Das Leben ist eher breit als lang und wir
stehen alle mittenmang.
- Walter Moers
Teil 1
"Nackte Menschen sterben früher!", schrie
der vermummte Mann von dem Podest auf den Marktplatz hinunter. "Denkt an
meine Worte!"
"Sektenspinner!", rief eine Frau und warf
einen Fisch nach ihm.
"Aah! Seht sie euch an! Sie ist eine Tochter
Satans! Man kann ihr Knie sehen! Steinigt sie! Stecht ihr die Augen aus!
Trennt ihr die Brüste vom Leibe!" Eine Flasche traf den Prediger am
Kopf und er fiel rücklings in die Menge. Mehrere Messer blitzten auf
und ein paar Familien im Bienenstock, wie diese Stadt genannt wurde, hatten
an diesem Abend etwas zu essen.
Unser junger, gut aussehender Held, sein Name
war Redluff, wandte sich angeekelt ab. Er hasste diese Stadt. Manche Leute
sagten, sie sei ein riesiger, grüngescheckter Felsblock - groß
und unverständlich. Andere sagten, schiefe Metaphern und schiere Beklopptheit
gingen oft Hand in Hand. Redluff war Anhänger letzterer Behauptung.
Dennoch konnte er nicht umhin zu bemerken,
dass die Stadt tatsächlich groß und unverständlich war.
Ein berühmter Dichter hatte ihr den Spitznamen Bienenstock gegeben,
mit der Begründung, die er aus einem Batman-Comic hatte, sie sei ein
Schwarm verlorener Seelen. Und das war sie. In der Tat.
Redluffs Weg war kein leichter gewesen in
den letzten Monaten und Jahren. Er war einer derer, deren Name unaussprechlich
bleibt, ein alter Heldenklan im Norden. Seine Augen hatten schon viel von
der Welt gesehen, seine Füße waren schon auf vielen Straßen
gewandelt und seine Klinge hatte schon viele Köpfe gefällt. So
war es und so sei es auf immer dar - es war sein Karma, die Welt von allem
Bösen zu befreien. Er hatte die Westlichen Einöden vor den Riesen
gerettet, Kinder aus den Fängen garstiger Lebkuchenhexen befreit und
die Schwarzzwerge aus den Südlichen Staatsbezirk vertrieben. Und nun
also der Bienenstock - eine Stadt, die ihren eigenen Untergang schon erlebt
hatte, eine Stadt, in der Kriminalität zum guten Ton zählte.
Redluff bahnte sich einen Weg durch die Menge,
die Hand stets darauf vorbereitet, das Schwert zu erheben, um einem der
erbärmlichen Wegelagerer den Kopf abzusäbeln. Doch es hatte keinen
Sinn heute noch Heldentaten zu vollbringen, er brauchte Schlaf und eine
kühle Vanilla-Coke. Als Held und somit unvermeidlich Vorbild für
die ohnehin schon missratene Jugend, die die Zeit damit verbrachte, Hottentottenmusik
von irgendwelchen langhaarigen Hippies zu hören und dabei Tabletten
einzuwerfen, als wären´s Butterbrote mit Käse und Senf
drauf, verabscheute er natürlich Alkohol wie die Dithmarscher die
Nordfriesen und seit er Pulp Fiction gesehen hatte, bestellte er immer
Vanilla-Coke, weil er sich dabei vorkam wie Travolta (der bestellt in Pulp
Fiction auch einmal Vanilla-Coke) und er mochte Travolta gut leiden.
Er mochte auch Uma Thurman gut leiden, aber die bestellte keine Vanilla-Coke
und ferner sah er keinen Grund so sein zu wollen wie Uma Thurman, da sie
a) eine Frau war und b) jetzt saublöde Hollywoodkomödien drehte.
Er hatte ihren neuen Film noch nicht gesehen, aber er fand ja sowieso nur
Filme gut, in denen Travolta mitspielte.
Er stieß die Tür zu einer Kneipe
auf, umkurvte die obligate Schlägerei und das ebenso obligate Pokerspiel
elegant, und setzte sich auf einen Barhocker.
"Oh, das hört sich gut an, eine Vanilla-Coke,
bitte!", sagte er möglichst travoltaesk, doch der erhoffte anerkennende
Lacher blieb aus. Der Barmann hatte Pulp Fiction anscheinend nicht gesehen.
"Ham wir nich."
"Nicht? Tja, dann, äh, eine Milch!",
sagte er einmal mehr bemüht travoltaesk. Der Barmann lachte und klopfte
Redluff auf die Schulter.
