Die Nahrung Urygers von Michael Höfel

Es war ruhig, dachte Arek, während er das Boot in den kleinen Hafen Garha Seens manövrierte. Zu ruhig. Auch seinem Freund Gerim war nicht wohl zumute, das spürte er, ohne ihn anzusehen, geschweige denn auf den rasselnden Atem Gerims zu achten. Es war unheimlich.
Das kleine Hafenbecken war ohne jegliches Leben. Kein geschäftiges Treiben, kein reges Führen von Gesprächen, kein von lautstarkem Feilschen begleiteter Tauschhandel unter den Bewohnern, kein Tratsch, der Ausrufe wie "Wirklich?" oder "Das gibt’s ja nicht!" provozierte - Garha Seen wirkte verlassen. Wie ausgestorben.
Ein kalter Schauer lief Arek wie eine Armee eisiger Tausendfüßler über den Rücken. Ausgestorben. Als hätte der Schwarze Tod in Garha Seen Einzug gehalten. Er schüttelte den Kopf, wie um diesen absurden Gedanken von sich zu weisen. Die große Seuche war seit mehreren Dezennien vom Antlitz der Welt getilgt, nachdem ihr unzählige Männer und Frauen, Kinder und Greise zum Opfer gefallen waren. Was war während ihrer Abwesenheit in Garha Seen geschehen?
"Arek, was ... was hat das zu bedeuten?", fragte Gerim. Die Unsicherheit, welche in seiner Stimme mitschwang, löste auch in Arek ein ungutes Gefühl aus. Garha Seen, die kleine fröhliche Gemeinde der lebensfreudigen Fischer und mutigen Seefahrer - von einem gehässigen Schicksal mit sinistrer Stille belegt.
"Ich weiß es nicht.", gab Arek mit einiger Verspätung zurück. Dann gab er sich innerlich einen Ruck und wandte sich an seinen Gefährten. "Mach dir mal keine Sorgen. Es gibt bestimmt eine Erklärung für das alles." Die Frage war nur, dachte er, bei weitem nicht so überzeugt wie er sich nach außen hin gab, ob wir es wissen wollen.
Im Hafenbecken angekommen, vertäuten sie ihren Weidling an dem Kai. Noch immer keine Menschenseele zu sehen. Das mulmige Gefühl, dessen Saat mit ihrer beider Rückkehr in das scheinbar verlassene Garha Seen in Areks Herz eingepflanzt worden war, wuchs, knospte, trieb die ersten dunklen Blüten.
"Ihr Götter, was ist geschehen? Ist das die Stille des Schnitters?", riss Gerim ihn aus seinen Gedanken.
"Ich weiß es nicht", antwortete Arek wahrheitsgemäß, während er den Blick über das menschenleere Hafenbecken schweifen ließ. Dann wandte er sich zu seinem Freund um. "Lade du schon mal unseren Fang aus. Ich sehe mich einmal um."
Er wollte sich umdrehen und in Richtung Dorfplatz gehen, doch Gerim griff nach seinem Arm. "Lass mich bitte nicht allein, Arek. Tu mir das bitte nicht an." Sein Atem begann immer mehr an Geschwindigkeit zuzulegen. "Es ist ... unheimlich. Irgendetwas Schreckliches ist mit Garha Seen geschehen. Das musst du doch auch schon bemerkt haben."
Und wie, mein Freund, dachte Arek, und wie ich das schon bemerkt habe. Gerim hatte Recht. Die böse Aura, die über ihrem geliebten Dorf lag, war nur all zu deutlich zu spüren. Er hatte das Gefühl, sie mit bloßen Händen berühren zu können. Er konnte die Existenz des unsichtbaren Giftes fühlen, ihre nicht mit dem Auge wahrnehmbare Last regelrecht auf seinen Schultern spüren. Was war hier nur geschehen?
Er schüttelte diesen Gedanken ab, rief sich innerlich zur Ordnung. Es brachte absolut nichts, hier am Kai zu stehen, die sowieso im Entstehen begriffene Panik auch noch zu schüren und auf ein Zeichen der Götter zu warten, welches ihnen die Wahrheit offenbarte. Er streifte Gerims Hand von seinem Arm. "Ich werde mich mal umsehen.", sagte er erneut. "Lade du derweil die Fische aus."
