Jiran von Red Dragon
1. Kapitel

Sie streifte leise und verstohlen durch die verschlungenen Straßen der Ruinenstadt. Dies war ihr Reich, hier lebte sie, so lange sie sich erinnern konnte. Meist mehr schlecht als recht, aber sie lebte. Und sie liebte ihr Leben hier. Leicht streichelte sie über die verwitterten, moosbewachsenen Steine: Ja, hier war sie zu Hause.
Wie sie hierher gekommen war, wusste sie nicht und sie hatte auch nie versucht es sich zu erklären. Sie war schon immer allein hier gewesen und war nur selten einem Menschen begegnet. Doch bei diesen wenigen Begegnungen hatte sie zumindest so viel sprechen gelernt, dass sie sich verständigen konnte. Mehr schlecht als recht, aber das war sowieso alles in ihrem Leben. Selbst ihre Gedanken spielten sich normalerweise in Bildern ab, nicht wie bei anderen Menschen, in Worten. Sie lebte von Wurzeln und Beeren, die zwischen den verfallenen Gebäuden wuchsen und ab und zu schaffte sie es, mit einem gezielten Steinwurf ein Kaninchen oder ein Eichhörnchen zu töten, die sie dann briet.
Vor einiger Zeit, vielleicht einem Jahr, hatte sie in der Stadt einen Mann gefunden. Er war verletzt gewesen und sie hatte ihn gepflegt. Zum Dank hatte er sie mitnehmen wollen, in eine bewohnte Stadt, doch sie hatte Angst davor, so viele Menschen auf einmal zu sehen. Sie war geblieben, wo sie schon immer gelebt hatte. Doch er hatte ihr etwas schenken wollen und so hatte er ihr Kleidung geschickt. Gute Kleidung, geeignet für ein Leben wie das ihre. Und sie hatte sie angenommen, denn sie wollte ihn nicht verärgern. Außerdem hatte sie gemerkt, dass die meisten Menschen sie seltsam ansahen, wenn sie keine Kleidung trug. Der einzige Grund, warum sie die Kleidung nach fortgehen des Boten nicht wieder abgelegt hatte, war jedoch die Wärme gewesen, die sie spendete.
Das größte Geschenk war jedoch gewesen, dass der Mann ihr einen Namen gegeben hatte. Er meinte, jeder Mensch müsse einen Namen haben, und so hatte er sich einen für sie ausgedacht. Jetzt hieß sie Jiran.
"Jiran", murmelte sie vor sich hin. Es gefiel ihr, einen Namen zu haben. Und seit einiger Zeit quälte sie die Sehnsucht nach Menschen. Nach mehr Wissen über diese Welt. Sie wollte besser sprechen lernen, doch in dieser Wildnis gab es niemanden, der ihr die Worte beibrachte. Sie wusste, dass die Namen, die sie Pflanzen und Gegenständen gegeben hatte, nicht gebraucht wurden, dass die meisten ihrer Fantasie entsprangen. Deshalb wollte sie die wahren Namen lernen. Jetzt wo sie einen Namen hatte, wollte sie andere Namen wissen. Und doch traute sie sich nicht fort. Wohin sollte sie sich wenden? Sie wusste nicht, wo Menschen lebten, wo also sollte sie anfangen zu suchen? Und so hoffte sie einfach nur, dass jemand kam, der sie mitnahm. Der sie nicht gleich in eine Stadt brachte, wo sie mit so vielen Menschen konfrontiert würde. Aber der sie mitnahm und ihr die Welt erklärte.
Langsam ließ sie ihren Blick über ihre Umgebung streifen. Vor ihr stieg die Straße leicht an, erklomm den Hügel, auf dem die Ruinenstadt lag. An beiden Seiten wurde sie gesäumt von eingefallenen Häusern. Einstmals war dies eine schöne Stadt gewesen, das sah sie an den Verzierungen und den Mustern, die überall angebracht waren. Verwinkelte Labyrinthe aus Mosaiksteinen bedeckten die Böden in den Häusern und die Mauern waren übersät von ungeheuer detaillierten Reliefs, sie stellten Schlachten dar, wundervolle Kämpfer, aber auch das alltägliche Leben, daher wusste sie, wie das Volk, zu dem sie zu gehören schien, lebte.
