Des Dämons täglich Brot von Hyphistos
3. Kapitel: Der Auserwählte

"Argh ... elendiger Impmist!", fluchte Luzio lauthals vor sich hin. Hilflos und tollpatschig fuchtelte er mit seinen Ärmchen herum, um schlimmere Zusammenstöße mit Bäumen und anderen unüberwindbaren Hindernissen zu vermeiden. Grund dafür war der Erzfeind jedes Höhlenwesens - die Sonne. Mit fast schon an absichtlicher Bösartigkeit grenzender Intensivität fanden ihre Strahlen ihren Weg in seine Augen. Nach viertelstündigem Augenreiben konnte er zumindest so weit wieder sehen, um beim Hinabblicken seine eigenen Zehen zu erkennen. Sehr weit war das nicht.
Als er sich schließlich endlich an die widrigen Lichtverhältnisse gewöhnt hatte, empfing ihn schon der nächste Schock. Grüne, saftigen Wiesen so weit das Auge reichte und inmitten dieser türmten sich riesige Nadelbäume. Es schien fast so, also würden die einzelnen Spezien dieser Flora darum kämpfen, welche saftiger, grüner und lebhafter aussah. Luzio rang nach Atem und keuchte entsetzt. So schnell er konnte, öffnete er eine Schnapsflasche und trank sie in einem Zug aus.
"Schon besser", dachte er, auch wenn er sich immer noch alles andere als wohl fühlte.

Nachdem dieser erste Schreck einigermaßen verdaut war, besann sich Luzio wieder darauf, weshalb er eigentlich an diesen schrecklichen Ort gekommen war. Es galt, sich einer schwachen Seele zu bemächtigen und mithilfe dieser bei Mephisto Eindruck zu schinden. Nach einem kurzen Marsch gelangte er zu einem schmalen Kiesweg. Da Wege immer auf Zivilisation hinwiesen, verfolgte er diesen bis zu einer Gabelung. Ein großer Wegweiser prangte dort und verkündete mit einem Pfeil nach links, dass es in diese Richtung zum "Dorf, das links neben dem großen Wald liegt" ging.
"Na das nenne ich mal einen konkreten Ortsnamen", dachte Luzio und marschierte den Pfad zu genau diesem Dorf entlang. Nur wenig später konnte er bereits dessen Silhouette in der Ferne erkennen. "Dorf" war schon eine fast schmeichelhafte Bezeichnung für diese Ansiedelung, denn wenn man zehn Häuser zählte war man entweder großzügig im Aufrunden oder konnte schlichtweg nicht zählen.
Vor dem Dorf erstreckte sich ein schmaler Bach, der so wenig Wasser trug, dass man beinahe die einzelnen Moleküle entlang treiben sehen konnte. Dennoch führte darüber eine kleine hölzerne Brücke, die alles andere als einen frischen Eindruck machte. Um genau zu sein schien sie so morsch zu sein, dass sie nur deshalb noch nicht zusammengebrochen war, weil das Holz zu alt war, um sich diesen Stress noch anzutun.
Nur unweit davon entfernt lag Matjus an seinen schattigen Baum gelehnt und trällerte gerade das Liedchen "Links, noch weiter links als das Dorf links neben dem großen Wald, dort ist ein noch größerer Wald" und begleitete sich selbst auf einer provisorischen Zither. Den Gesang als schrecklich zu beschreiben, wäre zwar noch politisch korrekt gewesen, würde aber keineswegs der Realität entsprechen. Er war die Verkörperung der verbalen Vergewaltigung.
Luzio verzog sein Gesicht zu einer schmerzverzerrten Fratze, und selbst von seinem angeborenen Grinsen war nichts mehr zu erkennen. Er versuchte sich die Ohren zuzuhalten, doch dies machte die Misstöne keinesfalls erträglicher, höchstens überlebbar.
Als er sich einigermaßen an den Lärm gewöhnt hatte, begann sein kleines Hirn zu rattern und finstere Pläne auszuhecken. "Das ist er", dachte er, "das ist mein Auserwählter. Seine Seele ist schwach und empfänglich und doch muss er ein starker Krieger sein, wenn er solch grauenhafte Laute von sich gibt, und trotzdem noch am Leben ist. Zudem sind diese Klänge durchaus als Waffe zu verwenden."
Was Luzio jedoch nicht wusste war, dass Matjus keinesfalls ein starker Krieger war, sondern in den entscheidenden Situationen lediglich ein schneller Läufer.
Mit zugehaltenen Ohren näherte sich Luzio dem selbsternannten Barden. Wie gegen eine unsichtbare Barriere oder starken Wind ankämpfend setzte er einen Fuß vor den anderen. Umso näher er kam, desto intensiver wurde der Schmerz und desto schwieriger wurde es, vorwärts zu kommen.
Schließlich gelangte er aber dennoch zu dem Baum und tupfte Matjus auf die Schulter.
"Hey du!", zischte er ihm ins Ohr. Erst beim dritten Anlauf reagierte dieser und verstummte. "Wer ist da?", fragte Matjus, eher aus Höflichkeit als aus Interesse.
"Ich bin Luzio. Ich bin ein Dämon und werde von deiner Seele Besitz ergreifen, wenn du nichts dagegen hast. Danach wirst du für mich und die böse Seite kämpfen und ein finsterer Krieger werden. Also, wie sieht’s aus, kann ich dann anfangen?"
Matjus wandte seinen Kopf zur Seite und erblickte den kleinen Dämon.
Besonders beeindruckt schien er nicht zu sein. "Achso, wenn es weiter nichts ist", meinte er schulterzuckend. "Du bist ein Dämon? Ich habe mir Dämonen irgendwie größer und finsterer vorgestellt. Und wieso grinst du eigentlich so dümmlich?"
Luzio kratzte sich verlegen am Kopf. "Nun, ich bin auch nicht wie die meisten anderen Dämonen. Aber das tut nichts zur Sache. Dein Gesicht macht auch nicht gerade den intelligentesten Eindruck. Du hast mir immer noch nicht gesagt, ob ich jetzt von deiner Seele Besitz ergreifen kann oder nicht. Glaub mir, ich hab genauso wenig Lust darauf wie du, aber manche Dinge müssen eben erledigt werden. Achso ich habe noch vergessen, dir etwas mitzuteilen."
Er kramte kurz in seiner Tasche und brachte dann einen kleinen Zettel zum Vorschein, welcher stark nach einem Propagandaflyer aussah. Von diesem begann er vorzulesen:

