Götterblut von KeyKeeper
Teil 8

"Ich möchte zur Hohepriesterin, ich habe wichtige Neuigkeiten für sie", erklärte Vhawiin dem Wachposten ruhig. Er sah sie musternd an und winkte dann einem anderen Soldaten, ihn auf seinem Posten zu vertreten. Als sie das zweite Mal durch dieses Lager eskortiert wurde, sah sie einige misstrauische Augen auf sich gerichtet, aber sie blieb ruhig, trotz des kribbelnden Gefühles in ihrem Magen. Beim Zelt der Hohepriesterin angekommen, schob der Wächter die Tücher vor dem Eingang beiseite und richtete leise Worte an jemanden darin.
Vhawiin wob vorsichtshalber einen Schutzzauber und machte sich bereit - aber nichts geschah. Sie wurde in das Zelt gewiesen und stand plötzlich wieder vor der jungen Priesterin.
"Ich habe eine Abmachung mit deinem Gott", ließ Vhawiin die Frau wissen, "es geht dabei um den Speer von Ber'racchnann..."
Verstehen blitzte in den Augen ihres Gegenübers auf und sie wurde nocheinmal gemustert.
"Mit dir hat mein Gott keine Abmachung - nur mit einer alten Frau!"
Als Vhawiins Mund sich öffnete erklang die Stimme der "Alten": "Ich möchte jetzt meine Abmachung einlösen! Ich verhandle nur mit deinem Gott, nicht mit dir!"
Die junge Frau knurrte, aber schloss die Augen und konzentrierte sich kurz. 

Als die knisternde Stimme von Nac'rastlen aus dem Mund der Priesterin erklang, stellten sich Vhawiins Nackenhaare auf.
"Ahhh, ziehst du es also vor, deine Gestalt öfters zu wandeln - einmal alte Frau, dann starker Mann, dann wieder junges Mädchen... nun, ganz wie du meinst, solange du deine Schwüre erfüllst."
"Sicherlich - hier habe ich den Speer von Ber'racchnann - verleihe mir Unverwundbarkeit gegen Feuer und Hitze!", sie legte den Speer vor sich auf den Boden. Die Priesterin griff danach, ein paar Herzschläge lang herrschte Schweigen als der Gott die Waffe betrachtete, dann brach ein Ohrenbetäubendes Geheule los:
"Betrügerin! Das ist nicht Ber'racchnanns Speer! Das kostet dich dein Leben!"
Aber statt zu antworten rief Vhawiin den geflügelten Löwen an: "Xall, Wächter meines Versprechens gegen diesen Gott, ich rufe dich zu meinem Zeugen!"
Diesmal fegte ein Windstoss durch das Zelt und erschütterte es, als plötzlich ein majestätischer Löwe mit gewaltigen Federschwingen zwischen Vhawiin und der Priesterin erschien.
"Sie hat mich betrogen", kreischte Nac'rastlen und zeigte auf die "Stimme der Göttin".
"Ich habe dir den Speer von Ber'racchnann gebracht!", antwortete sie jetzt ruhig, "Mehr hat unsere Abmachung nicht beinhaltet!"
Der Löwe sah fragend zwischen den beiden hin und her, warf schließlich einen Blick auf den Speer und schaffte es dann, mit seinem Tiergesicht zu grinsen.
"So wie ich das sehe, hat sie Recht, Nac'rastlen. Dies ist Ber'racchnanns Speer, daran besteht kein Zweifel - nur trägt er keine Magie mehr. Aber von magischer Kraft war in dem Schwur auch nie die Rede - dank deiner Eile geht es dabei nur um den Speer", Xall klang wirklich amüsiert.
"Unverwundbarkeit...", begann Vhawiin und zog heimlich ein Stück Rik-Rinde aus ihrer Tasche.
"... gegen Feuer und Hitze, ich weiß", zischte Nac'rastlen, "aber dann ist unsere Abmachung auch schon beendet!"
Er zerbrach den Speer und wandte sich seinem Gegenüber zu.
Vhawiin fühlte neben ihrer eigenen Kraft und der noch etwas fremden Sturmmacht neue, heiße Magie in ihren Körper fließen und schob sich gleichzeitig das Rindenstück in den Mund. Ihre Umgebung wurde neblig während ihr Blut zu kochen begann und ihr die Hitze ins Fleisch überging, bis sie nur noch angenehme Wärme spürte.