Sie bewunderte diese Kämpfer. Wie sehr wünschte sie sich, zu lernen, mit diesen prächtigen Waffen umzugehen. Der letzte Mensch, der hier gewesen war, der Mann, den sie gesund gepflegt hatte, hatte ihr die Namen der Waffen gesagt und ihr erklärt, was man damit macht. Er war ein guter Schwertkämpfer gewesen, das hatte er erzählt. Doch in ihren Augen war er einfach nur wundervoll gewesen. Die Harmonie im Umgang mit der Waffe. Das war es, was in ihr den Wunsch geweckt hatte, die Ruinenstadt hinter sich zu lassen, in ein neues Leben aufzubrechen.
Sie drehte sich um und blickte die lange Straße entlang. Es war einst die Hauptstraße der Stadt gewesen, breit und gut ausgebaut. Lang zog sie sich hin, über die Steppe und ins Nirgendwo, und am Ausgang der Stadt wurde sie von zwei Statuen bewacht. Es waren Löwen, groß und mächtig einst, doch jetzt kaum mehr als ein blasser Schatten ihrer früheren Würde. Sie waren überwuchert von Moos und Gräsern. Sandstürme hatte die Formen abgeschliffen, sie ließen sich nur noch erahnen und dem einen Löwen fehlte der halbe Kopf. Das Bruchstück lag neben ihm auf der Straße, als wolle er es bewachen, damit es irgendwann einmal wieder erneuert werden konnte.
Sie träumte davon, die Stadt wieder aufgebaut zu sehen. Es wäre ein prächtiger Ort. Voller Leben in ihren Träumen, voller Menschen und Lieder. Und bunt wäre es, voller farbenfroher Bilder und Kleidung. Wie war wohl der Name dieser Stadt früher gewesen? Er war vergessen, nicht einmal die Menschen, die so selten herkamen, wussten ihn.
Sie ging leise zurück zu ihrem Lager. Sie hatte gelernt zu schleichen und sich zu verstecken, besonders nachts, denn dann kamen Wölfe und andere schreckliche Tiere, gegen die sie sich nicht verteidigen konnte. Also hatte sie sich einen Unterschlupf gesucht, in den ihr die Feinde nicht folgen konnten. Mehrere der Gebäude waren unterkellert gewesen und sie hatte einen Kellerraum gefunden, der noch intakt war. Der Eingang war eng, sie passte nur mit Mühe hindurch, doch sie konnte ihn mit einer Steinplatte versperren. Diese stammte von dem Friedhof außerhalb der Ruinenstadt, sie hatte drei Tage gebraucht um diese Behelfstür hierher zu schleppen. Aber dadurch war der Unterschlupf sicher.
Sie zündete ein kleines Feuer an und röstete sich auf einen Stock aufgespießte Wurzeln. Dazu trank sie Wasser, das in einen Rinnsal von der Wand hinab lief. Der Becher, aus dem sie trank, stammte auch von dem Mann. Er hatte ihr seinen Namen nicht nennen wollen, er sagte, er sei dessen nicht würdig, dass sie sich seiner erinnerte, deshalb brauche sie seinen Namen nicht zu wissen. Aber sie dachte häufig an ihn und häufig bereute sie ihren Entschluss, in der Ruinenstadt zu bleiben. Oh, wäre sie doch mitgegangen! Er hätte ihr Schwertkampf beibringen können und die Sprachen der Welt, von denen er erzählt hatte.
Das dunkle Lager bedrückte sie plötzlich. Die Wände schienen immer näher zu kommen und die Gräser und Blätter, die sie hierher geschafft hatte, um nachts weich zu liegen, kamen ihr unerträglich hart vor. Die Luft schmeckte immer dünner, sie hatte beinahe das Gefühl zu ersticken.
Keuchend eilte sie zu der Steinplatte, die das Eingangsloch verdeckte und wuchtete sie zur Seite. Das Loch kam ihr unnormal schmal vor, als hätten die Wände sich einander angenähert. Sie zog sich mühsam hindurch und atmete tief ein. Ein Gefühl von Befreiung machte sich in ihr breit. Sie war froh am Leben zu sein, auch wenn sie nicht verstand, warum sie sich so gefühlt hatte.