"Werde besessen!
Fühlst du dich nutzlos und weißt nicht, wo dein Platz auf dieser Welt ist?
Wirst du unterdrückt und trampeln alle auf dir herum?
Wolltest du es schon immer allen heimzahlen und dich so richtig rächen?
Hast du Spaß am Blutvergießen und wärst du gern ein Meuchler und Mörder?
Ist dir einfach nur langweilig, bist du einsam oder wolltest du schon immer wissen wie es ist, gemeinsam mit einem Dämonen die Welt zu vernichten?

Dann haben wir die Lösung für dein Problem! Werde einfach besessen! Lass dir deine Seele rauben und wenn du noch diesen Monat deine Zustimmung gibst, bekommst du ein Geisterpferd gratis dazu! Die hundert ersten Besessenen erhalten zudem eine modische Totenkopfmaske. Also jetzt zuschlagen und noch heute Unzucht und Verderben verbreiten!
Join the evil side!"

Luzio setzte ab und steckte den Zettel wieder in seine Tasche. "Frag mich nicht, was der letzte Satz bedeutet. Angeblich ist es jetzt angesagt, in dieser Sprache zu sprechen. Wie dem auch sei, was sagst du?"
Matjus schien kurz zu überlegen. "Nun ja, ein paar Punkte treffen ja vielleicht zu, und ein Geisterpferd ist sicher eine nette Sache, aber beim Blutvergießen wird man doch bestimmt schmutzig und das ganze klingt nach ziemlich viel Stress. Tut mir leid, du scheinst ein netter Kerl zu sein, aber irgendwie ist mir im Moment nicht danach. Vielleicht ein anderes Mal."
Luzio ließ enttäuscht die Schultern hängen. "Schade, nun ja, ich habe es immerhin versucht. Im Übrigen wärst du noch unter den ersten hundert..."

