Am nächsten Morgen war Wilhelm bereits früh auf den Beinen.
Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als er vor die Haustür trat.
Hunderte Sterne funkelten am finsteren Himmel und der graue Halbmond beleuchtete
die Dächer der Stadt. Prüfend sog er die Morgenluft ein. Ihre
Kälte ließ ihn frösteln, frischte ihn auf.
Er schulterte seinen Rucksack, prüfte, ob Geldbeutel, Schwert
und Dolch an rechter Stelle waren, und machte sich auf den Weg zu den Drachengehegen.
Nach zehn Schritten blieb er jedoch wie verwurzelt stehen. Er würde
sein Zuhause für eine lange Zeit verlassen. Wer wusste, ob er überhaupt
wiederkehrte.
Für einen letzten Blick drehte er sich um. Dort stand es, das
behagliche kleine Haus, das er sich mit seinem Bruder, Helmut, teilte.
Die Fensterläden waren alle geschlossen und die Tür hatte er
mit drei Schlössern verriegelt. Einbrecher fürchtete er sowieso
nicht. Er hatte nichts zu verlieren. Das Dach bestand aus Stroh und Holz
und die Wände waren aus dunkelgrauem Stein erbaut worden.
Somit glich es fast allen anderen Häusern in der Gasse, die
nun in Dunkelheit lagen. Nichts Besonderes.
Aber seine Eltern hatten sich wohl nicht mehr leisten können.
Er hatte sie nie gekannt, doch ihm wurde erzählt, sie seien von Räubern
erstochen worden. Mit seinem Bruder wurde er dann in einem Waisenhaus großgezogen.
Helmut war ein Jahr älter und konnte dann mit sechzehn das Haus als
volljähriger übernehmen. Er ging in die Armee, weil er
meinte, das sei das einzige, wofür er taugte. Wilhelm folgte ihm ein
Jahr später.
Sein älterer Bruder war jedoch immer der bessere Kämpfer
gewesen. Er war überhaupt in jeder Disziplin der Beste. Schon bald
fiel er den Ausbildern ins Auge. Und, da der Krieg mit Baran immer Soldaten
forderte, wurde er mit siebzehn bereits in seine ersten Schlachten geschickt.
Dann lief alles schneller ab als zuvor.
Er wurde mit Beförderungen geradezu überhäuft, bis
er schließlich mit zwanzig Hauptmann wurde. Zu seinem Glück
hatte er die Beziehung zu seinen Vorgesetzten stets gut gepflegt und er
bekam vom Stadtherrn persönlich Bodin, einen mächtigen Gebirgsdrachen,
überreicht,
was für einen nichtadligen schon fast unverschämt war.
Mit heimlichen Verhandlungen und ein paar Flaschen Wein konnte er
schließlich für Wilhelm einen Jungdrachen gewinnen und sein
kleiner Bruder konnte sich absofort zu den Drachenreitern zählen.
Anfangs wurde er noch verachtet, weil er den Drachen nur Helmut zu verdanken
hatte, doch nach einigen Wochen schon legte sich der Zorn der anderen Reiter.
Wilhelm war keineswegs neidisch auf seinen Bruder. Er hatte sich
immer für dessen Erfolge gefreut, weil er das Einzige war, was er
hatte. Und genau deshalb musste er ihm jetzt zu Hilfe eilen.
.
Auf den Straßen war niemand außer einigen Bettlern, die
zusammengekauert im Staub lagen, zu sehen, als er durch sie eilte. Das
Kettenhemd unter seinem dunklen Mantel rasselte im Rhythmus seiner hastigen
Schritte.
Theobald würde wahrscheinlich schon auf ihn warten, er hatte
es nicht so weit bis zu den Gehegen. Doch Wilhelm musste erst die halbe
Stadt durchqueren.
Er hielt auf das Herrenhaus zu, das von fast überall zu sehen
war, da es jedes andere Gebäude um Längen überragte und
dazu auch noch etwas erhöht lag. Unmittelbar dahinter befanden sich
die Gehege.
Die Drachen waren zu jeder Zeit frei, konnten sie verbringen wie
sie wollten. Die meisten jagten tagsüber im Wald nach Wild und kehrten
nur heim, um sich auszuruhen. Doch es gab ein Horn, das meilenweit zu hören
war und sie alle wieder versammelte, wenn sie ihre Pflicht als Reittiere
erfüllen mussten.
Nachtsüber schliefen die Drachen, was in ihrer Natur lag. Meistens
benutzten vier Drachen ein Gehege gemeinsam.
