Elbenfeuer von Joe Estrada

Es war nicht mehr der Eiswind, der heute morgen blies. Endlich! Selbst im noch weit entfernten Norden ging langsam der Winter seinem Ende zu. Das war beruhigend, besonders für einen Wanderer, der in diese Richtung unterwegs war. Noch beruhigender, wenn selbiger Wanderer aus einem südlichen Lande stammte, wo man vieles zu ertragen lernte - nur nicht die Kälte.
"Du wirst schon sehen, wir haben unsere warmen Sachen umsonst mit!"
So sprach der Mann. Jedoch zu wem?
Außer ihm war da nur noch sein weißes Pferd. Einer, der mit seinem Pferd sprach, war entweder verrückt, oder schon zu lange in der Einsamkeit unterwegs. Verrückt sah der Mann nicht aus, daher musste das zweite auf ihn zutreffen.
Gewiss sogar. Wo sollte man hier auch Gesellschaft finden? Es gab nichts als ewige Wälder. Nur uralte Bäume, soweit das Auge reichte. Nun, mit den heimlichen, scheuen Waldbewohnern hätte man auch reden können. Doch man bekam sie selten zu Gesicht. Bei manchen war das auch gut so. Denn nicht nur Rehe, Hirsche oder Wildochsen lebten in dieser Wildnis. Nein, an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten traf man auf Feen, Trolle oder andere Geschöpfe der Zwielichtwelt. Und nicht alle von denen wären erfreut gewesen, einen Wanderer zu Pferde in ihrem Reiche zu sehen. Besonders bei Nacht war dieser Urwald gefährlich. Jedoch, weil der Mann auf dem schneeweißen Pferd niemandem begegnet war, der ihn hätte warnen können, ritt er sorglos vor sich hin und redete mit dem Hengst, als wäre der ein wackerer Gefährte.
Was er bestimmt auch war. Nur bekam man außer einem gelegentlichen Schnauben oder Wiehern keine richtige Antwort.
"Vielleicht kennen wir uns nur zu wenig lange, um uns zu verstehen?", hatte der Mann einmal gesagt. Das war bald nach dem Aufbruch gewesen, also vor über vier Monaten.
Der Hengst hatte ihn aus großen, dunklen Augen angeblickt. Augen, in deren Schwärze goldene Splitter zu schwimmen schienen. Seltsame Augen, wie der Mann sie noch nie bei einem Pferd sah. So tief, so - weise!
Vier Monate ritten sie immer gen Norden. Und dem Manne blieb dieses Pferd auf geheimnisvolle Art fremd. Zwar redete er mit dem Tier, aber in dieser einsamen Gegend hätte er auch mit einem Vogel oder einem Pilz gesprochen. Er fühlte, dass das Pferd ihn verstand. Das war es, was ihn so verunsicherte. Das Tier mit der Farbe reinsten Gletschereises schien mehr zu verstehen, als einem Pferd zustand. Obwohl es nur manchmal leise schnaubte.
Und ganz selten wieherte es hell wie goldene Kriegshörner.
Vier Monate in der abgelegensten Wildnis sind eine lange Zeit.
Und auf einem so ausdauernden, schnellen Pferd auch ein langes Stück Weg.
Tausend Meilen?
Der Mann wusste es nicht. Wusste auch nicht, wie lange der ganze Weg war. Er würde es merken, wenn er am Ziel ankam, das war genug.
Wenigstens hörte der Wind auf, aus dem Norden zu blasen. Wohl war hier der Frühling längst ins Land gezogen, aber dem Manne fröstelte es noch, trotz der Sonne, deren Kraft jeden Tag stärker zu spüren war. Nun jedoch schlief der Wind ein. Und als er wieder anfing, zu wehen, kam er aus dem Westen. Sogleich schien das ganze Land aufzuatmen. Oder war es nur der Mann, der sich darauf freute, des Nachts nicht mehr zu frieren?
Gewiss war es nur der Mann. Dem weiten Land war es egal, woher der Wind kam. Es ertrug das beißende Eis genauso wie den dörrenden Atem des Hochsommers. Das Land duckte sich nicht unter dem Wind. Trotzig und herausfordernd streckte es ihm seine mächtigen Bäume entgegen.
Es war der Mann.
Der zügelte das Pferd, das nicht SEIN Pferd war, und stieg aus dem Sattel. Am Rande einer großen Lichtung geschah dies. Aus dem kühlen Schatten des Waldes, wo der Hengst noch immer stand, trat der Mann ins helle Sonnenlicht. Er stand da, streckte seine Arme in die Höhe und bot sein Gesicht der Sonne dar. Lange verweilte er so und genoss das Gefühl, das flüssige Gold des Himmelsfeuers in seine Adern aufzunehmen. Er fühlte, wie es durch seinen Körper pulste und alle Klammheit der letzten kühlen Nacht vertrieb. Ein reinigendes Bad im Licht der Frühlingssonne war es.
Das Pferd schaute ihm zu aus dem dunklen Schatten zwischen den hohen, modrigen Stämmen. Blassblau schimmerte sein Fell, wie der Himmel kurz vor Sonnenaufgang.

"Komm her!", lockte der Mann. Zögernd trat der Hengst aus dem Schatten. Anders als sein Reiter liebte das Pferd die Sonne nicht. Doch es kam herbei und beschnupperte die ihm entgegengestreckte Hand.