Matjus schien dieses Argument keinesfalls zu überzeugen, doch der Zufall kam Luzio zu Hilfe. Denn just in diesem Moment überquerte eine aufgebrachte Gruppe von alles anderem als harmlos aussehenden Leuten die schmale Brücke und marschierte zielstrebig in Matjus' Richtung.
"Wir haben dich lange genug ertragen, du jaulender Nichtsnutz", rief der scheinbare Anführer und schwang demonstrierend eine Holzkeule. "Nun wird es Zeit, dich endlich zum Verstummen zu bringen."
Die Gruppe näherte sich bedrohlich schnell und Matjus griff nach seinem Hab und Gut und begann zu laufen. Auch die Schlägergruppe setzte zum Lauf an und überrannte einfach den verdutzten Luzio, der für sie unsichtbar war. (Luzio hatte generell die Eigenschaft von den meisten ignoriert zu werden und somit unsichtbar zu sein. In diesem Fall jedoch war dies nicht der Grund, da Dämonen nur von denjenigen Oberweltlern gesehen werden, denen sie sich zeigen wollen.) Dieser setzte seine dämonischen Fähigkeiten ein und zauberte sich auf Matjus' Schulter.
"Der aufgebrachte Pöbel kommt immer näher. Ohne meine Hilfe bist du ihm hilflos ausgeliefert. Sie werden dich in der Luft zerreißen", raunte er ihm ins Ohr. Der Barde stieß zwischen den einzelnen Keuchern ein "Danke für deine Analyse der Situation. Ich wäre ohne einem Dämon auf der Schulter bestimmt schneller."
Luzio grinste - diesmal absichtlich. "Schon möglich, aber ob sie dich in fünf oder in zehn Minuten zu fassen bekommen macht kaum einen Unterschied. Lass mich von deiner Seele Besitz ergreifen und du wirst sie in die Flucht schlagen."
Matjus ignorierte dieses Angebot und lief unbeirrt weiter. Tatsächlich rückte die wütende Meute immer näher. Als einer der Schläger beinahe aufgeschlossen hatte und bei dem Versuch nach Matjus zu schnappen nur ganz knapp sein Hemd verfehlte, verlor dieser die Nerven.
"Also gut, nimm dir meine verdammte Seele! Besser sie ist in den Händen eines zu klein geratenen Dämons, als eine Seele ohne Körper weil dieser bei den Fischen schwimmt!"
Luzio rieb sich zufrieden die Hände und startete das entsprechende Ritual.
Aufgrund der durch die Umstände resultierten zeitlichen Beschränkung konzentrierte er sich auf das Wesentliche und ließ jene Teile, die nur der Tradition dienten, vollends aus. Dazu gehörten das Opfern eines Tieres, das Beflecken einer Jungfrau, und der Teil, der eigentlich am meisten Spaß machte, das im Kreis tanzen Lassen des zukünftig Besessenen. Sie sahen dabei immer so putzig hilflos und lächerlich aus. Aber dafür war nun keine Zeit.

Luzio murmelte einige magische Worte, woraufhin Matjus von einer rötlich schimmernden Aura umgeben wurde. Dieser blieb vor Schreck auf der Stelle stehen und auch seine Verfolger hielten misstrauisch an. Das Schimmern verwandelte sich immer mehr in ein intensives Glühen. Dieses Glühen wiederum begann plötzlich zu entflammen und Feuerwogen umringten Matjus. Obwohl er brannte, schien ihm das Feuer keinen Schaden zuzufügen. Jeder Feuerwehrmann wäre in diesem Moment neidisch auf ihn gewesen. Die Schlägergruppe blieb mit einer Mischung aus Faszination und Schrecken wie erstarrt stehen und wich gerade so viele Schritte zurück, um von den lodernden Flammen nicht erfasst zu werden.
Das Ritual endete mit einer riesigen Feuersäule, die von Matjus ausging und senkrecht in den Himmel schoss. Wenige Sekunden später landete eine verkohlte Taube neben seinen Füßen.
"Ausgezeichnet", vernahm Matjus eine Stimme in seinem Kopf, "nun habe ich von deiner Seele Besitz ergriffen. Deshalb ist es mir möglich, mich in deine Gedanken einzuklinken. All zu viele sind das ja nicht gerade, wenn ich das am Rande bemerken darf. Auch du kannst auf diese Weise mit mir kommunizieren."
Nach einer kurzen Pause fügte Luzio hinzu: "Selber Schwachkopf. Ich kann deine Gedanken lesen, schon vergessen? Nun gut, dann werde ich einmal mein Versprechen einlösen und diese Typen verscheuchen."

