Raritäten von Joe Estrada

An manchen Tagen lässt es sich schon verdrängen, dass man in einem Käfig sitzt. Wenn Julia bei mir übernachtet, oder wenn ich mit Sigurd und Leif, den wilden Brüdern, zwei Nächte durchgesoffen habe.
Nur vergessen kann man es nicht. Es ist und bleibt ein Gefängnis - wie groß es auch sein mag.
Mir ist es zu klein. Und den meisten meiner Leidensgenossen ebenfalls. Klingt ein wenig unbescheiden. Immerhin steht uns ein Auslauf von geschätzten vierhundert Quadratmeilen zur Verfügung. Für den immer betrunkenen Pyrokleisthos langt das tausendmal. Er kann sowieso selten genug auf seinen zwei Beinen stehen. Gehen erst recht nicht. Vielleicht ist es nur der Kummer, den er im Wein ersäuft. Es ist immer das Gleiche. Kurz bevor er unter den Tisch sackt, pflegt er in Tränen auszubrechen und jammert uns was vor von seinem herrlichen Attika. Ich besitze keine Ahnung, wo dieses Land liegen soll, hatte noch nie was davon gehört. Von seinem innig geliebten Freund Perikles jammert er, ach wie er ihn vermisse. Ich war am Anfang ziemlich voreingenommen, dem guten Pyrokleisthos gegenüber. Da wo ich herkomme, treiben es Männer mit den Frauen. Aber der Mann aus Attika ist dennoch ein guter Kerl. Und manchmal, wenn sich die Lieferung des Weines ein wenig verzögert und er nüchtern ist, haben wir viel Spaß zusammen.
Da wo ich herkomme –
Wo komme ich eigentlich her? Von den gut dreihundert Leuten, die mit mir hier leben, scheint keiner vom Himmel gefallen zu sein. Irgendwie ist es nicht zu übersehen, dass sie aus einer gemeinsamen Welt stammen. Aber – und ich weiß, dass es nicht verrückt ist – nicht aus einer gemeinsamen Zeit. Sigurd und Leif meinen, schon mal dunkel was von Attika gehört zu haben. Pyrokleisthos hingegen schüttelt nur den Kopf, wenn sie ihm von dem herrlichen Grönland erzählen. Julia schwärmt oft von ihrer schönen Stadt auf den sieben Hügeln. Wir zwei sind viel zusammen, nicht nur am Tag. Solche Sachen sind uns gestattet, das dürfen wir. Eigentlich lässt man uns ziemlich viel Freiheit. Dass es ein Gefängnis ist, merkt man im Grunde nur an zwei Dingen.
Zum einen ist da, am Rande unserer kleinen Welt, diese seltsame Wand. In meiner Heimat hab ich sowas ähnliches schon gesehen, nur war es dort fast durchsichtig. Glas. Auch die Wand fühlt sich an wie Glas, nur kann man nicht hindurchschauen. Es ist, als blicke man in ein dunkles Gewässer.
Und dann das andere:
Alle paar Monate holen sie uns raus. Immer einzeln. Es ist die Stimme einer Gottheit, meinte einmal der Krieger aus Persien, die unsere Namen ruft. Sicher hat er recht, woher käme sonst dieser an Donnerhall erinnernde Ruf aus der Luft? Man bringt uns in einen kleinen Raum. Sie tun seltsame, unsinnige Dinge mit uns, die ich nicht kapiere. Wozu wohl zapft man mir einen winzigen Tropfen meines Blutes ab? Ist das ein ritueller Kampf? Ein seltsames Opfer? Dann kriege ich noch eine kleine, sehr dünne Nadel in den Oberarm gestochen. Lida, die ich manchmal dort sehe, nennt es eine Spritze. Übrigens, man kann sich nicht dagegen wehren, geholt zu werden. Ich habe es beim ersten Mal versucht. Da kam ein seltsames Ungetüm angeflogen. Groß war es und schien aus Metall zu bestehen. Aber vorne war ein dünnes Röhrchen und daraus kam Rauch. Kein Rauch von einem Feuer. Aber wer ihn einatmet, der wird willenlos und folgt dem Erzdrachen.
Ähnliche Dinge, nur viel kleiner gibt es hier überall. Sie sind ganz oben auf hohen Pfählen und in den Räumen unserer Häuser. Wozu sie dienen, das weiß keiner. Kleine Schachteln sind es mit einem komischen, toten Auge vorne dran. Aber weil sie keinen Rauch spucken, kümmern sie uns nicht.
In den ersten Wochen meiner Gefangenschaft holten sie mich jeden Tag. Und immer war es Lida, die mich in einem kleinen Raum empfing. Allerdings saß sie durch eine Scheibe richtigen Glases von mir getrennt. Dennoch vernahm ich ihre Stimme laut und deutlich. Welcher Art diese Magie ist, hab ich bis heute nicht herausgefunden. Denn ich sah, wie sich ihr Mund beim Sprechen bewegte, die Stimme kam aber aus der Wand neben mir. Diese ersten Wochen erwiesen sich für mich als sehr anstrengend. Ich musste eine neue Sprache lernen. Lida nennt sie Inglisch. Ich wollte zuerst nicht. Aber bald fand ich heraus, dass ich anders mit keinem meiner Leidensgenossen hätte sprechen können. Jeder von denen hat seine eigene Muttersprache, aber fast keiner kann den anderen verstehen. Julia ist in der Lage, mit einigen zu sprechen, auch mit dem Säufer aus Attika. Aber jeder spricht dieses komische Inglisch - darum blieb mir gar nichts anderes übrig, als es auch zu lernen.