Wieder griff Gerim nach dem Arm seines Freundes, um ihn zurückzuhalten. "Verdammt, lass die Fische aus dem Spiel!", schrie Gerim. Sein Atem ging schnell, er schnappte nach Luft, als hätte er den Weiten Marsch hinter sich. In seinen Augen bildete sich eine schimmernde Schicht aus Tränen, in denen sich das Licht der Sonne brach. Arek blinzelte ein-, zweimal, doch das Bild blieb dasselbe: sein Gefährte Gerim, bekannt als einer der furchtlosesten Fischer Garha Seens, nun ein zitterndes Häufchen Elend, dessen Feigheit bis zu den Göttern im Himmel stank. Ihr Götter, dachte er, was geschieht hier nur?
Er streifte Gerims Hand von seinem Arm und legte ihm gleichzeitig die andere Hand auf die Schulter. "Beruhige dich, mein Freund.", redete er seinem verängstigten Gegenüber zu. "Es hat doch keinen Sinn, in Panik zu geraten." Er lächelte in dem Versuch, Gerim etwas von seiner verkrampften Haltung zu nehmen. "Weißt du was? Ich werde mich mal im Dorf umsehen." Er hob die Hände, als Gerim - in schiere Verzweiflung, wie es ihm vorkam - auffahren wollte. "Keine Angst. Ich bleibe nicht lange weg. Und mit dem Erstbesten, den ich hier antreffe, komme ich auf schnellstem Wege zurück. Einverstanden?"
Gerim wollte noch etwas sagen, doch schon drehte sich Arek, ohne die Antwort seines Freundes abzuwarten, auf der Stelle um und rannte los in Richtung Garha Seen.

*

Das knirschende Geräusch seiner Schritte war das Einzige, was den stummen Vorhang der Stille durchbrach, der sich über das einst so von freudigem Leben gezeichnete Fischerdorf ausgebreitet hatte wie ein lautschluckendes Leichentuch. Arek stand vollkommen allein auf dem Dorfplatz, wo früher das Leben zu Hause gewesen, nun aber des Schnitters Stille an dessen Stelle getreten war. Auf dem Weg von ihrem Boot hierher war er nicht einer Menschenseele begegnet, nicht einmal - und das schraubte sein ungutes Gefühl noch einmal ein gehöriges Stück in Richtung Panik hinauf - irgendeinem Anzeichen von Leben. Kein Hundegebell, keine streunende Katze, nicht einmal ein verdorbener Fisch in diesem Fischerdorf. Arek wusste nicht, was sich hier während ihrer Abwesenheit zugetragen hatte, aber was immer es war - es war schrecklich gewesen. Das war nicht nur so ein flüchtiger Gedanke, der sich in Areks von Angst zerfressenem Gehirn breit machte; es war, so irrational es auch klingen mochte, reines Wissen. Ein Wissen, das einfach da war.
Und gerade dieses einfach da war machte es beinahe unerträglich.
Sein Blick streifte die aus Holz und Stein erbauten Hütten, auf der Suche nach etwas, das ihm weiterhelfen würde, einem Zeichen, welches ihm erzählen könnte, was das friedliche Garha Seen heimgesucht hatte. Er ließ den Blick über die nun unbewohnt wirkenden einfachen Behausungen schweifen -
- und zuckte wie unter dem Gefühl, Dutzende haarige Spinnen den Rücken hochkrabbeln zu spüren, zusammen. Er kniff die Augen zu schmalen gewahrenden Schlitzen zusammen und blickte in den Schatten, der den schmalen Durchgang zwischen zwei Hütten ausfüllte. Nichts rührte sich. Machte ihm diese Situation so zu schaffen, dass er nun an Halluzinationen litt ... oder hatte sich vorhin wirklich etwas in diesem Konglomerat aus Schatten bewegt? Unsinn, dachte Arek, da geht meine Phantasie mit mir durch.
Das dachte er ungefähr vier, fünf Sekunden lang - so lange, bis er sich umdrehte und nur mit Mühe einen Schrei unterdrücken konnte. Es war keine Einbildung gewesen. In den Schatten bewegte sich wirklich etwas. Oder besser gesagt: Die Schatten bewegten sich. Sie zogen sich zusammen und dehnten sich wieder, zogen sich erneut zusammen und entfalteten sich wieder, so als ob sie irgendeine Abscheulichkeit zu gebären gedachten, die nicht von dieser Welt war.
