? So abwegig war das nicht einmal, kamen doch immer mehr
Meldungen von Jugendlichen, die ihre Mitschüler tyrannisierten und
das ganze auch noch voller Stolz im Internet präsentierten.
Was konnte man aber auch von einer Gesellschaft erwarten, in der
nur noch Höchstleistung zählte, eine Gesellschaft, die es duldete,
dass die einzelnen Mitglieder immer stärker zu gläsernen Menschen
wurden?
Ein guter Freund erzählte mir kürzlich, dass sich die
Finanzverwaltung an einem Projekt, sinnigerweise nach einer ägyptischen
Gottheit benannt, beteiligte, das die Steuerdaten (und auch andere) des
einzelnen Bürgers sammelte und mit anderen gespeicherten Daten, zum
Beispiel im Polizeicomputer oder auch bei den Banken, verknüpfte.
Alles im Namen der Terrorismusbekämpfung.
Wohin hatte sich nur die menschliche Gesellschaft entwickelt, in
der es ein schlimmeres Vergehen war, das eine oder andere Musikstück
mittels einer Tauschbörse zu laden, als einer alten Frau mit Gewalt
ihre Handtasche zu entreißen?
In welcher Welt lebten wir, in der es möglich war, dass Terrorvereinigungen
an die Staatsspitze gewählt wurden und dieser Staat offen für
die Vernichtung eines anderen Staates eintrat? Eine Welt, in der sich sogenannte
Märtyrer in vollbesetzten U-Bahnen, Vorstadtzügen oder in Schulen
im Namen einer Ideologie in die Luft sprengten und hunderte unbeteiligte
Menschen mit in den Tod rissen?
Scheu war in der Zwischenzeit Bello an mich herangekommen und beschnupperte
mich zaghaft. Dass ich ein wenig nach Tiger roch, schien ihn nicht weiter
zu stören und leise fiepend stieß er seine kalte Schnauzenspitze
in meine Hand, nach Streicheleinheiten bettelnd. Das war sehr verwunderlich,
nach alldem, was der Hund in der Vergangenheit durchgemacht hatte. Zugleich
aber erfüllte es mich mit Stolz und es zeigte mit einmal mehr, dass
ich besser mit Tieren umgehen konnte als mit Menschen.
Wir unterhielten uns bei einem Frühschoppen und ich bemerkte
schon bald, dass ich mit diesem Professor, sein Metier war übrigens
die Verhaltensforschung, auf einer Wellenlinie lag.
"Der Name dieses Anwalts, der in der Geschichte involviert ist,
der kommt mir irgendwie bekannt vor", sagte ich, als ich die Unterlagen
studierte.
"Ja, seine Kanzlei hat sich hauptsächlich damit eine goldene
Nase verdient, das Internet nach jeglicher Art von Urheberrechtsverletzungen
zu durchforsten. Dabei schreckte er nicht einmal davor zurück, sogar
Minderjährige abzumahnen. Vielleicht haben Sie es ja mitverfolgt,
ging ziemlich durch die Medien: Vor ungefähr einem Jahr hatte diese
Kanzlei Homepagebetreiber abgemahnt, in deren Internetadressen die Namen
irgendwelcher Pop-Superstars, oder wie die heißen, vorkamen. Dabei
waren das halt auch die richtigen Namen der Internetseitenbesitzer."
"Und was ist dabei rausgekommen?" fragte ich, aber ich konnte mir
die Antwort schon denken, es würde nur allzu sehr in mein Bild passen,
das ich von der menschlichen Gesellschaft mittlerweile hatte.
"Die Kanzlei kam damit durch. Das Beste war aber daran, dass der
betreffende Prominente selbst überhaupt kein Interesse an der ganzen
Sache hatte."
Wir bemerkten nicht, wie schnell die Zeit verging. Als schließlich
das weitere Vorgehen in dieser Angelegenheit feststand - der Professor
wollte bei diesem Prozess als Nebenkläger mit den entsprechenden Gutachten
bezüglich der Psyche des gequälten Geschöpfes auftreten
-, erhob ich mich langsam.
"Man sagte mir, dass sie auch gerne mal unsere Tiger kennenlernen
würden. Wir sollten daher jetzt ihnen mal einen Besuch abstatten,
bevor die ersten Besucher kommen. Wir haben eh nur noch ne halbe Stunde
oder so."
Die Tigerin hatte den Professor sofort in ihr Herz geschlossen -
und wohl auch umgekehrt. Ich kann es nicht in Worte fassen, aber es war
so, als ob die beiden, der ältere Herr und die wilde Kreatur, miteinander
seelenverwandt waren. Ich erwog schon nach den ersten Minuten ernsthaft,
den Professor auch mit den anderen Tigern bekanntzumachen. Doch so sehr
ich auch darüber gerührt war, dass jemand so voll von Zuneigung
und Verständnis für diese Geschöpfe war, so sehr steckte
auch tief in mir ein kleiner Stachel der Eifersucht ob des feinen, unterschwelligen
Gespinstes, das sich zwischen dem Mann und der Tigerin bildete.
Die Wochen vergingen und der Professor verbrachte sehr viel Zeit
in diesem Tierpark, am meisten davon freilich mit mir zusammen bei den
Tigern. Er betrieb seine Studien, fertigte herrliche Skizzen dieser Tiere
an und verfasste den einen oder anderen wissenschaftlichen Aufsatz über
das Verhalten von Großkatzen bei der Dressur.
Wir saßen auch so manchen Abend mit meinem Freund zusammen
in der Stube, bei einem kühlen Bier oder einem herrlichen Wein und
hatten manch gutes Gespräch.
Das Gerichtsverfahren gegen die Tierquäler hatte begonnen und
unsere Erfolgsaussichten waren nicht schlecht, in ein paar Tagen würden
die Urteile gesprochen werden.
Interessanter Weise war in den Medien darüber nichts zu erfahren.
.
Mit klopfendem Herzen fuhr ich an jenem Samstag Morgen zu dem Tierpark.
Ich war drei Wochen im Urlaub gewesen und war gespannt zu erfahren,
wie der Prozess ausgegangen war. Vor allem aber freute ich mich darauf,
wieder bei meinen Freunden, den zwei- und den vierbeinigen, zu sein.
"Na, wie schaut's aus? Und ist der Professor schon bei den Tigern?"
rief ich, als mir mein Freund schon entgegen kam.
"Die Tierquäler sind hinter Schloss und Riegel", kam die Antwort.
Der Tonfall meines Freundes alarmierte mich.
"Was ist passiert?" fragte ich leise.
Mein Freund drückte mir wortlos eine Zeitung in die Hand, sie
war circa eine Woche alt. Die Schlagzeile trieb mir Tränen in die
Augen:
"Bestialischer Raubmord: Professor in eigener Wohnung mit Benzin
übergossen und angezündet - Einbrecher entkamen mit Beute im
Wert von 300 Euro."
.
Wolf
Es war an einem trüben, kalten Montag Morgen Anfang November
in einem großen zoologischen Garten, irgendwo in Deutschland.
Der Tierpark hatte gerade seine Pforten für die Öffentlichkeit
geöffnet und ich genoss es, so ziemlich der Einzige zu sein, der zu
jener Tageszeit dieser Art von Freizeitgestaltung frönte.
Obwohl mein Herz eigentlich für Großkatzen, insbesondere
den Tigern, schlägt, führte mich heute mein Weg schnurstracks
zum großen Wolfsgehege, das erst vor ein paar Jahren in Betrieb genommen
war. Den morgendlichen Frieden wollte ich nutzen, um in Ruhe das prächtige
Rudel zu bewundern, das die Anlage bevölkerte. Prächtige Burschen
alle miteinander, acht weiße Wölfe, nämlich das Elternpaar
mit ihren Welpen und den Jungtieren aus dem Vorjahreswurf.
Ich lehnte mich an die gläserne Absperrung, die eher dazu gedacht
war, die Menschen aus der Anlage herauszuhalten als die Wölfe an einer
eventuellen Flucht zu hindern.
Zwei Pfleger waren damit beschäftigt, das Gehege zu säubern
und wie üblich musste ich mich ärgern über all die Papiertaschentücher,
Coladosen und Glasscherben in dem künstlich angelegten Tümpel,
die neben dem in einem Tiergehege üblichen Schmutz und Abfall herausgeholt
wurden. Ich glaube, die Leute wissen nicht einmal, was sie für Schaden
anrichten können, wenn sie Gegenstände in ein Gehege werfen.
Ob dieser Ignoranz verschlägt es mir jedesmal aufs Neue die Sprache.
