Laufen, Laufen ... von Harald Hillebrand

Als Ina die Fahrertür hinter sich zuschlug, kam es ihr vor, als hätte sie damit zumindest einen Teil ihrer Arbeitssorgen eingesperrt. Aber sie machte sich nichts vor: Die fanden sicher noch einen Weg zu ihr.
Im Schlafzimmer entledigte sie sich mit Jeans und Pullover ihrer restlichen Probleme und tauschte sie gegen das schwarze Dress, auf dem in weißer Schrift "Lupus-Team Zehdenick" stand. Sie griff sich ihre Laufschuhe und dachte an den Wald, an die Schatten und die grünen Augen, die sie erwarten würden.
*
Ihr Atem ging kräftig und regelmäßig. Die weichen Sohlen verschluckten fast jedes Geräusch, wenn sie nicht gerade eine Stelle erwischte, wo Sand auf den Asphalt geraten war. Der Mond schien hell in die Gasse hinein, die sie dem Wald beim Bau der Straße abgetrotzt hatten. Nur dünne Wölkchen zogen an ihm vorbei, angestrahlt von kaltem Licht.
Ina achtete nicht auf ihre Schritte; die Straße war eben. Ihre Gedanken schweiften ab. Plötzlich waren Schritte hinter ihr. In der Dunkelheit des Waldes klangen sie wie Schüsse eines Jägers. Doch sie drehte sich nicht um. Sie kannte dieses Geräusch. Es war der Nachhall ihrer eigenen Schritte. Es war der Wald, der sie begleitete. Alles war in Ordnung. Ihr Körper lief den Rhythmus eines Metronoms. Sie genoss den leichten Wind. Ihre Blicke huschten über die silbern glimmende Straße und die grauen Stämme, die die schwarzen dahinter verdeckten. 
*
Hecheln näherte sich. Zuerst glaubte sie, es sei ihr eigenes. Doch der Rhythmus war ein anderer. Schneller war er.
Sie drehte den Kopf nicht, genoss seine Gegenwart, als er zu ihr aufschloss. Sie spürte das leise Trommeln seiner Füße. Es ähnelte dem eines galoppierenden, unbeschlagenen Pferdes. Nur viel leiser, sehr viel leiser. Sie wusste: wenn sie jetzt zur Seite schaute, wäre alles vorbei. Sie würde nur für einen Moment seine grünen Augen sehen, bevor er verschwand. Doch sie wollte das nicht. Er sollte bei ihr sein, mit ihr laufen, laufen, laufen...
Viel zu schnell kam die Stelle näher, an der sie immer wendete: eine dicke Eiche - die sie umrunden musste. Sie hätte noch weiterlaufen können. Bis zum nächsten bewohnten Haus war es noch ein Kilometer. Aber sie wollte nicht, dass er verschwand. Schon spürte sie, wie er zurückblieb, als Sorge sich in ihre Gedanken einschlich. Schnell scheuchte sie sie beiseite, lief um die Eiche herum. Es knirschte unter ihren Füßen, als Eicheln zerplatzten. Für einen Moment kam der Wind heftiger und direkt von vorn. Dann hatte sie es geschafft. Der Wald lag wieder vor ihr und gleichmäßig folgte Schritt auf Schritt.
Das Hecheln kam wieder näher. Gern hätte sie ihre Hände in seinem dichten, grauen Fell vergraben, dann ihr Gesicht. Doch sie wusste, dass er es nicht zugelassen hätte.
So liefen sie nebeneinander durch die Nacht. Seite an Seite. Der Wald war still. Sie schienen eins zu sein: Ina, der Wald und der Graue mit den grünen Augen.
Als sie ihn das erste Mal bemerkt hatte, war sie um ihr Leben gerannt. Doch als sie sich kurz vor ihrem Haus umgeschaut hatte, gab es niemanden, der hinter ihr her gewesen wäre. Seit diesem Tag lief sie immer erst nach Einbruch der Dunkelheit ihre Trainingsrunde - und der Graue beschützte sie in ihren Gedanken. Sie wusste, er war nicht real. Doch sie genoss seine Anwesenheit. Er existierte nicht, nur ihre Gedanken existierten.
*
Als sie vor dem Haus auslief und darauf wartete, dass sich ihr Atem beruhigte, verließ am Waldrand etwas Graues die Straße und verschwand zwischen den Bäumen. Ina sah ihn nicht. Sie dachte bereits daran, dass sie nun Abendessen zubereiten und anschließend die Wäsche bügeln musste.
 
© Harald Hillebrand
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