Ich bin in dem ganzen, kunterbunt zusammengewürfelten Haufen der einzige, von dessen Heimat nie jemand was gehört hat. Wie oft ich ihnen von dem wunderbaren Land Narymd und meiner herrlichen Heimatstadt Lam-An-Det erzähle, alle schütteln sie nur verständnislos den Kopf. Ich bin also vom Himmel gefallen.
Einmal, als ich schon ganz gut Inglisch reden konnte, fragte ich Lida, als sie mir die Spritze gab, wo ich denn herkäme. Doch sie wurde ein wenig böse und murmelte was von einem Versehen und dass sie lieber nicht daran erinnert werden wollte. 
Das mit der Erinnerung kann ich gut verstehen. Doch dazu später mehr.
Alle hier sprechen wir Inglisch. Bis auf die Königin. Sie hockt in ihrem kleinen Palast und empfängt niemanden. Geht auch nie aus und ich habe sie noch an keinem unserer lustigen Feste teilnehmen sehen. Julia meinte einmal, es läge daran, dass sie als einzige unter uns eine in ihrer Welt bekannte Person sei. Ja, sie war wirklich eine Königen, von der Julia in ihrer Stadt Roma schon Geschichten gehört hatte. Mir sagte der Name nichts.
Nofretete.
Und gesehen habe ich sie auch nur einmal. Ganz kurz und von weit weg, als sie am Fenster ihres kleinen Palastes stand. Wenn sie gerufen wird, dann geht sie verschleiert. Manchmal, wenn Julia von dieser Nofretete spricht, necke ich sie:
"Aber Julia, du warst doch auch sehr berühmt, oder? Hast du nicht gesagt, du wärest die bekannteste Hure im ganzen Imperium Romanum gewesen?"
Meistens lacht sie dann, beißt mich in irgend einen Körperteil und sagt:
"Aber das ist ganz was anderes, Rean!"
Ja, ich bin Rean aus dem Hause Tan-Landim, einem der edelsten Geschlechter Lam-An-Dets. Hier bin ich niemand. Eine Rarität unter vielen. Hätte ich mich damals nicht entschlossen, die Welt nach Abenteuern zu durchforschen! Wäre ich doch in meiner geliebten Heimatstadt geblieben! Aber nein, ich musste mir ja die Hörner abstoßen - und es kam, wie es kommen musste.
Doch davon später.
Lida ist mir immer geschickt ausgewichen, aber ich kann ja zwei und zwei zusammenzählen. Darum weiß ich, dass das hier eine Art Zoo ist. Und wir sind die Attraktion.
Raritäten aus vielen Epochen dieser Welt. Nur ich passe nicht ganz da hinein.

Lasst mich diesen Ort näher beschreiben. Von der Wand habe ich schon erzählt. Innerhalb derselben erstreckt sich meine und Julias Welt. Ein Geviert von vielleicht zwanzig mal zwanzig Meilen. Das Land ist recht abwechslungsreich. Es hat einen großen, dunklen Wald, ein paar Bäche, die aus einem metallenen Teil der Wand kommen und in einem solchen wieder verschwinden. Ein großer, dunkelblauer See inmitten eines schattigen Haines aus schlanken, hohen Bäumen bringt uns oft Kühlung in den heißen Tagen. Der Himmel über uns ist fast immer wolkenlos. Leif und Sigurd fluchen ständig über diese grausame Hitze. Auch ein paar andere unter uns. Mir macht sie, wie den meisten, kaum zu schaffen. Da wo ich herkomme, ist es auch warm.
Es ist wahrlich ein schönes Land. Aber zu klein für einen wie mich, der ausgezogen war, die weite Welt kennenzulernen. Herrliche Vögel gibt es, bunte Falter und schillernde Fische in den Gewässern. Auch größere Tiere sieht man in den Wäldern. Manche tragen Hörner, manche haben Hufe, andere Pfoten. Es ist uns streng verboten, sie zu jagen. Wir könnten es, denn sogar Waffen dürfen wir tragen. Ich bin froh, mein gutes Schwert in meiner Kammer zu wissen, wenngleich ich es hier noch nie benutzt habe. Manchmal ziehe ich es aus der Scheide und komme mir sehr einsam und nutzlos vor. Ja, die Waffen haben sie uns gelassen. Aber sie nützen uns nichts. Ich sah einmal, wie es zu einem Streit zwischen Leif und Ali, dem Manne aus Granada kam. Plötzlich kreuzten sich Schwert und Krummsäbel. Jedoch, ehe es auf ein Blutvergießen hinauslaufen konnte, erschien der Erzdrache und die zwei Streithähne wurden wieder vernünftig.
Es mangelt uns an nichts.