Es sah so ... abartig und durch und durch böse aus, so grundlegend anders als alles Atmende - ja sogar als das Leben selbst -, dass es eigentlich gar nicht existieren konnte, nicht existieren durfte. Als hätte sich die Geometrie und überhaupt das Wesen der Welt ins Gegenteil umgestülpt.
Doch gleichzeitig strömte das wabernde Konglomerat aus schattenhaftem Wahnsinn und unmöglicher Schwärze etwas ... Vertrautes aus, als wäre es schon immer in diesem Dorf gewesen, schon immer ein Teil Garha Seens gewesen.
Das Pulsieren inmitten der namenlosen Schatten nahm noch einmal deutlich zu, die finsteren Wehen wurden stärker, das Kind der Schwärze wurde geboren - und nahm die schemenhafte Gestalt eines Menschen an. Die eines großen stämmigen Mannes. Auch das war nur sehr schwer zu erraten, da die Schatten, die diese Gestalt ausmachten, in ständiger, unermüdlicher Bewegung waren, zerfließen, nur um sich erneut zusammenzusetzen zu dieser Gestalt, die etwas so Vertrautes ausstrahlte, dass es Arek etwas von dem Entsetzen, mit dem er den Reigen aus geronnener Schwärze anstarrte, nahm. Doch er brauchte sich nicht konzentrieren, um diesem Spiel schauriger Schatten die Form des kräftigen Mannes abzugewinnen. Es war erneut dieses Wissen, das einfach da war und ihm zuflüsterte, was die pulsierende Dunkelheit in die Welt gesetzt hatte.
Der Mann hob die Hände an den Mund, formte sie zu einem Trichter und schien ihm etwas zuzurufen. Doch so sehr sich auch Mühe und Anstrengung auf dem unruhigen Gesicht abzuzeichnen schienen, so wollte kein Ton über seine schwarzen Lippen kommen.
Der Mann zerfloss und die Schatten wirbelten noch einige Sekunden in einem wahrhaft düsteren Durcheinander herum, bevor sie sich erneut vereinigten und Arek das fließende Bildnis eines gebrechlichen, vom Alter gebeugten Greises zeigten. Mit einer Hand auf einen stetig zerfließenden und neu entstehenden Stock aus Schatten gestützt, hob er die andere, so als ob er Arek zuwinken wolle. Nein, dafür war die Bewegung zu hektisch. Als ob er ihn zum Gehen überreden wolle. Die Gestik des Alten wurde immer hektischer. Wollte er ihn vor etwas warnen?
Was immer der Greis ihm sagen wollte, er kam nicht dazu, deutlicher zu werden, denn erneut zerfloss das Bild und nahm nach einem kurzen, aber nichtsdestotrotz wilden Tanz die zierliche Erscheinung eines kleinen Mädchens an. Sie hüpfte aufgeregt herum, deutete ohne Zweifel auf Arek und schrie lautlose Schreie, bevor auch sie dasselbe Schicksal erlitt wie die Menschen - waren es wirklich Menschen? - zuvor und der schlanken Figur einer jungen Frau Platz machte.
Erneut durchflutete Arek eine Welle der Vertrautheit und - rational gesehen, vollkommen deplatzierter - Erleichterung, die kalten Ketten, in welche sein Herz geschlagen worden war, lockerten sich; widerwillig zwar, aber doch. Die Frau starrte ihn aus großen, tiefen Augen an, Abgründe vollkommener Dunkelheit. Dann lichtete sich der traurige, resignierte Ausdruck auf ihrem Gesicht, ihr Mund öffnete sich langsam, als habe sie etwas erblickt, das zu sehen sie sich nicht mehr erhofft hatte. In den Seen aus geronnener Schwärze, die ihre Augen sein mochten, begann etwas aufzuleuchten, wie eine flammende Insel im Ozean der Finsternis. Die junge Frau, die mit jeder ihrer Bewegungen pure Vertrautheit durch Areks Adern jagte, schien losrennen, auf ihn zuzulaufen zu wollen. Doch irgendetwas hielt sie zurück. Sosehr sie sich auch anzustrengen schien, sie konnte den Schatten, der sie geboren hatte, nicht verlassen. Verzweiflung machte sich auf ihrem zarten Gesicht breit, Tränen liefen wie glitzernde Perlen ihre schattigen Wangen herab und hinterließen Bahnen aus gleißendem Licht, so als hätten sie dort, wo sie herabrannen, die Dunkelheit durchbrochen, aus der sie bestand.