"Haha, eine geniale Anspielung! Das
ist aus Pulp Fiction, habe ich recht?"
"Nein, das..."
"Doch, doch, ich hab das doch erst letztens
gesehen, das ist doch da wo er mit ihr da ausgeht, der Travolta und die
Thurman, und dann bestellt er doch auch Milch, nä? Kommt, das geht
aufs Haus!"
Kopfschüttelnd und leise kichernd füllte
der Barmann ein Glas mit Milch und drückte es Redluff in die Hand.
"Lasst uns einen auf die gute alte Uma trinken!"
Der Wirt erhob sein eigenes Milchglas und leerte es anschließend
mit einem Zug. "Apropos, habt Ihr schon den neuen Film von der gesehen?"
"Äähm, jein... habt Ihr noch ein
Zimmer frei?"
"Haha, Ihr seid ein Spaßvogel! Das war
aus Psycho, habe ich recht?"
"Ja, klar... kann ich trotzdem ein Zimmer
haben, bitte?"
"Mit Blick auf die Autobahn?"
Verdammte Cineasten, dachte Redluff,
als er, nach einigen ermüdenden und ziemlich einseitigen Diskussionen
über die Autoanzahl und -farbe und deren symbolische Bedeutung im
Film Donnie Darko (unter Berücksichtigung von Goethes Farbenlehre),
mit dem Zimmerschlüssel die Treppe hinaufstieg. Sein Zimmer hatte
die Nummer 23 (vermutlich eine versteckte Botschaft der Illuminaten?).
Über dem Bett, das Gestell war aus schön
verarbeitetem Plastik mit hinreißenden Verschnörkelungen, hing
eines dieser schrecklichen Elfenbilder, die hier im Bienenstock so beliebt
waren, da sie durchweg harmonisch anmutende Elfen in dramatischen Liebesposen
zeigten. In diesem Fall auf einem Ruderboot im Schein eines, von Bäumen
halb verdecktem, Mondes. Redluff hatte aus allerlei Gründen Angst
vor solchen Bildern, doch er war zu müde um sich darum zu kümmern.
Er sank in die Kissen und die Träume empfingen ihn herzlich mit freudigen
Paukenschlägen.
Das erste, was Redluff sah, als er aufwachte,
war eine nackte Elfe. Ein Grund, warum er Elfenbilder hasste, insbesondere
über dem Bett. Aber, dachte er guten Mutes bei sich, immerhin
bin ich jetzt wach. Er ging nach unten in die Wirtsstube. Sie war weitgehend
leer, bis auf einen Typen, der schnarchend in seinem eigenen Erbrochenem
vor sich hin vegetierte. Und, scheiße, dem Barmann, der den
Tresen polierte. Als er Redluff kommen sah, grinste er.
"Dr Redluff, nehme ich an?", fragte er und
kicherte albern.
"Eine Milch, bitte", bestellte Redluff ohne
eine Miene zu verziehen.
"Geschüttelt oder gerührt? Und darf´s
ein bisschen Weißbrot sein, Mr Bond?"
"Redet Ihr mit mir?" Das war eine ernst gemeinte
Frage gewesen.
"Hahahaha! Taxi Driver, genial alter Junge!"
"Gebt mir einfach eine Milch, okay?"
"Okay."
Alter Junge. Das gefiel Redluff nicht.
Ganz und gar nicht. Alter. Junge. Was denn jetzt? Alt oder jung?
Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr beunruhigte ihn die Sache.
Dann fielen ihm wieder andere Erlebnisse der letzten 24 Stunden ein - oder
23?
Nackte Menschen sterben früher! Sterben
früher! Vanilla-Coke. Ham wir nicht. Milch. Travolta. 23. Nackte Elfen.
Alter Junge. Sterben.
Da musste ein Zusammenhang bestehen...
"Hier, Eure Milch."
"Hmpf." Redluff leerte das Glas in einem gigantischen
Schluck und sein Blick wanderte über die Ränder seiner rotgetünchten
Sonnenbrille auf die Wand hinter der merkwürdig organisch anmutenden
Bar. Seine Sonnenbrille war auch organisch. Aus Affenknochen.
An der Wand hing ein großer, höchstwahrscheinlich
ebenso organischer, Rindermagen. Redluff wollte gar nicht wissen, wie der
da hingekommen war.
"Wie ist der Rindermagen da hingekommen?",
fragte der Typ mit dem Erbrochenem im Gesicht.