"Braver Bursche!", lobte der Mann, tätschelte ihm den prächtigen Hals und erst dann fing er an, die Gurte zu lösen. Bald war das Tier ohne Zaum und Sattel und der Mann schickte es mit einem leichten Klaps auf die Kruppe hinaus auf die Lichtung. Dort wuchs fettes Gras. Im Übrigen brauchte man sich um den Hengst keine Sorgen zu machen. Er lief schon nicht weg. Im Gegenteil. Der Mann merkte, wie das Pferd oft ihn im Auge behielt. Grad so, als fürchte es, sein Reiter würde ihm davonlaufen!
Von dem Reiter wurde nicht viel berichtet bis zu dieser Stelle der Geschichte. Er war ein Mensch, demnach musste er einen Namen besitzen und eine Heimat.
Und einen Grund, hier zu sein!
Wohl, der Name des Mannes lautete Morghid, Sohn des Morbayn.
So war sein Name, den hier, wo selbst die Einsamkeit namenlos war, keiner kannte.
Wohlbekannt aber war er in seiner Heimat. Und nicht nur, weil er der Sohn des großen Morbayn, Häuptling aller Stämme der Kansheg, war. Deshalb auch. Doch er hatte sich bereits einen eigenen Namen gemacht, trotz der kaum fünfundzwanzig Regenzeiten, die sein Leben zählte. Und noch größer würde sein Name fortleben, seit er mit dem schneeweißen Hengst davon geritten war. Man würde über ihn singen an den großen Festfeuern und in den Hütten aller Stämme. Denn er gehörte zu jenen sagenumwobenen Helden aus der Geschichte der Kansheg, welche ihr Volk verließen, um nie wieder zurückzukehren.
Denn das weiße Pferd aus der Traumwelt kam nur alle tausend Jahre auf die Erde herab, um -
Ja, um was?
Das wusste niemand. Der Grund mochte weit zurückliegen, versunken in den mystischen Anfängen einer Legende, von der man nur einen Teil kannte. Jenen Teil, in welchem ein junger Held ein weißes Ross bestieg und davonritt.
Und nie zurückkehrte.
Es musste um etwas Großes gehen, etwas, wovon das Wohl aller Stämme abhing.
Dennoch, selbst die weisen Druiden sahen in ihren Visionen nicht mehr als das. Mochten sie tagelang auf den heiligen Steinen liegen und den betäubenden Rauch der prophetischen Pilze einatmen - vieles blieb im Dunkeln.
Eigentlich alles.
Der junge Kansheg namens Morghid stand da und schaute lächelnd dem Hengst zu, wie er sich die zartesten Halme aus dem überreichen Angebot heraussuchte. Der Krieger war mittelgroß wie alle aus seiner Sippe, aber schlank, sehnig und muskulös zugleich. Die Haut schimmerte wie das helle Braun junger Baumrinde. Das lange Haar hätte schwarz sein sollen. Doch als Zeichen seiner außergewöhnlichen Stellung als Reiter des Pferdes aus der Traumwelt trug er es rot gefärbt.
Rot wie die Flammenzungen des ewigen Lagerfeuers.
Rot wie das Blut, vergossen in der ewigen Schlacht.
Gekleidet war der Reiter in die traditionelle Tracht der Kansheg-Krieger. Dünnes Leder das Beinkleid, Hemd und das Clanband um die Stirn. Dickes Leder der Brustharnisch, Waffengurt und Stiefel.
Und gemäß der alten Sitten war auch seine Bewaffnung.
Ein langes Schwert baumelte an seiner Hüfte. Es steckte in der Scheide aus der Haut der heiligen Schlange Kam-Aoa.
Daneben ein großes Jagdmesser und der kleine Beutel mit den Giftpfeilen. Das lange Blasrohr, welches mit ein paar Handgriffen in eine richtige Lanze verwandelt werden konnte, lag nun im hohen Gras neben der Ausrüstung.

Aus einem bunten Stoffbeutel kramte Morghid etwas zu essen hervor. Da waren ein paar Wurzeln, ein Säckchen mit nur noch wenigen Ahuan-Nüssen von zuhause und der Rest des Hasen. Den hatte er vorgestern erlegt und gebraten. Heute musste er alles von dem Braten essen, denn länger hielt das Fleisch nicht. Dazu wäre es notwendig, es zu räuchern. Was eine Unterbrechung der Reise von mindestens zwei Tagen bedeutete. Der Mann war nicht sicher, ob ihm der weiße Hengst soviel Zeit zugestanden hätte.
Denn nicht Morghid war es, der Richtung und Rhythmus der Wanderung bestimmte.
Es war der Hengst, dessen Fell wieder weiß wie jungfräulicher Schnee schimmerte, seit er den Waldschatten verlassen hatte.
Der junge Krieger der Kansheg wusste nicht einmal genau, wohin seine Reise ging. Er kannte die Legende, ja, aber was sagte diese schon. Jeder aus seinem Volk kannte sie. Man erzählte sie den Kindern, kaum dass diese alt genug dafür waren. Und die alten Weisen der Stämme erzählten sie. 
Es war die Legende vom Elbenfeuer.