Luzio konzentrierte sich kurz und Matjus trat eine seltsame Verwandlung an.
Sein Körper begann sich auszudehnen und zu verformen. Aus der schmächtigen Menschengestalt wurde ein überdimensionales, mindestens zehn Meter großes Vogelwesen, das sich bedrohlich auf den Schlägertrupp hinzubewegte. Jeder Schritt zog ein donnerndes Stampfen mit sich. Ehe der erste der Gruppe zerquetscht wurde, begann sich diese aus ihrer Starre zu lösen und lief in Windeseile und unkoordiniert davon. Obwohl Matjus es war, der die Gestalt eines Vogels hatte, waren es die ehemaligen Jäger und nun Gejagten, die wie aufgescheuchte Hühner aussahen. Als sie vertrieben waren, verwandelte sich Matjus in seine ursprüngliche Gestalt zurück.
"Entschuldige die Vogelgestalt", vernahm er Luzio in seinem Kopf, "der Duft der verkohlten Taube hat mich wohl etwas inspiriert."
"Schon gut", antwortete Matjus auf dem selben Weg, "immerhin hat es seine Wirkung gezeigt. Aber nun fühle ich mich wie durch den Reißwolf gezogen." (Der Reißwolf ist auf Wasser nicht das bei uns bekannte gleichnamige Gerät sondern eine Tierspezies. Er kann bis zu zwei Meter lang werden und hat sehr scharfe Reißzähne. Menschen gelten unter den Reißwölfen als eine besondere Delikatesse. "Durch den Reißwolf gezogen" ist eine Redensweise die bedeutet, dass man von eben jenem gefressen wird und wieder ausge... ähm dessen Körper durch eine andere Öffnung verlässt.)
"Nicht nur du. Das liegt daran, dass deine Energie direkt an meine gekoppelt ist, und umgekehrt. Und ich habe mich gerade eben ziemlich verausgabt. Riesenvögel sind nicht unbedingt die leichteste Dämonenaufgabe. Du - oder besser gesagt wir - sollten etwas essen.
Matjus nickt zustimmend. "Eine gute Idee, mein Magen knurrt wie verrückt."
"Falsch. Das ist der Goldbär (Auch der Goldbär ist eine Tierspezies auf Wasser. Er wird bis zu vier Meter lang und frisst am liebsten in Gelatine eingelegte Menschen, die er dann in verschiedenen lustigen Farben einfärbt und verzehrt.) hinter dir, der scheinbar Hunger auf verkohlte Taube hat, glaubt, wir wollen ihm seine Mahlzeit streitig machen und sich gerade sprungbereit macht, um dich zu zerfleischen. Laufen wäre in diesem Fall nicht unangebracht."
Matjus nahm Luzios Worte aufgrund deren Trockenheit zuerst völlig gelassen mit einem Nicken zur Kenntnis, erst als er deren Inhalt verstanden hatte, nahm er die Beine in die Hand und lief - wieder einmal. Der Bär blickte zur regungslosen Taube, dann dem laufenden Matjus hinterher und danach wieder zur Taube. Nach einem kurzen Schulterzucken hatte er sich entschieden und beschloss, dass an dem hageren Matjus auch nicht viel mehr dran war als an der Taube und sich der Aufwand nicht lohnte.

Völlig außer Atem und kraftlos sank der frisch Besessene ins Gras und rang nach Luft. Als er sich einigermaßen erholt hatte, beschwerte er sich bei Luzio: "Wofür brauche ich einen Dämon, wenn ich dann erst recht um mein Leben laufen muss?"
"Ganz einfach. Ohne Dämon hättest du kein Leben mehr gehabt, um das du laufen hättest können. Ich habe dich ja immerhin vorgewarnt", antwortete dieser ohne Regung in der Stimme.
"Oh, na dann vielen Dank. Du bist mir ja eine tolle Hilfe."
"Jetzt hör aber endlich auf zu meckern. Du bist ja schlimmer als meine dritte Mutter", antwortete Luzio diesmal schon sichtlich genervter.
Matjus fragte aufgrund dieser Äußerung verwirrt: "Deine dritte Mutter? Wie kann es so etwas geben?"
"Hast du denn noch nie etwas von der Unzucht gehört, die in der Hölle herrscht? Da ist es nicht so einfach zu sagen, wer jetzt eigentlich die wirkliche Mutter ist. Vom Vater ganz zu schweigen", meinte Luzio, als wäre dies die natürlichste Selbstverständlichkeit auf der Welt.
Matjus, der genug gehört hatte, beschloss nicht weiter nachzufragen und machte Luzio auf ihr ursprüngliches Vorhaben aufmerksam: "Wollten wir nicht etwas essen gehen?"
"Stimmt, du hast recht. Darauf hätte ich nach deinem Gejammer fast vergessen. Befindet sich hier in der Nähe irgendwo ein Gasthaus? Idealerweise eines, wo man dir nicht gleich die Zunge abschneiden möchte."
"Nun ja, nicht unweit von hier befindet sich "Dorf ohne dämliche Ortsbeschreibung im Namen". Dort gibt es bestimmt auch ein Gasthaus."
"Sympathischer Ortsname, dann versuchen wir unser Pech also dort."
Gesagt - getan, nach einem kurzen Marsch, welcher überraschenderweise ohne Zwischenfälle verlief, gelangten sie zu besagtem Dorf.