Die junge Frau stürzte auf der Stelle und noch während sie sich aufrappelte, zerfloss ihr Bildnis in tausend tanzende Schatten, die sich nicht lange darum bitten ließen, die nächste arme Seele aus dem Schattenreich zu formen.
Ein knarrendes Geräusch riss ihn aus der Rolle des passiven Beobachters und ließ ihn  herumfahren. Sein Herz schien einen Moment lang auszusetzen und diesen Fauxpas dann mit einer solch hohen Frequenz ausgleichen zu wollen, als hege es den Plan, ihm aus der Brust zu springen. Ein Geräusch, dachte er, während in ihm die Saat der Hoffnung aufkeimte. Zu einem Geräusch gehörte auch immer jemand, der es erzeugte.
Zuerst erblickte er gar nichts, auch das Geräusch von eben dachte scheinbar nicht im Traum daran, sich nochmals hören zu lassen, dann kam erneut frischer Wind auf und eine lose in den Angeln sitzende Holztür schwang langsam und knarrend auf und zu. So einfach machen es dir die Götter scheinbar nicht, dachte Arek voller Trauer, ehe er sich wieder der Stelle zuwandte, wo Schatten und Dunkelheit ihren unheimlichen Reigen geführt hatten.
Nichts. Kein wirbelndes Durcheinander von Schwärze in verschiedenen Nuancen. Keine Menschen aus Schatten, die ihn vor etwas zu warnen schienen und die ihm so vertraut vorgekommen waren.
Keine junge Frau, die mit ihren Gesten der Verzweiflung und der Hoffnung etwas tief in ihm berührt hatte.
Und dann, von einer Sekunde auf die andere, durchzuckte es ihn wie ein lautloser Blitz, gefolgt von einem Donner purer Panik. Er blieb noch ein, zwei Sekunden lang wie zur Salzsäule erstarrt stehen, dann rannte er los.

*

Seine Lungen schrieen nach Luft, obwohl er erst ein paar Meter zurückgelegt hatte, und das durchtriebene Schicksal, das ihm so lange die Augen vor der Wahrheit verbunden hatte, ließ es sich nicht nehmen, ihm auch noch einen gehässigen Gefährten in Form von schmerzendem Seitenstechen zur Seite zu stellen. Immer und immer wieder fragte er sich mit schierer Verzweiflung, warum er so lange gebraucht hatte, um zu erkennen. Um die Menschen, die die Schatten ihm gezeigt hatten, als ihm wohlbekannte Menschen aus Garha Seen zu identifizieren. Lukar, der stämmige Fischer, bekannt als "der Unerschrockene". Der Dorfoberste, der alte Greis mit dem Stock. Lilia, die ebenso zierliche wie sture Tochter von Gollack dem Schmied.
Und Iulia, die junge Frau mit den tiefen Augen - seine Frau!
Wie konnte es nur sein, dass er mit den Gestalten keine Freunde, nicht einmal seine eigene Frau assoziieren konnte? War es möglicherweise der Schrecken, der seit seiner Rückkehr nach Garha Seen seine Krallen in seine Gedanken getrieben hatte? Oder zeichnete sich gar das unsichtbare Gift, das sich hier ausgebreitet hatte, für diesen grauenhaften Gedächtnisschwund verantwortlich?
Vor der Hütte, die Iulia und er bald zu dritt teilen würden - seine Frau erwartete ein Kind -, angekommen, stürmte Arek ohne zu zögern hinein und blickte sich um. "Iulia!", schrie er keuchend. Niemand antwortete. Die allgegenwärtige Stille nahm seine verzweifelten Rufe scheinbar genüsslich auf; ein stiller Spott auf jemanden, der halb verrückt vor Angst um seine geliebte Frau war.
