Die dunkle Flamme des Drachen von Haldir
Kapitel 3: Die Reise beginnt

Am nächsten Morgen war Wilhelm bereits früh auf den Beinen. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als er vor die Haustür trat. Hunderte Sterne funkelten am finsteren Himmel und der graue Halbmond beleuchtete die Dächer der Stadt. Prüfend sog er die Morgenluft ein. Ihre Kälte ließ ihn frösteln, frischte ihn auf.
Er schulterte seinen Rucksack, prüfte, ob Geldbeutel, Schwert und Dolch an rechter Stelle waren, und machte sich auf den Weg zu den Drachengehegen.
Nach zehn Schritten blieb er jedoch wie verwurzelt stehen. Er würde sein Zuhause für eine lange Zeit verlassen. Wer wusste, ob er überhaupt wiederkehrte.
Für einen letzten Blick drehte er sich um. Dort stand es, das behagliche kleine Haus, das er sich mit seinem Bruder, Helmut, teilte. Die Fensterläden waren alle geschlossen und die Tür hatte er mit drei Schlössern verriegelt. Einbrecher fürchtete er sowieso nicht. Er hatte nichts zu verlieren. Das Dach bestand aus Stroh und Holz und die Wände waren aus dunkelgrauem Stein erbaut worden.
Somit glich es fast allen anderen Häusern in der Gasse, die nun in Dunkelheit lagen. Nichts Besonderes.
Aber seine Eltern hatten sich wohl nicht mehr leisten können. Er hatte sie nie gekannt, doch ihm wurde erzählt, sie seien von Räubern erstochen worden. Mit seinem Bruder wurde er dann in einem Waisenhaus großgezogen. Helmut war ein Jahr älter und konnte dann mit sechzehn das Haus als volljähriger übernehmen. Er ging in die Armee,  weil er meinte, das sei das einzige, wofür er taugte. Wilhelm folgte ihm ein Jahr später.
Sein älterer Bruder war jedoch immer der bessere Kämpfer gewesen. Er war überhaupt in jeder Disziplin der Beste. Schon bald fiel er den Ausbildern ins Auge. Und, da der Krieg mit Baran immer Soldaten forderte, wurde er mit siebzehn bereits in seine ersten Schlachten geschickt. Dann lief alles schneller ab als zuvor.
Er wurde mit Beförderungen geradezu überhäuft, bis er schließlich mit zwanzig Hauptmann wurde. Zu seinem Glück hatte er die Beziehung zu seinen Vorgesetzten stets gut gepflegt und er bekam vom Stadtherrn persönlich Bodin, einen mächtigen Gebirgsdrachen, überreicht,
was für einen nichtadligen schon fast unverschämt war.
Mit heimlichen Verhandlungen und ein paar Flaschen Wein konnte er schließlich für Wilhelm einen Jungdrachen gewinnen und sein kleiner Bruder konnte sich absofort zu den Drachenreitern zählen. Anfangs wurde er noch verachtet, weil er den Drachen nur Helmut zu verdanken hatte, doch nach einigen Wochen schon legte sich der Zorn der anderen Reiter.
Wilhelm war keineswegs neidisch auf seinen Bruder. Er hatte sich immer für dessen Erfolge gefreut, weil er das Einzige war, was er hatte. Und genau deshalb musste er ihm jetzt zu Hilfe eilen.
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Auf den Straßen war niemand außer einigen Bettlern, die zusammengekauert im Staub lagen, zu sehen, als er durch sie eilte. Das Kettenhemd unter seinem dunklen Mantel rasselte im Rhythmus seiner hastigen Schritte.
Theobald würde wahrscheinlich schon auf ihn warten, er hatte es nicht so weit bis zu den Gehegen. Doch Wilhelm musste erst die halbe Stadt durchqueren.
Er hielt auf das Herrenhaus zu, das von fast überall zu sehen war, da es jedes andere Gebäude um Längen überragte und dazu auch noch etwas erhöht lag. Unmittelbar dahinter befanden sich die Gehege.
Die Drachen waren zu jeder Zeit frei, konnten sie verbringen wie sie wollten. Die meisten jagten tagsüber im Wald nach Wild und kehrten nur heim, um sich auszuruhen. Doch es gab ein Horn, das meilenweit zu hören war und sie alle wieder versammelte, wenn sie ihre Pflicht als Reittiere erfüllen mussten.
Nachtsüber schliefen die Drachen, was in ihrer Natur lag. Meistens benutzten vier Drachen ein Gehege gemeinsam.
Es gab selten Streit zwischen den Tieren, weil sie eher Einzelgänger waren und nur zur Paarung im Frühling zusammenkamen.
Das war wohl die interessanteste Zeit für den Menschen und auch die gefährlichste. Die Männchen wurden durch die Wettkämpfe um Weibchen aggressiv und ungehorsam, während die Weibchen in ihrer Sturheit erst gar nicht das Gehege verließen, wenn nach den Wettkämpfen überhaupt noch welche unversehrt blieben. War diese Zeit erst vorbei, kehrte wieder Ruhe und Frieden ein.
Nach fünf Monaten nahte dann die Stunde des neuen Lebens und die Jungdrachen erblickten das Licht der Welt. Die Geburt verlief ziemlich schnell und schien den Weibchen kaum Schmerzen zu bereiten. Sie übernahmen auch die Erziehung des Nachwuchses, die Männchen interessierten sich nicht besonders dafür.

