Das Nest von Imladros

Ein grünlich schimmernder, unnatürlich dichter Nebel hing in der Luft, als die kleine Gruppe von Reitern den Rand des Waldes erreichte. Haegar Silberblum zog an den Zügeln und brachte seinen großen, braunen Hengst zum Stehen. Das Tier folgte seinem Befehl nur allzu gern, war ihm die Nähe des verfluchten Waldes doch offensichtlich zuwider.
Mit einer knappen Handbewegung befahl er dem restlichen Trupp, ebenfalls anzuhalten. Die jungen Männer brachten ihre Pferde zur Ruhe und stiegen einer nach dem anderen ab. Ihre Schwerter und Äxte klirrten, und die dicken Rüstungen, die einige von ihnen mit sich trugen, ließen ihre Träger vor Anstrengung aufstöhnen.
Haegar selbst trug nur einen dünnen Lederharnisch und feste, aus Schlangenhorn gewobene Beinkleider. An seiner Hüfte hingen sein Streitkolben und drei kunstvoll verzierte Dolche. In den knapp zwanzig Jahren, die er sein Handwerk nun schon ausübte, hatte er festgestellt, dass es keinen Sinn machte, sich in übermäßig viel Panzerung zu hüllen oder zahlreiche schwere Waffen mit sich zu tragen. Ein wacher Geist und gute Reflexe, gepaart mit einem gewissen Instinkt, waren alles, was einen davor bewahren konnte, sehr, sehr jung zu sterben...
Er band die Zügel an einen knorrigen Baumstumpf und wandte sich dem Wald zu. Der unverkennbare grüne Schimmer zeigte ihm deutlicher als nötig, dass er fast am Ziel war.
"Alle mir nach - geschlossene Formation", befahl er, zog seine Waffe und trat in das Dickicht hinein. Einige Äste schienen sich sogleich um seine Stiefel schlingen zu wollen, gaben aber nach, als er umso energischer auftrat.
Schon nach wenigen Metern veränderte sich der Wald, das Bodengestrüpp verschwand fast vollständig und machte einem festen, glasigen Boden Platz, der vor Urzeiten zu einer unheimlichen, schwarzen Kulisse zerschmolzen worden war, aus der die hohen, knöchernen Bäume herausragten wie eine Armee untoter Soldaten, die rund um das hier verborgene Kleinod Wache hielten.
Seine Begleiter schienen mit dem Vorankommen mehr Probleme zu haben, sie fluchten und schimpften und versuchten, ihre Füße aus Schlingen zu befreien, die Haegars Augen beim besten Willen nicht wahrnehmen konnten. Er erinnerte sich, wie leicht man als unerfahrener junger Jäger der verwirrenden Magie dieser übermächtigen Beute buchstäblich auf den Leim ging.
"Konzentriert  euch!" rief er den jungen Männern zu. "Ruft euch selbst zur Ordnung!"
Einige nickten und schritten energisch voran, aber andere begannen zusehends in Panik zu geraten und schlugen wild um sich, schrieen und heulten. Ein bärtiger Jüngling begann mit seiner rostigen Streitaxt wild auf einen Baum einzuschlagen, zwei Ältere begannen eine wüste Prügelei. Als einer der vernünftigeren Jäger sich umwandte, um die beiden Streithähne zu trennen, rief Haegar: "Nein! Lass sie! Sie kannten das Risiko..."
"Aber wir können sie doch nicht einfach hier lassen!" wand ein blonder Junge mit einem alten Breitschwert in der Faust ein.
Haegar schüttelte abfällig den Kopf. "Denen können wir nicht mehr helfen, außer wir erreichen unser Ziel und befreien diesen Ort von seinem Zauber."
Damit war das Thema erledigt und sie gingen weiter. In den nächsten Minuten sank die Zahl der Bäume und machte einer Reihe Stein gewordener Albträume Platz, schreckliche unnatürliche Verformungen des Bodens, für die es keinen Namen gab. Immer mehr Jäger brachen unter dem übermächtigen Eindruck der Umgebung zusammen, schrieen in Panik auf oder gingen mit Axt, Schwert und bloßen Fäusten auf die Felsendornen los. Selbst Haegar spürte zusehends die tastenden, suchenden Bewegungen der dunklen Kraft am Rande seines Bewusstseins. Diese Beute war unerwartet stark, und sehr erfahren.