"Iulia! Wo bist du?", schrie er mehrmals; wobei es sich eigentlich mehr um eine rhetorische Frage handelte. Er hatte gesehen, wo sie und die anderen waren, und er bezweifelte nicht, dass auch alle anderen Dorfbewohner dasselbe schreckliche Schicksal ereilt hatte. Anfangs hatte er befürchtet, der Schnitter hätte sich ihrer bemächtigt; nun wusste er, dass der Tod ein gnädiges Schicksal gegenüber dem war, was mit Iulia und den anderen geschehen war.
Plötzlich spürte er den Geruch verfaulenden Fisches in seine Nase steigen, schlimmer noch, in wenigen Sekunden füllte sich die gesamte Hütte mit einem bestialischen Odem, als hätten alle Fische der Ozeane gleichzeitig ihr Leben ausgehaucht. Ihm wurde schwarz vor Augen. Dunkelheit bedeckte immer mehr und mehr sein Blickfeld, und er musste sich übergeben. Immer mehr und mehr schickte der Magen seinen Inhalt auf demselben Weg zurück, wie er gekommen war. Arek schwankte und hielt sich an einem hölzernen Pfosten an, um nicht vollends zusammenzubrechen. Seine Beine versagten ihm ihren Dienst. Als sein Magen schließlich die Revolte beendet hatte, drehte sich Arek auf unsicheren Füßen um, Richtung Tür, um an die frische Luft zu kommen.
Und erstarrte.
Der Türrahmen wurde von einer Gestalt ausgefüllt, dürr und gekrümmt und bleich wie Knochen. Schwarzes, nasses Haar hing ihr wie schleimige Fäden ins leichenfahle Gesicht, ihre Augen leuchteten unheimlich golden. Arek glaubte einen Mann vor sich zu haben, doch zwischen den Beinen, wo die Genitalien sein sollten, war nichts. Auf mehreren Stellen des Körpers brach sich das Licht und Arek erkannte, dass der Leib des Fremden mit Schuppen übersät war; hier und da war auch eine kleine Muschel vorhanden. Zwischen den einzelnen Fingern spannten sich dünne Schwimmhäute.
Der Unbekannte war der Ursprung des infernalen Gestanks.
Und - das wusste Arek von dem Augenblick an, da er ihn gesehen hatte - er war die Quelle des Übels, welches Garha Seen heimgesucht hatte.
"Was hast du mit Iulia und den anderen getan?", fragte Arek zitternd.
Der gebückte Fremde machte eine Kopfbewegung, als würde er den jungen Fischer nicht verstehen - Arek befürchtete sogar, dass diese Ausgeburt der Unterwelt nicht einmal des Fárányischen mächtig war -, doch dann formten die blassen Lippen des Fremden ein durch und durch bösartiges Lächeln und er antwortete mit etwas Verspätung: "Ach, sie waren köstlich." Eine wurmartige schwarze Masse aus Fleisch und Haut, die scheinbar die Rolle der Zunge innehatte, fuhr über die bleichen Lippen.
Wie betäubt stand Arek da, zu keiner Regung fähig. Sie waren köstlich? Er hatte sie gefressen?
"Du ... du hast ... sie ...", würgte Arek mühsam hervor, brach dann aber ab, als sein Magen erneut mit dem Gedanken an Rebellion liebäugelte.
Das höllische Feixen auf dem deformierten Gesicht seines unheimlichen Gegenübers wurde breiter. "Ihre Erinnerungen.", hohnlächelte der Unbekannte. "Sie waren köstlich."
Arek brauchte einige Sekunden, bevor er begriff, was diese stinkende Kreatur von sich gegeben hatte. "Ihre ... Erinnerungen?", fragte er ungläubig.
Nun entrang sich der Kehle des Fremden - oder was immer er stattdessen besaß - ein Geräusch, das Arek als spöttisches Lachen interpretierte. "Ja, Erinnerungen. Davon ernährt sich Uryger."
Areks Verwirrung wuchs erneut um ein deutliches Stück. "Du ... du ernährst dich von ... Erinnerungen?"
Erneut fuhr sich der Fremde, Uryger mit Namen, mit der glitschigen Zunge über die Lippen. "Ja. Sehr köstlich. Uryger liebt Erinnerungen."