"Oh, gut, dass du das fragst, Typ mit dem
Erbrochenem im Gesicht, das ist eine sehr lange und spannende Geschichte,
die unseren Gast hier bestimmt brennend interessiert."
Der Typ mit dem Erbrochenem im Gesicht brach
seinen bereits festgetrockneten Kopf von der Wand ab und nickte zustimmend.
"Alles begann im November achtzehn fünfzig...",
fing der Wirt an und nahm sich einen Lappen, um den Tisch abzuwischen.
Und dann erzählte er. Stunden flossen dahin, wie geschmolzene Lakritze
durch ein Nadelöhr. Es war wirklich eine spannende Geschichte. Um
nicht zu sagen sublangweilig.
"Hach, war das aber spannend!", rief DerTypMitErbrochenemImGesicht
aus, als der Wirt geendet hatte.
"Nicht wahr?" Der Wirt lächelte beschämt.
Redluff bezahlte seine Milch und verließ
die Kneipe. Komisch, dachte er. Und: Warum habe ich mir das alles
angehört? Und warum habe ich die Milch bezahlt? Ein mulmiges Gefühl
stieg seinen Kopf hinauf und er sah in den Himmel hinauf, der nun, zur
Mittagszeit, ein gesundes braun angenommen hatte. Smog, so nannten die
Leute den Himmel hier. "Passend", dachte Redluff und sah zu, wie ein paar
Aasvögel an dem Rauch erstickten und krächzend in die Tiefen
der Straßenschluchten stürzten. Ein halbverkohlter Schmetterling
trudelte vor ihm zu Boden und wurde von einer Katze gierig verschlungen.
"Was ist das für eine Welt?", fragte Redluff und sah abermals in den
Smog.
"Ne scheiß Welt!", sagte die Katze,
während sie von einem Pferd zerfetzt wurde und sich ihre Gedärme
auf dem glitschigen Gehsteig verteilten. "Ich wusste gar nicht, dass Pferde
Katzen essen", wunderte sich Redluff, als der Gaul seine Schnauze - oder
wie auch immer die Nase eines Pferdes genannt wird - in der Katze vergrub.
"Wusste ich auch nicht", meinte das Pferd.
"Aber ich muss sagen - wow! - was für ein Geschmack! Das ist so wie
mit dem Sushi. Die meisten Menschen mögen Sushi, ekeln sich aber bei
dem Gedanken an rohen Fisch. Ist das nicht unheimlich komisch?" Redluff
lachte kurz und kalt, dann wandte er sich ab und sein Blick streifte einen
Jungen von etwa zehn Jahren, der auf dem Randstein hockte und ihn mit dunkel
umschattenden Augen musterte. Seine Arme hatte er locker um seine Knie
gelegt und auf seinem Kopf lag eine monströse, tropfende Kartoffel.
"He!", rief Redluff. "Junger Bursche, Ihr scheint ja recht vergnügt
am frühen Morgen!" Der Knabe verzog keine Miene, seine Mundwinkel
zuckten angriffslustig. "Das soll wohl seien", sagte er weiterhin glotzend.
"Auch deucht mir, dass Ihr eine nasse Erdknolle
auf Eurem Kopf habt", sprach Redluff.
"Ich weiß, mein Herr..."
"Dann frage ich mich, o Bursche, warum Ihr
nichts dagegen unternehmt?"
"Ich habe sie auf dem Kopf, weil mich just
meine Frau Mama hat frisieren."
"Bitte seid mir nicht bös, Bursche, aber
ich sehe hier keinerlei logischen Zusammenhang."
"Immer, wenn Frau Mama tut mich frisieren,
nimmt sie den Topf vom Herd, setzt ihn mir auf mein Haupt und schneidet
mir die Haare, die links und rechts von diesem herauswuchern, ab."
"Verstehe. Und dieses Mal hat Eure Frau Mama
vergessen die Kartoffeln vorher herauszuklauben?"
"Ihr sprecht die Wahrheit, mein Herr."
"Nun ist mir aber immer noch nicht ganz klar,
warum Ihr dann nicht die Kartoffeln von Eurem Haupte entfernt."
"Wegen der Möwen."
"Verstehe", log Redluff. Er fuhr dem Jungen
freundschaftlich durchs Haar, wobei er darauf achtete nicht die glitschige
Knolle zu berühren. "Bist ein lieber Junge."