Bevor er diesen Gedanken noch zu Ende gedacht hatte, wurde einer der jüngeren Jäger von einem gewaltigen Feuerball getroffen und auseinandergesprengt. Die Hitzewelle warf die anderen Männer zu Boden und versengte Haegars rechte Körperhälfte, er warf sich zu Boden und sah sich hektisch um.
Nur ein grünliches Flackern im Nebel verriet ihm die Richtung seines Feindes. Rasch sprang er auf die Füße, sprintete um eine Reihe felsiger Fangzähne herum, die aus dem Boden ragten, und direkt auf das Licht zu. Drei der verbliebenen Jäger folgten ihm nach.
Wenige Augenblicke später erreichten sie das Zentrum des Waldes, eine dunkle Grube voller gewaltiger Spinnennetze und schleimiger Kokons, zwischen den schwarze und grüne Spinnen aller Größen umher krochen.
Dieser Ort war kalt, eiskalt. Haegar sah, wie sein eigener Atem vor seinem Gesicht aufstieg und sich mit dem kränklich schimmernden Nebel vermischte. Eiskalte Luft brannte in seinen Lungen, seine Glieder begannen zu zittern. Es würde jeden Augenblick soweit sein, er wusste es. Der Geruch stieg ihm bereits in die Nase, der Odem des Spinnenschattens...
Im letzten Augenblick warf er sich herum, riss den ersten seiner Dolche vom Gürtel und schleuderte ihn in die Nebelschwaden. Ein markerschütternder Schrei ertönte, und als der Spinnendrache im nächsten Augenblick auf ihn zugesprungen kam, ragte die Klinge aus seinem Hals.
Haegar wich der grünen Bestie gerade noch aus und schlug mit seinem Streitkolben zu. Die schwere Waffe schlug hart auf die klebrige Schuppenhaut auf und ließ sie zersplittern. Grünes, stinkendes Blut spritzte ihm ins Gesicht. Auch die anderen Jäger gingen nun auf die Bestie los, die wütend schnaufte und sich zu ihrer ganzen Größe aufrichtete.
Es war ein gewaltiges Exemplar, neun Meter pure, mit Schuppen und Hornstacheln bedeckte Muskelkraft, gekrönt von einem breiten, dornenbewehrten Schädel, aus dessen großen Nackenporen der unnatürliche, grüne Nebel austrat, der diesen Ort so grausam verändert hatte. Seine übergroßen, gelben Augen zuckten hektisch hin und her, erfassten zweifellos jede Einzelheit der Umgebung.
"Stirb, du Monster!" krähte einer der jungen Männer und ging mit seinem Breitschwert auf die Bestie los. Der Drache riss den Kopf herum und spie ihm ein halbes Dutzend armdicker, klebriger Fäden entgegen, die ihn beim Aufprall zurückschleuderten und einwickelten, so dass er fast völlig bewegungsunfähig war. Nur Sekunden später sprang der Drache vor und packte den zweiten Jäger, der sich ihm von der anderen Seite genähert hatte, mit dem Maul. Als Haegar und der letzte der jungen Männer ihn erreichten, hatte er sein Opfer schon sauber in zwei Stücke zerteilt und halb verschlungen.
Haegar sprang, zog im Sprung seinen zweiten Dolch und warf ihn nach dem rechten Auge seines monströsen Gegners. Die Klinge verfehlte ihr Ziel nur knapp und drang tief ins Augenlid ein. Der Spinnendrache schrie wütend und schmerzvoll zugleich auf und wandte seinen kleinen Feinden seine fast unempfindliche Rückseite zu.
Haegar wusste auch hierauf zu reagieren, er zog seinen Kolben und schlug hart gegen die Spitzen der Hornschuppen, die sich dadurch in das empfindliche Fleisch darunter bohrten. Die Bestie brüllte vor Schmerz und drehte sich auf den Hinterbeinen um. Haegars einzig verbliebener Jagdgefährten, ein junger Mann mit langem, dunklem Haar, wusste genau, was er zu tun hatte: Er hob sein Schwert und wirbelte damit so wild vor der Schnauze des Monstrums herum, dass dieses irritiert den Kopf einzog und für einen Augenblick seine empfindliche Kehllappenregion entblößte.
