"Ich möchte zur Hohepriesterin, ich habe wichtige Neuigkeiten
für sie", erklärte Vhawiin dem Wachposten ruhig. Er sah sie musternd
an und winkte dann einem anderen Soldaten, ihn auf seinem Posten zu vertreten.
Als sie das zweite Mal durch dieses Lager eskortiert wurde, sah sie einige
misstrauische Augen auf sich gerichtet, aber sie blieb ruhig, trotz des
kribbelnden Gefühles in ihrem Magen. Beim Zelt der Hohepriesterin
angekommen, schob der Wächter die Tücher vor dem Eingang beiseite
und richtete leise Worte an jemanden darin.
Vhawiin wob vorsichtshalber einen Schutzzauber und machte sich bereit
- aber nichts geschah. Sie wurde in das Zelt gewiesen und stand plötzlich
wieder vor der jungen Priesterin.
"Ich habe eine Abmachung mit deinem Gott", ließ Vhawiin die
Frau wissen, "es geht dabei um den Speer von Ber'racchnann..."
Verstehen blitzte in den Augen ihres Gegenübers auf und sie
wurde nocheinmal gemustert.
"Mit dir hat mein Gott keine Abmachung - nur mit einer alten Frau!"
Als Vhawiins Mund sich öffnete erklang die Stimme der "Alten":
"Ich möchte jetzt meine Abmachung einlösen! Ich verhandle nur
mit deinem Gott, nicht mit dir!"
Die junge Frau knurrte, aber schloss die Augen und konzentrierte
sich kurz.
Als die knisternde Stimme von Nac'rastlen aus dem Mund der Priesterin
erklang, stellten sich Vhawiins Nackenhaare auf.
"Ahhh, ziehst du es also vor, deine Gestalt öfters zu wandeln
- einmal alte Frau, dann starker Mann, dann wieder junges Mädchen...
nun, ganz wie du meinst, solange du deine Schwüre erfüllst."
"Sicherlich - hier habe ich den Speer von Ber'racchnann - verleihe
mir Unverwundbarkeit gegen Feuer und Hitze!", sie legte den Speer vor sich
auf den Boden. Die Priesterin griff danach, ein paar Herzschläge lang
herrschte Schweigen als der Gott die Waffe betrachtete, dann brach ein
Ohrenbetäubendes Geheule los:
"Betrügerin! Das ist nicht Ber'racchnanns Speer! Das kostet
dich dein Leben!"
Aber statt zu antworten rief Vhawiin den geflügelten Löwen
an: "Xall, Wächter meines Versprechens gegen diesen Gott, ich rufe
dich zu meinem Zeugen!"
Diesmal fegte ein Windstoss durch das Zelt und erschütterte
es, als plötzlich ein majestätischer Löwe mit gewaltigen
Federschwingen zwischen Vhawiin und der Priesterin erschien.
"Sie hat mich betrogen", kreischte Nac'rastlen und zeigte auf die
"Stimme der Göttin".
"Ich habe dir den Speer von Ber'racchnann gebracht!", antwortete
sie jetzt ruhig, "Mehr hat unsere Abmachung nicht beinhaltet!"
Der Löwe sah fragend zwischen den beiden hin und her, warf
schließlich einen Blick auf den Speer und schaffte es dann, mit seinem
Tiergesicht zu grinsen.
"So wie ich das sehe, hat sie Recht, Nac'rastlen. Dies ist Ber'racchnanns
Speer, daran besteht kein Zweifel - nur trägt er keine Magie mehr.
Aber von magischer Kraft war in dem Schwur auch nie die Rede - dank deiner
Eile geht es dabei nur um den Speer", Xall klang wirklich amüsiert.
"Unverwundbarkeit...", begann Vhawiin und zog heimlich ein Stück
Rik-Rinde aus ihrer Tasche.
"... gegen Feuer und Hitze, ich weiß", zischte Nac'rastlen,
"aber dann ist unsere Abmachung auch schon beendet!"
Er zerbrach den Speer und wandte sich seinem Gegenüber zu.
Vhawiin fühlte neben ihrer eigenen Kraft und der noch etwas
fremden Sturmmacht neue, heiße Magie in ihren Körper fließen
und schob sich gleichzeitig das Rindenstück in den Mund. Ihre Umgebung
wurde neblig während ihr Blut zu kochen begann und ihr die Hitze ins
Fleisch überging, bis sie nur noch angenehme Wärme spürte.
