Wie drei Hobbits nicht nach Bree kamen von Dietmar Preuß

Eine kleine Armee

Etwa zwanzig Schritte vor dem Eingang, hinter zwei Bäumen und ein paar Büschen, die links und rechts des Weges standen, suchten sie Deckung. Merry, Borko und Pippin gingen alleine weiter, wobei sie nun doch weiche Knie bekamen. Sie hatten ihre Pfeifen gestopft und hielten vorsichtig die Glut in Gang. Zwischen sich trugen sie die Truhe der Zwerge, die beinahe zu schwer für sie war. So gingen sie schnurstracks auf den "Grünen Drachen" zu, in dem sich die Ostlinge breit gemacht hatten.
Lärm war durch die offene Tür und die beiden zerschlagenen Fenster zu hören. Gegröle und schrecklich falsche Gesänge drangen heraus. Ab und zu hörte man, wie tönerne Becher zerschlugen und schwere Bänke umkippten. Die Hobbits blieben zwei Schritte vor dem Eingang stehen. Pippin sah Borko und Merry an. Jetzt wurde es ernst. Sie gingen durch die offene Tür und die Augen aller Strolche und Halunken wandten sich ihnen zu. Dreckige, bärtige Gesichter drehten sich nach ihnen um, verschlagene Augen blitzten ihnen entgegen, Münder voller schwarzer Ruinen öffneten sich. Einer, offensichtlich der Anführer, stand auf.
"Drei kleine Halblinge mit einer Truhe", grölte er. "Ist das wohl unser Wergeld? Wehe Euch, wenn nicht! Unsere Geduld geht langsam zu Ende."
Für diese Beutelschneider musste ein Hobbit wohl wie der andere aussehen, denn sie erkannten die Hobbits, die zwei von ihnen schon einmal eine Abreibung verpasst hatten, nicht wieder. Borko zog den Kopf zwischen die Schultern, als so viele grausame Gesichter sie aus nächster Nähe musterten. Tapfer hielt er aber sein Ende der Truhe fest.
Die drei Reisegefährten trugen die Truhe bis ans hintere Ende des Schankraumes und stellten sie unsanft auf den Boden. Es rumpelte laut, als der Bienenstock im Inneren einen Satz machte.
"Was wollt ihr uns anbieten, damit wir eure Gastfreundschaft nicht länger in Anspruch nehmen, hä? Zeigt her, ihr kleinen Ratten!", forderte der Hauptmann der Strauchdiebe, ein bulliger Mann mit einer Narbe auf der Stirn.
Pippin nickte seinen beiden Mitstreitern zu. Merry stieß Borko an, der beinahe vergaß, tüchtig an seiner Pfeife zu ziehen und zu paffen.
"Wir haben etwas ganz Besonderes für euch", kündigte Pippin an und hob mit einem Ruck den Deckel der Truhe.

Die Beornsbienen kamen mit einem wütenden Brummen hervor. Zu lange waren sie eingesperrt gewesen und nun auch noch unsanft durchgerüttelt worden. Zu ihrer Erleichterung sahen die Hobbits, dass die Bienen so schnell wie möglich aus dem Rauch des Pfeifenkrauts flogen, um dann um so wütender die Ostlinge anzugreifen. Nach wenigen Sekunden glich das Innere der Schänke einem Tollhaus. Die Halunken kamen nicht mehr dazu, ihre Schwerter und Dolche zu ziehen, sondern versuchten verzweifelt, mit rudernden Armen die Bienen abzuwehren.
Die waren wirklich so groß wie junge Spatzen. Ihre Stachel fuhren den Beutelschneidern tief ins Fleisch. Das Gift der Bienen brannte und schmerzte, dicke Beulen bildeten sich auf den Armen und Beinen und auch in den Gesichtern der Gestochenen. Die Ostlinge schrieen vor Pein, sprangen durcheinander, suchten Erlösung, aber fanden keine.
Die drei Hobbits standen dicht nebeneinander mit dem Rücken zur Wand und beobachteten das Spektakel. Eine dichte Rauchwolke hatte sich um sie gebildet, und sie zogen weiter kräftig an ihren Pfeifen und pafften. Der Anführer der Ostlinge schaffte es irgendwie, durch das Durcheinander von wirbelnden Beinen, schlagenden Armen und böse summenden Beornsbienen auf die Hobbits zuzukommen.
"Das wird Euch noch leid tun, ihr kleinen Ratten!", schrie er und heulte sogleich auf, als er einen Stich in sein rechtes Augenlid bekam. Er zog den Krummsäbel und wollte ihn auf die Hobbits niederfahren lassen. Die sprangen auf ein Zeichen Pippins nach vorne und unterliefen den Schlag. Auf seiner von dem Stich ins Auge blinden Seite stoben sie an dem Strolch vorbei und auf die Tür zu. Die anderen Halunken bemerkten sie erst, als ihr Hauptmann laut "Hinterher!" brüllte.