Genauso verhält es sich mit dem Fütterungsverbot: Deutlicher
als mit den Schildern 'Füttern verboten' kann man es wohl nicht zum
Ausdruck bringen und dennoch scheinen viele Tierparkbesucher nicht lesen
zu können. Einem Kind kann ich es nicht einmal übelnehmen, das
Kind ist ja der Meinung, dass es dem Tier etwas Gutes tut - wütend
werde ich auf Eltern, die ihrem Nachwuchs mit schlechtem Beispiel vorangehen.
Während ich weiter so vor mich hinsinnierte, meine Gedanken
schweiften von der Unvernunft der Menschen über die Reinheit der Tierseele,
wie sie so gerne die Dichter und Schriftsteller beschreiben, hin zur gesellschaftlichen
und politischen Entwicklung auf diesem Planeten, fingerte ich an der Kamera,
die mir ein Freund geliehen hatte.
Die Lichtverhältnisse waren alles andere als gut und ich kannte
mich mit diesem Teil hochmoderner Elektronik so gar nicht aus, dennoch
wollte ich ein schönes Bild von diesen Wölfen haben.
Ziemlich abrupt riss mich der Lärm einer herannahenden Kinderschar
- einer der Kindergärten dieser Stadt hatte heute offensichtlich einen
Besuch des Zoos auf dem Programm - zurück in die Wirklichkeit. Nun
würde es mit der morgendlichen Ruhe in diesem Tierpark fürs erste
vorbei sein.
Immerhin gelang es den drei Aufsichtspersonen einigermaßen,
Disziplin in die Gruppe zu bringen und das erwartete Gerangel und Geschubse
am Gehege blieb aus, leider aber war es unvermeidlich, dass der Lärmpegel
gleich um einige Dezibel stieg.
Dennoch verstummten einige Kinder nahezu ehrfürchtig, als sie
ihre Nasen an den Glasscheiben plattdrückten.
"Da schaut her", hörte ich einen Betreuer sagen. "Ja, das da
ist der böse Wolf. Der hat das arme Rotkäppchen gefressen."
"Wirklich?" fragte ein Mädchen mit weit aufgerissenen Augen
und offenem Mund. "Die schau'n doch so lieb aus."
"Das ist ja auch nur im Märchen passiert, aber trotzdem musst
Du vor dem Wolf auf der Hut sein, schließlich ist das ein Raubtier.
Der fängt dem Bauern die ganzen Schafe weg. Und wer von Euch weiß,
welches Tier dem Bauern die Gans gestohlen hat und sie wieder hergeben
soll?"
Am liebsten hätte ich den Kerl gefragt, ob er sich sicher sei,
den richtigen Beruf ergriffen zu haben.
Natürlich sind Wölfe Raubtiere, aber ist nicht gerade
dieses Bild des 'bösen' Wolfs aus den Märchen daran schuld, dass
die Wölfe vor nicht allzu langer Zeit weltweit fast ausgerottet worden
waren? Als Gefahr für ihren Viehbestand hatten die Menschen einst
dem Wolf den Krieg erklärt und damit begann dann auch das, was ich
als 'Rufmord' bezeichnen möchte.
Gottlob konnte sich der Bestand dank der wissenschaftlichen Arbeiten
renommierter Wolfsforscher - an dieser Stelle möchte ich nur Erik
Zimen anführen -, die das wahre Wesen dieses faszinierenden Jägers
der breiten Öffentlichkeit nahebrachten, und intensiver internationaler
Bemühungen im Bereich des Arten- und Umweltschutzes wieder etwas erholen.
In Deutschland wurden kürzlich sogar schon außerhalb
der Nationalparks freilebende Wölfe gesichtet; dennoch haftet diesem
Geschöpf immer noch sein Ganovenimage an. Es ist nur eine Frage der
Zeit, bis der erste Zeitungsartikel mit der Schlagzeile: 'Wolf terrorisiert
niederbayerisches Dorf' erscheint.
Man kann nicht oft genug betonen, dass es so gut wie keine verbürgten
Meldungen von unprovozierten Wolfsangriffen auf den Menschen gibt. Die
Zahl der Tiere, die jährlich ihr Leben für irgendwelche Wolfspelzmäntel
und dergleichen lassen müssen, ist hingegen aufs Höchste Besorgnis
erregend.
Nach mir endlos erscheinenden fünf Minuten trollte sich die
Kindergartengruppe in Richtung Vogelvoliere und ich atmete auf. Endlich
wieder Ruhe. Wobei mich die Kinder weniger gestört hatten als das
hirnlose Geschwätz der Erwachsenen. Das eine Mädchen schien sich
jetzt tatsächlich vor den Wölfen zu fürchten; vielleicht
bildete ich mir das aber auch nur ein.
Ich wandte mich wieder den Wölfen zu.
Was mich an ihnen am meisten fasziniert sind ihre Augen. Für
mich strahlen diese Augen eine nahezu unheimliche Stärke und Weisheit
aus.
Kann ein Wesen mit solchen Augen wirklich so abgrundtief böse
sein, wie man heute zum Teil leider immer noch propagiert?
Offensichtlich empfanden die Indianer das ganz anders, denn dort
war und ist der Rudeljäger als Totem und Symbol sehr bedeutungsvoll.
Auch die nordeuropäischen Völker hegten in der vorchristlichen
Zeiten eine große Bewunderung für dieses Tier, zumindest lassen
so manche altgermanische Namen dies vermuten: Wolfgang zum Beispiel,
Wulfstan oder auch Beowulf, der Drachentöter. Als Odins engster Gefährte
war der Wolf genannt.
Auch in wärmeren Gefilden verehrte man den Wolf, in Indien
zum Beispiel, einem Land, aus dem selbst in der heutigen Zeit immer wieder
einmal Berichte auftauchen über Findelkinder, die von Wölfen
großgezogen wurden. Doch man braucht gar nicht so weit in die Ferne
schweifen, selbst die alten Römer hegten für den Wolf viel Sympathie
- kein Wunder, verdankten sie doch ihre Existenz den wohl prominentesten
Wolfskindern überhaupt: Romulus und Remus.
Erneut wurde ich aus meinen Gedanken gerissen, als ein Knirps, ich
schätzte ihn so um die fünf Jahre, um die Ecke geprescht kam.
"Wautzel! Wautzel!" rief er dabei aufgeregt und zeigte auf die Wölfe,
die sich mittlerweile hingebungsvoll ihrem Frühstück widmeten.
Kurze Zeit später war auch schon sein Vater herangekommen und
setzte den Buben auf seine Schultern, damit dieser bessere Sicht hatte.
"Balto", sagte das Kind glücklich und deutete auf den Alpharüden.
War dieser 'Balto' aus dem Zeichentrickfilm nicht ein Wolfs-Husky-Hybrid
gewesen?
Auch wenn sich mir bei diesem Vergleich mit diesem Filmhelden ebenfalls
die Eingeweide krümmten, war das immer noch besser als 'der böse
Wolf' zuvor.
Ich frage mich nur, warum die Menschen den Wolf nicht einfach als
das sehen können, was er ist, nämlich weder reißende Bestie
noch Kuscheltier, sondern schlichtweg als ein wild lebendes Tier, das tötet,
um sich und die Seinen mit Nahrung zu versorgen, kurz, um zu leben.
Bald darauf stand ich wieder alleine vor dem Gehege und irgendwie
brachte ich es schließlich auch fertig, einige gut gelungene Aufnahmen
von den Tieren zu bekommen.
Ich genoss noch einige Minuten die Atmosphäre und die wieder
eingetretene Stille, bevor ich
mich dann selber auf dem Weg zu meinen Lieblingen am entgegengesetzten
Ende des Tierparks machte.
Von dem Drama, das sich danach noch am Wolfsgehege abspielen sollte,
habe ich, bis auf einige Martinshörner von Einsatzfahrzeugen, nichts
mitbekommen. Im Nachhinein wurde mir jedoch klar, weshalb kaum Besucher
mehr zum Raubtierhaus kamen, sie alle waren wohl mit Gaffen beschäftigt
gewesen, vielleicht war aber auch der Tierpark vorübergehend geschlossen
worden.
.
Wie üblich kaufte ich mir auf dem Weg zum Bahnhof eine aktuelle
Tageszeitung, damit ich während der langweiligen Zugfahrt ins Büro
was zum Lesen hatte.
An diesem Dienstag Morgen beherrschte eine einzige Schlagzeile die
Pressewelt: 'Ehepaar missbrauchten eigene Kinder fünf Jahre lang als
Sexsklaven'.
Dem Zeitungsartikel nach wurden das sechsjährige Mädchen
und der acht Jahre alte Bub von ihrem Vater regelmäßig missbraucht
und gequält, von der eigenen Mutter gefilmt. Diese Orgie an Gewalt
und Perversion und gipfelte in der Ermordung der beiden Kinder, ebenfalls
vor laufender Kamera und im Internet einer zahlenden Klientel zugänglich
gemacht.
