Nächtlicher Regen von Anna Hohenberger |
Es regnete. Die Stadt war dunkel, kalt. Der Mond, gelegentlich zu sehen zwischen treibenden Regenwolkenschleiern, erinnerte an den Aufkleber in der Mitte von Schallplatten. Er überquerte den Fluss, hörte die Regentropfen auf die Wasseroberfläche prasseln. Seine Schritte waren ein dumpfer Widerhall in seinem Kopf. Sie dröhnten gedämpft, denn er ging schnell. Nicht, dass er was gegen fließendes Wasser hätte. Er mochte keine Brücken. Dort gab es zu viele unangenehme Geräusche. Der Mann, der junge Mann Anfang zwanzig, der den Kopf zwischen die Schultern gezogen hatte, der fröstelnd durch den Regen lief, hörte sehr gut. Er hörte sogar ungewöhnlich gut für ein Lebewesen. Deshalb war er dankbar für den Regen, zumindest ein bisschen. Denn der Regen übertönte mit seinem beständigen Hämmern alle anderen Laute. Der junge Mann bekam ungewöhnlich viele private Gespräche mit, wenn er die Straße entlangging. Das war nicht angenehm. Leider war der Regen sehr kalt. Das war auch nicht angenehm. Er hatte keinen Schirm dabei und seine Jacke war dünn und nicht wasserfest. Aus diesem Grund war er nass bis auf die Haut und fror bis auf die Knochen. Doch er konnte es nicht in einem Haus aushalten, einem Mietshaus, in dem tausend Worte gesprochen wurden. Denn er konnte ja alles hören, und wenn sich das Pärchen in der Wohnung quer über den Flur anschrie, dann platzte ihm beinahe das Trommelfell. So war er jetzt hier, streunte ohne Ziel durch die Gassen wie ein räudiger Hund und auf alle Fälle mittlerweile mit dem gleichen Aussehen wie ein solcher. Er musste raus aus der Kälte. Also musste er zwangsläufig raus aus dem Regen. Das bedauerte er. Mitten in der Nacht einen freundlichen, warmen, trockenen Platz, an dem es einigermaßen ruhig ist, zu finden, ist niemals eine leichte Aufgabe, vor allem wenn man so gehandicapt ist wie unser junger Mann. Doch im Grunde seines Herzens war er ein sehr aufrechter, positiver junger Mann. Deshalb hoffen wir natürlich, dass er was findet. Auf einmal bemerkte er, dass er sich in einem Teil der Stadt befand, der ihm gänzlich fremd war. Man konnte nicht sagen, dass er noch nie einen Fuß in diesen Stadtteil gesetzt hätte, aber er kannte ihn nicht. In tiefer Nacht und bei strömendem Regen konnte man gut darauf verzichten, ihn einladend zu nennen. Hätte man das nicht ebenfalls bei jedem anderen Ort getan, der so dunkel und nass war und subtil nach Moder stank? Er jedenfalls ging weiter, den Kopf zwischen den Schultern, den Blick gesenkt. Falls er an Umkehren dachte, sah man es nicht und ich bin mir sicher, dass er keinen Gedanken daran verschwendete. Es kam für ihn ganz einfach nicht in Frage. In diesem Moment dachte er an nichts und der Rhythmus seiner Schritte und des Regens schaukelten ihn sacht in eine Art Trance hinein. So kam es, dass er den Platz, auf dem er stand, erst bemerkte, als sich Lichtschein auf seinen Füßen brach. Der Platz war nur ganz klein, doch irgendetwas bewog ihn dazu, den Kopf zu heben, die Schultern sinken zu lassen und auf das helle Licht zu starren: Vor ihm lag ein flaches Haus, mit schmaler Fassade. Von dort wo er stand, konnte er sehen, dass es sich langgezogen in eine angrenzende Gasse erstreckte. Ein Eckschaufenster, nicht breit, aber bis fast unter das flache Dach reichend, taghell erleuchtet, vollgestopft mit einem Grammophon und zahlreichen Schallplattenhüllen. Doch das war nicht das einzige Licht, das von dem Laden ausging: Die Ladentür aus Glas, Milchglas, schimmerte. Ein kleines Schild gab Auskunft darüber, dass der Plattenladen noch geöffnet hatte. Er stand im Regen, vor einem einladenden Ort und wusste nicht, was er tun sollte. Eigentlich mochte er keine Musik, Schallplatten schon gar nicht. Der Name des kleinen Ladens war unleserlich durch die Regenschleier. Mit einem Seufzer fasste er sich ein Herz, wollte eintreten und wäre beinahe über einen großen Dalmatiner gestolpert. "Kommst du mit rein?", fragte er und genoss den Widerhall seiner Worte von den Wänden. Er öffnete die Tür, eine