Plötzlich spürte sie einen würgenden Griff an ihrer Kehle und schnappte vergeblich nach Luft. Ein Haken in die Bauchregion der angreifenden Hohepriesterin befreite sie davon und sie stolperte nach draußen, vor das Zelt.
Mit Wutgeschrei stürmte ihre Gegnerin hinter ihr her und wollte sich auf sie stürzen, als eine Windböe die Dienerin des Feuergottes von den Füssen riss und auf ihr eigenes Zelt schleuderte.
Vhawiin lächelte kalt und trat einige Schritte zurück. Als die andere benommen den Kopf hob, schlug der Blitz in ihren Körper ein.
Die Wächter, die auf Vhawiin losgehen hatten wollen, drehten noch im Schritt herum und ergriffen die Flucht - wer die Hohepriesterin besiegen konnte, der war wirklich gefährlich, zu gefährlich für einen einfachen Krieger!

Aber nur den körperlichen Kampf hatte Vhawiin gewonnen, denn schon konnte sie einen großen, dämonisch geformten Nebelfetzen von der toten Priesterin auf sich zuschießen sehen und spürte eiserne Klauen in ihrem Geist. Instinktiv verstärkte sie ihren Schutzzauber und hielt Nac'rastlens vernichtenden Griff fern.
Sie hatte schon mit Ber'racchnanns - fast schon lebendigem - Speer gerungen und auch jetzt schlug sie in heftiger Gegenwehr ihre geistigen Krallen in den wütenden Gott. Statt ihn würgen und töten zu wollen, so wie der Gott es mit ihr vorhatte, drang sie jedoch auf seinen Schutzpanzer, seine magische Rüstung, ein und versuchte, diesen zu durchbrechen. 
Mit klarem, von Hass unvernebeltem Kopf, suchte sie die schwächste Stelle in seiner Abwehr, während er wütend auf sie einstürmte. 
Dabei wurde aber unglücklicherweise ihr eigener Panzer immer schwächer und Nac'rastlen, der "Blut" geleckt hatte, kämpfte immer zorniger.
Angst sickerte in ihr Gehirn und ihr Suchen wurde verzweifelt - bis Nac'rastlen in seiner Berserkerwut zu unachtsam wurde und das war ihre Rettung:
Die Lücke in seiner "Deckung" tat sich auf und sie schlug so plötzlich zu, dass der Feuergott sich nichteinmal wehren konnte. 

Und schon saugte sie lustvoll die Magie aus seiner Seele, vier hastige Schlucke hatte sie Zeit, bevor Nac'rastlen sich wieder fing und sie zurückdrängte. Doch die Gier nach seiner Kraft ergriff jetzt vollkommen von Vhawiin Besitz und ohne nachzudenken gebrauchte sie all ihre Macht, um ihre geistigen Fänge tief in seine geschwächte Seele zu schlagen und wie ein Raubtier mit unaufhaltbarem Verlangen sein magisches Blut auszusaugen. Mit jedem Schluck wurde sie stärker und er schwächer und seine verzweifelten Versuche, sich aufzubäumen und zu wehren, währten nur wenige Minuten.
Schließlich löste der Nebel von Nac'rastlens körperloser Existenz, den Vhawiin sah, sich vollkommen auf.
Die "Stimme der Göttin" hatte schon von der Druidin erfahren, dass auch die meisten Geister, Götter und Dämonen sterben konnten, dass sie nur ungleich mächtiger waren. In diesem Fall allerdings auch ungleich dümmer.

Dann war es ruhig, so ruhig, dass man die ersten Regentropfen des Gewitters auf den sandig-staubigen Boden fallen hören konnte. Und schließlich legte Vhawiin ihren Kopf in den Nacken und tief aus ihrem Bauch drang ein unmenschlicher Siegesschrei durch ihre Kehle und fegte über das Lager hinweg.
Den Soldaten gefror das Blut in den Adern und sie rührten sich nicht vom Fleck. 
Einige Sekunden lang genoss Vhawiin ihren Triumph, dann verstummte sie, schloss kurz die Augen und richtete dann einen durchbohrenden, kalt-glühenden Blick auf die Leute vor ihr.

