Eine kleine Armee
Etwa zwanzig Schritte vor dem Eingang, hinter
zwei Bäumen und ein paar Büschen, die links und rechts des Weges
standen, suchten sie Deckung. Merry, Borko und Pippin gingen alleine weiter,
wobei sie nun doch weiche Knie bekamen. Sie hatten ihre Pfeifen gestopft
und hielten vorsichtig die Glut in Gang. Zwischen sich trugen sie die Truhe
der Zwerge, die beinahe zu schwer für sie war. So gingen sie schnurstracks
auf den "Grünen Drachen" zu, in dem sich die Ostlinge breit gemacht
hatten.
Lärm war durch die offene Tür und
die beiden zerschlagenen Fenster zu hören. Gegröle und schrecklich
falsche Gesänge drangen heraus. Ab und zu hörte man, wie tönerne
Becher zerschlugen und schwere Bänke umkippten. Die Hobbits blieben
zwei Schritte vor dem Eingang stehen. Pippin sah Borko und Merry an. Jetzt
wurde es ernst. Sie gingen durch die offene Tür und die Augen aller
Strolche und Halunken wandten sich ihnen zu. Dreckige, bärtige Gesichter
drehten sich nach ihnen um, verschlagene Augen blitzten ihnen entgegen,
Münder voller schwarzer Ruinen öffneten sich. Einer, offensichtlich
der Anführer, stand auf.
"Drei kleine Halblinge mit einer Truhe", grölte
er. "Ist das wohl unser Wergeld? Wehe Euch, wenn nicht! Unsere Geduld geht
langsam zu Ende."
Für diese Beutelschneider musste ein
Hobbit wohl wie der andere aussehen, denn sie erkannten die Hobbits, die
zwei von ihnen schon einmal eine Abreibung verpasst hatten, nicht wieder.
Borko zog den Kopf zwischen die Schultern, als so viele grausame Gesichter
sie aus nächster Nähe musterten. Tapfer hielt er aber sein Ende
der Truhe fest.
Die drei Reisegefährten trugen die Truhe
bis ans hintere Ende des Schankraumes und stellten sie unsanft auf den
Boden. Es rumpelte laut, als der Bienenstock im Inneren einen Satz machte.
"Was wollt ihr uns anbieten, damit wir eure
Gastfreundschaft nicht länger in Anspruch nehmen, hä? Zeigt her,
ihr kleinen Ratten!", forderte der Hauptmann der Strauchdiebe, ein bulliger
Mann mit einer Narbe auf der Stirn.
Pippin nickte seinen beiden Mitstreitern zu.
Merry stieß Borko an, der beinahe vergaß, tüchtig an seiner
Pfeife zu ziehen und zu paffen.
"Wir haben etwas ganz Besonderes für
euch", kündigte Pippin an und hob mit einem Ruck den Deckel der Truhe.
Die Beornsbienen kamen mit einem wütenden
Brummen hervor. Zu lange waren sie eingesperrt gewesen und nun auch noch
unsanft durchgerüttelt worden. Zu ihrer Erleichterung sahen die Hobbits,
dass die Bienen so schnell wie möglich aus dem Rauch des Pfeifenkrauts
flogen, um dann um so wütender die Ostlinge anzugreifen. Nach wenigen
Sekunden glich das Innere der Schänke einem Tollhaus. Die Halunken
kamen nicht mehr dazu, ihre Schwerter und Dolche zu ziehen, sondern versuchten
verzweifelt, mit rudernden Armen die Bienen abzuwehren.
Die waren wirklich so groß wie junge
Spatzen. Ihre Stachel fuhren den Beutelschneidern tief ins Fleisch. Das
Gift der Bienen brannte und schmerzte, dicke Beulen bildeten sich auf den
Armen und Beinen und auch in den Gesichtern der Gestochenen. Die Ostlinge
schrieen vor Pein, sprangen durcheinander, suchten Erlösung, aber
fanden keine.
