Stonehenge - Die Monolithen der Anu von Harald Hillebrand

Gleich am Morgen kam Gendar, der junge Druide, in meine Behausung. Wie Lugus selbst reckte er die Brust hervor und bellte seine Anweisungen: "Herwynd, wenn Lugh am höchsten steht, begleitest du mich zu seinem Haus!" Natürlich schwieg ich. Das war eben seine Art, mit der Unsicherheit seiner Jugend umzugehen.
Nun waren wir auf dem Weg zu den heiligen Steinen, um Lughs Lauf zu beobachten. Ich schaute zum Heelstein und wusste, dass es morgen soweit war. Wir wollten die Sonnenwende feiern wie jedes Jahr. Doch ich wusste, dass es diesmal anders kommen würde. Wie damals: Ich war ein junger Mann, als sich Lugh und Anu nach langer Zeit wiedertrafen.
Ich hielt mich hinter Gendar, wollte ihn nicht gegen mich aufbringen, nicht heute. Ich will nicht ungerecht sein: Er hatte gelernt, wie der alte Druide es von ihm verlangte. Und als jener im Kampf starb und in die Anderwelt überging, musste Gendar sich sehr verloren vorgekommen sein. Ich blieb der Gehilfe des Druiden und hatte die Aufgabe, Gendars Erkenntnis zu vollenden.
Gendar beugte das Knie und verharrte einen Moment zwischen den Eingangssteinen. Auch ich kniete nieder, meinen Blick auf den Heelstein gerichtet. Er und seine schweigsamen Brüder ringsum ließen mich den Kopf neigen. Gendar blieb länger hocken als nötig. Er musste sich sammeln, sich seine schwierige Aufgabe noch einmal klarmachen. Ihm fehlte das Wissen, das ihm beizubringen mir zukam.
Als Gendar in den Inneren Kreis trat, sah ich, wie er versuchte, den Sonnenstand abzuschätzen. Er musste wissen, dass wir zu früh hier waren für die Messungen. Doch dabei konnte ich ihm nicht helfen. Wenn meine Zeit kam, würde er auch allein zurechtkommen müssen. Ich lehnte mich gegen einen der Sarsensteine und beobachtete meinen "Schüler". 
Es war ungewöhnlich kalt in den letzten Tagen. Der Fluss Avon, an dem unsere Behausungen standen, war zugefroren. Am Morgen hatte ich bereits das Eis des Sees aufgehackt. Brigit und einige andere hatten zugesehen und es nicht verstanden. Erinnerte sich denn niemand, dass morgen ein besonderes Fest stattfinden würde, nicht nur die alljährliche Wintersonnenwende? Nicht allein der Tag, an dem Lugh einsam seine Bahn vollendete und dabei das steinerne Fenster durchquerte.
Nun war Lugh, der Sonnengott, soweit herabgestiegen, dass Gendar dessen Bahn verfolgen konnte. Die Monolithen wiesen den Weg. Die rituellen Schritte maß er bis zum Zielpunkt, an dem sich Lugh zur Ruhe begab. 
Die Dämmerung brach herein.
"Lasst die Dorfbewohner auf jeden Fall nur bis zum Fersenstein gehen, Herwynd", sagte Gendar.
"Ja, Gendar. Natürlich. Vom Fersenstein aus können sie Lughs Bahn genau verfolgen." Ergeben beugte ich das Knie wie vor seinem Vorgänger. Gendar war noch so jung, doch bereits seit zwei Wintern Druide des Clans. Er war auserwählt worden, weil seine Träume bedeutungsvoll waren. 
Ich erinnerte mich plötzlich an die Augen des Sonnengottes Lugh und an die seiner Schwester Anu, der Mondgöttin. Die liebenden und sich jagenden Himmelsgeschwister. Ich entsann mich, wie sie durch die Fenster sahen, die die Torsteine bildeten. Erst Lugh, rötlich leuchtend, dann Anu, silbrig. Gendar mochte es nicht, wenn ich mein Wissen über die Himmelsvorgänge so deutlich zeigte. Er allein wollte als wissend und weise gelten. Seinen grimmigen Blick sah ich noch, als er den Inneren Kreis verließ, aber erschrecken konnte er mich nicht. Morgen würde ich das Ereignis wieder sehen. Ob ich es diesmal begriff?