Wilhelm schlich inzwischen durchs Adelsviertel, das das Herrenhaus umschloss. Er war vorsichtiger geworden, da es in diesem Teil der Stadt sinnvollerweise häufiger Patrouillen gab als in den ärmeren Gebieten.
Die Häuser um ihn herum ragten wie Burgen aus der Erde. Ihre massiven Wände bestanden aus einem glatten, beinahe weißen Stein und die Haustüren waren reich an Verzierungen aus Gold und Silber. Prächtige Wappen gaben die Adelsfamilie preis und zwischen den Fenstern aus buntem Glas schienen steinerne Raubtiere den Wänden zu entspringen. Auf den Dächern thronten Statuen von Rittern und Drachenreitern mit erhobenen Schwertern. Ein Bauer vom Lande wäre aus dem Staunen nicht herausgekommen, erst recht nicht beim Anblick der exotischen Tiere, die ihr Leben in den Gärten verbrachten.
Die Kluft zwischen Arm und Reich schien bodenlos. Während die Adligen täglich rauschende Feste feierten, wurde in den Gassen an den Knochen verseuchter Ratten genagt. Wilhelm selbst war zufrieden mit dem, was er hatte. Helmut brachte von den Schlachten immer reichlich Lohn und Erbeutetes mit und auch Wilhelm verdiente etwas Geld als Wache.
Die Münzen, die zurzeit in seinem Beutel klimperten, waren sein ganzes Erspartes.