Die drei Hobbits standen dicht nebeneinander
mit dem Rücken zur Wand und beobachteten das Spektakel. Eine dichte
Rauchwolke hatte sich um sie gebildet, und sie zogen weiter kräftig
an ihren Pfeifen und pafften. Der Anführer der Ostlinge schaffte es
irgendwie, durch das Durcheinander von wirbelnden Beinen, schlagenden Armen
und böse summenden Beornsbienen auf die Hobbits zuzukommen.
"Das wird Euch noch leid tun, ihr kleinen
Ratten!", schrie er und heulte sogleich auf, als er einen Stich in sein
rechtes Augenlid bekam. Er zog den Krummsäbel und wollte ihn auf die
Hobbits niederfahren lassen. Die sprangen auf ein Zeichen Pippins nach
vorne und unterliefen den Schlag. Auf seiner von dem Stich ins Auge blinden
Seite stoben sie an dem Strolch vorbei und auf die Tür zu. Die anderen
Halunken bemerkten sie erst, als ihr Hauptmann laut "Hinterher!" brüllte.
Mit Glück erreichten Pippin, Merry und
Borko die Tür und stürzten ins Freie, immer noch ohne Stich.
Die Beornsbienen griffen weiter die Strauchdiebe an, die kurz hinter den
Hobbits ins Freie gelangten.
Der Vorsprung reichte den Hobbits, um ein
ordentliches Stück vor den Ostlingen bei den Bäumen zu sein,
hinter denen sich die Zwerge und Maggot mit seinem Gefolge verbargen. Pippin
bemerkte eine ruckartige Bewegung, und ein Seil, zweifach um jeden Baumstamm
gewunden, spannte sich über den Weg. Gomfours und Maggots Leute hielten
die Enden mit aller Kraft fest, eine Seite wurde von dem braven Pony unterstützt,
das sein ganzes Gewicht in die Fallstricke legte.
Merry, Borko und Pippin rannten johlend vor
der wütenden Horde von Ostlingen her und setzten über die Seile.
Die Halunken bemerkten das Seil nicht oder viel zu spät und rannten
mit voller Wucht hinein. Vor Schreck und Schmerz brüllend endete das
Dutzend Ostlinge in einem wirren Haufen verknäuelter Gliedmaßen.
Zwei von ihnen blieben für immer liegen, denn sie hatten sich bei
dem Sturz Schwerter und Dolche selbst in den Leib gestoßen.
Als die anderen Halunken aufsahen, waren sie
von zehn grimmigen, breitschultrigen Zwergen und neun ungewöhnlich
kräftigen Hobbits umzingelt. In ihren Augen stand wilde Entschlossenheit,
die erhobenen Schwerter, Äxte und Sensen zu gebrauchen.
Die Strolche verhielten sich plötzlich
sehr kleinlaut. Nur ihr Anführer stand auf, griff nach seinem Schwert
und wollte Gomfour Katzengold angreifen, der ihm am nächsten stand.
Der ließ nicht lange mit sich handeln, schwang die schwere Streitaxt
und spaltete den Halunken von der Schulter bis zum Gürtel mit einem
einzigen Hieb. Sofort hob er die Axt wieder und funkelte die neun verbliebenen
Halunken an.
"Bitte, wer ist der nächste?", sagte
er mit ausgesuchter Höflichkeit. Die anderen Zwerge traten einen Schritt
vor und hoben ihre Waffen höher. Aber als ihr Anführer wie ein
Sack Mehl auf sie fiel, warfen seine Kumpane ihre Waffen fort. Der Rest
war ein leichtes. Die Ostlinge wurden mit Stücken des Fallseils gebunden
und in einen kleinen Schuppen mit festem Tor gesperrt, der der Schänke
als Vorratsraum gedient hatte.
Als auch diese Arbeit erledigt war, brachen
Hobbits und Zwerge in lautes Jubelgeschrei aus und hieben sich gegenseitig
auf die Schultern. Die Hobbits begannen sogar im Kreis zu tanzen, die Zwerge
sangen ein Siegeslied dazu.