Als ihnen die ersten Bewohner über den Weg liefen, bemerkte Matjus, dass dies im wahrsten Sinne des Wortes zutraf. Sobald sie nämlich Matjus erblickten, begannen sie wie verrückt davon zu laufen. Etwas verwirrt zog er eine Augenbraue hoch, wunderte sich aber nicht weiter darüber. Er war es gewohnt, dass die Leute nicht unbedingt positiv auf ihn reagierten. Als sie jedoch ein Gasthaus entdeckten, sich dort niederließen und sofort alle Tische rund um Matjus wie leer gefegt waren, kam er doch ins Grübeln: "Warum scheinen alle Leute vor mir Angst zu haben?", fragte er Luzio im Gedanken.
"Nun, das kann zwei Gründe haben. Der erste, und irgendwie verständliche, wäre, dass sie dich bereits einmal Singen gehört haben. Dann wäre es aber verwunderlich, warum sich in diesem Raum überhaupt noch Menschen befinden. Der andere Grund, und in diesem Fall wohl wahrscheinlichere, ist, dass sich durch die Besessenheit auch dein Äußeres ein wenig verändert hat."
"Inwiefern denn verändert?"
Luzio zauberte einen imaginären Spiegel herbei, den nur Matjus sehen konnte, und hielt ihn ihm vors Gesicht.
Als Matjus sich selbst darin erblickte, erschrak er. Er war schon vor dem Zusammentreffen mit Luzio keine Schönheit gewesen, doch jetzt sah er tatsächlich furchterregend aus. Seine Haut war leichenblass und seine Augen waren schwarzumrandet und blutunterlaufen. Zudem waren seine Pupillen nicht schwarz sondern glühten rot. Schuld daran war das dämonische Feuer, das nun in ihm loderte.
Nach längerem Betrachten fand er allerdings Gefallen daran: "Nun ja, eigentlich sieht es irgendwie cool aus. So richtig böse. Gefällt mir."
"Schon wieder so ein seltsames Wort. Was soll "cool" denn bitteschön bedeuten?", fragte Luzio.
"Ach das ist nur so ein Modewort. Angeblich stammt es ursprünglich vom Kuh-Kuckucks-Klan. Du weißt schon, eine dieser religiösen Gruppen, die gewisse Tiere anbeten und alle anderen diskriminieren. Auf jeden Fall hieß es ursprünglich "kuhl", und bedeutete, dass etwas so großartig wie eine Kuh ist. Irgendjemand fand das Wort gut, aber nicht dessen Bedeutung und hat dessen Schreibweise deshalb geändert. Heutzutage verwendet es so gut wie jeder. Das ist so ähnlich wie der Ausruf "lol", dessen Ursprung..."
"Schon gut, schon gut!", unterbrach ihn Luzio, "so sehr interessiert es mich dann doch wieder nicht. Jetzt bestell dir endlich etwas zu Essen, wir haben nicht ewig Zeit, denn du hast noch große Taten zu vollbringen."