Ich mochte den Artikel gar nicht mehr zu Ende lesen.
Wahrscheinlich würde ein gewitzter Anwalt diese Verbrecher
- und darunter fallen auch jene, die sich die entsprechenden Dateien aus
dem Internet geladen hatten - mit Hilfe psychologischer Gutachten ohnehin
vor der vollen Härte der Justiz schützen.
Leider waren jedoch die anderen Nachrichten auch nicht sehr viel
besser: Hochwasser hier, Erdbeben da und natürlich die schon selbstverständlichen
Selbstmordattentate und Entführungen im Nahen Osten.
Doch irgendwo zwischen der Meldung, dass ein Manager nach einem
betrügerischen Großkonkurs, der einigen hundert Beschäftigten
den Arbeitsplatz und vielen Kleinanlegern ihre Altersvorsorgung kostete,
freigesprochen wurde, und einer Werbung für ein neu eröffnetes
Einrichtungshaus stieß ich auf einen Artikel, der mich in den Bann
zog.
Man hatte nicht viel geschrieben zu dem Vorfall, die Meldung bestand
nur aus ein paar Zeilen. Doch im Licht der übrigen Nachrichten erschien
mir diese Schlagzeile wie eine brennende Kerze in der Dunkelheit.
'Kind in Wolfsgehege gefallen und unverletzt geborgen'.
.
Jaguar
Das kürzlich renovierte Raubtierhaus lag niedrig und langgestreckt
zwischen einem grünblauen Teich und einem Felsgeklüft, das neu
für die Löwen angelegt worden war.
Die Weiden am Teich ließen ihr Blattwerk vom Geäst bis
auf das Wasser rieseln und im Schatten dieser Bäume zogen Schwäne
und Enten ihre ruhigen Bahnen.
Es war ein sonniger Frühlingstag und ich nutzte meinen ersten
Urlaubstag, dem hiesigen Tierpark einen Besuch abzustatten. Wenn ich in
einer fremden Stadt bin führt mich in der Regel mein erster Weg stets
in den Zoo, sofern vorhanden, und dann gleich zu meinen Lieblingen, den
Großkatzen.
Man hatte viel Geld investiert in das Gebäude, das den Besuchern
und den Tieren ein Stückchen ganz echtes Original-Afrika und Original-Südamerika
vorgaukeln sollte. Alleine schon diese Kombination: Löwen, Leoparden
und Jaguare unter einem Dach.
Es wurde darauf geachtet, dass möglichst viele Freianlagen
zur Verfügung standen, aber auch die Innenkäfige, Sprungkäfige
und die Wurfkäfige, manche davon sind für den Zoobesucher nicht
zugänglich, entsprachen dem neuesten Standard. Die Zeit schwerer Eisenstäbe
und Holzplanken war endgültig vorüber.
Heller, weitmaschiger Stahldraht, Glas und Chrom zeichneten diese
Anlage aus. Die Käfigwände waren gekachelt und die Baumstrünke,
an denen sich die großen Katzen die Krallen schärfen konnten
und auf ihnen klettern, nahmen sich recht sonderbar aus inmitten all der
künstlichen Pflanzen, die den Besucher umgaben.
Schön und ohne Makel, vollkommen in der Grazie ihrer Bewegungen,
leben die großen Katzen in diesem Rahmen: die goldenen Löwen
mit den schweren, schwarzen Mähnen, die silber-goldenen Leoparden
mit den schwarzen Rosetten im Fell und auch ein paar Schwärzlinge,
gemeinhin 'Panther' genannt, gelbliche Jaguare, deren dunkle Ornamente
denen der Leoparden zu gleichen scheinen und doch auch wieder ganz anders
sind - die Menschen stehen oft in Ehrfrucht erstarrt, versunken in dem
Anblick dieser Schönheit, vollkommen und gefährlich, immer fremd
und fern.
Ich vermied es in der Regel, zur Fütterungszeit eine Raubtieranlage
zu besuchen. Freilich, da erlebt man dann die ach so faulen Raubtiere in
Aktion, doch leider sind dann auch die Menschenmassen da, auf die ich sehr
gut verzichten kann.
Es waren die stillen Stunden, die ich stets zum Studium meiner Freunde
nutzte. Man sieht und lernt viel mehr von den Tieren, wenn man ein Raubtierhaus
zum Beispiel gleich am Morgen besucht, wenn man leisen Schrittes vor die
Gehege tritt und still ihren Bewohnern zusieht.
Manchmal heben sie die wilden, schönen Köpfe und erwidern
aus goldenen Augen und achatenen Pupillen den Blick des Besuchers.
Diesmal hatte ich jedoch Pech; zwar war ich der erste am Gitter,
aber schon nach ein paar viel zu kurzen Augenblicken kamen die ersten Leute.
Die Jaguarin hatte geworfen und spielte ruppig und zärtlich
zugleich mit ihrem Nachwuchs, einem männlichen Schwärzling. Besonders
fasziniert war das Junge vor allem von Mutters zuckendem Schwanz, den es
mit seinen übergroßen, tollpatschigen Tatzen zu erhaschen suchte.
Neben mir entzückten sich die Menschen: "Wie süß!"
- "Nein, sieh doch nur, wie goldig!"
Der Mann rechts neben mir zeigte auf das Gehege neben dem Wurfkäfig,
in dem ein großer männlicher Jaguar lag, und sagte zu seinem
Sohn: "Schau, da ist der Pappa. Den haben sie alleine da einsperren müssen,
weil er sonst das Kleine fressen würde."
Manchmal haben Menschen schon eine groteske Vorstellung von den
Tieren, die sie wild nennen, und die daher grausam und unberechenbar zu
sein haben.
Freilich, in der Gefangenschaft kommt es ab und an vor, dass ein
Muttertier (oder auch der Vater) den Nachwuchs nicht akzeptiert und ihn
zu töten versucht - doch das ist nicht der Regelfall. Auch der viel
zitierte Kindsmord unter Löwen oder Tigern in freier Wildbahn ist
traurige Realität, doch geschieht das nur, wenn ein Vagabund in ein
Revier eindringt und dieses neu übernimmt. Dann tötet er den
Nachwuchs seines Vorgängers, damit die Weibchen schneller wieder in
Hitze geraten und er seine eigenen Gene weitergeben kann. Die Natur mag
in diesem Punkt dem Menschen als grausam erscheinen, doch gibt es in der
sogenannten Wildnis niemals unnötiges Blutvergießen.
"So klein sind sie ja noch putzig, aber dann werden sie gefährliche
Bestien", dozierte eine Frau. Ich musste mir auf die Lippen beißen,
denn ansonsten hätte der Tag für mich mit einer Anzeige wegen
Beleidigung geendet.
Bestien! Der Jaguar, der Löwe, der Tiger - sie alle töten,
um zu leben oder um ihre Reviere zu verteidigen. Der Mensch, der sich so
gerne als Krone der Schöpfung sieht, tötet auch - woher kommen
denn die Schnitzel, Steaks und die Fleischpatties in den Hamburgern. Nur,
wenn das Raubtier seine Beute schlägt, dann geschieht das in kurzer
Zeit, durch Brechen des Genicks des Opfers. Da werden keine lebenden Rinder,
Schweine oder Federvieh kreuz und quer durch Europa gekarrt, eingepfercht
und ohne Wasser in zum Teil altersschwachen Vehikeln, damit man noch einige
Subventionen der Europäischen Union abkassieren kann.
Vielleicht beißt ein Löwe, der ein Rudel übernommen
hat, den Nachwuchs tot, doch die Krone der Schöpfung geht einen Schritt
weiter: Im Namen irgendeines Gottes zündet ein religiöser Fanatiker
inmitten eines vollbesetzten Omnibusses oder Zuges ohne Rücksicht
auf Verluste seinen Sprengsatz. Da vergehen sich Gewaltverbrecher an kleinen
Kindern oder Eltern lassen ihr ungeliebtes Kind eiskalt verhungern, weggesperrt
in einem dunklen Keller.
Aber das Tier, das nach seinen Instinkten lebt, dieses Tier wird
von den Menschen als 'Bestie' bezeichnet.
Ich wandte mich wieder dem Geschehen im Inneren des Käfigs zu
und versuchte, die Menschen neben mir aus meinem Bewusstsein auszublenden.
Die Jaguarmutter hatte sich mittlerweile auf ein an der hinteren
Käfigwand befestigtes Brett zurückgezogen und das Junge versuchte
mit tappsigen Pfoten, den Baumstumpf zu erklettern, um dann auf diese Weise
an Mammas verlockenden Schwanz zu kommen. Doch ganz so weit her war es
noch nicht mit den Kletterkünsten des Kleinen und so rutschte er immer
wieder zurück zum Boden, dabei hatte er noch nicht einmal die Hälfte
der Strecke zurückgelegt.