Einst - so berichtete die Legende - weilten die Elfen auf Erden. Sie waren es, von denen die Kansheg den Ackerbau und die Bearbeitung von Erzen lernten. Sie waren es, welche Morghids Volk in der Kunst des Heilens mit Pflanzensäften ausbildeten. Und die Elfen unterwiesen die zehn Stämme darin, mit dem heiligen Pilz Ne-Ne-Poo zu kommunizieren. Aus den wilden Waldmenschen waren die stolzen Kansheg geworden. Die in festen Dörfern aus Steinhütten lebten. Die es verstanden, härtesten Stahl zu schmieden und feinste Geschmeide aus Gold und Silber anzufertigen.
Dies war das Werk der hohen Elfen. Das war lange her. Die Blätter aller Bäume aller Wälder reichten nicht aus, die Tage zu zählen, so sagten die Druiden, wenn sie von den heiligen Steinen herabstiegen. Dann gingen die Elfen fort. Sie gingen, nicht ohne den Kansheg zu versprechen, ihnen immerdar zu helfen. Sie sagten nicht, wohin sie gingen, denn sie vertrauten auf die Weisheit der Druiden. Sie würden es nicht übersehen können. Dazu brauchten sie nicht einmal in den langen Schlaf der wahren Träume auf den heiligen Steinen zu fallen. Nein - die Druiden fanden sogleich heraus, wo die Elfen nun lebten. Und von wo sie immerdar auf das Volk der Kansheg herabschauten.
Denn im Norden des Nachthimmels war ein neuer Stern aufgegangen.
Hell und kalt schimmerte er. Dorthin waren sie gezogen, die Elfen. Die großen Lehrer ihres Volkes. Die Götter.
Die Druiden gaben dem neuen Stern einen Namen.
ELBENFEUER
So hieß der Stern.
Dort lag das Reich der Elfen, das Traumland. Es hieß so, weil den Druiden in ihren Träumen manchmal der Zutritt dorthin gewährt wurde. Nur so konnte das Volk der Kansheg wissen, dass das heilige Pferd, der sternenweiße Hengst, alle tausend Jahre auf die Welt haerabkam, um einen Helden aus ihrer Mitte fortzutragen. Die Druiden sagten, dieser Held müsse gehen, um vom Elbenfeuer das Licht auf die Erde zu tragen, denn ansonsten würde das große Himmelsauge verlöschen. Alle tausend Jahre bedurfte es eines tapferen Kansheg-Kriegers, damit die Sonne nicht für immer unterging.
So sprachen die Druiden - und darum musste es so sein.
Dies war die Legende vom Elbenfeuer.
Morghid war weder stolz noch traurig, auserwählt zu sein. Er wusste, dass er seine Heimat für immer verließ. Er wusste, dass er nicht heimkehren würde, weil noch nie einer heimkehrte, der zum Elbenfeuer ging.
Er hatte keine Angst. Er war nur neugierig, gespannt darauf, mehr zu erfahren, zu sehen, als die weisesten Männer und Frauen seines Volkes.
Nur zu einem war Morghid nicht bereit. Zu sterben, ohne den Grund dafür zu wissen. In der ewigen Schlacht sein Leben zu lassen, das war eine große Ehre, wie sie den tapferen Kriegerinnen und Kriegern  zustand. Denn wer in der ewigen Schlacht fiel, dem war der Platz am ewigen Lagerfeuer sicher. Dort saßen alle großen Helden der Kansheg und erzählten von ihren Taten. So war das Schicksal der Kansheg. In der ewigen Schlacht zu fallen, war eines Kriegers allergrößte Ehre und Wunsch.
Morghid, welcher der Sohn war des großen Morbayn vom Clan der Wasserfalken, Häuptling  der zehn Stämme, wollte nicht namenlos in der Fremde sterben. Wollte keinen Tod erleiden, den niemand sah und von dem darum niemand singen konnte an den Feuern der Kansheg.
Wohl sang man bereits jetzt seinen Namen, das wusste er, doch solcherlei Heldenliedern lauschte er einst als junger Mann ebenfalls. Man sang die Namen all derer, die auf dem weißen Pferd zum Elbenfeuer gegangen waren. Man sang ihre Namen, aber von ihren Taten wusste man nichts. Das war traurig. Waren es doch die Taten der Kansheg, die es wert waren, an den Feuern besungen und darum unsterblich zu werden.
Fern der Heimat zu sterben, davor hatte Morghid Angst.
Was war ein Held, ohne einen ruhmreichen Tod?
Wer in der ewigen Schlacht fiel, erlangte alles. Ruhm und Unsterblichkeit.
Wer zum Elbenfeuer ritt - ?
Der Ruhm und das ewige Andenken seines Volkes waren ihm gewiss. Doch wie stand es um die Unsterblichkeit? Konnte man aus den Gefilden des hohen Nordens hinfinden zu dem ewigen Lagerfeuer?
Solcherlei Gedanken gingen Morghid oft im Kopf herum. Sie waren es, die ihm manchmal das Herz schwer werden ließen. Und die ihn wild entschlossen machten, nicht den Tod im Norden auf sich nehmen zu wollen.
Es war genau an diesem Tag. Der Tag, an welchem der Wind aus dem Norden einschlief. Der junge Krieger saß auf der hellen, warmen Waldlichtung und bereitete sich ein einfaches Mahl zu. Auf einmal formten sich all die Zweifel, Ängste und all der Trotz der letzten Wochen zu einem klaren Gedanken.