Plötzlich spürte sie einen würgenden Griff an ihrer
Kehle und schnappte vergeblich nach Luft. Ein Haken in die Bauchregion
der angreifenden Hohepriesterin befreite sie davon und sie stolperte nach
draußen, vor das Zelt.
Mit Wutgeschrei stürmte ihre Gegnerin hinter ihr her und wollte
sich auf sie stürzen, als eine Windböe die Dienerin des Feuergottes
von den Füssen riss und auf ihr eigenes Zelt schleuderte.
Vhawiin lächelte kalt und trat einige Schritte zurück.
Als die andere benommen den Kopf hob, schlug der Blitz in ihren Körper
ein.
Die Wächter, die auf Vhawiin losgehen hatten wollen, drehten
noch im Schritt herum und ergriffen die Flucht - wer die Hohepriesterin
besiegen konnte, der war wirklich gefährlich, zu gefährlich für
einen einfachen Krieger!
Aber nur den körperlichen Kampf hatte Vhawiin gewonnen, denn
schon konnte sie einen großen, dämonisch geformten Nebelfetzen
von der toten Priesterin auf sich zuschießen sehen und spürte
eiserne Klauen in ihrem Geist. Instinktiv verstärkte sie ihren Schutzzauber
und hielt Nac'rastlens vernichtenden Griff fern.
Sie hatte schon mit Ber'racchnanns - fast schon lebendigem - Speer
gerungen und auch jetzt schlug sie in heftiger Gegenwehr ihre geistigen
Krallen in den wütenden Gott. Statt ihn würgen und töten
zu wollen, so wie der Gott es mit ihr vorhatte, drang sie jedoch auf seinen
Schutzpanzer, seine magische Rüstung, ein und versuchte, diesen zu
durchbrechen.
Mit klarem, von Hass unvernebeltem Kopf, suchte sie die schwächste
Stelle in seiner Abwehr, während er wütend auf sie einstürmte.
Dabei wurde aber unglücklicherweise ihr eigener Panzer immer
schwächer und Nac'rastlen, der "Blut" geleckt hatte, kämpfte
immer zorniger.
Angst sickerte in ihr Gehirn und ihr Suchen wurde verzweifelt -
bis Nac'rastlen in seiner Berserkerwut zu unachtsam wurde und das war ihre
Rettung:
Die Lücke in seiner "Deckung" tat sich auf und sie schlug so
plötzlich zu, dass der Feuergott sich nichteinmal wehren konnte.
Und schon saugte sie lustvoll die Magie aus seiner Seele, vier hastige
Schlucke hatte sie Zeit, bevor Nac'rastlen sich wieder fing und sie zurückdrängte.
Doch die Gier nach seiner Kraft ergriff jetzt vollkommen von Vhawiin Besitz
und ohne nachzudenken gebrauchte sie all ihre Macht, um ihre geistigen
Fänge tief in seine geschwächte Seele zu schlagen und wie ein
Raubtier mit unaufhaltbarem Verlangen sein magisches Blut auszusaugen.
Mit jedem Schluck wurde sie stärker und er schwächer und seine
verzweifelten Versuche, sich aufzubäumen und zu wehren, währten
nur wenige Minuten.
Schließlich löste der Nebel von Nac'rastlens körperloser
Existenz, den Vhawiin sah, sich vollkommen auf.
Die "Stimme der Göttin" hatte schon von der Druidin erfahren,
dass auch die meisten Geister, Götter und Dämonen sterben konnten,
dass sie nur ungleich mächtiger waren. In diesem Fall allerdings auch
ungleich dümmer.
Dann war es ruhig, so ruhig, dass man die ersten Regentropfen des
Gewitters auf den sandig-staubigen Boden fallen hören konnte. Und
schließlich legte Vhawiin ihren Kopf in den Nacken und tief aus ihrem
Bauch drang ein unmenschlicher Siegesschrei durch ihre Kehle und fegte
über das Lager hinweg.
Den Soldaten gefror das Blut in den Adern und sie rührten sich
nicht vom Fleck.