Sie schlenderte unbekümmert die nächtliche Straße entlang. Über ihr sah sie die Sterne, die ihr in dieser Nacht besonders hell vorkamen, neben sich die bedrohlichen und doch auch Sicherheit gebenden Schatten der Ruinen. Ja, hier war sie zu Hause.
Plötzlich zuckte sie zusammen. Ihre in der Wildnis geschärften Sinne täuschten sie nie! Sie hatte ein Geräusch gehört, wie Schwerter, die aufeinander klirrten. Waren etwa wieder Menschen in der Stadt? Kämpften sie womöglich? Verstohlen hastete sie in die Richtung, aus der die Geräusche kamen, huschte von einem Schatten in den nächsten. Sie wollte es um jeden Preis vermeiden, gesehen zu werden, bevor sie wusste, mit wem sie es zu tun hatte.
Dann sah sie die beiden Kämpfenden vor sich. Das eine musste nach Beschreibung des Mannes ein Ork sein. Er hatte dunkle, schmutzigbraune Haut, fettige, lange, aber sehr dünne Haare und trug ein dreckiges Tierfell um die Hüfte. Sein Oberkörper war nackt, aber sehr dicht behaart und die Haare waren verklebt mit Schmutz und Exkrementen. Selbst auf die Entfernung, sie versteckte sich gut fünfzehn Meter entfernt von ihm, stank er entsetzlich. Wie musste es in seiner Nähe sein? In der Hand trug der Ork ein Schwert, aber es war schlecht gemacht und rostig, das sah sogar sie, obwohl sie sich mit Waffen wenig auskannte. Wo kam dieses grässliche Wesen wohl her? Und warum kämpften die beiden gerade hier, in der Ruinenstadt?
Sie besah sich seinen Gegner genauer. Und was sie sah, erstaunte sie sehr. Ihre Bitten waren erhört! Es war der Mann, dessen Namen sie nie erfahren hatte. Vielleicht würde er sie jetzt immer noch mitnehmen. Als er neben dem Ork stand, fiel ihr zum ersten Mal auf, wie gut er eigentlich aussah. Er war groß gewachsen, mit breiten Schultern, und sehr muskulös. Seine blonden Haare waren dicht gelockt und fielen fast bis auf die Schultern. Selbst in diesem Kampf sah er noch gut aus! Doch er schien Schwierigkeiten zu haben, der linke Arm hing schlaff hinab, vermutlich hatte die rostige schwarze Klinge des Orks ihn getroffen. Und auch der Schwertarm schien ihm zu erlahmen, er wirkte müde.
 Sie wusste, er würde gegen diesen abscheulichen Ork verlieren, jedenfalls wenn kein Wunder geschah. Also würde sie Wunder spielen müssen, wenn sie die Ruinenstadt mit ihm verlassen wollte. Sie nahm sich einen Stein, so groß wie ihre Faust und ziemlich schwer. Dann zielte sie, lange und vorsichtig, stellte sich vor, der Kopf des Ork sei ein Kaninchen, das sie essen wollte. Sie hielt den Atem an und warf. Hoffentlich traf der Stein, oder lenkte den Ork zumindest so lange ab, dass der Mann ihn töten konnte.
Sie hatte gut gezielt, der Ork ging in die Knie, als der Stein traf. Der Mann zögerte nicht eine Sekunde, sondern schnitt seinem Gegner die Kehle durch. Dann erst drehte er sich in ihre Richtung: "Vielen Dank, Jiran. Bitte, komm zu mir!" Er erinnerte sich also an sie! Sie wusste nicht, warum, aber es freute sie, dass er sie nicht vergessen hatte und so verließ sie ihre Deckung und kletterte auf das Dach des Hauses. Sie wusste, sie musste sich deutlich gegen das Mondlicht abheben und genau das hatte sie beabsichtigt. Sie wollte ihm zeigen, wer die Herrin der Ruinenstadt war! Laut antwortete sie: "Nur wenn du mir deinen Namen nennst!" Abwartend und fordernd blieb sie auf dem Dach stehen. Seine Stimme war klar und gut zu hören: "Mein Name ist Aydan!" Sie hatte ihr Ziel erreicht, also ging sie zu ihm. Sie freute sich darauf, ihn wieder zu sehen. 'Vielleicht muss ich ihn ja noch einmal gesund pflegen', dachte sie lächelnd.