Verwirrung brach sich erneut Bahnen in Areks Gedanken. Dieses ... Ding ernährt sich von Erinnerungen?
"Was hast du mit den Menschen gemacht? Was hast du mit ihnen gemacht?"
Erneut benetzte der schwarze Wurm Urygers Lippen. In seinen golden glänzenden Augen blitzte etwas auf. "Mit den Menschen? Genommen hat sich Uryger ihre Erinnerungen. Erinnerungen von Menschen seine Nahrung."
Nun schlug das Chaos an Gedanken endgültig in Wut um. Wer oder was immer dieses Monstrum war, es hatte Iulia etwas Schreckliches angetan, etwas so Furchtbares, dass es keinen Namen dafür gab. "Verdammt noch mal, was hast du mit den Menschen gemacht, die hier gelebt haben?", schrie er.  "Was hast du mit Iulia gemacht?"
Erneut blitzte es in den bernsteinfarbenen Augen der Kreatur auf. Was auch immer dieser ... Uryger dachte - Arek konnte nichts in seinen Augen erkennen. Nichts, bis auf eines: das unvorstellbar Böse, so unbegreiflich tief und doch so deutlich, dass es dem jungen Fischer beinahe noch mehr den Atem nahm als der Gestank nach totem Fisch.
"Iulia. Deine Frau, nicht wahr? Sehr gute Erinnerungen. Auch die von ungeborenem Kind - sehr gut."
Ein Schlag ins Gesicht hätte Arek nicht härter treffen können. Seine Lippen begannen zu beben, seine Finger zu zittern. Seine Kehle wurde von einem Augenblick auf den anderen staubtrocken, er konnte keine Worte von sich geben. Dann, plötzlich, zersprangen die Ketten der Benommenheit, seine Wut flammte auf, als hätte das Monstrum Öl in ein Feuer gegossen. Mit einem Satz war er vor der gebeugten Kreatur und griff nach ihrer Kehle, um das Leben aus ihr herauszupressen. Doch seine Hand griff ins Leere, stattdessen spürte er plötzlich einen brennenden Schmerz in der rechten Hüfte. Er schrie auf, stolperte und fiel zu Boden, wodurch er sich noch zwei Schürfungen einhandelte.
Mit einem Ruck richtete sich Arek halb auf und gewahrte die Verletzung, die dieser Uryger ihm zugefügt hatte: blutende Schnittwunden. Die erbarmungslose Kreatur war auf die andere Seite des Raumes geflüchtet. Krallen zierten seine ehemals harmlos wirkenden Finger. Ein erzürnter Ausdruck beherrschte sein blasses Gesicht, die Augen waren zusammengekniffen.
Den brennenden Schmerz ignorierend, stemmte sich Arek vollends hoch. Mit wachsamen Augen beobachtete er das Böse in Fischmenschengestalt.
"Wo ... wo sind meine Frau und die anderen?"
Urygers Leichenlippen umspielte erneut ein gehässiges Grinsen. "Die Menschen weg. Menschen ohne Erinnerung nur noch Schatten ihrer selbst. Ohne Erinnerung Körper verschwinden. Menschen nur noch in Schatten."
Das war ein weiterer verbaler Faustschlag ins Gesicht, so hart, dass Arek sogar Knochen brechen zu hören glaubte. Iulia, dachte er - und musste an den Schatten seiner Frau denken. Sie hatte ihn warnen wollen. Sie alle hatten ihn warnen wollen. Doch Schatten waren eben nur Schatten. Nur noch Schatten.
Seine Hände, bis jetzt zu Fäusten geballt, öffneten sich. Tränen sammelten sich in seinen Augen. Doch noch gestattete er sich nicht zu weinen. Noch nicht.
"Gib ... gib ihnen die Erinnerungen zurück."
Nun nahm ein Ausdruck des Erstaunens, ja sogar der Verwirrung Urygers totenblasses Antlitz für sich ein. Seine Augen starrten ihn fragend an.
"Gib ihnen ihre Erinnerungen zurück, hast du verstanden? Gib sie ihnen zurück! Hol sie aus den Schatten zurück!", schrie Arek.
Nun schien die bösartige Kreatur zu verstehen, denn der Ausdruck des Spotts und des Hohns eroberte sich seinen scheinbar angestammten Platz auf der grotesken Karikatur eines Gesichts zurück.