Das Muttertier lag still auf ihrem Brett und genoss die Sonnenstrahlen,
die durch das Glasdach brachen und sie beleuchteten. Sie lag halb auf dem
Bauch und halb auf der Seite, hatte die hinteren Beine von sich gestreckt,
die Vorderpfoten eng nebeneinander gelegt. Ihr Schwanz hing, immer knapp
außer Reichweite für den Kleinen, träge zuckend vom Brett
herab. Ihren Kopf hatte sie angehoben und ihre Augen, schmal und blinzelnd
unter der Sonne, fixierten mit höchstem Interesse einen bestimmten
Punkt in ihrem Käfig.
Ich folgte ihrem Blick und dann sah ich es: Eine gewöhnliche
kleine Ratte huschte durch den Jaguarkäfig, an dem Jaguarjungen vorbei,
das sich dadurch jedoch nicht stören ließ.
'Hoffentlich haut das Viech wieder ab', dachte ich mir, denn Rattenbisse
können vor allem für Jungtiere sehr gefährlich werden.
Doch offensichtlich wollte die Ratte nichts weiter, als so schnell
wie möglich aus dem Käfig herauszukommen. Sie huschte hektisch
von einer Seite auf die andere, immer im Blick der wachsamen Jaguardame.
Auch die anderen Besucher hatten nun den unwillkommenen Gast im
Raubtierkäfig bemerkt, es war still geworden im Raubtierhaus und man
konnte eine gewisse Spannung förmlich fühlen. Manche Leute blickten
mit einer Art Sensationsgier in ihren Augen immer wieder zwischen dem trippelnden,
kleinen Nager und der majestätischen Katze oben auf dem Brett hin
und her.
Selbstverständlich erwarteten alle das Gleiche: Dass sich die
Jaguarin mit heiserem Gebrüll - wobei man bei Jaguaren nicht unbedingt
von Gebrüll sprechen kann - von dem Brett herab auf den impertinenten
Eindringling stürzen würde, um ihm mit einem gut gezielten Prankenhieb
den Gar auszumachen. Doch diese Zurschaustellung animalischer Kraft erfolgte
zur Enttäuschung der meisten nicht. Nahezu erhaben bewegte die Katze
immer wieder ihren maskenhaft schön gezeichneten Kopf, ihn hebend
oder duckend, drehend und wendend, um den kleinen Plagegeist nicht aus
den Augen zu verlieren.
Schließlich hatte die Ratte einen Ausweg entdeckt, huschte
flink aus einer Käfigecke hinaus und auf einem Eisenträger hinunter
auf den gefliesten Fußboden.
Die Jaguarin warf noch einen letzten Blick auf den Nager, leckte
sich kurz über eine Pfote und wandte dann ihre Aufmerksamkeit ihrem
Nachwuchs zu, der sich diesmal schon erfolgreicher auf dem Baumstumpf nach
oben gekämpft hatte.
Die Ratte überquerte flink die Fliesen des Wärterganges
zwischen den Käfigen und dem Metallgeländer, hinter dem das Publikum
stand, und rannte schnurstracks in die Menschenmenge hinein.
Ein Mädchen kreischte, eine andere Frau schrie auf, als ob man
sie abstechen würde, und einige Männer grölten und johlten.
Dann regnete es Tritte mit Schuhen, Stöße mit Spazierstöcken
und Krücken prasselten hernieder und immer wieder Tritte von Schuhen,
Schuhe überall, vor und hinter und über der Ratte.
Ein unkenntliches, schleimig blutiges Etwas lag auf dem Boden in
diesem sauberen Raubtierhaus. Einige Leute mokierten sich darüber,
dass nicht sofort wer von den Tierparkangestellten erschien, um die Schweinerei
wegzuputzen, ja, wie es überhaupt möglich war, dass da eine Ratte
auftauchen konnte, andere brüsteten sich damit, dass sie es waren,
die diesen ekelhaften Nager zertreten hatten.
Der Mob bewegte sich auf den Ausgang zu und nur eine handvoll Menschen
blieb noch zurück. Einige von ihnen, denen ihre Verlegenheit förmlich
ins Gesicht geschrieben stand, warfen einen unbehaglichen Blick auf die
Jaguarin. Doch diese lag still wie zuvor, halb auf dem Bauch und halb auf
der Seite, hatte die Hinterbeine von sich gestreckt und die Vorderpfoten
eng nebeneinandergelegt, ihr Schwanz hing nun vollständig reglos herab.
Sie hatte den Kopf angehoben, und ihre Augen, schmal und blinzelnd
unter der Sonne, sahen aus dem Käfig hinaus durch den weitmaschigen
Stahldraht.
Ihre Pupillen waren nun weit, rund und unergründlich, und sie
starrte in eine für den Menschen unerreichbar weite, nahezu unbegreifbare
Ferne.
Das Junge rutschte, nur ein paar Zentimeter noch von seinem Ziel,
der lockenden Schwanzspitze seiner Mutter, entfernt, den Baumstumpf wieder
herab und ich hatte Tränen in den Augen...
Tiger II
"Das kann's ja jetzt wohl nicht sein."
Ich richtete mich auf und versuchte, mich auf das zu konzentrieren,
was mich aus meinem wohlverdienten Schlaf gerissen hatte. Da, schon wieder!
Tatsächlich, irgendwer läutete an meiner Tür. Verschlafen
warf ich einen Blick auf meinen Wecker: Gerade mal halb Sieben morgens,
und das an einem Sonntag.
Ich ließ einen Blick über meine Lebensgefährtin
schweifen, die sich neben mir räkelte.
"Schlaf weiter, wer immer das auch ist, der kann was erleben", sagte
ich leise zu ihr, gab ihr einen Kuss und stand auf. Mürrisch zog ich
mir meinen Bademantel über und ging zur Tür. Die Türglocke
wurde nahezu unverschämt sturmgeläutet.
"Ja, verdammt nochmal? Ham' Sie 'nen Knall oder was? Wissen Sie,
wie spät es..."
"Ich bin es, es ist dringend. Sorry. Aber er hat sie jetzt doch
erschossen, gerade eben."
"Was? Moment, kommen Sie rauf."
Nun war es also doch traurige Gewissheit geworden. Ich kannte den
jungen Mann, der die Treppe zu mir in die vierte Etage heraufgepoltert
kam - verdammt, meine Nachbarn würden sich wieder bei mir beschweren,
dass meine Besucher so viel Krach machten.
Er war Student und sehr engagiert in Sachen Tierschutz - vor allem
lag ihm ein Paar bengalischer Tiger sehr am Herzen, das in einem nahegelegenen
Privattierpark gehalten wurde. Allerdings konnte er auch sehr anstrengend
und penetrant sein, wenn er sich einmal eine Sache in den Kopf gesetzt
hatte - und diese Tiger waren für ihn zu einer fixen Idee geworden.
Bis zum heutigen Tage bin ich nicht aus ihm schlau geworden, weshalb er
sich gar so sehr in dieser Angelegenheit engagierte. Wahrscheinlich hatte
er sonst nichts und niemanden, auf das er sein Leben ausrichten konnte.
.
Dieser Tierpark war schon seit Jahren in den Schlagzeilen der lokalen
Presse, da er unter chronischer Geldnot litt. Woran das lag, konnte man
nie so ganz genau eruieren. Es gab einige Reibereien zwischen dem Tierparkbesitzer
- dem Tierpark war übrigens ein recht erfolgreicher Reiterhof angeschlossen
- und der Gemeinde, irgendwelche Streitereien aufgrund finanzieller Interessenskonflikte.
Aber auch der Eigentümer hatte seinen Anteil an der Misere, denn mochte
er auch gut mit Tieren umgehen können und umfassende Kenntnisse über
Pferde, Wölfe und auch Großkatzen haben, so war er doch recht
ungeschickt in kaufmännischen Belangen.
Viele Tierfreunde, unter ihnen auch viele Studenten der hier ansässigen
Universität, haben sich in den vergangenen Jahren immer wieder für
den Erhalt des Tierparks stark gemacht, doch seit einigen Monaten stand
die Einrichtung nun vor dem endgültigen Aus: Das Anwesen sollte versteigert
werden und damit stellte sich die dringende Frage: Wohin mit den Tieren?
Sicherlich, für die Pferde, das Rotwild, die Ziegen und das Kleinvieh
würde man schnell den einen oder anderen Abnehmer finden. Bei dem
kleinen Wolfsrudel würde es schon schwieriger werden. Wohin aber mit
den Hauptattraktionen dieses Parks, den "Exoten", den beiden gestreiften
und den getupften Großkatzen?