Er stand auf und rief zu dem weißen Pferd hinüber:
"Ich werde hingehen zum Elbenfeuer. Aber ich will der erste sein, der mit dem Licht zu seinem Volk heimkehrt!"
Der schneeweiße Hengst hob seinen großen, schönen Kopf. Lange ruhten die schwarzen Augen mit den goldenen Splittern, die aussahen wie eingefangenes Sonnenlicht, auf dem Manne.
Traurig blickte ihn das Tier an. Traurig und lange. Dann schüttelte es sein herrliches Haupt und die lange Mähne flog, loderte wie weißes Feuer.
"Du glaubst nicht, dass ich diesen Weg auch zurück gehen werde?", sprach Morghid leise. Das Pferd hatte sich von ihm abgewendet und fuhr fort, zu äsen.
Und der junge Krieger nahm sein unterbrochenes Mahl wieder auf.

Die Tage verstrichen. Obwohl ihn der weiße Hengst immer nach Norden trug, wurde es wärmer. Manchmal überkamen den Kansheg darum Zweifel. In den dichten Wäldern war es nicht möglich, den hellen Stern im Norden oft zu sehen. Und schon gar nicht, seit Morghid einmal die fernen Umrisse eines hohen Gebirges erblickte. Darum war der Stern auch in jenen Nächten, in denen er freien Blick auf den Himmel hatte, unsichtbar. Denn er stand nicht hoch über dem Horizont und das näherkommende Gebirge schob sich höher und höher werdend davor. Aus diesem Grunde zweifelte der Krieger auf dem weißen Pferd manchmal daran, dass sie noch immer die Richtung beibehielten. 
Dann fing das Gelände an, merklich steiler zu werden. Und wilder wurde der Wald, unwegsamer. Oft versperrten hohe Wurzeln oder umgestürzte Baumriesen den Weg. Doch immer war es das Pferd, welches einen neuen fand. Nie bestimmte der Krieger die Richtung. Er war sicher, dass ihm das Tier nicht gehorchen würde, sollte er am Zügel ziehen, um es zu wenden und nach Süden zu reiten.
Er probierte es gar nicht. Die Dinge lagen ihm klar vor Augen. Der Reiter war er wohl, auch die Zügel hielt er in der Hand. Aber das Pferd war der eigentliche Herr, jener, der bestimmte. Das Tier zeigte die Richtung, es entschied über die Länge eines Tagesrittes und die Dauer der Rastpausen.
Und der Reiter fügte sich, ordnete sich seinem Willen unter.
Manchmal dachte sich Morghid, wie herrlich er aussehen musste, wenn er auf diesem edlen Ross in die ewige Schlacht ziehen dürfte. Doch dann hätte es ihm gehorchen müssen.
Die ewige Schlacht.
Ewig, weil sie solange andauerte, wie die Erinnerungen der Kansheg zurückreichten. Der schreckliche Kampf gegen das Zwielicht und dessen finstere Krieger.
Seit die Elfen das Licht unter die Kansheg trugen, tobte dieser Krieg. Denn das Zwielicht blickte neidisch auf das, was Morghids Volk erschuf. Auf die Häuser, die sie bauten und auf die schönen Äcker, die sie bestellten. Auf das Licht der Weisheit und des Verstehens.
Denn das Zwielicht, jene riesige Welt außerhalb von Morghids Land, wollte all das auch. Aber nur die Kansheg waren das auserwählte Volk, nur sie. Darum tobte der Krieg gegen die finsteren Geschöpfe des Zwielichts - die ewige Schlacht.
Gestalten des Zwielichts gab es auch hier, so weit im Norden. Aber nur wenige und ganz selten griffen sie an. Das geschah stets in der Stunde nach Sonnenuntergang. Morghid siegte immer, und so manche dieser Kämpfe wären es in der Tat wert gewesen, an den Feuern besungen zu werden. So aber würden sie vergessen werden, wie er selber sie schon vergaß.
Das Zwielicht war nicht sehr mächtig in dieser Gegend. Lag es daran, dass fast alle seiner bösen Bewohner im Süden zusammengezogen wurden. Dort, wo die unheimlichen Heere gegen die Grenze der Kansheg brandeten?
Die Monster, welche sich ihm in diesen namenlosen Wäldern in den Weg stellten, waren das jene, die sich als untauglich für den Kampf im Süden erwiesen? Die Alten und Gebrechlichen, welche man zurückließ, so wie es die Kansheg auch taten?
Und darum nicht an der Ehre teilhaben durften, in die ewige Schlacht zu ziehen?
Nein. Er hatte an der Seite seiner Kameraden so manches Scharmützel der ewigen Schlacht mitgemacht. Die Ungeheuer im Süden waren auch nicht böser, wilder, als diese hier.
Nur tausendmal zahlreicher!
Das Gebirge war erreicht. So unwegsam wie das Gelände nun war, dachte Morghid oft, der Weg wäre zu Ende. Oder das Pferd habe sich verirrt.