Als Wilhelm schließlich am Herrenhaus ankam, hatte sich der Himmel im Osten bereits gerötet. Die tiefsten Schatten ausnutzend, tastete er sich vorsichtig den edlen Gitterzaun des Gartens entlang.
Er erstarrte plötzlich, als er Stimmen hörte. Böses ahnend, spähte er nach vorne und erkannte das Glänzen zweier Rüstungen.
"... nichts gebracht. Sie sind alle tot, sonst hätten wir schon längst Nachricht erhalten. Der Krieg gegen diese verdammten Hunde scheint doch ein Ende zu nehmen. Aber nicht zu unseren Gunsten...", hörte er den stämmigeren der beiden Wachen bitter sagen. Seine Stimme war rau und tief.
"Mein Cousin ist auch dort. Ich hoffe, er lebt. Wir waren immer gute Freunde", erklang eine jüngere Stimme zur Antwort. "Doch ich bin wohl der einzige, der um ihn trauern wird. Seine Mutter ist an einer heimtückischen Krankheit gestorben und sein Vater ist ein verlauster Säufer, der sich jede Nacht in den Bordells vergnügt."
Wilhelm erkannte einen älteren Soldaten und einen in etwa seinem Alter. Der Ältere war mit einem Langschwert bewaffnet, der Jüngere hatte nur einen Langbogen, der an seinem Rücken befestigt war.
Die Routine hatte die Beiden unaufmerksam gemacht und sie schienen sich schon in ein langes Gespräch vertieft zu haben.
Wilhem presste sich so fest an den Zaun  wie er konnte und hoffte, dass die Wachen ihn nicht bemerkten. Als sie nur noch einige Schritte von ihm entfernt waren, hielt er die Luft an. Sein Herz klopft ihm bis zum Hals. Das Pochen schien ihm so laut, dass er Angst hatte, die Patrouille könnte es hören.
Nachdem sie endlich vorbei waren, wartete er noch ein paar Augenblicke zur Sicherheit und atmete dann beruhigt aus. Mit dem Handrücken wischte er sich den kalten Schweiß von der Stirn und verfluchte seine eigene Dummheit. Er hätte das Herrenhaus erst aus sicherer Distanz beobachten müssen, um die Wachen zu entdecken, oder wenigstens einen Umweg nehmen sollen.
Die Patrouille war schon weiter als fünfzehn Schritte entfernt, als er weiter schlich - und gegen etwas Blechernes trat. Laut scheppernd knallte der verrostete Eimer gegen den Zaun. Wilhelm fürchtete sein Herz könnte dem Schock nicht standhalten und stehenbleiben.
Was zum Teufel macht der Eimer da!, fluchte er in Gedanken. Auch der ältere Soldat fing weit hinter ihm an zu fluchen.
"Verdammte Scheiße! Wer ist da?!" brüllte er zornig. Schritte folgten. Wilhelm hörte wie ein Schwert gezogen wurde und beschloss die Beine in die Hand zu nehmen. Er zog sich die Kapuze seines Mantels über den Kopf und rannte los, ohne Rücksicht auf die Lautstärke zu nehmen.
"Halt an oder du wirst erschossen! He, du dreckiger Köter!"
Wilhelm dachte nicht im Traum daran stehenzubleiben.
"Verdammter...! Erschieß ihn, Godrik! Mach schon!" forderte der Schreihals von seinem Kameraden. Als der erste Pfeil knapp an ihm vorbei surrte, hatte Wilhelm es verstanden. Widerwillig blieb er stehen und drehte sich mit erhobenen Händen um.
Schnaufend bremste der Alte vor ihm ab, das Schwert bedrohlich auf Wilhelm richtend. Hinter ihm stand der Junge, den Bogen weit gespannt, und zielte konzentriert auf Wilhelms Brust.
"Hab ich dich! Zeig dein Gesicht!", bellte der Alte energisch. Angstschweiß lief ihm das Gesicht herunter bis in den buschigen Bart.
Wilhelm musste sich etwas einfallen lassen, er fürchtete, der Jüngere könnte ihn erkennen, also wartete er erst einmal ab.
"Hast du nicht verstanden?" Die Spitze des Schwertes kreiste gefährlich nahe vor seinem Gesicht. Auf einen Kampf wollte er sich nicht einlassen. Er würde unterliegen.
Schließlich führte Wilhelm die Hände langsam zum Kopf. Doch auf halbem Weg schlug er blitzartig mit der Linken das Schwert beiseite, indem er das Klingenblatt traf, und packte mit der Rechten die Schwerthand des Alten. Gekonnt verdrehte er ihm den Arm und drückte ihn in seinen Rücken. Das Schwert landete dumpf auf dem sandigen Boden.
Der Junge hatte hilflos zugesehen, weil er fürchtete, bei einem Schuss seinen Kameraden zu treffen.
Wilhelm schob mit seinem Unterarm das Kinn des stöhnenden Alten hoch und legte ihm seinen Dolch mit leichtem Druck an die Kehle. Der Alte, den der Angriff zu überraschend getroffen hatte, versuchte sich aus dem Griff zu befreien, doch ihm fehlte die Kraft dazu.
"Leg die Waffe nieder!" forderte Wilhelm schließlich vom Jungen, der erst zögernd den Älteren ansah.
"Mach schon! Tu, was er sagt!" befahl dieser in seiner Angst. Seine Stimme hatte sich um mindestens eine Oktave nach oben verschoben. Widerwillig legte der Junge seinen Bogen auf den Boden und wartete. Die nackte Angst stand ihm deutlich im Gesicht geschrieben.
"Rühr dich nicht vom Fleck!" befiel Wilhelm dann, während er, seine Geisel mitziehend, zurückschritt.
Die Zeit schien absichtlich langsamer zu vergehen, doch schließlich war er weit genug vom Jungen entfernt. Mit einer ruckartigen Bewegung schlug er dem Alten den Knauf des Dolches gegen die Schläfe.
Sein Schlag erzielte jedoch nicht das gewünschte Ergebnis. Statt in Ohnmacht zu fallen, sank der Getroffene laut stöhnend zu Boden und wand sich vor Schmerzen. Wilhelm hatte sich schon abgewandt und rannte in Richtung Drachengehegen.