"Nicht möglich. Genommene Erinnerungen kann Uryger nicht zurückgeben."
Nun war der letzte Strohhalm, an den sich Arek geklammert hatte, durchgetrennt und als wäre das nicht genug gewesen für einen jungen Fischer, der eine Familie aufbauen wollte, fügte das Untier, welches die Hölle ausgespuckt zu haben schien, hinzu: "Wenn du etwas gegessen, du kannst auch nicht zurückgeben. Genauso mit Erinnerungen. Menschen nun ewig Schatten."
Nun weinte er, gab der ungeheuren Trauer nach, wollte nicht dagegen ankämpfen. Seine Beine gaben nach, er kniete nieder. Zähren tropften zu Boden. Seine Finger krallten sich in seine Knie ein.
Ohne Vorwarnung stürmte Uryger los und bevor Arek überhaupt wusste, wie ihm geschah, war die Kreatur hinter ihm, sprang ihm auf den Rücken und schlug ihre Krallen in sein Fleisch. Der junge Fischer schrie auf vor Schmerzen, jede Faser in seinem Körper schien in Flammen zu stehen. Geifer tropfte vom Maul, das Uryger aufgerissen hatte und nadelspitze Zähne entblößte, auf Areks Nacken.
"Du bald auch Schatten sein. Uryger nimmt sich deine Erinnerungen."
Und damit versenkte das Untier seine Zähne in Areks Hals.

*

Dunkelheit umfing ihn, vollkommen und wohltuend. Er griff sich mit der Hand an den Hals, dort, wo Uryger seine Zähne in sein Fleisch gegraben hatte. Kein Schmerz, nur wohltuende Wärme. Er betrachtete seine Hand. Kein Blut. Seine Hand selbst war nur noch ein schattenhafter Schemen.
Aus der allgegenwärtigen Dunkelheit - er vermochte nicht zu sagen, ob es vor oder hinter ihm geschah - schälten sich zwei, nein drei Gestalten heraus. Lukar, der stämmige Fischer; der Dorfoberste; Lilia, die Tochter des Schmieds. Sie näherten sich ihm, ohne wirklich zu gehen. Überall um ihn herum begannen sich Gestalten aus der geronnenen Schwärze zu herauszubilden. Gilia, die Frau Lukars; Gollack der Schmied und sein Eheweib; Krigo und Jalvier und Frenso und alle seine anderen Freunde, allesamt Fischer wie er. Dann gebar die Dunkelheit eine weitere Gestalt - Gerim. Sie alle umringten den Neuankömmling, den sie über die Schatten, ihren einzigen Zugang zur Wirklichkeit, vor dem Ungeheuer Uryger zu warnen versucht hatten.
Dann pulsierte die Finsternis vor ihm erneut - und brachte ihm seine geliebte Frau Iulia. Sie umarmten einander. Ihr Bauch schien wieder etwas zugenommen zu haben. Arek hatte zu dem Zeitpunkt resigniert und sein Leben in die Klauen Urygers gelegt, als er erkennen musste, dass er Iulia niemals wieder sehen würde; außer im Reich der Schatten, dem Ort ohne Erinnerung.
Er lächelte seine Frau an. Er hatte Wort gehalten. Er hatte den Schwur, den sie sich gegeben hatten, nicht gebrochen: "Bis zum Tod und darüber hinaus vereint."
Er küsste sie leidenschaftlich.

*

Es war ruhig, dachte Maros, während er das Boot in den kleinen Hafen Garha Seens manövrierte. Zu ruhig. Auch seinem Freund Arango war nicht wohl zumute, das spürte er.
Das kleine Hafenbecken war ohne jegliches Leben. Kein geschäftiges Treiben, kein reges Führen von Gesprächen, kein von lautstarkem Feilschen begleiteter Tauschhandel unter den Bewohnern, kein Tratsch unter den Frauen - Garha Seen wirkte verlassen.
"Sieh doch mal.", rief Arango plötzlich und deutete auf ein kleines Fischerboot an einem Kai, nicht größer als ihr eigenes. "Scheint, als wären Arek und Gerim schon zurück."
 

© Michael Höfel
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