Alle fünf Tage ertönt der Gong der Götter. Wir gehen dann zu einer Stelle der Wand, wo sich eine Türe öffnet. Gerade groß genug, um einen Bruder des Erzdrachen durchzulassen. Dieser aber speit keinen Rauch. In seinem riesigen Bauch finden wir Nahrung, Wein oder auch mal Stoff oder Eisenbarren für den Schmied. Es ist nie viel, weil wir den größten Teil dessen, was wir zum Leben brauchen, selber herstellen. Es gibt Felder, wo Getreide wächst, das dem Korn meiner Welt sehr ähnlich ist. Einen Weinberg haben wir auch. Der Wein ist gut, aber nicht zu vergleichen mit dem aus meiner Heimat. Unter uns sind ein Schmied, einige Schneider, Schreiner und Weber. Es fehlt uns fast an nichts.
Bis auf Fleisch. Das ist uns verboten. Wir erhalten auch keines. Manchmal packt mich die Lust, heimlich zu angeln oder eines der Rehe zu erlegen. Julia rät mir dringend davon ab. Einmal, vor meiner Ankunft, habe es einer versucht. Er wurde abgeholt und kehrte nie mehr zurück. Die Götter sähen alles, beschwor sie mich. Aber ich sitze oft da und denke an einen herrlich knusprigen Braten. Wir leben auf fünf kleine Dörfer verteilt. Wenigstens fast alle. Ein paar ziehen die Einsamkeit vor, so wie die Königin vom Nil. Wir hätten natürlich alle zusammen auf einem Haufen leben können. Doch es ist gut gegen die Langeweile, wenn man erst einige Meilen wandern muss, um einen Freund zu besuchen. In unregelmäßigen Abständen treffen wir uns, um eines der Feste zu feiern, welche jeder von uns aus seiner Zeit mitbrachte. So lernte ich im Verlauf der Jahre manch seltsame Sitte meiner Gefährten kennen. Mal nannte man es Saturnalien, mal Pythische Spiele, Sonnwend, Inti-Raimi, Thing oder Marduknacht. Wir haben immer viel Spaß dabei. Das sind die Tage, an denen wir mit unserem eigenen Wein nicht auskommen und dann wartet der arme Pyrokleisthos oft tagelang an einer bestimmten Stelle in der Wand.
Aber all die Feste können mir die Langeweile nicht nehmen. Nicht einmal Julia, die sich redlich Mühe gibt. Bin ich denn der einzige, der nicht hier sein will? Nein, diese Nofretete scheint sich auch nicht zu Hause zu fühlen. Die Anderen - so habe ich sie im Verdacht - wollen nicht weg. Sicher, manche nörgeln herum und hadern mit ihrer Lage, wie die wilden Brüder. Aber ich denke, ein wenig Schnee, und auch sie wären zufrieden. Liegt es daran, dass ich mitten aus meiner Reise in die Welt herausgeholt worden bin. Es ist nun schon ein paar Jahre her, jedoch die Erinnerung daran wird mir immer lebendig bleiben.

Mein herrlicher, schwarzer Hengst lahmte. Es war an der Zeit, dass ich in eine Gegend kam, wo man auf Menschen traf, vor allem auf einen Schmied. Mein Tier hatte gestern ein Eisen verloren, als wir die unwegsamen Wälder hinter dem Wolkenland verließen und hinaus auf eine weite Steppe ritten. Jetzt war hohes Gras um uns herum, nur ab und zu sah man einige Baumgruppen oder einen Galeriewald entlang eines der Flüsse. Zwei Jahre und ein halbes waren vergangen, seit ich mein Heim in Lam-An-Det verließ und durch die Welt streifte. Noch nie war einer aus meiner Familie, deren Mitglieder als äußerst sesshaft und bedächtig galten, so weit von zuhause entfernt. Ja, ich hatte mir schon vor meinem Abschied einen Namen als schwarzes Schaf der Tan-Landim gemacht. Mich kümmerte das wenig. Ich war jung, stark, wusste ein Schwert zu führen und hatte nur eines im Sinn – zu erfahren, wie es hinter dem Horizont aussah.
Ich ritt hinaus in dieses verlassene Land, wo es nur Gras gab. In einiger Entfernung äste eine Herde von Hornrücken. Zum ersten Mal sah ich nun diese gewaltigen Kolosse und war beeindruckt. Zu fürchten brauchte ich sie nicht. Die Hornrücken, soviel wusste man sogar in meiner Heimat, waren ruhige, friedliche Wesen. Nur mein Hengst schlug unruhig mit dem Schweif und ließ seine Ohren spielen. Er war nervös, weil ihn sein linkes Hinterbein schmerzte. Wir kamen an einen breiten Fluss und ich suchte lange, bis ich eine flache Furt sah. Ins tiefe Wasser zu steigen, das war lebensgefährlich. Am Ufer sah ich einige liegen – Flussdrachen. Zwanzig Fuß maßen sie bestimmt. Also waren es Jungtiere. Flussdrachen sind relativ harmlos, wenn sie an Land sind. Im Wasser war das anders. Darum lenkte ich mein Tier dort in den Fluss, wo das Wasser kaum knietief über die großen Kiesel rann. Außerdem trieb ich es hart an, ohne Rücksicht auf sein Bein. Wir erreichten das rettende Ufer, ohne einen Flussdrachen auch nur von ferne zu sehen. Eine Weile später trafen wir auf eine Gruppe der Grasnomaden mit ihrer großen Herde von Stelzenschweinen. Freundliche Menschen waren es. Ich musste absteigen und Speise und Trank mit ihnen teilen. Dabei fragte ich sie aus, wohin ich mich denn wenden könne, weil mein Pferd es nicht mehr lange machte. Sie erklärten mir, dass die nächste Siedlung nur zwanzig Meilen in Richtung der Nachmittagssonne liege. Aber ob es dort einen Schmied gab, wussten sie nicht. Warum ginge ich nicht gleich bis nach Myranana, dort gab es gewiss alles?