Beides stimmte nicht. Wenngleich er sehr viel absteigen und neben dem Tier herlaufen musste, kamen sie immer höher. So hoch, dass plötzlich die Bäume aufhörten. An ihre Stelle traten zuerst krumme, niedrige Sträucher, dann hartes Gras und schließlich nackter Fels und -
Eis!
Zum ersten Mal in seinem Leben sah, roch und fühlte der Mann aus dem Süden dieses kalte Zeug. Gehört hatte er davon. Es fiel angeblich vom Himmel, wie der warme Regen in seiner Heimat. 
Glauben wollte er es nie, bis jetzt, wo er es mit eigenen Augen sah. Es musste verzaubertes Wasser sein, denn wenn er etwas von dem Schnee in die Hand nahm, wurde dieser Bann gebrochen und er verwandelte sich zurück in Wasser.
Jetzt war es bitterkalt. Nicht am Tage, wo die Sonne auf den Felsen brütete und das Eis knackend schmelzen ließ. Aber die Nächte waren kaum auszuhalten. Es gab hier oben kein Brennholz, und nur eine dicke Wolldecke verhinderte, dass Morghid erfror.
"Wie hoch sind denn diese verdammten Berge?", fragte der Reiter oft sein Pferd.
Antwort würde nur die Zukunft bringen. Aber vier Tage quälte sich der Krieger aus dem Süden über die Schneefelder. Dabei wurde der vor ihm aufragende Höhenkamm niedriger. Am Abend des vierten Tages standen Ross und Reiter nebeneinander auf einem Pass und blickten nach Norden. 
Zum ersten Mal seit Wochen sah Morghid wieder das Elbenfeuer.
Er sah es, obwohl es noch hell war.
Er sah es, weil es riesig über dem Horizont stand. Riesig, hell und - nahe!
"Das ist gar kein Stern am hohen Firmament!", rief Morghid, diese plötzliche Erkenntnis in Worte fassend.
Aber er hatte recht. Alle anderen Sterne, die sich nach und nach auf dem dunkler werdenden Nachthimmel abzeichneten, waren so klein und fern wie immer. Nur das Elbenfeuer nicht. Dort wo es war, ließ sein heller Schein alle Sterne in seiner Umgebung verblassen.
"Was ist das?"
Morghid stand da und schaute. Nur der Wind, welcher durch den Pass pfiff, gab ihm Antwort. Doch der Mann verstand sie nicht. Das weiße Pferd schnaubte auffordernd. Morghid löste seinen Blick vom Elbenfeuer und stieg in den Sattel.

Auf dieser Seite des Gebirges, der nördlichen, lag eine andere Welt. Wohl drangen sie bald wieder in einen Wald ein, dieser unterschied sich jedoch stark von den Wäldern weiter südlich. Es waren nicht die Bäume, wenngleich sie hier lichter standen und an vielen Stellen das helle Sonnenlicht bis auf den duftenden Waldgrund durchließen. Nicht die Blumen waren es, die hier schöner und üppiger gediehen. Es roch nicht mehr nach Schimmel und Moder, sondern nach Sonne auf Tannennadeln. Nach dem Morgentau auf sich öffnenden Blüten, nach goldenem Nektar in den Bienenstöcken.
Aber auch das war es nicht.
Es war der tiefe Friede, welcher über den Wäldern, Auen und Wiesen lag. Rehe oder Wildschweine blieben stehen und schauten vertraulich zu dem Reiter hin. Die Vögel in den Zweigen sangen ihre wunderschönen Lieder. Dabei kamen sie oft so nahe auf den Boden herab, dass Morghid sie hätte mit der Hand berühren können.
Er ahnte, nein wusste, dass er in diesem freundlichen Land sein Blasrohr nicht einsetzen durfte. Niemand sprach dieses Verbot aus, aber er fühlte es in seinem Herzen. Hier durfte er weder Hase noch Reh, weder Auerhuhn noch Wildschwein töten.
Aber wie lange würde er mit seinen schwindenden Vorräten noch auskommen?
Das Land selber war es, das ihm versprach, ihn nicht verhungern zu lassen. Stets fand er Bäume oder Sträucher, deren Zweige übervoll von reifen Früchten waren. Er fand Pilze, die man essen konnte und unter hohen Nussbäumen lagen deren Früchte zu Hauf. Wenn er einen Stock der wilden Waldbienen fand, dann ließen es diese zu, dass er etwas Honig aus den Waben holte. Keinen einzigen Stich bekam er dabei ab.
Welch wunderbares Land, das ihn mit offenen Armen aufzunehmen schien.
Das Elbenfeuer war nun so nahe, dass er es auch am Tage sah. Wie ein blasser Mond hing es am Himmel. Nur schon ein wenig größer als der richtige Mond, den er manchmal erblickte, wenn er den südlichen Himmel betrachtete.
Seit Morghid vom hohen Pass auf diese Landschaft geschaut hatte, war er kein einziges Mal vom Zwielicht angegriffen worden. Ja, er war sicher, dessen Kreaturen hier nicht zu begegnen. Denn in keiner der Nächte hörte er sie heulen, nicht mal von ganz weit weg.
Wie gerne hätte er es seinem Clan und allen anderen zuhause erzählt, dass es ein Land gab, wo das Zwielicht keine Bedrohung darstellte. Aber wer an den Feuern seiner Sippe hätte ihm das geglaubt? Nun, auch in den Ländern der Kansheg konnte man ruhig schlafen. Zumindest oft. Aber nicht immer. Und an den Grenzen tobte die ewige Schlacht. So war es seit Anbeginn der Zeit.