"Danke, mein Herr. Ihr seid auch ein lieber
Herr. Wie ist Euer Name, wenn die Frage nicht zu intim ist?" Redluff lachte
väterlich. "Haha, aber nein, mein Sohn. Mein Name ist Redluff."
"Nie gehört. Seid Ihr neu in der Stadt?"
"Ja, ich wohne hier im Gasthaus des Alten
Cineasten."
"Dem, wo der Rindermagen an der Wand hängt?"
"Genau. Und wie ist Euer Name, junger Bursch?"
"Justus. Justus Jonas."
"Ich bitte Euch! Der heißt jetzt Jupiter!"
"Und? Habt Ihr etwa Angst vor Copyright-Verletzungen?
Fragezeichen! Fragezeichen! Ha-ha!"
"Schweigt still! Mit Hitchcock ist sicherlich
nicht zu spaßen." Justus schwieg und sah betreten zu Boden. "Es tut
mir Leid, mein Herr."
"Das will ich aber auch hoffen!" Redluff blickte
erbost in den Smog. "Da kommen schon Die Vögel, du bringst uns noch
alle um!"
"Die kommen nur bei Flut. Es ist Ebbe und
ich habe eine Kartoffel im Haar. Das hilft gegen Möwen."
Ein Mann kam vorbei und verwunderte sich über
das merkwürdige Palaver, das sie hielten. Abends würde er seiner
Frau davon erzählen und sie würden herzlich darüber lachen.
"Was macht Ihr hier im Bienenstock, mein Herr?",
fragte Justus, der Kartoffelknabe.
"Ich vollbringe Heldentaten. Doch sagt mir,
o Jupiter, wo kann ich hier noch große Heldentaten vollbringen? Es
gibt zu viel zu tun für einen meines Schlages. Ich kann nicht die
ganze Stadt überwachen. Völlig unmöglich. Ausgeschlossen."
"Tja."
"Wusstet Ihr übrigens schon, dass nackte
Menschen früher sterben?"
"Nein, ist dem so?", entgegnete der Bube.
"Ein Prediger schrie es gesterntags auf dem
Marktplatz ins gemeine Volk. Glaubt Ihr daran, mein Sohn?"
"Ich weiß nicht, mein Herr...sollte
ich denn?"
Einen Augenblick hing Redluff im Zweifel.
Sein Herz fühlte sich gespalten an, als hätte jemand einen spitzen
Pfahl durch die Mitte getrieben.
"Wenn ich das wüsste. Mir sind in letzter
Zeit recht merkwürdige Dinge passiert."
"Ja? Mir auch. Meine Katze ist zum Beispiel
gestorben. Und der Schmetterling meiner kleinen Schwester."
"Bei mir war das eher subtiler. Heute nacht
schlief ich beispielsweise unter einer nackten Elfe..."
"Oh, so merkwürdig ist das gar nicht,
mein Herr, wer genug Geld hat hier im Bienenstock, kann jede Nacht unter
einer nackten Elfe schlafen, macht Euch da keine Sorgen." Justus blickte
zu Redluff auf, sodass die Kartoffel beinahe von seinem Kopf kullerte,
und sah die Unsicherheit in seinen, immer noch in den tiefbraunen Smog
gerichteten, Augen. "Oder - oder seid Ihr etwa verkehrtherum, mein
Herr?" Er sprach das Wort mit einer Spur von Ekel und Redluff lief ein
leichter Schauer über den Rücken. Er lenkte seinen Blick wieder
hinab zum Boden und sah in die Augen des Jungen.
"Nein. Es ist eine tief in mir verwurzelte
Urangst. Lasst uns nicht länger darüber reden."
"Wir reden über das, was immer Euch beliebt."
"Sei nicht so unterwürfig, mein Sohn."
"Wie ihr meint."
Das Geräusch von trabenden Pferdehufen
drang durch den güllefarbenen Nebel zu ihnen und kurze Zeit später
stach eine Kutsche aus dem Dunst. Es handelte sich offenbar um eine Postkutsche,
ein neueres Modell, schick, mit Flammen drauf und seltsam organisch geformt.
Hoch oben saß der tief in Tücher gehüllte, hagere Kutscher
und beäugte Redluff und Justus misstrauisch.
"He, Ihr Nackten dort unten! Macht Platz für
den Meister!" Der Kutscher versuchte Justus auf den Kopf zu spucken, hatte
aber Gegenwind.
"Den Meister?", fragte Redluff.
"Ja! Was dagegen, Nackter? Er will hier im
Gasthaus einkehren! Macht Platz!"