Myranana! Wie klang dieses Wort in meinen Ohren. Schon als Kind hatte ich den Erzählungen über diese Stadt gelauscht. Myranana war eine der größten und herrlichsten Städte dieser Welt.
Myranana!
In meiner Kindheit war dieser Name eines jener magischen Wörter, die mich später zu dem machten, der ich war. Zu einem Abenteurer. Als ich überdies noch erfuhr, dass ich morgen Abend dort sein konnte, sofern mein Pferd noch durchhielt, stand mein Entschluss fest. Dorthin, in die sagenhafte Stadt, wollte ich.
Ich brauchte nur dem Fluss zu folgen, erklärten mir die Hirten und wir nahmen in herzlichster Freundschaft Abschied.
Ich musste langsam reiten und immer wieder Pausen einlegen. Um nichts auf der Welt wollte ich mein treues Reittier verlieren. Als die Zinnen und Türme von Myranana im Abendrot des nächsten Tages sich am Horizont abzeichneten, ging ich zu Fuß und führte den Hengst am Zügel.
"Gleich hast du es geschafft, mein Braver!", spendete ich ihm Trost. Auch das Tier sah, dass wir wieder in eine zivilisierte Gegend kamen und wieherte freudig. Wir schafften es, die Stadt zu betreten, bevor das schwere Tor geschlossen wurde. Für frische Hufeisen war es schon zu spät, also machte ich mich auf die Suche nach einer guten Herberge. Das Gold in meinem Beutel gestattete es mir, in Häusern abzusteigen, wo das Essen frisch und die Betten sauber waren. Mein Vater hatte es sich nicht nehmen lassen, mich mit einer gehörigen Barschaft auszustatten. Wenngleich es ihm gar nicht gefiel, dass ich fortzog, so meinte er doch, mir die Fahrt mit Gold leichter zu machen. Was oft stimmte.
Und er glaubte, ja, hoffte gewiss, ich würde heimkehren, wenn der Beutel leer war. Mein guter Vater musste sich noch ein Weilchen gedulden. Der Beutel war noch lange nicht leer. Und selbst wenn – ich hörte immer wieder von neuen Orten, neuen Wundern, die ich zu erblicken sehnte.
Ich fand eine schmucke Herberge, nicht weit von der Stadtmauer entfernt. Eigentlich wäre ich am liebsten noch heute in das Zentrum der Stadt geritten, wo es großartige Paläste gab und den weithin berühmten Drachenbrunnen. Aber ich musste auf den Hengst Rücksicht nehmen. Der Wirt versprach mir, mein Pferd selber morgen zum Schmied zu führen. Es gäbe einen fast um die Ecke. Ich war erfreut über soviel Entgegenkommen und fragte den guten Mann, was er mir empfehlen könne. Ich sei zum ersten Mal hier und wolle den morgigen Tag dazu nützen, die Herrlichkeiten Myrananas zu sehen.
Er stellte gerade mein Essen vor mir auf den Tisch. Dabei sagte er:
"Edler Herr, ich habe Euer Pferd gesehen. Das braucht einige Tage der Ruhe. Darum schlage ich Euch vor, seht Euch den berühmten Sklavenmarkt an. Er findet nur einmal in zwei Jahren statt, dauert eine Woche und morgen ist der letzte Tag. Die Paläste und Parks laufen Euch nicht davon. Aber den Sklavenmarkt dürft Ihr Euch nicht entgehen lassen!"
So fragte ich denn, wo der Markt zu finden sei. Er versprach mir, morgen früh seinen Jüngsten zu schicken, auf dass er mich hinbringe.
So geschah es. Ich sah den berühmten Sklavenmarkt von Myranana. Richtig gefallen hat er mir nicht. Ich war mehr an der Architektur der Stadt interessiert, als an den bedauernswerten Kreaturen, die man hier zu kaufen fand. Jedoch bald sah ich, dass meine Vorstellungen falsch waren. Die Sklaven kamen mir keineswegs bemitleidenswert vor. Im Gegenteil. Wohl im Wissen, auf dem größten Markt der Welt zum Verkauf zu stehen, sah ich sie stolz und selbstbewusst in die Menge blicken. Der Markt war überfüllt von Schaulustigen und solchen, die wirklich was kaufen wollten.