Mit Glück erreichten Pippin, Merry und Borko die Tür und stürzten ins Freie, immer noch ohne Stich. Die Beornsbienen griffen weiter die Strauchdiebe an, die kurz hinter den Hobbits ins Freie gelangten.
Der Vorsprung reichte den Hobbits, um ein ordentliches Stück vor den Ostlingen bei den Bäumen zu sein, hinter denen sich die Zwerge und Maggot mit seinem Gefolge verbargen. Pippin bemerkte eine ruckartige Bewegung, und ein Seil, zweifach um jeden Baumstamm gewunden, spannte sich über den Weg. Gomfours und Maggots Leute hielten die Enden mit aller Kraft fest, eine Seite wurde von dem braven Pony unterstützt, das sein ganzes Gewicht in die Fallstricke legte.
Merry, Borko und Pippin rannten johlend vor der wütenden Horde von Ostlingen her und setzten über die Seile. Die Halunken bemerkten das Seil nicht oder viel zu spät und rannten mit voller Wucht hinein. Vor Schreck und Schmerz brüllend endete das Dutzend Ostlinge in einem wirren Haufen verknäuelter Gliedmaßen. Zwei von ihnen blieben für immer liegen, denn sie hatten sich bei dem Sturz Schwerter und Dolche selbst in den Leib gestoßen.

Als die anderen Halunken aufsahen, waren sie von zehn grimmigen, breitschultrigen Zwergen und neun ungewöhnlich kräftigen Hobbits umzingelt. In ihren Augen stand wilde Entschlossenheit, die erhobenen Schwerter, Äxte und Sensen zu gebrauchen.
Die Strolche verhielten sich plötzlich sehr kleinlaut. Nur ihr Anführer stand auf, griff nach seinem Schwert und wollte Gomfour Katzengold angreifen, der ihm am nächsten stand. Der ließ nicht lange mit sich handeln, schwang die schwere Streitaxt und spaltete den Halunken von der Schulter bis zum Gürtel mit einem einzigen Hieb. Sofort hob er die Axt wieder und funkelte die neun verbliebenen Halunken an.
"Bitte, wer ist der nächste?", sagte er mit ausgesuchter Höflichkeit. Die anderen Zwerge traten einen Schritt vor und hoben ihre Waffen höher. Aber als ihr Anführer wie ein Sack Mehl auf sie fiel, warfen seine Kumpane ihre Waffen fort. Der Rest war ein leichtes. Die Ostlinge wurden mit Stücken des Fallseils gebunden und in einen kleinen Schuppen mit festem Tor gesperrt, der der Schänke als Vorratsraum gedient hatte.
Als auch diese Arbeit erledigt war, brachen Hobbits und Zwerge in lautes Jubelgeschrei aus und hieben sich gegenseitig auf die Schultern. Die Hobbits begannen sogar im Kreis zu tanzen, die Zwerge sangen ein Siegeslied dazu.
Die Beornsbienen aber, die den Beutelschneidern nach draußen gefolgt waren, hatten Blüten und Blumen entdeckt, die reichen Nektar versprachen. So ließen sie von den ohnehin in die Flucht geschlagenen Ostlingen ab und verlegten sich aufs Honigsammeln. Gomfour schickt zwei seiner Neffen mit brennenden Pfeifen los, um die Truhe mit dem Stock auf den Hügel oberhalb des "Grünen Drachen" zu tragen. Seitdem gab es in Hobbingen den besten Honig und den süffigsten Met im ganzen Auenland.