In diesem Moment sprach Aydan wieder: "Mir scheint, ich komme immer nur hierher, wenn es mir nicht gut geht. Dieser Ork hat mich ziemlich böse erwischt." Er hatte sich wirklich an sie erinnert, sie freute sich darüber. Doch warum war er gekommen? Und wie kam es zu dem Kampf mit dem Ork? "Warum bist du zurück. Woher kommt Ork?", fragte sie mühsam. Er zögerte, doch dann erwiderte er: "Ich bin zurückgekehrt, weil ich dich noch einmal bitten wollte, mich zu begleiten. Ich möchte dir die Welt zeigen, Jiran. Ich habe dich liebgewonnen, als du mich versorgtest und es gefiel mir nicht, dich hier zu lassen. Der Ork ist mir nur zufällig begegnet, es ist ein Verwandter von dem, der mich verletzt hatte, als ich das letzte Mal hier war. Er wollte sich rächen, weil ich seinen Onkel getötet habe." Es fiel ihr schwer, zu antworten, denn ihr fehlten die Worte, doch sie hoffte, Aydan würde sie verstehen. "Ich habe an dich gedacht, seit du weg bist. Warum du deinen Namen nicht gesagt. Wer du bist. Ob du wiederkommst. Ich möchte weg. Jetzt. Ich komme mit. Gern." Hoffentlich hatte er das verstanden! Es kam ihr so kläglich wenig vor, was sie ausdrücken konnte. "Bitte bring mir mehr sprechen bei! Und kämpfen, damit ich dir helfen kann, gegen Orks", bat sie eindringlich. Aydan umarmte sie heftig, als habe er ein ganzes Jahr darauf gewartet. "Dann komm mit, Jiran. Ich bringe dir alles bei, was ich weiß! Als allererstes reiten, denn du wirst mit einem Pferd zurechtkommen müssen, wenn wir hier fort wollen."
Sie, nunmehr nur noch Jiran, war überglücklich. Sie sollte ein Pferd reiten! "Bring unterwegs bei. Lass uns gehen", sagte sie leise zu Aydan. Der nickte nur und führte sie zu den Pferden, die er hinter einer Mauer versteckt hatte, im Innern eines der alten Häuser. Was für schöne Tiere das waren! Sie kannte bis jetzt nur Händlerpferde, sie zogen die Wagen. Aber das waren struppige, magere Tiere. Aydans hingegen waren groß und kräftig und ihr Fell glänzte tiefschwarz. Das waren wirklich die schönsten Tiere, die sie je gesehen hatte.
Aydan hob sie mühelos auf das eine Pferd, zuckte aber gequält zusammen, als er den linken Arm zu stark anstrengte. "Pass auf Arm auf, Aydan!", sagte Jiran besorgt, doch er winkte ab. Er bedeutete ihr, sich an der Mähne festzuhalten und nahm die Zügel ihres Pferdes in seine Hand. So ritten sie nebeneinander her, die alte Pflasterstraße entlang, in die aufgehende Sonne und Jiran ließ ihr ganzes bisheriges Leben hinter sich. Doch war sie dabei so glücklich, wie noch nie zuvor.
 
© Red Dragon
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Sicher geht's hier bald weiter zum 2. Kapitel...

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An dieser Geschichte darf jeder, der möchte, mitschreiben!

Besondere Mitschreibregeln oder Einschränkungen gibt es vom startenden Autoren (Red Dragon) im Prinzip keine.
Allerdings bittet Red Dragon um vorherige Absprache mit ihm (siehe EMail-Link oben am Ende des Kapitels), bevor ein neues Kapitel geschrieben und ins Drachental geschickt wird.

Ein neues Kapitel dann bitte wie jede andere Story - unter Hinweis auf diese Geschichte - an das Drachental schicken und gegebenenfalls vorher die allgemeinen Mitmachregeln lesen ;-)
Sollte ich mehrere Kapitel kurz hintereinander erhalten, die sich an das selbe Kapitel anschließen sollen, wird in der Regel das zuerst eingesandte verwendet (es sei denn, es ist qualitativ sehr viel schlechter), wobei das wegen der erwünschten vorherigen Absprache wohl eher nicht vorkommen sollte. Parallel-Kapitel zu bereits bestehenden Kapiteln sind nicht erwünscht (anders als im Netzroman) - es würde sonst zu unübersichtlich werden.

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www.drachental.de