Halb interessiert das Treiben beobachtend, halb davon abgestoßen, schlenderte ich zwischen den Ständen dahin und warf so manchen Blick auf eines der Podien, wo die Sklaven zu besichtigen waren. Natürlich brauchte ich keinen Sklaven. In einer guten Woche wollte ich weiter. Aber warum nicht eine Lustsklavin für ein paar Tage? Sie konnte man für eine bestimmte Zeit kaufen. Ich musste doch eine Weile suchen, bis ich einen entsprechenden Stand entdeckte. Als ich näher trat, kam es mir auf einmal ein bisschen peinlich vor. Doch ich war schließlich wochenlang alleine durch die Wildnis geritten.
"Wer da nicht das Bedürfnis nach einem Weibe verspürt, der ist krank!", so hätte mein Vater gesagt. Ich trat also an den Stand heran und musterte die Frauen. Vier waren es. Drei fielen mir nicht auf – weil sie hübsch waren. Ja, es klingt verrückt, aber so war es. Die vierte zog meine Blicke auf sich. Denn diese sah so anders aus, dass ich sofort merkte: Diese Frau kam von sehr weit her.
Auf der Stelle war mein Interesse geweckt. Aber nicht jenes, dessen Natur von fleischlicher Art ist. Diese Frau musste es sein, so wenig sie mir als Mann gefiel. Blasse Haut, kleine Brüste und ziemlich mager. Dazu so kurze Haare, wie ich es noch nie an einer Frau sah. Jedoch all das war mir einerlei. Ich wollte nicht die Matratze mit ihr teilen. Ich wollte, dass sie mir von ihrer fernen Heimat erzählt.
Der Vermieter hielt mich garantiert für einen Schwachkopf, als ich die Frau nahm, ohne den Preis drücken zu wollen. Die Frau hatte bisher kein einziges Wort gesagt. Erst als wir auf meinem Zimmer angekommen waren, fauchte sie:
"Fass mich nicht an, du Mistkerl!"
Für  diese Worte wäre sie von manchem Mann gezüchtigt worden. Mich versetzten sie in hellstes Entzücken. So miserabel sprach sie die Eine Sprache, dass sie wirklich von ganz, ganz weit her kommen musste. Heißt es doch, die Eine Sprache redet man sogar jenseits der Regenbogensee. Ich war begierig zu erfahren, woher diese Frau kam. Darum sagte ich zu ihr:
"Hab keine Angst, ich will nicht DAS von dir. Ich möchte, dass du mir von deiner Heimat erzählst!"
Sie blickte mich an. Es war der selbe Blick, den ich schon bei ihrem Vermieter sah. Auch sie hielt mich für einen Irren. Deshalb fuhr ich sie grob an:
"Denke ja nicht, dass ich nicht kann! Ich will nur nicht, weil du mir als Frau nicht gefällst, ist das klar? Jetzt sag mir deinen Namen!"
Das wirkte. Ich sah sie leicht zusammenzucken, Das arme Ding hatte sicher keine guten Erfahrungen mit den Männern hier gemacht. Leise sagte sie:
"Lida. Mein Name ist Lida."
Plötzlich wurde ihr Gesicht noch blasser. Sie hustete und keuchte:
"Hilf mir, ich sterbe hier!"
Sie starb nicht, wenigstens nicht sofort. Aber es sah fast danach aus. Sie schien zu ersticken. Ich stand hilflos daneben und mir fiel nichts Besseres ein, als sie auf mein Bett zu legen und ihr Gesicht und Brust mit einem feuchten Tuch abzureiben.
Ich wusste nicht, ob es an meiner Behandlung lag. Auf alle Fälle ließ der Anfall wieder nach und sie konnte sagen:
"Bring mich weg von hier. In deiner Welt kann ich nicht überleben!"
Ich reichte ihr einen Becher Wein und ließ sie alleine. Rasch eilte ich hinab und sagte dem Wirt, dass er Speise und Trank für uns auf das Zimmer bringen solle. Da raunte er mir in einem halb vertraulichen, halb verschwörerischen Tonfall zu:
"Herr, Ihr seid fremd hier. Die Frau, welche dort in Eurem Zimmer wartet, ist - wie soll ich sagen? - na, ja, man erzählt sich so allerhand von ihr!"
Ich horchte auf. Wieso kannte dieser Wirt die Frau in meiner Kammer?
"Das müsst Ihr mir schon näher erklären, guter Mann!", forderte ich ihn auf. Er wurde ein wenig verlegen, als er mir Antwort gab:
"Niemand weiß, woher sie kommt. Aber jene, welche sie drüben in den Bergen fanden, schworen, sie hätten sie aus einer singenden Säule treten sehen. Aber diese Säule verschwand auf einmal und nur die Frau war da. Und fiel in Ohnmacht, nach einem starken Hustenanfall."
"Genau wie eben!", dachte ich. Etwas hatte meine Neugierde angeregt. Der Wirt sprach von einer singenden Säule. Was immer das sein mochte, ich MUSSTE es sehen! Ich dankte dem Mann für die Auskunft und er versprach, in einer Stunde das Essen zu bringen.
Oben in meiner Kammer war die Frau soweit wieder hergestellt, dass ich mit ihr reden konnte.