.
"Kommen's rein, Dirk. Ich hoffe, Sie haben einen guten Grund, mich
um diese Zeit aus dem Bett zu holen. Was meinen Sie mit 'erschossen'?"
Ich führte ihn in die Wohnküche und setzte einen Kaffee auf.
Ich konnte hören, wie sich meine Freundin nebenan nun ebenfalls was
anzog, sie würde sich gleich zu uns gesellen.
"Er... er hat seine Drohung wahrgemacht. Ich war heute ganz früh
am Morgen da, wollte wie üblich nach den Tigern schau'n. Doch ich
bin kaum aus meinem Auto gestiegen, als mir schon ganz aufgeregt sein Nachbar
entgegengekommen ist. Der hat mir dann erzählt, dass Herr Hausthaler
heute Nacht die beiden Tiger erschossen hat. Er hat ihn dabei beobachtet
und auch fotografiert. Da!"
Er schob ein paar Polaroidfotos über den Tisch. Sie zeigten
ganz klar diesen Herrn Hausthaler mit dem Gewehr in der Hand am Tigergehege,
in dem zuerst einer und auf einem weiteren Bild dann beide Kadaver zu sehen
waren.
"Also hat er seine Drohung doch wahrgemacht, aber warum", sagte
ich und lehnte mich zurück. Das würde ein turbulenter Tag werden.
Als Vorsitzender des örtlichen Tierschutzvereins konnte ich das natürlich
nicht hinnehmen. Dieser Mann musste rechtlich belangt werden.
"Naja, irgendwo war's klar. Er wollte für das Fell der Tiere
Kohle haben. Ein lebender, ausgewachsener Tiger ist doch nichts wert, der
verursacht nur Kosten, da man ihn zum Beispiel nicht mehr dressieren kann.
Und der Safaripark, der die Tiere übernehmen wollte, der wollte halt
nichts bezahlen. War aber auch nicht so vereinbart, ich war doch froh,
dass wir überhaupt einen Platz für die Tiere gefunden hatten.
Am liebsten würde ich jetzt die Sau umbringen!"
"Blödsinn!" brummte ich. "Davon werden die Tiere auch nicht
wieder lebendig. Aber es gibt ausreichend legale Mittel, um diesen Mann
zur Rechenschaft zu ziehen."
Ich war aufgestanden und schon nach ein paar Minuten hatte ich meine
Unterlagen zu dem ganzen Vorfall herausgekramt. Sie füllten mittlerweile
einen ganzen Leitz-Ordner.
Der Tierpark war schon des Öfteren ins Kreuzfeuer der Kritik
geraten und auch im aktuellen Fall hatte sich der Student an mich gewandt.
An der Universität hatte er unter den Kommilitonen, aber auch den
Professoren und anderen Lehrkräften, hunderte Unterschriften zum Erhalt
des Tierparks und insbesondere der Rettung der Tiger gesammelt, die er
der Gemeinde und auch mir als Obmann des Tierschutzvereins vorgelegt hatte.
Den engagierten Studenten war es sogar gelungen, eine große
Jugendzeitschrift zu überzeugen, ihre berühmt-berüchtigte
Foto-Love-Story auf dem Tierparkgelände zu produzieren. Es war eine
typische "Mädchen und viele Pferde" - Geschichte, eine perfekte Reklame
für den Reiterhof, die geschickt genutzt wurde, um zumindest für
die kommenden Monate mit den zusätzlichen Einnahmen aus den - ebenfalls
eine Idee der Studenten - Reitferien für Kinder und Jugendliche den
Tierpark zu erhalten. Doch leider versiegte auch diese Einnahmequelle wieder
so schnell wie sie entstanden war; wie oben erwähnt, Herr Hausthaler
war kein guter Wirtschaftler - zumindest hatte es zum damaligen Zeitpunkt
für alle Beteiligten diesen Anschein.
"Guten Morgen. Na, was Weltbewegendes schon um diese Zeit?" Meine
Freundin setzte sich zu uns an den Tisch und füllte unsere Tassen
mit dampfendem Kaffee.
"Jetzt frühstücken wir mal in Ruhe und dann seh'n wir
weiter. Ich habe da schon eine Idee", schlug ich vor. Der Student war immer
noch völlig außer sich - der Tod der Tiger war ihm wirklich
sehr nahe gegangen -, doch es half alles nichts. Wenn wir erfolgreich etwas
gegen diesen Tierparkbetreiber unternehmen wollten, dann mussten wir vor
allem eines haben: einen kühlen Kopf und einen Plan. Ich wusste aus
eigener Erfahrung, dass so ein Frühstück recht beruhigend wirken
konnte und so war es auch bei Dirk. Nach zwei Tassen Kaffee und zwei Croissants
wurde er deutlich ruhiger und wir berieten ausführlich, was wir tun
könnten und welche Maßnahmen Erfolg haben würden.
Zum Glück war ich mit einem freien Reporter befreundet, der
des Öfteren für ein lokales Boulevardblatt schrieb. Auch dieser
hatte sich bereits häufiger mit dem maroden Tierpark befassen müssen
und er war sofort Feuer und Flamme, uns mit einem entsprechenden Artikel
in dieser Angelegenheit weiterzuhelfen.
Als einige Tage später ein entsprechender Bericht unter der
Schlagzeile "Was geschah mit den Tigern in Friedlinden?" erschien, konnten
weder Dirk noch ich absehen, welche Kreise die Tötung der beiden Großkatzen
nach sich ziehen würde.
In diesem Artikel war neben zwei der Beweisfotos, die wir meinem
Freund zur Verfügung gestellt hatten, auch ein Bild abgedruckt, das
den Studenten zeigte, wie er einem der Tiger zärtlich das Brustfell
zauste. Offensichtlich hatte ihn mit den Tigern ein sehr starkes Band der
Freundschaft verbunden und diese schienen dem Studenten ebenfalls sehr
zugetan. Es ist ein weitverbreitetes Phänomen, dass Tiere sich just
zu jenen Menschen hingezogen fühlen, die allgemein als Außenseiter
gelten. Dirk war, aus welchen Gründen auch immer, einer von ihnen.
Im Rahmen meiner Tierschutztätigkeit war ich mit solchen Fällen
immer wieder konfrontiert und manchmal erleichterte es meine Arbeit, manchmal
aber war es eher hinderlich.
Letzteres war hier leider der Fall und ich musste stets dafür
sorgen, dass Dirk in seinem Engagement in dieser Angelegenheit nicht über
das Ziel hinausschoss.
Denn dieser Zeitungsartikel hatte jetzt das Interesse einer breiteren
Öffentlichkeit geweckt, große Tageszeitungen und auch andere
Medien nahmen sich nun dieser Thematik an.
Vor allem als sich neben den lokalen Fernsehsendern auch eine öffentlich
rechtliche Fernsehanstalt einschaltete und auf eigene Faust ermittelte,
mussten wir auf der Hut sein: Mir ist schon sehr bald aufgefallen, dass
der Student, wenn er einmal am Erzählen war, sehr freizügig mit
Informationen war - gerade im Umgang mit Journalisten eine höchst
gefährliche Sache. Mehr als einmal musste ich bei Interviews, die
wir beide gemeinsam gaben, die Notbremse ziehen um zu verhindern, dass
Dirk zu sehr aus dem Nähkästchen plauderte.
Die Reaktionen auf unsere Aktivitäten blieben nicht aus: Durchstochene
Autoreifen an unseren Fahrzeugen, irgendwelche Schlägertruppen, die
Dirk einschüchtern sollten. Aber endlich erreichten wir auch das,
was wir wollten: Die Staatsanwaltschaft schaltete sich ein - alarmiert
durch die Recherchen des Fernsehens.
Hätten wir direkt Anzeige erstattet, hätten wir den Tierparkbetreiber
vielleicht wegen einiger Verstöße gegen das Tierschutzgesetz
belangen können, im schlimmsten Falle wäre er mit einer Geldbuße
davongekommen. Doch nun sah die Sache schon ganz anders aus.
Mittlerweile ging es nicht mehr 'nur' noch um die beiden erschossenen
Tiger und die ebenfalls auf rätselhafte Weise verschwundenen Wölfe
und Leoparden.
Man hatte Verbindungen aufzeigen können zu einem dubiosen Tierpräparator
und festgestellt, dass der Tierparkbetreiber zumindest Kontakte zu Personen
hatte, die sich auf illegalen Tierhandel spezialisiert hatten. Dass die
Staatsanwaltschaft zusätzlich noch wegen Steuerhinterziehung und Unterschlagung
von Spendengeldern ermittelte, war eine nette Dreingabe.
Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass sowohl der Student
als auch der Tierschutzverein wegen der Tötung der Tiere zu Nebenklägern
wurden.
Ein mit mir befreundeter Jurist machte uns große Hoffnungen,
denn alles in einem konnte nun dem Tierparkbetreiber, der gegenüber
der Presse und dem Fernsehen zusehends wortkarger wurde, sogar eine Gefängnisstrafe
drohen, zumindest aber eine saftige Geldstrafe.
Dieser Gedanke gab Dirk jedenfalls genügend Auftrieb, seine
anstehenden Prüfungen an der Universität gut zu meistern. Das
war mir ein besonderes Anliegen, denn der junge Mann drohte vor lauter
Sorge um 'seine' Tiger sein Studium zu vernachlässigen.
Nach einigen Wochen legte sich die ganze Aufregung und uns blieb
nur abzuwarten, was weiter geschehen würde. Wir waren aufgefordert
worden, uns gegebenen Falles als Zeugen bereitzuhalten.
Von Seiten des Beschuldigten gab es keine Attacken mehr gegen uns.
Unterdessen hielten andere Dinge die Welt in Atem: Weltweite Unwetter
wüteten und brachten Tod und Zerstörung im Form von Hochwassern
und Erdrutschen, während in anderen Gebieten der Erde eine noch nie
gekannte Dürre herrschte und die Menschen dort bedrohte.
Auch aus unserer Gegend gab es Negativschlagzeilen: Ein sehr angesehener
Metzgereigroßbetrieb hatte verdorbenes Fleisch in großen Mengen
umdeklariert und trotz gesundheitlicher Bedenken in den Handel gegeben...
.
Ich musste den Satz dreimal lesen, bevor ich mir dessen Bedeutung
voll bewusst war.
In dem von der zuständigen Staatsanwaltschaft an Dirk und mich
adressierten Schreiben teilte man uns mit, dass sowohl das Ermittlungsverfahren
als auch die Strafverfolgung gegen Herrn Hausthaler aufgrund von Geringfügigkeit
der Delikte eingestellt worden waren. Es folgten noch einige Zeilen mit
gesetzlichen Vorschriften und die Begründung, dass man der Staatsanwaltschaft
zur besseren Verfolgung schwerwiegenderer Verbrechen von solchen Bagatellfällen
den Rücken freihalten würde - im Sinne des Rechtsschutzbedürfnisses
des Bundesbürgers.
Nur mit halbem Ohr hörte ich im Hintergrund den Nachrichtensprecher
eine aktuelle Meldung aus der deutschen Politik verlesen: Auf Druck der
Unterhaltungsindustrie und auch einiger der führenden Bundestagsabgeordneten
jeglicher politischer Couleur, allen voran der gegenwärtige Kulturstaatsminister,
wurde der von der amtierenden Justizministerin in die Diskussion um die
weitere Verschärfung des Urheberrechts eingebrachte Vorschlag einer
sogenannten Bagatellklausel - damit sollte beispielsweise die geringfügige
Nutzung von Tauschbörsen zur Entlastung der Staatsanwaltschaften nicht
weiter strafrechtlich verfolgt werden - mit breiter Mehrheit im Parlament
abgelehnt.
.
Wilde Tiere
"Hast Du das gelesen?" fragte mich mein Kollege und schob mir das
Boulevardblatt hin. 'Tiger zerfetzt Dompteuse' stand da als reißerische
Schlagzeile. Ich überflog rasch den kurzen Artikel und gab die Zeitung
zurück. "Naja, solche Unfälle passieren halt. Aber die Frage
ist, ob sich das wirklich so abgespielt hat. Die Dompteuse war sehr erfahren,
aber man darf halt nicht vergessen, dass Großkatzen keine Spielzeuge
sind. Vielleicht war sie durch irgendetwas abgelenkt, vielleicht stand
sie unter Alkohol, bei Siegfried und Roy hat man ja eigentlich auch nie
erfahren, was da wirklich passiert ist. Es hieß nur, dass Roy den
Abend zuvor ausgiebig seinen Geburtstag gefeiert hat."
Ich nahm noch rasch einen letzten Schluck Kaffee und warf einen kurzen
Blick auf meine Uhr: Gleich würde es wieder soweit sein.
Durch das getönte Sicherheitsglas konnte ich die ersten Leute
erkennen, die sich um das Gepäckausgabeband Nummer 7 sammelten. Vor
kurzem war der Ferienflieger aus Jakarta gelandet und was für die
meisten Menschen, die auf ihre Koffer warteten, meist das Ende ihres Urlaubs
bedeutete, war für meine Kollegen und mich tägliche Routine.
Seit nunmehr fünfundzwanzig Jahren war ich nun schon beim Zoll,
gut die Hälfte meiner Dienstjahre habe ich auf den diversen deutschen
Flughäfen verbracht. An diesem hier war ich seit sechs Jahren bei
der Zollfahndung tätig.
Mit der Zeit ärgerte man sich, im Gegensatz zu den jüngeren
Kollegen, nicht mehr über das Gutsherrendenken, das der Dienstherr
so an den Tag legte. Schlagworte wie Beihilfekürzung oder Arbeitszeitverlängerung
werden sehr schnell relativ, wenn man sich unsere Arbeit betrachtete: Kriminelle
und Terroristen halten sich nur selten an Feiertags- und Arbeitszeitvereinbarungen...
Etwas ganz anderes ließ mich viel öfters verzweifeln:
Meine Kollegen und ich kamen einer kriminellen Handlung auf die Spur, die
Staatsanwaltschaft schaltete sich ein und leistete auch wirklich gute Arbeit,
doch dann entschied das Gericht auf ein Strafmaß, das im Angesicht
des Deliktes geradezu lächerlich war.
Ich erinnerte mich an den Mann, den wir vor einigen Monaten mit
jeder Menge Kinderpornographie im Gepäck hier am Flughafen aus den
Verkehr gezogen hatten: Er kam mit dem Flieger aus Bangkok und die Staatsanwaltschaft
konnte ermitteln, dass dieser Mann einem international operierenden Kinderpornoring
angehörte. Menschenhandel, Sexualdelikte mit weiblichen und männlichen
Minderjährigen, Einführen von Kinderpornographie - es kam einiges
zusammen, das den Mann eigentlich für den Rest seines Lebens hinter
Gitter gebracht haben sollte. Doch ein guter Anwalt verhalf ihm und seine
ebenfalls geschnappten Komplizen zu einer Geldstrafe von nicht einmal 10.000
Euro und einer verhältnismäßig geringen Freiheitsstrafe
von zwei Jahren, die noch dazu auf Bewährung ausgesetzt wurde. Angeblich
aus "Mangel an Beweisen".
"Komm, Carlo", rief ich unseren vierten "Mann" im Bunde zu mir. Carlo,
der Golden Retriever, ist schon seit Jahren bei uns und beim Aufspüren
von Drogen äußerst erfolgreich. Gewissermaßen ist er auch
unser Teammaskottchen.
Meine beiden anderen Kollegen tranken ebenfalls aus und zusammen
begaben wir uns an den Hallenausgang. Durch die sich immer wieder kurz
öffnenden Glastüren konnten wir jede Menge Menschen entdecken,
die auf ihre Liebsten und Angehörigen, auf ihre Freunde und Geschäftspartner
warteten, die gleich durch diese Tür kommen würden.
Mit der Zeit entwickelte man ein Gespür dafür, wen man
genauer unter die Lupe zu nehmen hatte.
Vom Instinkt geleitet stoppte ich eine junge Frau, die gerade durch
die Glastür in den öffentlichen Bereich des Flughafens eilen
wollte, und tatsächlich hatte mich meine Menschenkenntnis nicht getrogen.
Carlo schnüffelte kurz an ihrer Reisetasche und schlug schwanzwedelnd
an.
Ich ließ sie ihre Tasche öffnen und in einem versteckten
Seitenfach wurde ich fündig.
Das sind jene Augenblicke, in denen man in einen inneren Konflikt
gerät: Da hat man einen jungen Menschen vor sich, der gerade im Begriff
ist, sich wegen eines Augenblicks der Schwäche seine Zukunft zu ruinieren.
"Was haben wir denn da?" fragte ich, obwohl ich die Antwort schon
kannte. Interessant war ohnehin nur die Menge des sichergestellten weißen
Pulvers.
"Glauben Sie mir, das ist nur für mich, ich hab's unten gekauft,
ist aber wirklich nur für die Reise gewesen, weil ich so Flugangst..."
"Wenigstens kommen Sie mir nicht mit der Story, dass Ihnen das irgendjemand
ins Gepäck geschmuggelt hat", brummte ich und winkte unseren jüngsten
Kollegen heran. "Geh das bitte mal rasch nachwiegen."