Lärm weckte mich am Morgen der Wintersonnenwende. Draußen hatten sie bereits mit den Vorbereitungen zum Fest begonnen. Ob Gendar wusste, dass das heutige Fest anders sein würde? Hatte der alte Druide ihm alles sagen können, bevor er starb?
Schnell erhob ich mich, nahm die Trommel und ging zum Fluss Avon. Ein Schritt genauso lang, wie der vorherige. Es war ein Ritual – mein Anteil daran, dass nicht alles Wissen mit der Zeit verloren ging. Warum sahen sie alle nicht die Zeichen; Gendar, warum auch du nicht? 
Gleich hinter der letzten Hütte passierte ich einen weißen, unbehauenen Stein – den Stein des Anfangs –, dann vier Birken. Ich erreichte den Hain mit Saille, Huath, Coll und Gorth. Guir, die Eiche, überragte sie alle; sie, die die jungen Männer nur als abgestorbenen Krüppel kannten. Doch jetzt trieb sie Zweige und Blätter. Ich wusste: Wer dieses Neuerwachen zweimal erleben wollte, musste lange leben. Ob Gendar den Grund kannte? Als Guir vor drei Tagen erwacht war, hatte auch er zweifelnd davor gestanden.
Direkt am Seeufer wurzelten zwei Ruis, hoch und knorrig. Ihre schwarzen Beeren waren längst geerntet. Ich ging zwischen ihnen hindurch. Hinter mir kreischten Kinder. Sie rührten Farben, wollten sich schmücken, wie immer, wenn die Dunkelzeit begann. Sie gab ihren Vätern und Müttern die Möglichkeit auszuruhen von der harten Arbeit der vergangenen Mondläufe. 
Ich schlug meine Trommel und sang, bis ich mich selbst nicht mehr hörte. Die Trance: Ich glaubte, das Siebengestirn zu sehen, obwohl es heller Tag war. Ich erkannte Anu, die doch erst viel später erscheinen würde. 
Als ich die Kälte wieder spürte und aus meinen Gedanken erwachte, stand ich bis zum Bauch im Wasser. In der Trance hatte ich die Eisschollen beiseite geschoben. Ich tauchte die Arme ins Wasser und benetzte mein Gesicht – meins und das Anus. 
Als ich mich umwandte, standen sie alle am Ufer, der ganze Clan. Ob sie sich jetzt erinnerten, mein Tun begriffen? Doch es war fast ein Menschenleben her. Sie flüsterten miteinander. Ihr Raunen kam dem Morgenwind gleich, der den Nebel vertreibt und die Krähen auffliegen lässt. 
Langsam stieg ich wieder hinauf zum Ufer. Meine Bewegungen zäh im Nebel, wie meine Gedanken. Das Raunen der Menschen dumpf, als hätte Anu ihre Hände auf meine Ohren gelegt.
Der Weg zurück. Meine Hütte. Jemand zerrte mir die Felle vom Leib. Das Ritual war vollbracht. Heute Abend würde es sein, wie es sein muss.

Am Abend trat ich aus meiner Hütte. Sie warteten auf mich, als sollte ich sie anführen, statt Gendar. Das alte Wissen musste noch da sein, nur verdeckt durch die Mühen der Tage. Als ich den Gesang der Vorfahren anstimmte, musste auch der Letzte ahnen, dass heute Bedeutendes geschehen würde. Gendar setzte sich an die Spitze der Gruppe und ging würdevoll voraus. Er tat geheimnisvoll – doch ohne zu wissen. Ich schaute zu Lugh. Es war Zeit. Lugh stand noch zwei Handbreit über der Weltenlinie. Heute war Lughs und Anus Tag!
Die Monolithen erwarteten uns. Das Land ringsum hatte schon immer ihnen gehört. Nicht Gendar, der am Fersenstein stehen blieb und mir entgegensah, als wollte er sagen: bis hierher und nicht weiter! 
'Geh, Gendar!', dachte ich. 'Es ist Zeit. Meine Aufgabe kenne ich – nun zeig, ob du auch die deine kennst.'