"Woher kommst du?", fragte ich und nahm auf dem Stuhl Platz. Sie saß immer noch am Bettrand und atmete schwer.
"Ich komme von sehr weit weg. Ach was, du wirst es mir ohnehin nicht glauben, aber ich sag es dir. Ich komme nicht nur von sehr weit weg, sondern aus einer anderen Zeit!"
Ich staunte.
Sie auch:
"Wie, du lachst mich nicht aus? Jeder, dem ich das gesagt habe, hat mich für verrückt erklärt."
Ich schüttelte langsam meinen Kopf.
"Nein, ich erkläre dich nicht für verrückt. Weißt du, Lida, ich bin in letzter Zeit weit herumgekommen. Da lernt man, dass es seltsame Dinge gibt, die nur die Götter verstehen. Bist du eine Göttin?"
Jetzt lachte sie. Gab es aber schnell wieder auf, weil das nur ihren Husten anregte:
"Nein, ich bin keine Göttin. Oder vielleicht doch? Ich weiß es nicht. Ich bitte dich, bringe mich fort von hier!"
"Und wohin? Zurück zu deiner singenden Säule?"
Sie schaute mich erstaunt an:
"Zu meiner WAS? Ach so, du meinst die..."
Hier gebrauchte sie ein Wort, das nicht aus der Großen Sprache stammen konnte. Ich bat sie, es mir zu erklären. Sie versuchte es:
"Es ist ein Wagen. Mit ihm reise ich durch die Zeiten. Aber bei meiner letzten Fahrt muss etwas schief gegangen sein. Ich bin nicht in der richtigen Zeit herausgekommen, und auch noch in der falschen Welt."
Das verstand ich nicht mehr, trotz der Erfahrung meiner langen Reise. Sie versuchte gar nicht, es mir zu erklären. Statt dessen bat sie mich inständig, sie fortzubringen. Noch heute Nacht.
"Weißt du denn den Weg?", wunderte ich mich.
"Nein, aber ich habe etwas, das ihn mir zeigen kann."
Dabei nahm sie das Amulett, welches zwischen ihren Brüsten hing, in die Hand. Auf einmal sah ich den roten Edelstein aufleuchten und vernahm ein dünnes Piepsen. Ich fuhr erschrocken zurück. Das war Götterwerk! Ohne Zweifel, und ich saß auf Armlänge getrennt davon entfernt.
Viel zu nahe.
Sie beruhigte mich. Es könne mir nichts geschehen, solange sie bei mir war. Darum kam ich nun dazu, meine zweite Frage zu stellen:
"Ist es weit?"
Sie wusste es nicht genau. Man hatte sie im Zustand der Bewusstlosigkeit fortgeschafft. Erst kurz bevor man die Stadt erreichte, war sie zu sich gekommen.
"Wie lange lebst du schon in Myranana?", wollte ich noch von ihr wissen.
"Drei Monate. Viel zu lange. Wenn ich nicht bald von deiner Welt verschwinde, dann könnt ihr mich hier begraben!"
"Wohlan", rief ich, "warten wir, bis der Wirt das Essen gebracht hat. Dann gehen wir. Ich muss nur noch rasch zwei Pferde auftreiben. Mein Hengst braucht Erholung."
Ich wollte schon den Raum verlassen, da rief sie mir nach:
"Ein Pferd. Ich kann nämlich nicht reiten!"
Als ich die Treppe hinablief, hörte ich sie wieder husten.

Es war doch weiter, als wir beide glaubten. Aber der unheimliche Talisman auf ihrer Brust leitete sie. Sie saß hinter mir im Sattel und oft genug musste ich zurück greifen, um sie zu stützen. Das war, wenn sie ihre Anfälle bekam und halb ohnmächtig wurde. Es ging ihr wirklich schlecht.
Während des langen Rittes rätselte ich, wo ihre Welt liegen mochte. Was gab es denn noch jenseits der Regenbogensee? Oder kam sie gar aus dem sagenumwobenen Kraterland mitten im eisigen Südkontinent? Die Existenz dieses Landes beweisen zu können, hätte mir großen Ruhm eingebracht.
Lida konnte oder wollte es mir nicht erklären.
Dann erreichten wir den Wald, und plötzlich sah ich sie -
Die singende Säule.
Sie sang nicht nur, sie schwebte. Ich fiel auf die Knie. Das WAR Götterwerk, demnach war ich mit einer Göttin geritten. Was sah ich dort zwischen hohen Stämmen?
Es war eine Säule. Sehr dick, dafür nicht besonders hoch. Schwarz war sie. Schon das Material zeugte von göttlicher Machart. Eindeutig Metall. Aber eines, das ich noch nie zuvor sah. Schwarz. Aber so schwarz, dass nicht ein einziger Funke des Sonnenlichts davon zurückgeworfen wurde. So als wäre diese Säule nicht Teil dieser Welt.
Und sie sang. Ein feines, unheimliches Summen ging von ihr aus. Es tat nicht in den Ohren weh, aber im Körper. All meine Sehnen und Nerven schienen zu vibrieren. Doch so musste es jedem Menschen ergehen, wenn die Götter zu ihm sprachen. Was sie mir allerdings sagen wollten, das verstand ich nicht.