Die Kansheg eroberten einen Teil des Zwielichts.
Dann schlug das Zwielicht zurück und die Krieger der zehn Stämme mussten jeden Mann, jede Frau aufbieten, die Grenzen zu verteidigen. Immer ging das so, und jeder Kansheg wuchs damit auf, jeden Augenblick wachsam zu sein. Darum schlief Morghid am Anfang schlecht, seit er durch dieses Land im Norden ritt. Ja, er schlief schlecht, weil er es nicht gewohnt war, ohne Gefahr zu leben.
"Hoffentlich bleiben wir nicht lange genug hier, um sich daran zu gewöhnen!", hatte er gestern zu dem Pferd gesagt. Schließlich war er immer mehr gewillt, immer fester entschlossen, wieder zu den Hütten des Wasserfalken-Clans zurückzukehren. Er wäre keine Verstärkung für die Seinen, wenn er hier seine Wachsamkeit einbüßte.
Dennoch - er fing an, den Frieden zu genießen.
Das dauerte nur eine Woche.
Eine zweite Woche verging, dann war er auch soweit, dem Frieden zu trauen. Ja, er stellte eines Morgens erstaunt und entsetzt zugleich fest, dass er sein Schwert nicht neben sich liegen hatte. Es hing an einem Ast neben dem Sattel. Zu weit weg, um es bei Gefahr rasch ziehen zu können.
Noch immer hing das Elbenfeuer im Norden, wenngleich es langsam höher in den Himmel stieg. Morghid ahnte, dass seine Reise dann zu Ende war, wenn dieses seltsame Gestirn genau über seinem Kopfe hing. Darum erkannte er auch die Länge der Strecke, die noch vor ihm und dem Pferd lag.
Tausend Meilen?

Sechs Monate ritt er nun schon alleine gen Norden. Oder waren es sieben? Er hätte seine Ahua-Nüsse dazu verwenden sollen, die Wochen zu zählen, anstatt sie aufzuessen. Nun besaß er nichts mehr von den Vorräten, die man ihm zuhause einpackte. Außer dem kleinen, trockenen Stück vom Ne-Ne-Poo, dem prophetischen Pilz. Das war für Momente der höchsten Gefahr, wenn er nicht mehr weiter wusste. Dann würde er den Pilz zu Pulver zerstampfen und in die Glut eines kleinen Feuers streuen. Im eingeatmeten Rauch würde er teilhaben an der Weisheit der alten Götter. Sie würden zu ihm sprechen, genauso, wie sie es mit den Druiden taten. Auch Morghid würde in tiefen Schlaf sinken und die Götter sehen und ihren Stimmen lauschen. Bisher war er nie in die Versuchung gekommen, den heiligen Rauch des Ne-Ne-Poo zu Hilfe zu nehmen.
So kostbar, so heilig dieses kleine Stück Pilz in seinem Beutel war - hier kam es ihm gänzlich nutzlos vor. Wie sein prächtiges Schwert und die kleinen Giftpfeile in einem Beutel aus dem Leder der roten Baumlöwen.
Er selber kam sich nutzlos vor. Nur das herrliche weiße Geschöpf, der Hengst aus der Traumwelt, passte in dieses Land. Aber das Pferd schien nicht hier sein zu wollen. Denn weiterhin drängte es unermüdlich nach Norden.
Dort, wo das Elbenfeuer langsam größer wurde, langsam höher stieg. Lag dort die Heimat des Schneeweißen? Ging er heim, um für tausend Jahre dort zu bleiben? Wie sollte Morghid dann je nach Hause kommen?
Tausend Meilen?
Wieviele hatten sie schon davon zurückgelegt?
Der Sommer kam und es wurde heiß. Und immer länger die Tage. Bis Morghid in einer Nacht bestürzt miterlebte, wie sich das Himmelsfeuer auf den Horizont senkte, aber nicht unterging. Nein, plötzlich schien es seine Meinung geändert zu haben und strebte wieder nach oben, zur Mitte des Himmelsmeeres.
"Sind wir denn noch in meiner Welt?", fragte er andächtig.
Ja, er musste noch dort sein. Denn seine Welt war es, in welcher er seit vielen Tagen keine Antworten auf seine Fragen erhielt.

Wäre es einem Sterblichen erlaubt worden, in den seltsamen Mond einzukehren, den man in einer der Sprachen das Elbenfeuer nannte, er hätte nichts gesehen.
Weil nichts da war, das er hätte verstehen können. Nicht einmal die Stimme wäre hörbar gewesen. Nichts. Darum würde nie jemand erfahren, wie es im Inneren dieses Gestirns aussah.
In der Sprache der Kansheg hieß es ELBENFEUER.
In der anderen Sprache, jener des Zwielichts, nannte man es NEBELAUGE.
Mehrere Namen hatte das Gestirn. Doch keiner konnte es beschreiben. Weil niemand, der eine der zwei Sprachen sprach, je dorthin gelangte. Es war ein Ort, an den kein lebendes Wesen hinzufinden vermochte. Denn dort galten nicht die Gesetze von Leben und Tod.