Gendar ging weiter und verschwand zwischen den Monolithen. 
Einen Schritt vor dem Fersenstein hielt ich inne, einen weiteren hinter mir verharrten die anderen und schauten zu Lugh. Lugh war riesig groß und gelblich rot. Er sah müde aus. Kein Wunder bei den vielen Tagen, an denen er die Äcker verbrannt hatte. Wenn er sich heute niederlegte, begann die längste Nacht. 
Lugh berührte das Tor und ließ es erglühen. Dunkelheit brach herein, als der Heelstein Lugh verdeckte. Es wurde Nacht und die letzte Amsel verstummte. Dann – allmählich anschwellend – ging ein Raunen durch die Menschen hinter mir. Ein kleiner Schimmer verriet, warum: Der innere Rand des Heelsteins begann zu glühen, als läge er im Feuer des Himmelsschmieds. Dann flackerten Lughs Flammen auf. Die Kraft seines Lichts war unendlich stärker als zuvor. Der kurze Moment der Dunkelheit schien ihm genügt zu haben, Kraft zu schöpfen, um noch einmal den Kopf zu heben. Und war es auch nur für wenige Augenblicke. Die Menschen hinter mir atmeten erst aus, als Lugh endgültig zur Ruhe gegangen war.
Dunkelheit, nur erhellt vom Licht der vielen kleinen Feuer dort oben. Sie ließen mich den Weg erkennen, auf dem Gendar zurückkehrte.
Hinter mir schwiegen die Menschen und rührten sich nicht. Ob sie ahnten, dass das noch nicht alles war? 
Lugh ruhte jetzt, nachdem der kürzeste Tag geendet hatte. Die längste Nacht stand bevor. Wintersonnenwende. Die Zeit der Dunkelheit und Ruhe würde erst wieder vorbei, wenn der Schnee schmolz. 
Als Gendar an mir vorbeigehen wollte, hielt ich ihn fest. Er wollte sich losreißen, doch ich zwang ihn, sich zu den Göttersteinen umzudrehen und Anus silbriges Licht zu erkennen, das Lughs erlöschendes Glimmen ablöste. In meinen Händen erstarrte Gendars Körper, als auch er es sah: Der Heelstein begann erneut zu leuchten. Das Licht, so schön. Anu begann ihre Bahn, berührte den Stein, verschwand dahinter und tauchte wieder auf. Ein kühl lächelndes Gesicht. Anus Gesicht, von Menschen seit Urzeiten angebetet, lange bevor sie sich der Sonne zuwandten, stand inmitten des Tores, das Lugh gerade erst passiert hatte.
Ich sah, wie Gendar begriff. Er blickte mich an. Sein Gesicht Verlegenheit. Ich lächelte nur. Ganz langsam entspannten sich seine Züge. Und auch er lächelte. 
'Er wird mir zuhören', überlegte ich, 'wenn er von viermal neun und zweimal zehn Wintern erfährt, die vergehen müssen, bis sich Anu und Lugh wieder treffen.'
Sein Gesang leitete Anu, so lange sie blendend hell durch das steinerne Fenster schien. Ihr Anblick ließ mich schaudern. Sie schien sagen zu wollen: Habt ihr gesehen? Noch immer löse ich Lugh ab. Doch nur für die Zeit der Dunkelheit und Kälte. Dann wird seine Kraft wieder größer sein als meine. Das Leben ist heute anders, als das der Vorfahren. Nicht mehr mein Licht bestimmt das Schicksal des Menschen. Es ist jetzt das Licht Lughs, das euch ernährt, seine Wärme, die alles wachsen lässt und euch die Ernten beschert.
Ich musste Gendar sagen, dass es nicht stimmte. Ich musste ihm sagen, dass Lugh das untere und Anu das obere Fenster genommen hatte. Gendar musste die Bedeutung verstehen und erkennen: Die Monolithen bargen mehr als das vermeintlich Sichtbare. Anu war unsere Vergangenheit, sie ließ uns wachsen. Ihr huldigten die Vorfahren, bevor sie lernten, den Acker zu bestellen. Das Wissen darum durfte nicht verloren gehen. 
Ich war nun sicher, Gendar würde mir zuhören.
 

© Harald Hillebrand
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