Kurze Zeit später kam er zurück und flüsterte mir
etwas ins Ohr. Es war ein ganz klein wenig mehr als die zulässige
Menge für den Eigenbedarf, die Abweichung war jedoch meines Erachtens
marginal und so machte ich von meinem Ermessen Gebrauch. 'Ermessensgerechte
Entscheidung' nennt man das auf Amtsdeutsch, als ich die Frau, sie war
gerade erst volljährig geworden, laufen ließ, nicht ohne sie
gründlich zu ermahnen und ihr einen Schrecken einzujagen, indem ich
ihre Personalien aufgenommen hatte.
In der Zwischenzeit hatten auch meine Kollegen einen Erfolg zu verzeichnen:
Bei einer Gruppe eingereister Chinesen konnten sie mehrere tote Hühner
und anderes Federvieh beschlagnahmen. Mich schüttelte es. Abgesehen
von den Gefahren der Vogelgrippe für Europa, gibt es denn in Deutschland
kein Geflügel?
Über die Unvernunft und Dummheit mancher Leute kann man einfach
nur den Kopf schütteln; auch ist für mich kein kultureller oder
religiöser Grund erkennbar, weshalb irgendwer aus dem Ausland tote
Tiere zum Verzehr mitbringen sollte...
Schmunzelnd beobachtete ich die Familie, die mit ihrem vollbepackten
Gepäckkarren auf den Ausgang zusteuerte. Ihnen allen stand das schlechte
Gewissen deutlich ins Gesicht geschrieben, doch meine Berufserfahrung ließ
sie unbehelligt ihres Weges gehen.
Ein junger Kollege, der sich noch seine Sporen verdienen musste,
hätte sie vielleicht herausgewunken und dann gegebenenfalls die eine
oder andere Packung Tee, die über die zulässige Einfuhrmenge
lag, gefunden, eventuell noch zwei oder drei Tonträger, die in Indonesien
irgendwo auf einem Markt zwar rechtmäßig erworben worden waren,
bei denen es sich aber zweifellos um Raubkopien handelte, und zusammenfassend
noch festgestellt, dass der Wert der im Ausland erworbenen Souvenirs und
Mitbringsel ebenfalls ein klein wenig über der zulässigen Grenze
lag - doch in solchen Fällen konnte und sollte man einfach ein Auge
zudrücken, denn schließlich war bei diesen Menschen keine kriminelle
Energie festzustellen.
Mit der Zeit hat man einen Blick dafür, ob jemand wirklich kriminell
ist oder nicht, es ist die Körpersprache, die einen verrät.
Wobei aber auch hier der Begriff 'kriminell' ein wenig zu relativieren
ist: Eindeutig, mal abgesehen von den Kapitalverbrechen, ist die Sache
zum Beispiel bei der Einfuhr oder auch schon dem bloßen Besitz von
Kinderpornographie oder von harten Drogen. Oder das Einführen lebender
und toter Tiere, die in dem Washingtoner Artenschutzabkommen in der sogenannten
'Red List' aufgeführt sind; unter dieses Einfuhrverbot fallen übrigens
auch beispielsweise Felle, Knochen und auch andere kunsthandwerklich oder
zu Lebensmitteln verarbeitete Körperteile dieser Tiere.
In all diesen Fällen schritten wir ein, rücksichtslos
und ohne Gnade übergaben wir dann diese Angelegenheit der Staatsanwaltschaft.
Doch in den letzten Jahren wurden immer öfters auf Druck irgendwelcher
Interessensgemeinschaften, meist aus Unternehmerkreisen, Gesetze erlassen,
die Handlungen kriminalisierten, die man durchaus als Bagatellen abtun
konnte. Leider wurde der Vorstoß, für solche Fälle zur
Entlastung der Staatsanwaltschaft im Gesetz eine sogenannte "Bagatellklausel"
zu installieren, durch die zuständigen Abgeordneten wohl auf Druck
der entsprechenden Lobbyisten bereits im Keim erstickt.
Als verantwortungsvoller Beamter konnte man über so eine Denkweise
nur den Kopf schütteln: Die Staatsanwaltschaft hatte sich nun mit
einer Flut von solchen Bagatellfällen zu befassen, für die strafrechtliche
Verfolgung von schweren Straftaten fehlten nun aber Zeit und Mittel.
Mein Blick fiel auf meine beiden Kollegen, die gerade heftig mit
einem Ehepaar mittleren Alters diskutierten.
"Ich will auf der Stelle Ihren Vorgesetzten sprechen, Sie wissen
wohl nicht, mit wem Sie es zu tun haben", hörte ich den Mann, ich
schätzte ihn so um die Fünfundfünfzig, sagen. Seine Frau
kam mir irgendwie bekannt vor.
Noch bevor mich einer meiner Kollegen rief, wusste ich, dass hier
offensichtlich etwas nicht stimmte: Zum einen haben die beiden nicht grundlos
dieses Ehepaar zu einer besonderen Gepäckskontrolle gebeten, schließlich
sind sie mindestens genauso diensterfahren wie ich, und zum anderen benimmt
man sich nicht so, wenn man nichts zu verbergen hat.
"Gibt es irgendwelche Probleme?" fragte ich, als ich an die Streitenden
herantrat.
"Ihre Kollegen wollen unsere Taschen öffnen."
"Das ist auch ihre Pflicht, wo liegt da das Problem?" erwiderte
ich gelassen.
"Sie kennen uns wohl nicht, was?" Der Mann fuchtelte mit den beiden
Reisepässen vor meinem Gesicht herum. Ich nahm sie ihm ab und blätterte
sie durch. Kein Wunder, dass mir seine Frau so bekannt vorgekommen war,
und auch er war recht prominent.
"Und was ist nun in diesen beiden Taschen?" fragte ich unbeeindruckt
ob ihrer Prominenz und deutete auf zwei unförmige, ausgebeulte Reisetaschen.
"Wie ich Ihren Kollegen schon mitteilte", begann der Mann herablassend,
"schmutzige Wäsche und ein paar Souvenirs aus dem schönen Indonesien."
"Na, dann haben Sie ja nichts dagegen, wenn ich da einen kurzen
Blick reinwerfe", erwiderte ich mit charmantem Lächeln. Ich kenne
schließlich meine Pappenheimer.
"Ich...", begann der Mann, verstummte aber, als ich die Reissverschlüsse
öffnete. Interessanter Weise blieb die Ehefrau ganz ruhig, ihre Blicke
jedoch sollten meine Kollegen und mich offensichtlich zu Steinstatuen erstarren
lassen. Irgendwie erinnerte mich diese Dame in jenem Augenblick an die
böse Königin aus den 'Narnia-Chroniken'.
Was wir aus den beiden großen Taschen förderten, ließ
sogar uns abgebrühte Zollbeamte - und wir sind wirklich einiges gewöhnt
- die Sprache verschlagen und den Atem stocken.
Drei präparierte Tigerfelle, wo doch der Sumatratiger auf Indonesien
ohnehin akut vom Aussterben bedroht war, der Schädel einer seltenen
Hirschart, die in diesen tropischen Regenwäldern lebte, und - das
war das schlimmste von allem: Ein ausgestopftes Orang Utan-Baby. Dessen
von einem Präparator eingesetzten Glasaugen schrieen uns ihre stumme
Anklage entgegen...
"Das haben wir völlig legal am Bazar in Jakarta erworben. Für
unsere Villa in...", begann die Dame trotzig mit einer Rechtfertigung,
doch ich winkte angewidert ab.
Als sie von zwei Polizeibeamten abgeführt wurden, war ich immer
noch blass vor Wut und Zorn. Zorn auf diese beiden Menschen, Zorn auf die
Ignoranz der menschlichen Gesellschaft.
Ein Kollege legte beschwichtigend seine Hand auf meine Schulter:
"Wer war das eigentlich?"
"Sie ist irgendeine Abgeordnete im Bundestag, just von einer Partei,
die eigentlich so eine Handlungsweise aufs Schärfste verurteilen müsste.
Und Er ist ein bekannter Anwalt. Seine Kanzlei hat es sich zur heiligen
Pflicht gemacht, in Tauschbörsen zu schnüffeln und gegen mögliche
Verstöße gegen das Urhebergesetz, seien sie noch so gering oder
gar von Minderjährigen begangen, zu Felde zu ziehen. Billiger kann
ein Anwalt gar nicht seine Taschen füllen als mit Abmahnungen."
"Naja, jetzt erwischt wenigstens die beiden die volle Härte
des Gesetzes", erwiderte mein Kollege.