Einige Sekunden lang genoss Vhawiin ihren Triumph, dann verstummte
sie, schloss kurz die Augen und richtete dann einen durchbohrenden, kalt-glühenden
Blick auf die Leute vor ihr.
"Ihr wart die Diener Nac'rastlens, doch dieser ist tot!", begann
sie in hartem Tonfall und mit der unirdischen Stimme von Kir'iri'jath und
wählte ihre Worte möglichst beeindruckend. "Zerreißt alle
seine Fahnen und Zeichen, denn er wird niemals zurückkehren!
Die unter euch, die nun mir, Kir'iri'jath, der Sendbotin der Ewigkeit,
folgen wollen, sollen sich meiner Dienerin Vhawiin anschließen, durch
die ich jetzt spreche. Die anderen sollen auf der Stelle dorthin zurückkehren,
woher sie kamen und nie wieder eine Waffe in die Hand nehmen und es auch
sonst nicht wagen, sich gegen mich zu stellen!"
Die Soldaten wagten keine Bewegung.
"Los!", donnerte Vhawiin und ließ in der Ferne einen Blitz
zucken, um ihre Worte zu untermauern.
***
Weniger als ein Drittel der Männer und der wenigen Frauen packten
zögernd, wie vor den Kopf geschlagen, ihre Sachen, um das Lager endgültig
zu verlassen.
Die anderen machten sich ebenso langsam daran, alle Fahnen und Zeichen
des Feuergottes zu zerreißen.
Währenddessen nahm Vhawiin die unversehrten Schmuckstücke
der toten Hohepriesterin an sich: eine goldene Kette mit einem runden Stein,
in welchem rotglühender Nebel wallte und eine Brosche, die mit wunderbaren
Rubinen besetzt war. Intensiv betrachtete sie die beiden Gegenstände
mit ihrem magischen Auge: die Brosche war ein normales Stück Metall,
die Kette jedoch - wie sie erwartet hatte - mit Kraft gefüllt.
Und als sie länger auf den roten Stein an der Kette starrte,
enthüllte sich ihr auch, zu was er diente: es war eine Zauberfessel,
mit der der Feuergott seine Hohepriesterin in seiner Gewalt gehalten hatte
- oder hätte halten können, wäre das jemals nötig geworden.
Misstrauisch war er gewesen, aber leider nicht clever genug...
Nachdenklich die kühlen Kettenglieder durch die Finger der
linken Hand schiebend, wühlte sie unter der Zeltplane und zog ihren
Beutel daraus hervor. Die Kette, die Brosche und alle anderen wertvollen
Gegenstände, die sie auf die Schnelle unter dem Zelt fand, verschwanden
darin. Damit würde sie sich irgendwann später beschäftigen.
Dann schritt sie durch das Lager und beobachtete die Menschen, die
ihr respektvoll auswichen, bis sie in einem engen Weg zwischen zwei Zelten
über einen schlaff ausgestreckten Fuß stolperte.
Erstaunt drehte sie sich um und betrachtete die Frau, die halb regungslos
am Boden lag, mit eingefallenem und verquollenem Gesicht und sie aus trüben
Augen ansah. Die Kriegerin war betrunken und dreckig und lallte vor sich
hin, aber irgendetwas an ihr erregte Vhawiins Aufmerksamkeit.
"Ich habe ihn getötet - einfach so, weil ich glaubte dem Gott
damit zu gefallen... Warum hört er nicht auf, mich anzuschauen!"
Die zerstörte Frau am Boden murmelte vor sich hin. Vhawiin
überlegte.
"Der Gott ist tot", sagte sie zu der Kriegerin, "Steh auf!"
Zuerst erntete sie nur ein verständnisloses Starren, dann einen
wütenden Fußtritt: "Was willst du von mir!? Ich werde nicht
mehr..."
"Du wirst jetzt aufstehen und mit mir kommen! Du wirst mit mir diesen
Landstrich von diesen zwei Raufbolden von Göttern und ihren Bluthunden
befreien! Du hast eine Schuld zu bezahlen, das kann ich sehen"
"Was weißt du schon von meiner Schuld!"
"Mehr als du vom Leben: was geschehen ist, kann nicht mehr rückgängig
gemacht werden - aber du kannst immerhin versuchen, die Folgen gedankenlosen
Tötens zu beheben! Steh auf!"