Justus erhob sich langsam aus seiner hockenden
Position und nahm sich seine Kartoffel vom Kopf. Der Kutscher fixierte
diese mit einem seiner blutunterlaufenen Augen und lachte schäbig.
"Was soll das, Gör? Geh gefälligst
zur Seite!"
Ein Tropfen matten Wassers löste sich
von der Knolle und fiel auf die dreckige Straße. "Ich habe eine Kartoffel",
sagte Justus drohend.
"Das sehe ich, dummes Kind! Deine Mahlzeit
für diesen Monat, was? Hä-hä-hä!" Er versuchte abermals
auf Justus´ Kopf zu spucken, scheiterte jedoch wieder. Redluff war
mittlerweile von der Straße hinuntergetreten und besah sich das Schauspiel
von dem sicheren Gehweg aus. Es war inzwischen dunkel geworden - das letzte
Licht hatte sich hinter den Rauchwolken verkrochen - und eine Straßenlaterne
entflammte, die alles in ein wohliges Orange tauchte. Auf der einen Seite
die monströse Kutsche mit dem hämisch lachendem Kutscher, auf
der anderen Seite der Knabe Jonas, die Faust um die glitschige Kartoffel
geballt. Eines der Pferde wieherte und riss ungeduldig an seinen Zügeln.
"Aus dem Weg, entblößte Kreatur!
Der Meister kann ungemütlich werden!"
"Ich denke gar nicht daran!", schrie Justus
hinauf. "Ihr Bonzen sollt bluten!" Die Worte schallten durch die Gasse
und die Bürger lehnten sich aus ihren Fenstern, um ihre nach Gewalt
dürstenden Augen zu stillen. Eine alte Frau lachte keifend.
"Ja! Wirf ihm die Kartoffel an die Stirn, Bengel!"
Redluff griff unwillkürlich nach seinem
Schwert.
"Lasst das fallen!", schrie der Kutscher hysterisch
und starrte verängstigt auf das getrocknete Blut, was an der Klinge
haftete.
"Nein. Ich unterstütze den Jungen. Weicht
auf eine andere Straße aus oder sterbt."
Dies war ein Wort zu viel und die Tür
der organisch geformten Kutsche glitt sanft und geräuschlos nach oben
hinweg. Aus ihrem pechschwarzen Inneren drang grünlicher Rauch. Ein
mit dunklen Tüchern gewickeltes Bein kam hervor und befühlte
den Matsch, in welchem die Räder der Kutsche nunmehr zur Hälfte
versunken waren.
"Kutscher!", sprach eine zarte Kinderstimme.
"Was ist los? Warum fahren wir nicht mehr weiter?"
"Da habt ihr es!", stieß der Kutscher
aus. "Der Meister ist zornig!" Und nach hinten gewandt: "Ein Kind versperrt
uns den Weg, mein Meister."
"Wo ist das Problem? Überfahrt ihn, schickt
seiner Mutter einen Fresskorb. Und geizt dabei nicht mit der guten Mettwurst."
"Mein Meister, er hat eine Kartoffel!"
"Ganz recht! Und ich weiß damit umzugehen!
Zeigt Euch und findet Euren Meister in mir!", rief Justus und begann nervös
an der Kartoffelschale herumzupulen.
"Euch ist ein Fehler unterlaufen, Pöbel.
Ich selbst bin der Meister, nicht Ihr." Ein zweites Bein stach aus dem
Rauch hervor. "Denn ich bin der Unfehlbare. Der Gottesgleiche. Der letzte
Nachfahre König Salomos. Ich bin Lafayette."
"Der aus Hair?", fragte Redluff. Doch seine
sowieso mehr rhetorische Frage ging in den Faszinationsrufen der Zusehenden
unter, als Lafayette aus der Kutsche stieg und beifallsheischend um sich
blickte. Sein Haupt zierte ein scheiße riesiger Hut oder Helm, der
anscheinend Größe suggerieren sollte, denn es handelte sich
bei Lafayette offenkundig um einen Knaben von etwa sechs Lenzen. Langes
blondes Haar fiel harmonisch über seine Schultern und brachte einen
schönen Kontrast zu dem schwarzen Mantel und der ebenso schwarzen
Hockeymaske, die sein Gesicht verbarg. Er schritt vor die Kutsche und strich
den Pferden über die Schnauze, oder auch Nase.
"Zurück!", schrie Justus in Rage. "Oder
ich werfe! Und diese Kartoffel ist nicht gut durchgekocht!"