Es gab selten Streit zwischen den Tieren, weil sie eher Einzelgänger
waren und nur zur Paarung im Frühling zusammenkamen.
Das war wohl die interessanteste Zeit für den Menschen und
auch die gefährlichste. Die Männchen wurden durch die Wettkämpfe
um Weibchen aggressiv und ungehorsam, während die Weibchen in ihrer
Sturheit erst gar nicht das Gehege verließen, wenn nach den Wettkämpfen
überhaupt noch welche unversehrt blieben. War diese Zeit erst vorbei,
kehrte wieder Ruhe und Frieden ein.
Nach fünf Monaten nahte dann die Stunde des neuen Lebens und
die Jungdrachen erblickten das Licht der Welt. Die Geburt verlief ziemlich
schnell und schien den Weibchen kaum Schmerzen zu bereiten. Sie übernahmen
auch die Erziehung des Nachwuchses, die Männchen interessierten sich
nicht besonders dafür.
Wilhelm schlich inzwischen durchs Adelsviertel, das das Herrenhaus
umschloss. Er war vorsichtiger geworden, da es in diesem Teil der Stadt
sinnvollerweise häufiger Patrouillen gab als in den ärmeren Gebieten.
Die Häuser um ihn herum ragten wie Burgen aus der Erde. Ihre
massiven Wände bestanden aus einem glatten, beinahe weißen Stein
und die Haustüren waren reich an Verzierungen aus Gold und Silber.
Prächtige Wappen gaben die Adelsfamilie preis und zwischen den Fenstern
aus buntem Glas schienen steinerne Raubtiere den Wänden zu entspringen.
Auf den Dächern thronten Statuen von Rittern und Drachenreitern mit
erhobenen Schwertern. Ein Bauer vom Lande wäre aus dem Staunen nicht
herausgekommen, erst recht nicht beim Anblick der exotischen Tiere, die
ihr Leben in den Gärten verbrachten.
Die Kluft zwischen Arm und Reich schien bodenlos. Während die
Adligen täglich rauschende Feste feierten, wurde in den Gassen an
den Knochen verseuchter Ratten genagt. Wilhelm selbst war zufrieden mit
dem, was er hatte. Helmut brachte von den Schlachten immer reichlich Lohn
und Erbeutetes mit und auch Wilhelm verdiente etwas Geld als Wache.
Die Münzen, die zurzeit in seinem Beutel klimperten, waren
sein ganzes Erspartes.
Als Wilhelm schließlich am Herrenhaus ankam, hatte sich der
Himmel im Osten bereits gerötet. Die tiefsten Schatten ausnutzend,
tastete er sich vorsichtig den edlen Gitterzaun des Gartens entlang.
Er erstarrte plötzlich, als er Stimmen hörte. Böses
ahnend, spähte er nach vorne und erkannte das Glänzen zweier
Rüstungen.
"... nichts gebracht. Sie sind alle tot, sonst hätten wir schon
längst Nachricht erhalten. Der Krieg gegen diese verdammten Hunde
scheint doch ein Ende zu nehmen. Aber nicht zu unseren Gunsten...",
hörte er den stämmigeren der beiden Wachen bitter sagen. Seine
Stimme war rau und tief.
"Mein Cousin ist auch dort. Ich hoffe, er lebt. Wir waren immer
gute Freunde", erklang eine jüngere Stimme zur Antwort. "Doch ich
bin wohl der einzige, der um ihn trauern wird. Seine Mutter ist an einer
heimtückischen Krankheit gestorben und sein Vater ist ein verlauster
Säufer, der sich jede Nacht in den Bordells vergnügt."
Wilhelm erkannte einen älteren Soldaten und einen in etwa seinem
Alter. Der Ältere war mit einem Langschwert bewaffnet, der Jüngere
hatte nur einen Langbogen, der an seinem Rücken befestigt war.
Die Routine hatte die Beiden unaufmerksam gemacht und sie schienen
sich schon in ein langes Gespräch vertieft zu haben.
Wilhem presste sich so fest an den Zaun wie er konnte und
hoffte, dass die Wachen ihn nicht bemerkten. Als sie nur noch einige Schritte
von ihm entfernt waren, hielt er die Luft an. Sein Herz klopft ihm bis
zum Hals. Das Pochen schien ihm so laut, dass er Angst hatte, die Patrouille
könnte es hören.