Und tatsächlich rappelte sich die knapp Dreißigjährige
mühsam auf und folgte Vhawiin.
***
Am nächsten Morgen sah das Lager von Nac'rastlen - oder jetzt
besser das von Kir'iri'jath - anders aus als noch am Tag zuvor: es war
etwas kleiner und außerdem ungefähr hundert Schritt weiter nördlich
neu aufgebaut worden, um die Zelte neu zu gruppieren. Neue Fahnen wehten
über den Zelten: ein schwarzer Kreis und darin ein stilisiertes Auge,
Kir'iri'jaths - am gestrigen Tag eilig ausgedachtes - Symbol. Die Wächter
standen gerade und streng dreinblickend auf ihren Posten - Vhawiin hatte
ihnen den Tod angedroht, falls sie einschliefen...
Ein neues Zelt stand in der Mitte des Lagers und darin saßen
jetzt die "Stimme der Göttin" und das "Schwert der Stimme": eine blonde
Frau in den Dreißigern, die mit der betrunkenen Kriegerin vom vorigen
Tag nicht mehr viel gemeinsam hatte. Khalan, so hieß sie, war inzwischen
gewaschen und in die besten Kleider gehüllt, die man im Lager hatte
finden können, denn sie war jetzt die neue Führerin des Heeres.
Auch Birad lag in diesem Zelt, schlafend unter Vhawiins alter Decke
eingerollt und sichtlich zufrieden, dass man seiner Freundin solchen Respekt
zollte - wenn er auch nicht ganz verstand, warum... Es ging ihm wesentlich
besser als noch vor Tagen bei seinem Onkel.
Den restlichen gestrigen Tag hatte Vhawiin sich mit Khalan unterhalten
und aus der zerstörten Frau langsam eine geniale Kriegerin hervorgelockt,
die eine Menge von Kriegsführung und Kampf verstand.
Und auch die Vergangenheit der Frau hatte sie erfahren: Khalan hatte
einen ihrer Verehrer getötet, einfach um ihren Gott - Nac'rastlen
- damit zu ehren und ihm zu gefallen. Dann hatte sie die wahre Natur des
wechselhaften Gottes kennengelernt und bereute seitdem ihre arrogante und
grausame Tat. Die letzten Wochen hatte sie sich jeden Abend betrunken um
zu vergessen und doch war ihr das nie gelungen.
Vhawiin machte ihr ein Angebot, um ihr die Abbitte für ihre
Schuld zu ermöglichen: Khalan sollte der "Stimme der Göttin"
mit ihren kriegerischen Fähigkeiten helfen, Ber'racchnanns Heer zu
vertreiben und der Steppe und ihren ehemaligen Bewohnern wieder zu Leben
zu verhelfen. Und tatsächlich nahm Khalan die Stellung als "Schwert
der Stimme", als neue Generalin des Heeres an.
Die Nacht hindurch hatten die beiden die neuen Führungsleute
des Heeres aufgestellt, wobei ihnen Khalans Erfahrung und Kenntnisse gut
zustatten kamen. Und auch nach dem Kampf gegen Ber'racchnann, das war Vhawiin
bald klar, musste sie diese hervorragende Strategin als Heerführerin
an sich binden...
***
Das Schwert der Stimme aber berichtete uns: Zwei Tage nachdem
Kir'iri'jath den üblen Feuerdämon Nac'rastlen gerichtet hatte,
war das Heilige Heer losgezogen, um auch den Donnerdämon Ber'racchnann
zu stellen. Das Heilige Heer siegte schnell über die Horden des Dämons
und der Anführer der Unheiligen starb im Feuer des Zorns von Kir'iri'jath.
Dann aber kehrten die Stimme und das Heer zusammen mit den Anhängern
Ber'raccnanns, die sich bekehren ließen, zurück zum Zeltdorf
der Flüchtlinge und dort verkündete die Stimme der Göttin,
dass die Steppe nun wieder frei sei von den üblen Dämonen und
dass die Leute zurückkehren könnten in ihre alte Heimat oder
Kir'iri'jath folgen, um durch sie wahre Größe zu erlangen. Viele
aber folgten nun der Sendbotin der Ewigkeit, gepriesen werde ihr Name!
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