"Ihr wart die Diener Nac'rastlens, doch dieser ist tot!", begann sie in hartem Tonfall und mit der unirdischen Stimme von Kir'iri'jath und wählte ihre Worte möglichst beeindruckend. "Zerreißt alle seine Fahnen und Zeichen, denn er wird niemals zurückkehren!
Die unter euch, die nun mir, Kir'iri'jath, der Sendbotin der Ewigkeit, folgen wollen, sollen sich meiner Dienerin Vhawiin anschließen, durch die ich jetzt spreche. Die anderen sollen auf der Stelle dorthin zurückkehren, woher sie kamen und nie wieder eine Waffe in die Hand nehmen und es auch sonst nicht wagen, sich gegen mich zu stellen!"
Die Soldaten wagten keine Bewegung. 
"Los!", donnerte Vhawiin und ließ in der Ferne einen Blitz zucken, um ihre Worte zu untermauern.

***

Weniger als ein Drittel der Männer und der wenigen Frauen packten zögernd, wie vor den Kopf geschlagen, ihre Sachen, um das Lager endgültig zu verlassen.
Die anderen machten sich ebenso langsam daran, alle Fahnen und Zeichen des Feuergottes zu zerreißen.

Währenddessen nahm Vhawiin die unversehrten Schmuckstücke der toten Hohepriesterin an sich: eine goldene Kette mit einem runden Stein, in welchem rotglühender Nebel wallte und eine Brosche, die mit wunderbaren Rubinen besetzt war. Intensiv betrachtete sie die beiden Gegenstände mit ihrem magischen Auge: die Brosche war ein normales Stück Metall, die Kette jedoch - wie sie erwartet hatte - mit Kraft gefüllt. 
Und als sie länger auf den roten Stein an der Kette starrte, enthüllte sich ihr auch, zu was er diente: es war eine Zauberfessel, mit der der Feuergott seine Hohepriesterin in seiner Gewalt gehalten hatte - oder hätte halten können, wäre das jemals nötig geworden. Misstrauisch war er gewesen, aber leider nicht clever genug...
Nachdenklich die kühlen Kettenglieder durch die Finger der linken Hand schiebend, wühlte sie unter der Zeltplane und zog ihren Beutel daraus hervor. Die Kette, die Brosche und alle anderen wertvollen Gegenstände, die sie auf die Schnelle unter dem Zelt fand, verschwanden darin. Damit würde sie sich irgendwann später beschäftigen.

Dann schritt sie durch das Lager und beobachtete die Menschen, die ihr respektvoll auswichen, bis sie in einem engen Weg zwischen zwei Zelten über einen schlaff ausgestreckten Fuß stolperte.
Erstaunt drehte sie sich um und betrachtete die Frau, die halb regungslos am Boden lag, mit eingefallenem und verquollenem Gesicht und sie aus trüben Augen ansah. Die Kriegerin war betrunken und dreckig und lallte vor sich hin, aber irgendetwas an ihr erregte Vhawiins Aufmerksamkeit.
"Ich habe ihn getötet - einfach so, weil ich glaubte dem Gott damit zu gefallen... Warum hört er nicht auf, mich anzuschauen!"
Die zerstörte Frau am Boden murmelte vor sich hin. Vhawiin überlegte.
"Der Gott ist tot", sagte sie zu der Kriegerin, "Steh auf!"
Zuerst erntete sie nur ein verständnisloses Starren, dann einen wütenden Fußtritt: "Was willst du von mir!? Ich werde nicht mehr..."
"Du wirst jetzt aufstehen und mit mir kommen! Du wirst mit mir diesen Landstrich von diesen zwei Raufbolden von Göttern und ihren Bluthunden befreien! Du hast eine Schuld zu bezahlen, das kann ich sehen"
"Was weißt du schon von meiner Schuld!"
"Mehr als du vom Leben: was geschehen ist, kann nicht mehr rückgängig gemacht werden - aber du kannst immerhin versuchen, die Folgen gedankenlosen Tötens zu beheben! Steh auf!"
Und tatsächlich rappelte sich die knapp Dreißigjährige mühsam auf und folgte Vhawiin. 