Und die Säule schwebte.
Ja, sie stand nicht auf dem festen Grund. Zwei, drei Fuß darüber schwebte sie frei in der Luft. Nur das zu sehen, dafür hatte sich meine lange, mühselige Fahrt gelohnt. Ich konnte zurückkehren in meines Vaters Haus. Etwas Größeres als dies hier würde ich nirgendwo finden.
"Ob man mir das glauben wird?" So dachte ich, als ich Lida sagen hörte:
"Tut mir leid, Rean. Ich wollte es eigentlich nicht, aber sonst glaubt mir das keiner..."
Mehr hörte ich nicht. Mir wurde auf einmal schlecht. Hatte Lida mich mit ihrer Krankheit angesteckt? Schwärze trat vor meine Augen. Der Wald begann sich zu drehen und -

Ich bin hier drinnen aufgewacht. Wenn ich daran denke, dann überkommt mich immer wieder die Wut. Undankbares Weib. Anstatt sich zu bedanken, hat sie mich in ihre Welt entführt. Und nun hocke ich da und weiß nicht warum. Bin wirklich verdammt böse auf sie. Doch ich kann ihr nichts tun. Immer wenn ich geholt werde, um einen Tropfen Blut zu geben, nehme ich mir vor, sie zu bestrafen. Aber erstens ist es nur selten sie, die dort in dem kleinen Raum mit dem unsichtbaren Licht auf mich wartet. Zweitens - man kann dort drinnen irgendwie nicht so, wie man will. Fast so, als habe einen der Erzdrache geholt.
Aber ich möchte einfach nicht hier sitzen, bis ich tot umfalle. Nicht einmal wenn ich mit Julia zusammen bin, gefällt mir diese Aussicht.
Lange hab ich überlegt, wie ich in meine geliebte Heimat zurückkehren kann. Ich habe sogar Lida einmal gebeten, mich zurückzubringen. Sie hat mich ausgelacht. Und gesagt:
"Irgendwann mal, vielleicht. Eigentlich gehörst du ja gar nicht hierher. Aber gerade darum bist du der Star. Seit wir dich im Sortiment haben, laufen die WebCams heiß."
Da waren ein paar Wörter, die ich zwar hörte, aber nicht verstand. Lida ließ es dabei und schickte mich zurück.
Die Zeit vergeht. Aber nun habe ich einen Plan.
Wenn es bei ihr funktioniert hat, dann muss es auch umgekehrt gehen.
Ich riskiere es einfach. Ich fange an, zu husten.
Zuerst nur leicht, ein-, zweimal am Tag.
Dann eine halbe Nacht hindurch.
Julia macht sich schon große Sorgen und ist ausgezogen. Sie kenne das, diese Art von Anfällen leiteten das gefährliche Fieber ein, welches man sich in den Sümpfen des Tibers holte.
Ich bin allein. Jetzt huste ich den ganzen Tag.
Den Göttern entgeht in der Tat nichts.
Am vierten Tag werde ich abgeholt. Ich treffe auf Lida und noch zwei andere. Alle schauen sie mich aus seltsamen Augen an. Alle stehen sie hinter dieser großen, unglaublich klaren Wand aus Glas.
"Was ist mit dir, Rean?", höre ich Lidas besorgte Stimme aus der Wand kommen.
Ich huste. Zwischen den Anfällen würge ich hervor:
"Ich weiß es nicht. Ich glaube, ich muss sterben!"
Einer der Männer neben Lida sagt:
"Ich wusste, dass es falsch war, ihn in unsere Dimension mitzubringen. Vergiss nicht, dass du damals fast umgekommen wärst! Auch in deinem Blut haben wir danach nichts gefunden, was auf eine Unverträglichkeit von Luft und Mikroorganismen in seiner Welt hindeutete. Jetzt kann es bei ihm umgekehrt sein. Er muss weg, ehe er die ganze Welt ansteckt!"
Ich erschrecke ziemlich.
WEG!
"Heißt das, man tötet mich?", frage ich, vor Schreck auf das Husten vergessend. Da lächelt Lida. Habe ich sie schon mal lächeln gesehen? Ausgelacht hat sie mich ein paarmal, aber gelächelt –
"Rean! In dieser Welt ist es nicht erlaubt, ein anderes Lebewesen zu töten. Nein, ich bringe dich zurück."
Ich muss mich zusammenreißen, um nicht laut aufzujubeln.

Sie halten ihr Wort. Ich werde gar nicht mehr zu den Anderen zurück gebracht. Eine Tür geht auf und ich werde aufgefordert, hindurch zu gehen.
In dem Raum ist es kalt und finster. Denn die Türe schließt sich von selber hinter mir. Aber Lidas Stimme ist mir bis in die Finsternis gefolgt:
"Zieh dich aus und mach die Augen fest zu!"
Ich tue, was sie mir aufträgt. Trotz der fest zugekniffenen Augen bekomme ich mit, dass es einen sehr hellen Blitz gibt. Dann regnet es. Ja, inmitten eines Raumes regnet es. Der Regen ist sehr fein, angenehm warm und riecht gar nicht nach Wasser.
"Zieh dich an und folge dem Licht!"