Der fröhliche Jubel, der nicht von den fremden Halsabschneidern stammen konnte, lockte endlich auch die anderen Hobbits des Dorfes zum "Grünen Drachen". Gesichter erschienen hinter kleinen Höhlenfenstern, Nasen wurden vorsichtig durch Türspalte gesteckt, aber nur tanzenden Zwerge und Hobbits, unter ihnen Meriadoc Brandybock, Peregrin Tuk und Borko Stolzfuß, waren auf dem Weg zu sehen.
So versammelten sich mehr und mehr Hobbits aus Hobbingen und auch Wasserau in ihrer Dorfschänke. Die Erleichterung war bei jedermann groß, als zu hören war, dass die Südländer besiegt und eingesperrt waren.
Viele Hobbits mussten vor der Schänke stehen bleiben und spekulieren, was im Inneren besprochen wurde. Wilde Gerüchte und Geschichten machten die Runde und alles plapperte aufgeregt und erleichtert durcheinander.

Die Zwerge, Maggot und seine braven Söhne und Knechte und vor allem Merry, Pippin und Borko bekamen Ehrenplätze nahe beim Feuer. Ein neues Fass wurde angestochen und Borko war der erste, der einen Trinkspruch ausbrachte:
"Auf unseren Anführer Peregrin Tuk, den zukünftigen Thain des Auenlandes!", rief er und nahm einen tiefen Zug Gerstenbier, das ihm so gut wie nie zuvor schmeckte.
Der Trinkspruch wurde nach draußen weitergegeben, und alle ließen Pippin hochleben. Natürlich wurden die Hobbits umso neugieriger, weil ausgerechnet Borko Stolzfuß diesen Spruch ausgebracht hatte. Pippin stand auf und verbeugte sich dankend in Richtung Borko. Nun war es an ihm, den nächsten Spruch auszubringen.
"Auf Meriadoc Brandybock und Borko Stolzfuß, die sich in den letzen Tagen als tapfere Hobbits und brave Gefährten erwiesen haben, alle beide."
Wieder jubelte es zuerst im Inneren der Schenke, kurz darauf auch davor. Das ging eine schöne Weile so weiter als Merry die Zwerge, Borko die Maggots und Bauer Maggot die Gemüsediebe hochleben ließen.

"Erzählt!", wurden die Abenteurer dann lautstark aufgefordert.
"Aber von vorne!", forderten viele Stimmen.
Pippin setzte sich inmitten seiner Kampfgefährten zurecht. Auch die Zwerge waren auf eine gute Geschichte gespannt, auch wenn sie den Schluss schon kannten.
"Unsere Reise war ein kompletter Fehlschlag ...", begann Pippin, und sofort hoben die Stimmen an und stellten Fragen nach dem Warum. Verwunderung machte sich breit.
"... denn wir haben es nicht geschafft, nach Bree zu kommen", fuhr Pippin fort. "Und das kam so ..."
Es wurde eine sehr lange Nacht für die Bürger von Hobbingen und Wasserau. Gomfour und seine Zwerge, Bauer Maggot und seine Knechte und Söhne und alle Hobbits lehnten sich zurück oder machten es sich vor dem "Grünen Drachen" gemütlich. Irgendwie gelang es dem Wirt und seinen Helferinnen, alle mit Bier zu versorgen und es wurde bald mucksmäuschenstill. Gemeinsam hörten sie bis zum Morgengrauen die Geschichte der drei Hobbits, die nicht nach Bree kamen.
 

© Dietmar Preuß
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