"Was kümmert es mich, ob Eure Mutter
nicht kochen kann?", fragte Lafayette, der mittlerweile einen metallisch
glänzenden Stab vom Kutscher entgegengenommen hatte. "Und nun macht
Platz oder erlebt die Macht meiner prallen Muskelberge, die gewillt sind,
Euch die verdorbene Seele aus dem Leibe zu prügeln."
Einen Moment hielten alle Beteiligten den
Atem an. Völlige Stille trat ein und drohte alles zu verschlucken.
Doch dann wurde sie gebrochen.
Denn Justus warf. Alle Blicke hefteten sich
an die Bahn der Kartoffel, die in der Dunkelheit weiße Linien hinter
sich herzuziehen schien. Es war eine schöne Flugbahn, ja das war es,
wohl wahr. Und sie traf Lafayette am Kopf, woraufhin er tonlos zu Boden
stürzte.
Doch just in diesem Moment, als die Knolle
Justus´ Hand verließ, stieß eine Schwarm Möwen in
die Schluchten der Häuser nieder und begruben Justus unter ihren fedrigen
Leibern. Redluff brauchte einige Sekunden um die Situation zu realisieren,
dann zog er sein Schwert und hieb auf die Vögel ein, die mit ihren
scharfen Schnäbeln danach dürsteten seine Augen zu zerstechen.
Aber sie schafften es nicht. Dank der rotgetünchten Sonnenbrille.
Blutige Federn stoben in den Himmel, die Menschen
staunten mit offenen Mündern und Redluff hackte dem letzten der bösartigen
Tiere den Kopf ab. Seine linke Hand war verletzt, ein großer Riss
im Handballen, doch das störte ihn nicht. Er musste dem Jungen helfen.
Dessen Gesicht war entstellt, klaffende Wunden
zierten seine Stirn. Doch er lächelte.
"Warum lächelt Ihr, Justus?", fragte
Redluff und kniete neben ihm nieder.
"Lafayette... ich habe ihn mit einer Kartoffel
gemordet", stöhnte er und verdrehte schmerzverzerrt die Augen. Redluff
sah zu Lafayette hinüber. Etwas Rotes tränkte seine Haare und
vermischte sich mit dem Matsch. "Ihr habt recht, bald werden ihn die Bettler
verspeist haben." Er sah zu, wie der Kutscher mit einem Stahlrohr versuchte
einige geifernde Gestalten von der Leiche fernzuhalten.
"Herr Redluff...", flüsterte Justus und
packte ihn am Arm. "Sorgt dafür, dass mir nicht das selbe passiert.
Ich scheide dahin... legt mir eine Kartoffel ins Grab." Er schloss die
Augen.
"Wegen der Möwen?"
"Nein... damit ich den Fährmann bezahlen
kann."
"Wofür braucht der Fährmann Kartoffeln?"
"Wegen der Möwen."
Und mit diesen Worten starb der sonderbarste
Junge, dem Redluff je begegnet war.
Währenddessen waren einige Büttel
auf hohen Pferden herangekommen und verscheuchten die Hungernden von der
Straße. Redluff hob Justus vom Boden und trug ihn zur Seite. Binnen
Sekunden hatte sich sein weißer Discoanzug dunkelrot verfärbt.
Aber das bemerkte er nicht. Wegen der rotgetünchten Sonnenbrille.
"Haben wir einen Bestattungsunternehmer hier?",
rief er in die Menge, die von ihm wegdrängte, um nicht auch von den
blutigen Stümpfen berührt zu werden.
"Ja", sagte Jemand. "Ich." Und der Jemand
trat vor und Redluff erschrak. Er kannte diesen Jemand nicht, doch er spürte
sofort die tiefe Boshaftigkeit, die in diesem Körper hauste.
O ja, sie hauste in diesem Leibe, sie war
nicht, wie in den anderen Bösen dieser Welt, angeboren. Sie benutzte
diesen Körper nur als Wirt. Er gab ihr Stoff zum Leben und sie wuchs
im Inneren ins Unermessliche.
Der Jemand war eine ansehnliche Erscheinung.
Hochgewachsen, gutaussehend, markante Gesichtszüge - nur das seltsame
Funkeln in seinen Augen ließ auf seine wahre Gesinnung schließen.