kleine Glocke klingelte und der Hund ging voran. Der Raum war höher, als man von außen erwartet hätte und voller großer Regale, in denen nur Schallplatten standen. Neben der Tür war eine L-förmige Theke mit einem Turntable. Es standen Barhocker davor. "Hallo?", fragte er schüchtern, blieb an der Tür stehen, ein triefender Fremdkörper in dem hellen, warmen Raum. In einem Nebenzimmer hörte er jemanden hantieren, er hörte das Klick - klick - klick der Hundekrallen auf dem Holzfußboden. "Haha! Wen haben wir denn hier? Na, Hundi - Hundi? Wie kommst du denn hier rein? Oh, ach so, es ist noch jemand hier! Die Glocke hat ja geklingelt. Neeeeiiin, bin ich dämlich!", es war eine Frau, die sprach. Sie hatte eine angenehme Stimme, ein bisschen rau und ein wenig dunkel. Außerdem musste sie lange Haare haben, er konnte sie auf dem Stoff ihrer Kleidung rascheln hören. Er selbst wusste immer noch nicht so recht, was er tun sollte. Ratlos stand er da, lauschte ihren Bewegungen, dem Atem des Hundes und dem Geräusch, das die Tropfen aus seiner klatschnassen Kleidung verursachten, wenn sie auf den Boden fielen. "Hallo.", sagte die Frau, als sie den Raum betrat. Das war eine sehenswerte Person, fand er: Rote Kräuselllocken, die ihr bis über die Schulter fielen, mit grünen Strähnchen darin. Sehr grüne Augen, mit einer Spur von braun, wie der algenüberwucherte Boden flacher Teiche. Sie trug ein T-Shirt, ein Werbegeschenk einer Plattenfirma - Anna Recordz -, einen langärmligen Pulli mit Streifen, dessen Farbe sich mit dem Shirt, das sie im Lagenlook darüber trug, biss. Eine Hose voller Flicken und pinke Pantoffeln vervollständigten ihren Aufzug. Ganz schön gewagt, dachte er. Er schämte sich ein wenig, mit seinen struppigen, nassen schwarzen Haaren, schulterlang, und den triefenden Klamotten. Ein Hemd, eine Hose, eine Sweatshirtjacke. Nichts so besonderes oder originelles wie diese junge Frau anhatte. "Sag' mir deinen Namen!", verlangte sie, lachte über sein erstauntes Gesicht. Er war so perplex, dass er tatsächlich antwortete. "Nicolas Geißblatt.", er mochte seinen Nachnamen nicht, er passte nicht recht zum Vornamen. Sie wandte sich den Regalen zu. "Nicolas, hm - hm. Gar nicht so einfach, aber ich glaube, wir müssten noch ein oder zwei Platten von Nicolas Canvas haben. Ich heiße übrigens Froschregen Je-länger-je-lieber. Schreibt sich mit Bindestrichen.", Nicolas starrte sie an. "Ist doch unhöflich, sich nicht vorzustellen, oder? Ah, das ist die Platte ja.", eine Schallplatte in der Hand ging sie hinter den Tresen. Sie grinste ihn an. "Mach' den Mund zu, es zieht." Leicht verärgert kam er der Aufforderung nach. "Froschregen? Im Ernst, was ist das, 'ne biblische Plage?" Froschregen lachte schallend. Der Hund bellte. "Der war gut.", kicherte sie. "Mal ehrlich", sagte Nicolas leise, fast zornig und strich sich die nassen Haare aus dem Gesicht. "Was ist das hier für ein Laden? Ein Plattengeschäft, das mitten in der Nach geöffnet hat?" Froschregen lächelte. Aus ihren grünen, klaren Augen sah sie ihn durchdringend an. "Meine Kollegin Mayflower und ich, wir verkaufen Schallplatten. Aber auch Donuts, heiße Getränke und das eine oder andere Hexenwerk. Willst 'n Handtuch?" "Was?", gerade hatte sie ihm enthüllt, einen zwielichtigen Handel zu betreiben und im nächsten Augenblick bot sie ihm ein Handtuch an. Vom Regen in die Traufe... Nicolas grinste schief. Vom Froschregen wohl eher. "Also, was ist?" "Okay. Kannste mir auch einen Kaffee oder so und vielleicht ein paar Donuts geben? Ich hab ganz schön Hunger.", Nicolas rieb sich das Gesicht. "Klar. Warte kurz." Sie kam nach kurzer Zeit wieder, jede Menge Handtücher über dem Arm, eine Schachtel Donuts in der Hand, darauf eine Tasse und eine Schüssel, eine Kanne in der anderen Hand. Nicolas nahm ihr Tasse und Kanne ab. "So. Kaffee war alle, deshalb gibt's Kakao. Wollt' eigentlich grad frischen kaufen gehen, Kaffee mein ich, an der Tankstelle. Und jetzt: Ausziehen." Froschregen grinste ihn frech an. "Ich weiß, ich wiederhole mich, aber was hast du da gesagt?", keuchte