Die Beornsbienen aber, die den Beutelschneidern
nach draußen gefolgt waren, hatten Blüten und Blumen entdeckt,
die reichen Nektar versprachen. So ließen sie von den ohnehin in
die Flucht geschlagenen Ostlingen ab und verlegten sich aufs Honigsammeln.
Gomfour schickt zwei seiner Neffen mit brennenden Pfeifen los, um die Truhe
mit dem Stock auf den Hügel oberhalb des "Grünen Drachen" zu
tragen. Seitdem gab es in Hobbingen den besten Honig und den süffigsten
Met im ganzen Auenland.
Der fröhliche Jubel, der nicht von den
fremden Halsabschneidern stammen konnte, lockte endlich auch die anderen
Hobbits des Dorfes zum "Grünen Drachen". Gesichter erschienen hinter
kleinen Höhlenfenstern, Nasen wurden vorsichtig durch Türspalte
gesteckt, aber nur tanzenden Zwerge und Hobbits, unter ihnen Meriadoc Brandybock,
Peregrin Tuk und Borko Stolzfuß, waren auf dem Weg zu sehen.
So versammelten sich mehr und mehr Hobbits
aus Hobbingen und auch Wasserau in ihrer Dorfschänke. Die Erleichterung
war bei jedermann groß, als zu hören war, dass die Südländer
besiegt und eingesperrt waren.
Viele Hobbits mussten vor der Schänke
stehen bleiben und spekulieren, was im Inneren besprochen wurde. Wilde
Gerüchte und Geschichten machten die Runde und alles plapperte aufgeregt
und erleichtert durcheinander.
Die Zwerge, Maggot und seine braven Söhne
und Knechte und vor allem Merry, Pippin und Borko bekamen Ehrenplätze
nahe beim Feuer. Ein neues Fass wurde angestochen und Borko war der erste,
der einen Trinkspruch ausbrachte:
"Auf unseren Anführer Peregrin Tuk, den
zukünftigen Thain des Auenlandes!", rief er und nahm einen tiefen
Zug Gerstenbier, das ihm so gut wie nie zuvor schmeckte.
Der Trinkspruch wurde nach draußen weitergegeben,
und alle ließen Pippin hochleben. Natürlich wurden die Hobbits
umso neugieriger, weil ausgerechnet Borko Stolzfuß diesen Spruch
ausgebracht hatte. Pippin stand auf und verbeugte sich dankend in Richtung
Borko. Nun war es an ihm, den nächsten Spruch auszubringen.
"Auf Meriadoc Brandybock und Borko Stolzfuß,
die sich in den letzen Tagen als tapfere Hobbits und brave Gefährten
erwiesen haben, alle beide."
Wieder jubelte es zuerst im Inneren der Schenke,
kurz darauf auch davor. Das ging eine schöne Weile so weiter als Merry
die Zwerge, Borko die Maggots und Bauer Maggot die Gemüsediebe hochleben
ließen.
"Erzählt!", wurden die Abenteurer dann
lautstark aufgefordert.
"Aber von vorne!", forderten viele Stimmen.
Pippin setzte sich inmitten seiner Kampfgefährten
zurecht. Auch die Zwerge waren auf eine gute Geschichte gespannt, auch
wenn sie den Schluss schon kannten.
"Unsere Reise war ein kompletter Fehlschlag
...", begann Pippin, und sofort hoben die Stimmen an und stellten Fragen
nach dem Warum. Verwunderung machte sich breit.
"... denn wir haben es nicht geschafft, nach
Bree zu kommen", fuhr Pippin fort. "Und das kam so ..."
Es wurde eine sehr lange Nacht für die
Bürger von Hobbingen und Wasserau. Gomfour und seine Zwerge, Bauer
Maggot und seine Knechte und Söhne und alle Hobbits lehnten sich zurück
oder machten es sich vor dem "Grünen Drachen" gemütlich. Irgendwie
gelang es dem Wirt und seinen Helferinnen, alle mit Bier zu versorgen und
es wurde bald mucksmäuschenstill. Gemeinsam hörten sie bis zum
Morgengrauen die Geschichte der drei Hobbits, die nicht nach Bree kamen.
© Dietmar
Preuß
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