Der Junge hatte seinen Kameraden bald erreicht und kniete neben ihm nieder.
"Bist du in Ordnung?" erklang die bebende Stimme besorgt.
"NEIN, NATÜRLICH NICHT! Verfolg ihn, du Idiot!"

Wilhelm ließ das Herrenhaus endlich hinter sich. Nun ging es bergab. Vor ihm sah er die Drachengehege. Sie bestanden aus schlichten hölzernen Zäunen. Sie waren jedoch etwa vier Schritte hoch und gewährten keinen Einblick hinein. Es gab ungefähr zwanzig von ihnen.
Die Morgensonne prickelte bereits auf seiner Wange. Er hatte sich verspätet.
Außer Atem kam er zum Gehege seines Drachens, Isaak, und kramt hektisch in seiner Hosentasche nach dem Schlüssel des Eingangstores. Der junge Soldat musste bald eintreffen, wenn er die Verfolgung aufgenommen hatte.
Doch das Tor stand offen. Wilhelm schritt hindurch und schloss es hinter sich.
"Da bist du ja endlich."
Theobald war bereits da. Er hatte einen dunkelblauen Mantel an und darunter glänzte ein teures Kettenhemd. Auf dem Kopf trug er einen verzierten Helm mit Nasenschutz.
Sein Vater gehörte zum Adel. An Geld fehlte es ihm nicht.
In seiner Hand hielt Theobald die Zügel seines hellblauen Himmelsdrachen, eine mittelgroße, schlanke Rasse. Ihre Stärke zeigte sich beim Fliegen, denn sie gehörten zu den schnellsten überhaupt. Sein Name war Irmgardt, ein Weibchen.
"Leise!" zischte Wilhelm aufgeregt. "Ich werde verfolgt!"
Hinter Irmgardt lagen zwei weitere Drachen im Gras. Der eine sprang bei Wilhelms Anblick erfreut auf und trottete ihm entgegen. Er hatte schwarze Schuppen und königsblaue Augen, die ihn von unten bis oben fixierten. Der Gebirgsdrache glich Irmgardt an der Größe, war aber mit seinen drei Jahren nocht nicht ausgewachsen.
"Ich hab ihn schon gesattelt", sagte Theobald und deutete auf Isaaks Rücken, während Wilhelm dem Drachen sanft über den Kopf strich.
"Bist du bereit, mein Freund?" flüsterte Wilhelm seinem Reittier zu, das ihm zur Antwort mit der rauen Zunge die Wange ableckte.
Mit einem Sprung schwang er sich auf den Sattel, der mit kettenähnlichen Riemen am Körper befestigt war. Leder würde an den Schuppen zu schnell reißen. Das Rüstzeug, das unter einer Überdachung an der Wand hing, würde er nicht benötigen. Es war weit bis Kilian und es würde die Drachen nur stören. Außerdem hatten sie keine Zeit. Die Wachen fingen in diesem Moment wahrscheinlich mit der Durchsuchung aller Gehege an und hatten sicherlich bereits Verstärkung geholt. Auch Theobald schwang sich elegant in seinen Sattel.
Der dritte Drache, ein kleiner Walddrache, erkannte, dass er nicht gebraucht wurde und schloss die Augen.
"Gut. Machen wir uns auf. Lange wird es nicht dauern, bis hier eine Schar von Soldaten hereinplatzt", teilte Wilhelm Theobald mit.
"Das Schleichen vermagst du wohl nicht zu deinen Stärken zu zählen", riet Theobald und hob mit seinem Drachen ab. Isaak folgte ihm etwas schwerfälliger. Gebirgsdrachen waren eher für die Schlacht geschaffen, als für schnelles Fliegen. In der Natur beschränkten sie sich meistens aufs Gleiten, da sie im Gebirge den Aufwind hervorragend ausnutzen konnten.
Wilhelm und Theobald flogen gen Nord-Westen, nach Kilian. Ihnen bot sich der majestätische Anblick des Nebelwaldes, der sich noch weit über den Horizont erstreckte.
Wilhelm blickte noch einmal kurz nach unten und erkannte eine Hand voll Soldaten, die sie bereits bemerkt hatten. Pfeile schossen in ihre Richtung, verloren aber weit unter ihnen die Kraft - die Drachen waren zu hoch.
 

© Haldir
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Und sicher schon bald geht's hier weiter zum 4. Kapitel...

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