Eines Tages weckte mich Cassandra mitten in
der Nacht.
"Was ist denn los?", fragte ich schläfrig.
"Ein seltenes Naturereignis. Der Feuerwald
blüht. Ich werde mit Harpon in ein paar Minuten los fliegen. Möchtest
du mitkommen?"
Zuerst wollte ich nein sagen. Aber dann dachte
ich an all die wunderbaren Dinge, die mir Harpon und Cassandra in den Wäldern
gezeigt hatten und sagte zu.
Ich sollte es nicht bereuen.
Die Nacht war kühl und sehr dunkel, denn
nur eine schmale Mondsichel stand am Himmel. Im Zielgebiet hielt Harpon
den Gleiter so dicht neben der Krone eines Baumes an, dass einige Zweige
über die Seitenscheiben kratzten. Als er das Verdeck öffnete,
schlug uns die frische, feuchte Nachtluft entgegen und die Stimmen des
nächtlichen Waldes drangen an unsere Ohren.
"Und wo ist jetzt das Feuer?", fragte ich
ungeduldig.
"Die Blüten müssten sich bald öffnen.
Gedulde dich etwas", sagte Cassandra mit leiser Stimme. "Ich habe dieses
seltene Naturereignis selbst noch nicht gesehen. Aber es muss wunderschön
sein."
Wir traten auf die von einer hohen Bordwand
umgebene Ladefläche des Gleiters hinaus. Harpon und Cassandra schienen
einen bestimmten Punkt in der Finsternis zu fixieren. Ich konnte dort aber
nichts erkennen. Langsam ging ich die Bordwand entlang und versuchte erfolglos
in der Dunkelheit etwas auszumachen. So etwas Langweiliges, dachte ich.
Und deswegen bin ich mitten in der Nacht aufgestanden.
"Darlena! Es geht los!", warnte mich Harpon
mit leiser Stimme.
Schnell lief ich wieder auf die andere Seite
der Ladefläche. Cassandra deutete in die Nacht hinaus. Zuerst konnte
ich nichts erkennen. Aber dann vernahm ich einen schwachen roten Lichtschein
in einigen Metern Entfernung. Und plötzlich sah ich, wie sich direkt
neben der Bordwand, so nahe, dass ich sie hätte berühren können,
eine der Blüten, die ungefähr so groß wie meine Handfläche
war, öffnete. Je weiter sie sich entfaltete, umso intensiver wurde
das Leuchten in ihrem Inneren. Die äußeren Blätter leuchteten
blutrot und die inneren in einem strahlenden Hellrot. Ich hatte so gebannt
auf diese Pracht gestarrt, dass ich meine Umgebung nicht beachtet hatte.
Als ich wieder hochsah, hielt ich vor Überraschung die Luft an, denn
das Laubdach leuchtete, so weit mein Blick reichte, rot wie Feuer. Ich
suchte Cassandras Blick. Der Lichtschein, der von den Blüten ausging,
spiegelte sich in ihren Augen wider und überzog ihr Gesicht mit einem
rötlichen Schimmer. Sie lächelte mich an und Harpon und Cassandra
nahmen mich in ihre Mitte und legten ihre Arme um mich, als wäre ich
ein kleines Kind. Aber das Naturereignis hatte noch gar nicht seinen Höhepunkt
erreicht. Plötzlich mischten sich weitere Farbtöne in die rote
Pracht. Gelbe und orangefarbene Punkte erschienen zwischen den Blüten
und stiegen über die Gipfel der Bäume auf.
"Was ist das?", fragte ich.
"Insekten", erklärte Harpon. "Harmlose
Insekten. Sie treffen sich zum Hochzeitsflug. Die männlichen Tiere
sterben danach. Die weiblichen Tiere leben noch solange, bis sie ihre Eier
abgelegt haben."
Ganze Schwärme dieser Insekten stiegen
nun auf und schwirrten dicht um uns herum. "Aua!" Ich schloss erschrocken
meine Augen, als eines der Insekten gegen meine Stirn stieß. Es war
auf die Ladefläche gefallen, und Cassandra nahm es vorsichtig auf
und hielt es mir auf ihrer Handfläche entgegen. Fasziniert betrachtete
ich das Tier, das etwa so lang wie Cassandras Zeigefinger war. Es schien
gänzlich von innen heraus zu leuchten. Deutlich konnte ich die tastenden
Fühler, die Augen, die Beine, die Flügel und den grazilen Körper
erkennen. Das Insekt krabbelte suchend auf Cassandras Handfläche herum
und erklomm schließlich ihren ausgestreckten Zeigefinger. Als es
an der Fingerspitze angelangt war, tastete es mehrmals ins Leere, dann
breitete es seine Flügel aus und schwirrte davon.
Ich weiß nicht mehr, wie viele Stunden
lang wir auf der Ladefläche gestanden und das Farbenspiel dieses Naturschauspiels
beobachtet haben. Der Flug der Leuchtinsekten über den roten Blüten
des Feuerwaldes wollte kein Ende finden. Wir waren mitten unter ihnen,
innerhalb einer schwirrenden Wolke aus Lebewesen, fast als wären wir
ein Teil der Natur des Waldes. Ich spürte die Faszination meiner Begleiter
und sie griff auch auf mich über.
Irgendwann zeigte sich am Horizont der erste
Schimmer des beginnenden neuen Tages. Die Blüten begannen sich wieder
zu schließen, die strahlende Pracht verblasste langsam und die Insektenwolken
zogen sich zwischen die Baumkronen zurück. Das Naturereignis war vorbei.
Erst in vielen Jahren würde der Feuerwald wieder seine Blüten
öffnen.
© Hermann
Weigl
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