Matjus winkte den Wirt zu sich, welcher auch prompt angeschlurft kam. Die Furcht in seinen Augen war allerdings nicht zu übersehen und auch der Sicherheitsabstand, den er hielt, sprach eine deutliche Sprache. "Was darf es denn sein?", fragte er mit zittriger Stimme. Matjus bestellte ein Grillhühnchen und der Wirt war sichtlich erleichtert, als er sich wieder entfernen konnte.
Wenig später brachte dieser die bestellte Speise. "Hier, bitte schön. Einmal Grillhähnchen, schön durch, frisch aus dem Fegefeuer... äh Grillofen. Euer Gaumen wird von dem Geschmack wie besessen... fasziniert sein, mein Herr. Wünsche teuflisch guten Appetit." Hektisch hatte er diese Worte ausgesprochen und ebenso hektisch blickte er sich um und hielt die Hand für die Bezahlung auf.
Matjus kramte in seiner Tasche und bemerkte erst jetzt, dass er kein Geld hatte. Zuerst geriet er in Panik, doch er dachte an seine eigene Reaktion auf sein Spiegelbild und besann sich wieder. Mit finsterer Mine funkelte er den Wirt lautlos an.
"Schon gut, Ihr könnt auf Kosten des Hauses speisen!", stieß der Wirt nervös hervor und verließ den Tisch so schnell wie möglich.

Matjus grinste. "Na was sagst du? Ich war doch gerade richtig gut. Verdammt gut. Ich bin der Fieseste der Fiesen. Dieses Besessensein fängt an, mir Spass zu machen", meinte er zu Luzio.
Dieser antwortete: "Zugegeben, das war schon nicht schlecht. Aber ich muss dich korrigieren, du warst nicht gut sondern böse. Nimm dieses Wort bitte nie wieder in den Mund oder Kopf. Nichtsdestotrotz wirst du noch viel üben müssen. Böse blicken wird dir oft alleine nicht reichen. Abgesehen natürlich vom alljährlichen Finsterschau-Wettbewerb in der Unterwelt. Da gibt es tolle Preise zu gewinnen. Letztes Jahr war der Hauptpreis ein zweiwöchiger Urlaub ans Untote Meer. Leider konnte ich wegen meines Geburtsfehlers nie daran teilnehmen." Luzio blickte wehmütig in die Ferne.

Inzwischen hatte sich Matjus über das Hühnchen gestürzt und unterbrach sein Schmatzen kurz: "Apropos Preise. Wie sieht es eigentlich mit meinem Geisterpferd und meiner Totenkopfmaske aus? Ich meine, wenn ich jetzt schon ein echter Bösewicht bin, brauche ich doch auch die passenden Utensilien. Zudem schindet es mehr Eindruck bei den Frauen."
"Bestimmt. Ich glaube du hast keine Ahnung, wie sehr so eine Totenkopfmaske stinken kann. Alles andere als antörnend. Außerdem muss ich dich enttäuschen. Die Broschüre, die ich dir vorgelesen habe, war selbst schon über ein Monat alt. Du hast also keinen Anspruch auf ein Geisterpferd."
"Und was ist mit der Maske? Du sagtest, ich wäre noch unter den ersten hundert", fragte Matjus aufgebracht.

Luzio zuckte die Schultern. "Noch nie etwas von billigen Werbetricks gehört? Auf der Oberwelt gibt es wohl kein Fernsehen. Eigentlich kannst du dich darüber glücklich schätzen. Laufen sowieso ständig nur Wiederholungen."
"Ich habe keine Ahnung wovon du sprichst", antwortete Matjus ehe er aufaß, "aber ich will es auch gar nicht wissen."
"Und dann noch diese ständigen Werbungen. Die machen einen irre."
Matjus stand wortlos auf.
"Immer wenn es am spannendsten wird. Noch schlimmer sind Serien, bei denen man eine Woche auf die Fortsetzung warten muss."
Matjus ging in Richtung des Ausgangs.
"Natürlich gibt es schon auch akzeptable Sendungen. "Meuchler mittendrin" ist ganz witzig."
Matjus verließ das Gasthaus, Luzio trippelte hinter ihm her.
"In meiner Höhle habe ich aber gar keinen Fernseher. Ich brauche so was nicht. Dieses ständige Geschwafel nervt sowieso auf Dauer."
Matjus ließ seine linke Hand mit viel Schwung zur Seite schwenken. Es sah aus, als würde er in die Luft schlagen. Als ein schmerzerfülltes "Auh!" zu hören war, welches nur von ihm vernommen werden konnte, grinste er zufrieden und meinte: "Wie Recht du hast."
 

© Hyphistos
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