Seltsam. Wo war er hier? Der Drache schlug
mit den Flügeln. Besser gesagt, er versuchte es. Aber es ging nicht.
Warum nicht? Er wusste es nicht. Doch es machte ihn wütend. Plötzlich
erinnerte er sich wieder: Er hatte gekämpft, gegen einen Magier. Der
Magier hatte seine Seele eingesperrt!
Noch wütender als zuvor brüllte
der Drache, versuchte die Wände seines Gefängnisses einzureißen.
Im gleichen Moment schrie das Kind.
Sie gaben ihm den Namen Garduin, was in der
einzigen Sprache, die sie beherrschten ‚der den Wind liebt’ bedeutete.
Sie wussten nicht, wie Recht sie doch hatten, wenn sie sagten, dass er
anders sei, als die anderen Kinder. Ja, er war anders, aber auf eine schwer
zu beschreibende Art und Weise. Außerdem war er blind. Garduins blaue
Augen waren trüb, wie von einem dünnen, milchigen Schleier bedeckt,
den er aus eigener Kraft nicht fortwischen konnte. Seine Welt blieb dunkel
und sie war auch schon dunkel gewesen, solange er denken konnte.
Er lebte mit einem alten Mann zusammen in
einer windschiefen Karte eines Dorfes, das so klein und so von Bergen umgeben
war, dass es nicht einmal auf den Karten der Wanderpriester erschien. Niemand
verirrte sich hierher und seit Garduins Geburt war kein Fremder mehr in
das Dorf gekommen. Seit seiner Geburt...
Der alte Mann erzählte ihm einmal, dass
kurz, bevor er geboren wurde ein Mann in das Dorf kam, den Mantel in Fetzen,
auf einen mannshohen Stock gestützt. Die Familie seiner Mutter hatte
dem Mann Unterschlupf gewährt, obwohl alle Leute meinten, er müsse
wohl ein Magier sein.
Jedenfalls wurde in dieser Nacht Garduin geboren,
und seine Mutter starb dabei. Sein Vater erhängte sich aus Schmerz
über ihren Tod, kaum dass der Magier von dannen gezogen war. Seine
Familie wollte nichts mehr mit dem Säugling zu tun haben und so nahm
ihn der alte Mann zu sich, der sowieso schon als wunderlich galt.
Heute war schönes Wetter, das spürte
Garduin. Er konnte die Wärme der Sonne fühlen. Lachend lief er
zur Kate des alten Mannes. Unter seinen Füßen raschelte das
Gras. Es war sein fünfzehnter Geburtstag, das hatte der alte Mann
bestimmt nicht vergessen.
Vorsichtig tastete er nach dem Türrahmen
und trat dann in die Kate. Sein Fuß stieß gegen irgend etwas,
etwas Weiches, lebloses...
Garduin ließ sich auf die Knie nieder
und tastete nach dem Ding, das da vor ihm lag. Als er die Falten im Gesicht
des alten Mannes spürte, begriff er plötzlich, was hier geschehen
war: Die Dorfbewohner hatten den Alten einfach umgebracht! Doch warum hatten
sie fünfzehn Jahre lang damit gewartet?
Er spürte ihre Anwesenheit. Die vertrauten
Geräusche von Männern, die atmeten, aber auch eine Aura von Feindseligkeit,
die er nicht begründen konnte. Dann traf es ihn wie ein Schlag: Der
Magier war wieder hier!
Mit dieser Erkenntnis zerbrach etwas in dem
blinden Jungen. Plötzlich wurde ihm so einiges klar. Dieser Mann war
dafür verantwortlich, das er blind war!
Der fremde Magier murmelte einen halblauten
Fluch, und dann merkte Garduin, dass er sehen konnte.
Der Drache hatte lange gewartet, hatte einen
fast schon absurden Traum geträumt, der davon handelte, ein blinder
Knabe zu sein. Der Traum hatte fünfzehn Jahre angehalten. Aber dann
hatte er vom Tod seines Ziehvaters geträumt, den Schmerz gefühlt,
doch auch die Anwesenheit des Magiers, seinem Feind! Und da hatte der Drache
erkannt, dass es gar kein Traum gewesen war, sondern dass er all dies zusammen
mit der Seele eines blinden Jungen namens Garduin erlebt hatte. Garduin
- sein eigener Name!
Er wusste nun, was der Magier mit ihm getan
hatte: Dieser Teufel hatte seine Seele in die eines kleinen Kindes gepflanzt.
Dennoch war er ein Drache. Auch, wenn er zur Hälfte ein Mensch war,
denn die beiden Seelen hatten sich scheinbar für immer miteinander
verbunden.
In dem Moment, als Garduin sehen konnte, erkannte
der Magier, dass er bei seinem Plan, den Drachen eines sterblichen Todes
zuzuführen einen Fehler gemacht hatte. Selbst eine menschliche Seele
hat genug Kraft, sich so einem Zauber zu widersetzen, gepaart mit der Energie
eines Drachen...! Der Zauberkundige hatte gehofft, dass der Junge niemals
den Weg aus seiner Blindheit finden würde, doch mit dem Tod des alten
Mannes, der ihm ein Vater gewesen war, hatte Garduins Gefängnis einen
Riss bekommen. Und nun würde der Drache diese Chance nutzen.
Garduin spürte, wie das fremde Bewusstsein
langsam erwachte.
'Hallo! Wer bist du?' fragte er es.
'Ich bin der Drache Garduin. Und es wird Zeit,
dass wir die Rollen tauschen. Zumindest für eine Weile', antwortete
er.
'Gut. Du willst Väterchen rächen,
nicht wahr? Das will ich auch!'