Doch wusste er seine Augen geschickt in dem Schatten seiner blauen Basecap
zu verbergen auf deren Vorderseite in weißen, leicht gelblichen,
Buchstaben das Wort SANDWORLD prankte. Er trug eine etwas verblichene Jeans
und an seinem Gürtel hingen mehrere abgewetzte Messer. Er lächelte
auf eine merkwürdige boshafte Weise und sah Redluff mit leicht hinab
gesenktem Kopf an.
"Ich nehme an, ihr wollt Eurem Sohn die letzte
Ehre erweisen?" Er wies auf Justus´ Leiche. Es war eine Art zu fragen,
die eine inbrünstige und kreischende Gier eines Monsters repräsentierte.
Redluffs Körper durchfuhr ein Schauer von Ekel.
"Er war nicht mein Sohn. Er war zu vollkommen,
als dass er ein irdisches Lebewesen hätte sein können", sagte
Redluff und überlegte sich, wie er den Bösen am besten wieder
los wurde. Nie im Leben würde er Justus´ Körper an eine
solche abscheuliche Kreatur abgeben. "Gibt es hier noch einen Bestattungsunternehmer?",
rief er in die Menge, doch selbige wich nur ängstlich von der Szenerie
zurück, da der Böse nun ein Messer hervorgeholt hatte und anfing
es mit einem Schleifstein zu wetzen. Redluff sah, wie eine junge Frau ihrem
Kind die Augen zuhielt und ihm sagte, es solle schnell nach Hause laufen
und sich im Kleiderschrank verstecken. Er kam zu dem Schluss, dass der
Böse wohl schon als solcher berüchtigt war und dass das Messerschleifen
nichts Gutes verhieß.
"Dann lasst den Jungen doch mal sehen. Dann
kann ich gleich anfangen." Der Böse griff langsam - fast genüsslich
- in die Tasche und holte einen Salzstreuer hervor. Auf einmal bemerkte
Redluff die rotverschmierte Serviette, die der Böse umgebunden hatte.
Dann kann ich gleich anfangen.
Redluff bewegte sich keinen Zentimeter, starrte
nur auf das zerhackte Gesicht der Leiche. Nein. Das würde er nicht
zulassen.
Die Augen des Bösen wurden rot vor Gier
und seine Zunge schlängelte sich widerlich aus dem Munde, um sich
über die Lippen zu lecken.
"Na los!", rief er. "Her damit! Ich werde
ihn entsorgen." Speichel tropfte auf die Straße, wurde sofort vom
Schlamm eingesogen, doch trotzdem stank er so bestialisch, dass er Redluff
den Atem nahm.
"Nun gut,", sagte Redluff, "Ihr könnt
ihn haben." In einer einzigen schwungvollen Bewegung warf er dem Bösen
die Leiche zu und zog blitzschnell seine Klinge aus der Scheide. Perplex
ließ der Böse Messer und Streuer fallen und taumelte zurück,
um den Körper aufzufangen. Doch dazu kam er nicht mehr. Redluff war
nach vorne gesprungen und hatte Justus mit dem Schwert in zwei Stücke
geteilt. Noch im Flug holte er ein zweites Mal aus und die Klinge sirrte
hinab, hinab auf die blaue SANDWORLD-Basecap. Für den Bösen blieb
keine Zeit um seine Überraschung zu mimen, in zwei Hälften sackte
sein Körper in sich zusammen, versank stinkend im Schlamm. Für
einen Augenblick hingen beide Teile Justus´ Leiche in der Luft, dann
beschrieben sie eine hohe Flugbahn und klatschten spritzend gegen eine
Hauswand. Nun war das letzte Blut, was in der Leiche enthalten gewesen
war, herausgequollen. Redluff inspizierte sein Machwerk.
"Nichts, was sich zu begraben lohnt", sprach
er und säuberte sein Schwert. Sein Herz trachtete nun nach einer Vanilla-Coke.
Er wandte sich um, um zurück ins Wirtshaus zu gehen, doch etwas hielt
ihn zurück.
Legt mir eine Kartoffel ins Grab. Ach
ja. Verdammt. Die Kartoffel. Das war die letzte verdammte Sache, die er
heute erledigte. Die er in seinem verdammten Leben erledigen sollte.
Am anderen Ende der Straße befand sich
eine kleine Lebensmitteldiscounter-Filiale. Dort gab es sicherlich Kartoffeln.
Drinnen war es hässlich. Wie in jedem
Lebensmitteldiscounter. Drinnen roch es nach Porree. Wie in jedem Lebensmitteldiscounter.
Mit großen Schritten näherte sich Redluff dem Gemüseregalen,
an deren Rückseite Spiegel befestigt waren. Warum machten sie das?