Nachdem sie endlich vorbei waren, wartete er noch ein paar Augenblicke
zur Sicherheit und atmete dann beruhigt aus. Mit dem Handrücken wischte
er sich den kalten Schweiß von der Stirn und verfluchte seine eigene
Dummheit. Er hätte das Herrenhaus erst aus sicherer Distanz beobachten
müssen, um die Wachen zu entdecken, oder wenigstens einen Umweg nehmen
sollen.
Die Patrouille war schon weiter als fünfzehn Schritte entfernt,
als er weiter schlich - und gegen etwas Blechernes trat. Laut scheppernd
knallte der verrostete Eimer gegen den Zaun. Wilhelm fürchtete sein
Herz könnte dem Schock nicht standhalten und stehenbleiben.
Was zum Teufel macht der Eimer da!, fluchte er in Gedanken.
Auch der ältere Soldat fing weit hinter ihm an zu fluchen.
"Verdammte Scheiße! Wer ist da?!" brüllte er zornig.
Schritte folgten. Wilhelm hörte wie ein Schwert gezogen wurde und
beschloss die Beine in die Hand zu nehmen. Er zog sich die Kapuze seines
Mantels über den Kopf und rannte los, ohne Rücksicht auf die
Lautstärke zu nehmen.
"Halt an oder du wirst erschossen! He, du dreckiger Köter!"
Wilhelm dachte nicht im Traum daran stehenzubleiben.
"Verdammter...! Erschieß ihn, Godrik! Mach schon!" forderte
der Schreihals von seinem Kameraden. Als der erste Pfeil knapp an ihm vorbei
surrte, hatte Wilhelm es verstanden. Widerwillig blieb er stehen und drehte
sich mit erhobenen Händen um.
Schnaufend bremste der Alte vor ihm ab, das Schwert bedrohlich auf
Wilhelm richtend. Hinter ihm stand der Junge, den Bogen weit gespannt,
und zielte konzentriert auf Wilhelms Brust.
"Hab ich dich! Zeig dein Gesicht!", bellte der Alte energisch. Angstschweiß
lief ihm das Gesicht herunter bis in den buschigen Bart.
Wilhelm musste sich etwas einfallen lassen, er fürchtete, der
Jüngere könnte ihn erkennen, also wartete er erst einmal ab.
"Hast du nicht verstanden?" Die Spitze des Schwertes kreiste gefährlich
nahe vor seinem Gesicht. Auf einen Kampf wollte er sich nicht einlassen.
Er würde unterliegen.
Schließlich führte Wilhelm die Hände langsam zum
Kopf. Doch auf halbem Weg schlug er blitzartig mit der Linken das Schwert
beiseite, indem er das Klingenblatt traf, und packte mit der Rechten die
Schwerthand des Alten. Gekonnt verdrehte er ihm den Arm und drückte
ihn in seinen Rücken. Das Schwert landete dumpf auf dem sandigen Boden.
Der Junge hatte hilflos zugesehen, weil er fürchtete, bei einem
Schuss seinen Kameraden zu treffen.
Wilhelm schob mit seinem Unterarm das Kinn des stöhnenden Alten
hoch und legte ihm seinen Dolch mit leichtem Druck an die Kehle. Der Alte,
den der Angriff zu überraschend getroffen hatte, versuchte sich aus
dem Griff zu befreien, doch ihm fehlte die Kraft dazu.
"Leg die Waffe nieder!" forderte Wilhelm schließlich vom Jungen,
der erst zögernd den Älteren ansah.
"Mach schon! Tu, was er sagt!" befahl dieser in seiner Angst. Seine
Stimme hatte sich um mindestens eine Oktave nach oben verschoben. Widerwillig
legte der Junge seinen Bogen auf den Boden und wartete. Die nackte Angst
stand ihm deutlich im Gesicht geschrieben.
"Rühr dich nicht vom Fleck!" befiel Wilhelm dann, während
er, seine Geisel mitziehend, zurückschritt.
Die Zeit schien absichtlich langsamer zu vergehen, doch schließlich
war er weit genug vom Jungen entfernt. Mit einer ruckartigen Bewegung schlug
er dem Alten den Knauf des Dolches gegen die Schläfe.
Sein Schlag erzielte jedoch nicht das gewünschte Ergebnis.
Statt in Ohnmacht zu fallen, sank der Getroffene laut stöhnend zu
Boden und wand sich vor Schmerzen. Wilhelm hatte sich schon abgewandt und
rannte in Richtung Drachengehegen.
Der Junge hatte seinen Kameraden bald erreicht und kniete neben ihm
nieder.