Der Jungenkörper begann zu flackern.
Seine Umrisse verschwammen und nahmen die Form eines riesigen Drachen an.
"So", grollte Garduin, blickte den Magus drohend
an und lächelte dann, wobei er Reihen makelloser weißer Zähne
entblößte.
Wenig später flog Garduin über zerklüftete
Felsklippen. Äußerlich wirkte der Drache ruhig, doch in seinem
Inneren tobte ein heftiger Streit.
'Wohin fliegst du? Ich kann den Wind spüren.
Nicht umsonst war ich fünfzehn Jahre blind. Und mein Elend war ganz
allein deine Schuld!' schrie der Junge.
'Mich trifft keine Schuld! Bedank dich bei
diesem verteufelten Magier. Der hat diese ganze Schose eingefädelt!
Was kann ich denn dafür, dass du ausgerechnet in dieser Nacht das
Licht der Welt sehen wolltest!' schimpfte der Drache übellaunig.
'Du hast meine Frage übergangen! Ich
will wissen, wohin du fliegst.'
'Ich unternehme hier was, im Gegensatz zu
dir! Wir sind auf dem Weg zu einer Freundin von mir. Sie wird uns helfen.
Und außerdem ist sie ein so bezauberndes Geschöpf! Du wirst
sie mögen.'
'Vielleicht war sie ja mal ganz hübsch,
aber das ist fünfzehn Jahre her! Wenn sie kein Drache ist, wie du,
dann wird sie alt und verschrumpelt sein!' giftete der Junge. Der Drache
seufzte leise.
'Wirst schon sehen', meinte er mit einem Grinsen.
Mit einem Ächzen landete Garduin auf einem
schmalen Felsvorsprung, watschelte in die dahinter liegende Höhle
und versuchte die spöttische Stimme in seinem gewaltigen Schädel
zu ignorieren.
Eine - nach den Maßstäben des Drachen
- kleine Gestalt stand von ihrem Sitzplatz in der riesigen Höhle,
die eigentlich ein Tunnel war, auf und trat vor den Drachen. Es war ein
sommersprossiges Mädchen mit orange - roten Haaren und tiefblauen
Augen, in einem kunterbunten Poncho und einem noch viel bunterem Kleid.
'Sehen so auch meine Augen aus?' fragte der
Junge Garduin. Der andere Garduin beachtete ihn nicht.
"Hallo Maugin. So wie’s aussieht, brauche
ich deine Hilfe", sagte er stattdessen.
"Ach so! Und ich dachte, du lässt dich
nach fünfzehn Jahren einfach mal blicken, um deine alte Freundin zu
besuchen", sie kicherte. "Aber von mir aus. Was kann ich für dich
tun?"
"Nun, ich habe da ein kleines Problem...",
begann er.
"Jetzt gib es schon zu! Er hat gegen einen
Magier verloren und der hat ihn in meinen Körper gesperrt! Deswegen
hat er sich so lange nicht blicken lassen!
Verstehst du? Das ist mein Problem. Dieser
kleine Giftzwerg - wen nennst du hier Giftzwerg? Und überhaupt: Warum
müssen wir ein Drache sein? Ich weiß schon gar nicht mehr, wie
sich mein Körper überhaupt anfühlt! - ist in mir drin! Ich
will ihn da nicht haben! Mach es weg! Mach es weg!"
Maugin hörte ihm eine Weile interessiert
zu, wie er mit sich selbst stritt. Dann holte sie ein Stück Kreide
aus ihrem Poncho und begann einen Bannkreis um den Drachen zu ziehen, der
immer noch damit beschäftigt war, sich mit Garduin zu streiten. Blöderweise
war er das zum Teil selbst. Deshalb hörte es sich sehr seltsam an,
als er sich selbst aufforderte, er solle die Klappe halten.
"Sei mal kurz still. Gleich bist du wieder
alleine in deinem Körper. Das gilt für euch beide", meinte Maugin
und klatschte in die Hände.
Plötzlich spürte Garduin, wie der
Junge aus ihm heraus gezerrt wurde. Er wollte ihn zurückhalten, wollte
verhindern, dass er in die ewige Dunkelheit geschleudert wurde, wollte
ihm sagen, dass er ihn nicht verletzen wollte, er, der alte, kauzige Drache.
Doch der Junge lachte ihn nur an:
'Das weiß ich doch! Du bist ich und
ich bin du! Keine Sorge, Maugin hat eine Überraschung für dich.'
Mit diesen Worten verschwand er.
"Nein! Maugin, was hast du getan? Ich wollte
ihn doch nicht auslöschen! Ich habe ihn mit meinem Egoismus umgebracht",
schluchzte der Drache. Dicke Tränen tropften seine schuppigen Wangen
herunter und verwischten den Bannkreis.
"Hey! Kannst du denn nicht ein bisschen aufpassen?"
schimpfte Garduin. Und im nächsten Moment fiel er dem rothaarigen
Mädchen um den Hals.
"Oh, ich danke dir, Maugin! Ich kann sehen!
Stell dir vor, Garduin, ich kann sehen!" rief er überglücklich.
"Du bist ja gar nicht tot! Und ich rege mich
deinetwegen so auf! Wie kannst du mir nur solche Angst einjagen. Ich habe
mir Sorgen gemacht!!!" beschwerte sich die riesige Echse.
"Also, ich finde, wir sollten jetzt erstmal
Tee trinken", schlug Maugin vor, die ehrlich gesagt etwas verlegen war,
weil Garduin immer noch um ihren Hals hing.
"Kann ihn mir mal jemand abnehmen?"
© Anna
Hohenberger
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