***

Am nächsten Morgen sah das Lager von Nac'rastlen - oder jetzt besser das von Kir'iri'jath - anders aus als noch am Tag zuvor: es war etwas kleiner und außerdem ungefähr hundert Schritt weiter nördlich neu aufgebaut worden, um die Zelte neu zu gruppieren. Neue Fahnen wehten über den Zelten: ein schwarzer Kreis und darin ein stilisiertes Auge, Kir'iri'jaths - am gestrigen Tag eilig ausgedachtes - Symbol. Die Wächter standen gerade und streng dreinblickend auf ihren Posten - Vhawiin hatte ihnen den Tod angedroht, falls sie einschliefen... 

Ein neues Zelt stand in der Mitte des Lagers und darin saßen jetzt die "Stimme der Göttin" und das "Schwert der Stimme": eine blonde Frau in den Dreißigern, die mit der betrunkenen Kriegerin vom vorigen Tag nicht mehr viel gemeinsam hatte. Khalan, so hieß sie, war inzwischen gewaschen und in die besten Kleider gehüllt, die man im Lager hatte finden können, denn sie war jetzt die neue Führerin des Heeres.
Auch Birad lag in diesem Zelt, schlafend unter Vhawiins alter Decke eingerollt und sichtlich zufrieden, dass man seiner Freundin solchen Respekt zollte - wenn er auch nicht ganz verstand, warum... Es ging ihm wesentlich besser als noch vor Tagen bei seinem Onkel.

Den restlichen gestrigen Tag hatte Vhawiin sich mit Khalan unterhalten und aus der zerstörten Frau langsam eine geniale Kriegerin hervorgelockt, die eine Menge von Kriegsführung und Kampf verstand. 
Und auch die Vergangenheit der Frau hatte sie erfahren: Khalan hatte einen ihrer Verehrer getötet, einfach um ihren Gott - Nac'rastlen - damit zu ehren und ihm zu gefallen. Dann hatte sie die wahre Natur des wechselhaften Gottes kennengelernt und bereute seitdem ihre arrogante und grausame Tat. Die letzten Wochen hatte sie sich jeden Abend betrunken um zu vergessen und doch war ihr das nie gelungen.

Vhawiin machte ihr ein Angebot, um ihr die Abbitte für ihre Schuld zu ermöglichen: Khalan sollte der "Stimme der Göttin" mit ihren kriegerischen Fähigkeiten helfen, Ber'racchnanns Heer zu vertreiben und der Steppe und ihren ehemaligen Bewohnern wieder zu Leben zu verhelfen. Und tatsächlich nahm Khalan die Stellung als "Schwert der Stimme", als neue Generalin des Heeres an.

Die Nacht hindurch hatten die beiden die neuen Führungsleute des Heeres aufgestellt, wobei ihnen Khalans Erfahrung und Kenntnisse gut zustatten kamen. Und auch nach dem Kampf gegen Ber'racchnann, das war Vhawiin bald klar, musste sie diese hervorragende Strategin als Heerführerin an sich binden...

***

Das Schwert der Stimme aber berichtete uns: Zwei Tage nachdem Kir'iri'jath den üblen Feuerdämon Nac'rastlen gerichtet hatte, war das Heilige Heer losgezogen, um auch den Donnerdämon Ber'racchnann zu stellen. Das Heilige Heer siegte schnell über die Horden des Dämons und der Anführer der Unheiligen starb im Feuer des Zorns von Kir'iri'jath. 
Dann aber kehrten die Stimme und das Heer zusammen mit den Anhängern Ber'raccnanns, die sich bekehren ließen, zurück zum Zeltdorf der Flüchtlinge und dort verkündete die Stimme der Göttin, dass die Steppe nun wieder frei sei von den üblen Dämonen und dass die Leute zurückkehren könnten in ihre alte Heimat oder Kir'iri'jath folgen, um durch sie wahre Größe zu erlangen. Viele aber folgten nun der Sendbotin der Ewigkeit, gepriesen werde ihr Name!
 

Und hier geht es zu Götterblut - Teil 9!
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