"Bist du in Ordnung?" erklang die bebende Stimme besorgt.
"NEIN, NATÜRLICH NICHT! Verfolg ihn, du Idiot!"
Wilhelm ließ das Herrenhaus endlich hinter sich. Nun ging es
bergab. Vor ihm sah er die Drachengehege. Sie bestanden aus schlichten
hölzernen Zäunen. Sie waren jedoch etwa vier Schritte hoch und
gewährten keinen Einblick hinein. Es gab ungefähr zwanzig von
ihnen.
Die Morgensonne prickelte bereits auf seiner Wange. Er hatte sich
verspätet.
Außer Atem kam er zum Gehege seines Drachens, Isaak, und kramt
hektisch in seiner Hosentasche nach dem Schlüssel des Eingangstores.
Der junge Soldat musste bald eintreffen, wenn er die Verfolgung aufgenommen
hatte.
Doch das Tor stand offen. Wilhelm schritt hindurch und schloss es
hinter sich.
"Da bist du ja endlich."
Theobald war bereits da. Er hatte einen dunkelblauen Mantel an und
darunter glänzte ein teures Kettenhemd. Auf dem Kopf trug er einen
verzierten Helm mit Nasenschutz.
Sein Vater gehörte zum Adel. An Geld fehlte es ihm nicht.
In seiner Hand hielt Theobald die Zügel seines hellblauen Himmelsdrachen,
eine mittelgroße, schlanke Rasse. Ihre Stärke zeigte sich beim
Fliegen, denn sie gehörten zu den schnellsten überhaupt. Sein
Name war Irmgardt, ein Weibchen.
"Leise!" zischte Wilhelm aufgeregt. "Ich werde verfolgt!"
Hinter Irmgardt lagen zwei weitere Drachen im Gras. Der eine sprang
bei Wilhelms Anblick erfreut auf und trottete ihm entgegen. Er hatte schwarze
Schuppen und königsblaue Augen, die ihn von unten bis oben fixierten.
Der Gebirgsdrache glich Irmgardt an der Größe, war aber mit
seinen drei Jahren nocht nicht ausgewachsen.
"Ich hab ihn schon gesattelt", sagte Theobald und deutete auf Isaaks
Rücken, während Wilhelm dem Drachen sanft über den Kopf
strich.
"Bist du bereit, mein Freund?" flüsterte Wilhelm seinem Reittier
zu, das ihm zur Antwort mit der rauen Zunge die Wange ableckte.
Mit einem Sprung schwang er sich auf den Sattel, der mit kettenähnlichen
Riemen am Körper befestigt war. Leder würde an den Schuppen zu
schnell reißen. Das Rüstzeug, das unter einer Überdachung
an der Wand hing, würde er nicht benötigen. Es war weit bis Kilian
und es würde die Drachen nur stören. Außerdem hatten sie
keine Zeit. Die Wachen fingen in diesem Moment wahrscheinlich mit der Durchsuchung
aller Gehege an und hatten sicherlich bereits Verstärkung geholt.
Auch Theobald schwang sich elegant in seinen Sattel.
Der dritte Drache, ein kleiner Walddrache, erkannte, dass er nicht
gebraucht wurde und schloss die Augen.
"Gut. Machen wir uns auf. Lange wird es nicht dauern, bis hier eine
Schar von Soldaten hereinplatzt", teilte Wilhelm Theobald mit.
"Das Schleichen vermagst du wohl nicht zu deinen Stärken zu
zählen", riet Theobald und hob mit seinem Drachen ab. Isaak folgte
ihm etwas schwerfälliger. Gebirgsdrachen waren eher für die Schlacht
geschaffen, als für schnelles Fliegen. In der Natur beschränkten
sie sich meistens aufs Gleiten, da sie im Gebirge den Aufwind hervorragend
ausnutzen konnten.
Wilhelm und Theobald flogen gen Nord-Westen, nach Kilian. Ihnen
bot sich der majestätische Anblick des Nebelwaldes, der sich noch
weit über den Horizont erstreckte.
Wilhelm blickte noch einmal kurz nach unten und erkannte eine Hand
voll Soldaten, die sie bereits bemerkt hatten. Pfeile schossen in ihre
Richtung, verloren aber weit unter ihnen die Kraft - die Drachen waren
zu hoch.
© Haldir
Vor Verwendung dieser Autoren-EMail-Adresse
bitte das unmittelbar am @ angrenzende "NO" und "SPAM" entfernen!
|