Ich schüttelte nur schweigend den Kopf:
Von einem Staat, dessen Rechtsprechung einen einfachen Angestellten
wegen drei mehr oder weniger aktuellen Alben, die er sich aus einer Tauschbörse
geladen hatte, zu einer immens hohen Geldstrafe und Schadensersatz verurteilte
und für ein Elternpaar, das ihr eigenes Kind sexuell missbrauchte
und dabei auch noch filmte, nur eine vergleichsweise niedrige Haftstrafe
vorsah, konnte man das nicht gerade erwarten.
Tiere haben schließlich im Gegensatz zu manchem Wirtschaftszweig
keine Lobby, die die Abgeordneten mittels großzügiger Gehaltszahlungen
und Urlaubsreisen zum Erlass strenger Gesetze und deren Durchsetzung bewegen
könnte...
.
Epilog
"Kommst Du jetzt endlich? Die anderen sind schon alle weg!"
Ich hätte beinahe das Tintenfässchen umgekippt, so sehr
hat mich die dröhnende Stimme meines Kollegen erschreckt. Ich habe
nicht einmal bemerkt, dass ich schon beinahe völlig im Dunklen sitze,
nur noch die Monitore unmittelbar in der Nähe meines Schreibtisches
und meine kleine Schreibtischlampe spenden noch Licht. Still ist
es nun geworden in dieser großen Kommandozentrale, auch deutlich
kühler, da nun kaum ein Rechner mehr im Betrieb ist.
"Ich bin gleich fertig", erwidere ich und greife nach meiner Löschwiege,
um die Tinte zu trocknen.
"Beeil Dich gefälligst, wir haben nicht mehr allzu viel Zeit."
"Ja, ist ja schon gut!" Ich hasse es, wenn man mich drängt
und zur Eile antreibt. Ich blättere noch einmal vorsichtig durch den
Folianten. Alles Erinnerungen, bitter und süß, heiter und traurig.
Wie sagte ein italienischer Sänger einmal so schön? Seine Musik
sei wie Knoblauch und Marmelade.
Ich schließe das Buch, an dem ich nun in den letzten Wochen
gearbeitet habe, wie es meine Pflicht gewesen ist. Ich habe meine Schuldigkeit
getan, der Rest liegt nicht mehr an mir.
Eines Tages vielleicht würde man hierher kommen, würde
man diese Folianten finden und wer auch immer darin lesen würde, er
würde hoffentlich verstehen und seine Lehren daraus ziehen.
"Nimm es nicht so schwer", sagt mein Kollege leise und legt seine
schwere Pranke auf meine Schulter. "Wir haben getan, was wir konnten, aber
unsere Zeit ist nun vorüber. Hier!"
Er schiebt mir die beinahe leere Packung hin, eine Tablette ist
noch enthalten.
"Und die soll wirken?" frage ich, als ich sie in einem Glas Apfelsaft
auflöse. Apfelsaft - in meinen Augen eines der wenigen wirklich erbaulichen
Dinge, die die Menschheit hervorgebracht hat.
"Bei den anderen hat es schon gewirkt, die sind schon alle unterwegs."
"Glaubst Du wirklich, dass es richtig ist, dass wir jetzt schon
gehen? Ich meine, es gibt so vieles, das noch getan werden müsste."
In mir machen sich allmählich Zweifel breit. Sollen all unsere Bemühungen
vergeblich gewesen sein? Da muss doch einfach noch was sein, irgendein
Grund, um zu bleiben.
Mein Kollege schüttelt den Kopf und zeigt auf einen der wenigen
noch eingeschalteten Fernseher: "Siehst Du das? Die Menschen haben sich
für diesen Weg entschieden. Wir sind hier nicht mehr länger erwünscht."
"Und was ist mit denjenigen, die nicht der großen Masse folgen?
Diejenigen, die sich stets redlich um eine bessere Welt, im Kleinen aber
auch in Großen, bemüht haben? Verdienen sie es auch, dass wir
gehen?"
Mein Kollege schüttelt erneut seinen Kopf. Täuscht es
mich, oder ist er irgendwie größer geworden oder massiger? Seine
Hand fühlt sich auf meiner Schulter auch etwas schwerer an. Seine
Fingernägel könnte er sich auch mal schneiden, wie Krallen bohren
sie sich in meine Schulter.
"Für diese Menschen ist gesorgt. Meinst Du, dass wir all unsere
Arbeit umsonst gemacht haben? Diejenigen, die Ohren gehabt haben zu hören
und Augen um zu sehen, sind bei uns. Und um den Rest ist es wirklich nicht
schade. Und jetzt beeil Dich, das Mittel wirkt in ein paar Minuten. Ich
muss jetzt jedenfalls hier raus, hier wird’s mir zu eng. Wir sehen uns
dann."
Krachend fallen ein Monitor und ein paar Augenblicke später
noch einige andere Gegenstände, die am Rand eines verwaisten Schreibtisches
gelegen hatten, zu Boden. Ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen,
offensichtlich ist es wirklich höchste Zeit für meinen Kollegen,
ins Freie zu kommen, bevor er hier noch mehr zu Bruch gehen lässt.
Nicht, dass das noch eine Rolle spielen würde.
Ich spüre langsam die Wirkung der Tablette, ein leichtes Schwindelgefühl.
Nach einem letzten Blick in die Runde stelle ich das vollendete Buch sorgfältig
ins Regal zu den anderen und schraube das Tintenfässchen zu. Ich pflege
meinen Arbeitsplatz stets ordentlich aufzuräumen, wenn es in den Feierabend
geht.
Mit flinken Handgriffen fahre ich alle Computer und Server herunter
und schalte die restlichen Monitore, bis auf einen einzigen Fernseher,
aus. Wir hatten vereinbart, dass immer ein Gerät eingeschaltet bleiben
sollte, für alle Fälle...
Der Druck in meinem Schädel nimmt immer weiter zu, während
ich meine persönlichen Sachen zusammenpacke. Schade eigentlich um
die Pflanzen hier. Wir haben uns gemeinschaftlich um sie gekümmert
und wir waren stolz auf unseren kleinen Dschungel hier mitten zwischen
den Rechnern, Schreibtischen und Monitoren. Aber leider kann ich sie nicht
mitnehmen.
Mir wurde gesagt, dass es nicht angenehm sein würde, aber dass
es so schmerzhaft ist, das hätte ich nicht gedacht. Ich spüre,
wie sich langsam meine Fußsohlen und Handflächen verhärten
und die Zehen und Krallen immer länger werden, zu langen Klauen sich
wandeln.
Mein Gesicht wird länger und mein Blick wandelt sich, ich sehe
auf einmal etwas direkt vor meinem Gesicht. Ich taste danach und fühle
meine schuppige Schnauze.
Nun ist es wirklich höchste Zeit, hier zu verschwinden.
Ich nehme meine paar Habseligkeiten und passe auf, mit meinem neu
gewachsenen Schwanz nicht allzu viel von der Einrichtung des Kontrollzentrums
zu zerstören.
Besonders unangenehm ist das Gefühl der aus meinem Schädel
sprießenden Hörner und der schnell aus meinem Rücken brechenden
Flügel.
Mittlerweile ist der Mond aufgegangen in dieser kalten Winternacht.
Ich stehe auf dem großen, menschenleeren Platz vor dem Kontrollzentrum,
meine Verwandlung ist so gut wie abgeschlossen.
Welch ein angenehmes Gefühl, das erste Mal seit gut einem Jahrhundert
wieder seine richtige Gestalt zu haben, zu spüren, dass man ein Drache
ist.
Ich spreize meine Flügel und nehme bewusst jeden einzelnen
Körperteil von mir wahr. Ganz unwillkürlich kokettiere ich, nur
leider ist kein Publikum da, das mich bewundern könnte. Meine schwarz-goldenen
Schuppen glitzern im Mondenlicht.
In tiefen Atemzügen lasse ich die frische, klare Nachtluft
in meine Lungen fließen.
Unser Dienst auf diesem Planeten geht in Kürze zu Ende und
ich werfe noch einen letzten Blick auf das Kontrollzentrum. Trotz all des
Stresses und des Ärgers, den uns die Menschen sehr oft bereitet haben,
war es alles in einem eine recht schöne Zeit auf diesem Planeten.
Ich stoße mich vom gefrorenen Boden ab und mit kraftvollen
Flügelschlägen fliege ich der silbernen Mondscheibe entgegen.
Unsere Zeit als Wächter und damit die Zeit der Drachen auf dieser
Welt ist nun endgültig vorüber.
Am Fernsehschirm im Kontrollzentrum sieht man gerade amerikanische
und französische Lang- und Mittelstreckenraketen, alle bestückt
mit Atomsprengköpfen, auf ihrem Weg zu den neuen Atommächten
im Nahen Osten.
© Peter
Lässig
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