Ich muss in der singenden Säule sein. Lida ist auch da. Aber sie trägt eine seltsame Rüstung. Ganz weiß, und das glänzende Metall muss unglaublich weich sein. Wie kann Metall Falten schlagen. Einen seltsamen Helm trägt sie auf dem Kopf. Wo hat man schon mal ein Visier aus Glas gesehen.
"Geht es in einen Kampf?", frage ich sie.
Lida lacht mich wieder einmal aus.
Da sind singende Lichter in dem engen, runden Verließ. Und eine Wand, die spricht. Aber nicht mit mir. Diesmal redet die Wand mit Lida. Ich höre die Worte, aber verstehe sie nicht:
"Alles bereit bei euch da drin. Lida, hast du die Medikamente dabei. Ich sage es dir nochmal: Bleib nicht zu lange dort, hörst du? Wir haben den Fehler in der Steuerung dieser Maschine nicht reparieren können, du wirst sicher wieder in der gleichen Gegend rauskommen. Diese blöde Falte im Raum-Zeitgefüge macht es unmöglich, dich dort zu finden. Du bist auf dich alleine gestellt. Darum kehre um, sobald du merkst, die Unverträglichkeit kommt zurück. Ob du noch einen wie den da auftreibst, ist nicht so wichtig wie dein Leben, kapiert? Ich glaube sowieso nicht, dass du ihn immunisieren kannst, aber es ist deine Idee. Halt dich nicht zulange dort auf, bitte. Ich wünsche dir alles Gute!"
So redet die Wand. Und Lida gibt ihr Antwort:
"Ich passe schon auf mich auf. Bis bald. In zwei, drei Tagen bin ich wieder da!"
Dann fangen alle Lichter an zu singen. Es dreht sich in meinem Kopf ein ganzer Sternenhimmel. Wie von ganz weit weg höre ich ihre Stimme:
"Zeitsprung - JETZT!"

Ich rieche es sofort. So duftet nur eine Welt –meine.
Ich stehe im Wald neben Lida. Wir sind wirklich in der singenden Säule gereist. Nach dem Aussteigen war sie noch da, aber Lida hat mit einem kleinen Ring um ihren Finger auf die singende Säule gezeigt - schon ist sie verschwunden.
Es ist dunkel.
Ich sage es ihr, und sie lacht mich aus:
"Natürlich ist es dunkel, Rean. Ich habe eure Zeit im Computer eingespeichert, darum kann ich mir aussuchen, wann ich hier auftauche. Ich WOLLTE in der Nacht ankommen, verstanden?"
Nein, ich verstehe es nicht.
"Warum hast du die Rüstung abgelegt?", frage ich.
"Die was? Ach, du meinst den Schutzanzug. War nur eine Vorsichtsmaßnahme bei uns drüben. Deinetwegen. Und Marc hätte mich nie ohne einen gehen lassen. Er ist immer so übervorsichtig. Aber jetzt sieht er es ja nicht. Und du wirst es ihm ja nicht mehr verraten, oder?"
Sie spricht so viele Dinge, die mir wie Rätsel vorkommen.
Ich rieche meine Welt. Und ich atme die verlorenen Jahre in Lidas Gehege aus. Langsam. Etwas ist da, das mich nicht loslassen will.
Es ist der Zorn, der immer in mir war. Mal stark, mal kaum spürbar. Der Zorn, von ihr damals betrogen worden zu sein.
Jetzt stehen wir wieder zusammen im Wald.
Es ist Nacht.
Die singende Säule verschwunden.
Ich frage:
"Stimmt es wirklich, dass du niemanden töten darfst?"
Sie lacht. Zu oft lacht sie mich aus. 
"Ich KANN es gar nicht, Rean. Geh nun, du bist frei!"
Da nehme ich sanft ihre Hände in die meinen.
"Nicht, Rean!", haucht sie. Aber sie lehnt sich an mich, legt ihren Kopf auf meine Schulter. Sie hat sehr kurze Haare.
Ich nestle mit der Linken an meinem Gürtel. Ziehe die Schnalle auf.
"Rean, es wäre nicht gut..."
Sie merkt es zu spät.
Erst als ihre Hände mit meinem Gürtel sehr eng gefesselt sind, ruft sie. Schmerz höre ich aus ihrer Stimme, denn es tut weh, so fest habe ich den Knoten zugezogen.
"Rean, was soll der Blödsinn. Lass mich auf der Stelle frei!"
Jetzt lache ich sie aus. 
Endlich.
"Ich kann dich nicht freilassen, Lida. Du hast es vielleicht vergessen, aber ich habe dich von einem Händler in Myranana gemietet. Es wird mich eine Stange Geld kosten, aber ich muss dich zurückbringen. Ich möchte nicht, dass man sich erzählt, einer aus dem Hause Tan-Landim betrügt einen Händler. Vielleicht will er dich auch gar nicht mehr! Das macht nichts. Irgendeinem Sammler von komischen Dingen kann ich dich gewiss verkaufen. Weißt du, Lida - das hier ist MEINE Welt. Hier bist DU die Rarität! Gehen wir, der Weg ist weit und diesmal haben wir kein Pferd!"
 

© Joe Estrada
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