Niemand würde die Stimme gehört haben - dennoch sprach sie:
"Diesmal besteht die Hoffnung, dass unser Licht gefunden wird, um in die Welt hinausgetragen zu werden."
Es war die gleiche Stimme, die antwortete:
"Ja, wenngleich die Chancen nur unwesentlich gestiegen sind. Gut, noch nie war es der Fall, dass beide Boten bis hierher kamen. Zumindest einer war immer dabei, der entweder vorher von der Wildnis getötet wurde oder nach den Bergen nicht den Frieden des Landes erkannte und einhielt. Was sein Todesurteil war. Diesmal ist es soweit. Beide Boten werden noch heute hier eintreffen. Schwarz und Weiß, Tag und Nacht begegnen sich bald. Aber der schwerste Schritt steht ihnen noch bevor!"
Wieder endete die Stimme.
Wieder gab sie sich selbst Antwort.
Und wieder hörte es niemand.
"Ja, noch nie sind die Boten hier, auf dem heiligen Feld, zusammengekommen. Ob sie diese Prüfung wohl bestehen, ob sie soweit schon sind? Denn - selbst wenn sie je soweit sein werden, diese Prüfung zu bestehen - es ist längst nicht die letzte, auch nicht die schwerste!"
"Ja, aber wenn sie diese bestehen, werden sie die nächsten erkennen. Sie werden VERSTEHEN!"
So sprach die Stimme, die niemand hören konnte, an einem Ort, den niemand betreten durfte. Es war die Stimme des Elbenfeuers - und kein lebendes Wesen hatte sie je vernommen.

Morghid zog so hart am Zügel, dass das Pferd vor Schmerz aufwieherte. So abrupt blieb es stehen, dass der Reiter fast vornüber auf seinen Hals gefallen wäre. Der Wald endete wie mit einem Messer abgeschnitten. Vor ihnen erstreckte sich eine weite, glatte Ebene. Leer war sie, ohne Gras, ohne Baum und Busch. Nur zwei Dinge sah der Reiter. Zwei Dinge, die ihn hart am Zügel ziehen ließen.
Das eine war ein großes Bauwerk. Eine Mauer, riesig und rund. Erbaut aus grauen Steinen, die so glatt poliert waren, dass sie das Sonnenlicht gleißend zurückwarfen. Weit über dem Gebilde hing das Elbenfeuer im Nachmittagshimmel.
Aber nicht das Gebäude ließ den Reiter stutzen. Etwas erblickte er noch -
Ein schwarzes Pferd.
Es stand dort, wo ein hoher Eingang in der Mauer war.
Was tat ein Pferd in dieser Einöde, wo niemand lebte?
Obwohl Morghid noch immer die Zügel an seine Brust gezogen hielt, setzte sich der weiße Hengst wieder in Bewegung. Näher kam die Mauer. Dann wieherte der Hengst und das schwarze Tier antwortete. Bald war das Tor in der Mauer erreicht. Der Weiße blieb stehen.
Der Kansheg sprang aus dem Sattel und ging zu dem schwarzen Tier. Ein einziger Blick in die schwarzgoldenen Augen zeigte ihm, dass es vom gleichen Blute wie sein eigenes Reittier war. 
Schwarze Augen, in denen das Himmelsfeuer tanzte. Das Pferd stand da, abgesattelt und ohne Zaum. Dennoch stand es hier, als hätte es den Befehl erhalten, zu warten.
Worauf?
War nicht wichtig, im Augenblick. Wichtig war etwas anderes:
Jemand war vor kurzem, VOR Morghid, hier angekommen und musste durch dieses Tor gegangen sein. Die zwei Pferde schienen sich zu kennen, wie seltsam. Aber sie rieben ihre Nüstern aneinander und zeigten auf ihre Art, wie sie sich freuten. Morghid sattelte seinen Hengst ab und stand einen Moment unentschlossen. Was sollte er tun?
Da war nur das Tor. Groß und weit wartete es auf ihn. Er blickte nach oben. Sah die Mauer, unglaublich hoch. Und darüber leuchtete das Elbenfeuer.
Dies war das Ziel seiner langen Reise.
Nicht hier, aber hinter dem Tor lag es, das fühlte er. Mit geübten Griffen überprüfte Morghid den Sitz seines Schwertes und ging auf das Tor zu.
Was würde er dort sehen? Die Elfen, die alten Götter seines Volkes?
Er schritt hindurch und bemerkte nebenbei, wie unglaublich dick die Mauer war. Es war schon fast kein Tor mehr, sondern ein Tunnel, durch welchen er schritt. Seine Stiefel klangen hart auf dem festen Untergrund. Hinter sich vernahm er das laute Wiehern zweier Pferde.
Da vorne war wieder Licht!
Morghid trat hinaus und schloss einen Moment geblendet die Augen.
Da ratterte hinter ihm ein schweres Gitter herab. Erschrocken fuhr er herum und fand sich gefangen. Das Tor war zu und er stand -
in einer riesigen Arena.
Aber er war nicht allein.
Mitten auf dem weiten Rund des Sandplatzes, umgeben von einer hohen Mauer, wartete jemand auf ihn.
Ein Krieger des Zwielichts!