er schockiert. "Du sollst deine nassen Sachen ausziehen, Dummchen.", lachte sie. "Komm schon, das kannst du ruhig tun. Mach' hin!" Immer noch grinsend schob sie ihm die Handtücher zu. Nicolas wurde rot. "Mach' irgendwas anderes." Froschregen lachte wieder und verschwand erneut. Während sich Nicolas aus seiner Sweatshirtjacke und dem Hemd schälte, wischte sie den Boden, beseitigte die Pfützen, die er hinterlassen hatte. Als sie damit fertig war, legte sie die Platte auf. Kakao einschenkend, lauschte Nicolas der rauen Stimme seines Namensvetters. Er sang vom regnerischen Wetter, der andere Nicolas, Rainy Day, vom Grau des Himmels und der Wolken und von Melancholie. Dann war das Lied zu Ende und der eine Nicolas nahm einen Schluck aus seiner Tasse. Die heiße Flüssigkeit war sehr süß, tat gut. Irgendwie war es irreal, einen Mann mit seinem Namen vom Regen draußen singen zu hören. Aber es war Nacht. "Die Platte heißt "Meeting of Weathers". Hm - hm - hmmhm, ja.", sie summte das Lied, das gerade lief, ein Lied über den Nebel, ein Weilchen mit und lachte dann. Der junge Mann ihr gegenüber sah fragend von seinem Donut auf. "Das ist die Platte, auf der ein einziges Lied mit französischem Titel ist. Hier.", sie schob die Hülle zu ihm herüber, deutete auf den Titel. Wirklich, da stand "Joli Brouillard". Hübscher Nebel. Unwillkürlich musste er lächeln. "Gefällt sie dir, diese Platte? Ja? Gut, das freut mich. Wir verkaufen eher wenig, wir hören meist nur zu. Ich lege Platten auf und damit bin ich's zufrieden.", sagte Froschregen leise. Nicolas biss in seinen Donut, kaute schweigend. "Das kann ich verstehen.", meinte er dann, ebenso leise. Von irgendwoher tauchte der Hund auf, legte den Kopf auf sein Bein. Aus treuherzigen braunen Augen blicke er auf zu Nicolas. Der kraulte ihn hinter den Ohren. "Schade, dass wir deinen Namen nicht wissen.", er hatte wir gesagt. Warum eigentlich? "Geben wir ihm doch einfach einen Namen." Nicolas lachte. "Ich bin heute ständig am Wiederholen dieser einen Frage: Was?" Froschregen hielt sich inzwischen den Bauch vor Lachen. Sie holte tief Luft. "Das ist der Grund, warum er hierher gekommen ist. Ich weiß das. Darum bin ich hier." Der junge Mann starrte sie an. "Ich – und... ich... ich... komme einfach... nicht... aus dem... Lachen heraus!", kicherte sie außer Atem. "Ich bin Froschregen.", schlagartiger Ernst. "Ich bin geboren, um diese Dinge zu wissen. Er ist hier, weil er seinen Namen sucht.", sie richtete einen anklagenden Zeigefinger erst auf den Hund, nun auf ihn, Nicolas. "Du bist hier, weil du dich vor der geräuschvollen Nacht fürchtest und ein Versteck brauchtest. Und jemanden zum Reden. Also, wie soll er jetzt heißen." Wieder dieser niederschmetternde Themenwechsel. "Ich habe keine Ahnung. Du bist doch hier die Verkäuferin!" Froschregen griff sich an den Kopf. "Stimmt!" "Also, Hund!", kommandierte Froschregen und trat hinter dem Tresen hervor. Der Hund setzte sich vor sie hin. "Hiermit taufe ich dich auf den Namen... Trip Hop!" "Trip Hop?", echote es vom Tresen. Der Hund - Trip Hop - bellte und wedelte mit dem Schwanz. "Ist 'ne Musikrichtung. Soll ich mal was auflegen?" Nicolas nickte, horchte dem Rascheln der Schutzhüllen. Er zuckte leicht zusammen, als Froschregen die platte kurz umdrehte und sie dann auf den Plattenteller legte. Es knisterte ganz leise, sehr laut für Nicolas, dann setzte die Musik ein. Eine Sängerin hauchte ins Mikrofon, er konnte am weichen Ton ihrer Stimme erkennen, dass sie eine Schwarze war. "Wer ist das?", er meinte die Sängerin. "Das ist 'ne Art Trio, heißen Morcheeba. Kommen aus Britannien.", informierte ihn Froschregen. "Ich mag sie sehr gern." Plötzlich rutschte seine Sweatshirtjacke zu Boden. Während sich Nicolas bückte, sah er die Flüssigkeit in der Schüssel, die Froschregen dem Hund vorhin hingestellt hatte, zittern. "Froschregen?", fragte er, einen misstrauischen Unterton in der Frage. "Was ist, Nicolas?" Aber da war es schon zu spät. .
© Anna
Hohenberger
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