Eigentlich hatte Redluff seine Paranoia längst hinter sich gelassen,
doch nun packte sie ihn wieder. Waren es vielleicht gar keine Spiegel?
Vielleicht waren es verspiegelte Glasscheiben und hinter diesen saßen
Zwerge, die ihn beobachteten und darauf aufpassten, dass er keine Weintraube
stahl. Ein Schauer lief ihm den Rücken herunter.
Schnell griff er nach einem Sack Kartoffeln
und zog sich zur Kasse zurück. Gott sei Dank. Er musste nicht anstehen.
Die Ereignisse der letzten Zeit hatten die Menschen der umliegenden Häuserblocks
in ihre Wohnungen vertrieben.
Hinter der Kasse saß ein weißbekitteltes
Männlein, das teilnahmslos auf die Knäckebrotpreisliste starrte
und ab und zu feucht in die hohle Hand hustete.
"Ein Sack Kartoffeln?", fragte es, als Redluff
ihm eben diesen überreichte.
"Ich denke schon", antwortete Redluff. Das
Männlein betatschte die Kartoffeln einen Moment mit seinen schmierigen
Händen, bevor es irgendetwas in die Kasse eintippte.
"Das macht dann vierhundertsechzig Mark achtzig,
bitte." Inflation. Ein weiteres Übel dieser Stadt, da der Bürgermeister
aus Eigennutz vor ein paar Jahren ein paar Milliarden Mark gedruckt hatte.
Jetzt hatte er viele vollbusige Blondinen, war aber unbeliebter denn je.
Redluff händigte dem Kassierer das Geld
aus. Sein letztes Erspartes. Keine Vanilla-Coke heute.
Er stapfte zurück zu der blutigen Hauswand,
vor der die letzten Überreste Justus´ lagen. Er würde ihn
verbrennen. Den Bestattern hier war nicht zu trauen. Mit seinem Schwert
schlitzte er die Maschen des Kartoffelsacks auf und legte sie neben die
Leichenteile.
"Nun gehe dahin und finde einen Platz im Himmel",
sprach er und ließ ein Streichholz entflammen. Die Giftgase der Kraftwerke
hatten sich mittlerweile in den Poren der Leiche festgesetzt, so brannte
der Körper überraschend gut. Lediglich ein paar Kartoffeln blieben
liegen. Sie würden später von den Kindern gesammelt werden. Ein
Mahl für mehrere Wochen.
Und dann wieder das Gefühl nackt zu sein.
Es schlich sich in seinen Leib, nistete sich in seinen Innereien ein, fraß
ihn beinahe auf. Doch er würde es nicht zulassen. Noch nicht. Er wollte
nicht zum Opfer werden.
Und doch... doch zog Redluff seine Kapuze
über, um möglichst wenig Haut zu zeigen. Denn vielleicht hatte
Lafayette ja auch recht.
Das Feuer erlosch und nun war sich Redluff
sicher. Von nun an würde er seine Haut verstecken. Würde die
Kunde Lafayettes verbreiten. Aber warum verspürte er immer noch eine
solch starke Affinität zu Justus - dem Jungen, der den Großen
Lafayette mit einer Kartoffel gemordet hatte?
Zweifel kamen auf, spukten in seinem Kopf
herum, spielten ihm vor, verrückt zu sein. Er durfte jetzt aber nicht
von der richtigen - einzig richtigen - Seite, weichen. Denn da steckte
noch mehr dahinter. Hinter allem. Er musste nur noch einmal genau nachdenken.
Seine Erlebnisse Revue passieren lassen. Er war sich nun vollkommen sicher,
einem Geheimnis auf der Spur zu sein. Einem großen Geheimnis. Es
war seine Bestimmung - sein Karma - es zu lüften.
Doch würde er nie so weit kommen. Innerhalb
von wenigen Sekunden war er tot. Von hinten erstochen. Eine Diebin, die
nur nach seinem Geld trachtete, keines fand und stattdessen eine Kartoffel
mitnahm.
So lag Redluff nun da. Mausetot neben den
qualmenden Knochenresten. Das Gesicht im Schlamm.
Ein weiteres Essen für die Armen. Doch
das war nicht weiter schlimm. Redluff war sich sicher gewesen in den Himmel
aufzusteigen. Und dort war er jetzt. Bei dem Großen Lafayette und
lachte mit ihm auf Justus hinab, der in der Hölle litt. Denn: Nackte
Menschen sterben früher!
© Gloimann
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