Haegar vollführte einen gewagten Hechtsprung und stach zu.
Die scharfen Klingen seines Streitkolbens bohrten sich in die dünne, weiche Haut und zerschmetterten die hohlen Halswirbel. Ein gewaltiger Schwall stinkenden, dunkelgrünen Blutes ergoss sich über ihm und ein ohrenbetäubendes Kreischen erfüllte die ganze Grube. Der Spinnendrache begann, unkontrolliert um sich zu schlagen, kratzte den gläsernen Boden auf und schnappte nach Haegar und seinem Gefährten.
Sein Todeskampf dauerte fast zehn Minuten, und obwohl die beiden Drachentöter nach Kräften auf ihn einschlugen, mussten sie schließlich aufgeben und abwarten, wie das Leben langsam aus der riesigen Bestie wich.
Als sie sicher waren, dass er tot war, begannen sie mit dem allerschlimmsten Teil ihrer Arbeit: Um sicher zu gehen, dass die Verpestung dieses Waldes endgültig endete, mussten sie jeden einzelnen Kokon im Nest des Spinnendrachen öffnen, die darin wachsenden Jungdrachen töten und zerstückeln.
Erst als sie sicher waren, dass kein Drache mehr am Leben war, zog Haegar eine magische Fackel und entzündete sie. Wenig später stand das ganze Nest in Flammen, die schnell auf den gewaltigen Kadaver übergriffen und den Wald in ein helles, rotes Licht hüllten. Wahrscheinlich würde er fast völlig niederbrennen, aber aus der Asche würde sich eine neue, gereinigte Vegetation entwickeln.
Die beiden Männer machten sich auf den Weg zu den Pferden. Der junge Jäger – sein Name war Ulen – schien sehr zufrieden mit sich zu sein. Er trug sein Schwert stolz über der Schulter und betrachtete eine abgebrochene Drachenschuppe, die er als Trophäe mitgenommen hatte.
"Das war eine ungeheure Erfahrung..." murmelte er.
Haegar verzog das Gesicht. "Du hast gerade den ersten Schritt gemacht. Wenn du hart arbeitest und noch viel lernst, wirst du in ein paar Jahren reif sein, selbst einen zu erlegen..."
"So lange?" fragte der Junge.
"Mach dir nichts vor", gab der Drachentöter zurück. "Heute hatten wir reichlich Glück."
"Glück? Nur wir zwei sind übrig von über einem Dutzend Männern!"
"Ich habe nicht erwartet, dass überhaupt einer von euch überlebt", gestand Haegar trocken.
Einen Moment lang herrschte Schweigen zwischen den beiden. Dann fragte Ulen: "Warum lehrt ihr nicht an einer der Jägerschulen im Westen? Mit euren Kenntnissen könnten sicherlich viele gute Drachentöter ausgebildet werden."
"Und wozu sollen die gut sein?" fragte Haegar. "Es gibt ohnehin kaum noch niedere Drachen in diesem Teil der Welt..."
"Aber in anderen Teilen, auf den östlichen Kontinenten! Und außerdem sind da noch die Hochdrachen. Sie kontrollieren immer noch unser Tun und Handeln im nördlichen Westen, und wenn wir sie nicht bald loswerden, wird jeder Westmensch ihnen bald Untertan sein. Wir Drachentöter werden erst ruhen können, wenn der Kopf des letzten Drachenrats über den Zinnen von Nordfulth aufgespießt ist!"
Der alte Drachentöter seufzte. Wie oft hatte er diese Worte schon gehört, von Menschen, die er verabscheute ebenso wie von solchen, die er sehr schätzte. Sie alle hatten dieselbe Antwort erhalten.
Blitzschnell zog er seinen dritten und letzten Dolch und stieß ihm von hinten tief in Ulens Hals. Der junge Jäger ächzte leise und brach mit einem gurgelnden Laut zusammen, bevor er noch wusste, was mit ihm geschah. Haegar zog die blutige Klinge heraus und legte sie neben dem Jungen ins Laub. Dann machte er sich auf den Weg zu seinem Pferd, um seinen Herren, hoch oben in ihren Thronhöhlen über Nordfulth Bericht zu erstatten.
 
© Imladros
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