Morghid, noch immer vom hellen Schein des Himmelsauges und des Elbenfeuers geblendet, sah wie durch ein gleißendes Gespinst eine große, dunkle Gestalt, die sich ihm drohend näherte. Endlich gewöhnten sich seine Augen an die Helligkeit und er unterschied Einzelheiten.
Ja, es war einer der gefürchteten schwarzen Krieger des Zwielichts. Einer aus dem Trollvolk. Groß stand er da und sein schwarzer Harnisch schien alles Licht in sich aufzusaugen. Morghid sah die lange Lanze, auf deren Spitze eine Sonne zu tanzen schien. Sah das mächtige Schwert in der Scheide und den schwarzen Rundschild. Er zog seine eigene Klinge und ärgerte sich, sein Blasrohr draußen neben dem Sattel gelassen zu haben.
Noch einen Schritt näher kam der Feind. Dann blieb er stehen und rief. Überrascht hörte Morghid, dass er seine Sprache beherrschte. Doch auch umgekehrt hätte er sich mit dem Schwarzen verständigen können. Denn jeder Krieger der Kansheg musste lernen, so zu sprechen, wie man es im Zwielicht tat.
"Wer bist du, und was suchst du hier?", hallte es hart herüber.
Morghid straffte seine Schultern und rief zurück:
"Das Gleiche könnte ich DICH fragen. Ich bin hier, um eine alte Legende meines Volkes zu erfüllen!"
Einen Moment herrschte Schweigen. Kein Windhauch ging, die Welt schien den Atem anzuhalten - oder gar gestorben zu sein.
Dann die Stimme des Zwielichtmannes.
"Ich auch!"
"Jetzt muss es sich entscheiden, ob sie die Prüfung bestehen, oder ob wieder tausend Jahre vergehen müssen!"
Stille. Eine lange Stille. Dann sagte Morghid:
"Sollst du auch das Licht der Elfen zu deinem Volk tragen, auf dass das Himmelsfeuer nicht verlösche?"
Der Zwielichtkrieger konnte damit offensichtlich nichts anfangen. Er stand nur da, schüttelte sein Haupt und erst nach langer Zeit sagte er:
"Von deinen Elfen habe ich noch nie gehört. Nein, ich bin hier, weil es das Andenken an die Nebelreiter, welche unser Volk vor Urzeiten erwählten, erfordert."
Wieder versanken beide Männer in stummes Nachdenken. Der Mann mit den roten Haaren war es, der das Schweigen brach:
"Wenn deine und meine Legende uns an den selben Ort führen, dann ..."
Er sprach nicht weiter.
Wieder standen sie sich schweigend gegenüber. Auf einmal ging ein Ruck durch den Mann aus dem Zwielicht. Er rief:
"Höre, Kansheg! Ich werfe meine Lanze in den Sand, wenn du dein Schwert in die Scheide steckst !"
"Jetzt kommt es auf die nächsten Augenblicke an!"
Keiner der zwei Krieger hörte diese Stimme.
"Erzähl mir von den Nebelreitern!", sagte Morghid leise und schob seine Klinge in die Scheide aus Schlangenhaut.
"Und wie steht es um deine Elfen?", fragte der Zwielichtmann und kam einen Schritt näher. Seine lange Lanze blieb hinter ihm liegen.

"Ganz verstanden habe ich deine Erzählung von den Elfen nicht!", sprach der Troll und rutschte auf seinem Hinterteil herum, um besser im weichen Sand sitzen zu können. Auf Armlänge getrennt saßen die zwei Todfeinde inmitten der riesigen Arena.
Morghid lachte:
"Da ergeht es mir mit deinen Nebelreitern nicht anders. Doch wie mir scheint, sind beide Legenden nur das Abbild EINER einzigen Wahrheit. Einer Wahrheit, die wir beide nicht verstehen."
Der andere nickte. Dann sprach er:
"Was könnten wir tun, um uns besser zu verstehen?"
Morghid dachte nach. Sein Entschluss schien ihn Überwindung zu kosten:
"Es gäbe etwas, das ich dir zeigen könnte. Ich führe ein Stück des heiligen Pilzes Ne-Ne-Poo mit mir. Aber dazu bräuchten wir Feuer. Hier gibt es aber kein Holz."
Der Zwielichtmann lächelte und entblößte lange, gelbe Hauer:
"Auch ich habe ein Mittel bei mir. Das Traumpulver aus der Sanebba-Blume. Aber es müsste in Wasser aufgelöst werden. Ich habe welches, doch liegt es draußen, wo ich meinen Sattel im Sand vergraben habe."
Sie fingen beide zu lachen an. Dann rief Morghid:
"Weißt du was, wir belassen es dabei! Diese Mittel taugen nichts, oder? Haben sie uns nicht immer das Falsche vorgegaukelt, das, was unser eigenes Volk sehen WOLLTE? Sieh her, ich werfe mein Stück des Pilzes fort!"
Damit öffnete er seinen Beutel, den er immer am Gürtel trug, und nahm das unscheinbare Stück trockenen Pilzfleisches heraus. Einen kurzen, sinnierenden Blick warf er noch darauf, dann schleuderte er es weit von sich. Als er wieder den Troll anschaute, sah er, wie dieser ein kleines Ledersäckchen verkehrt herum hielt und seinen Inhalt in den Sand schüttelte.
"Was tun wir jetzt?", fragte er dabei.
"Du könntest mir deinen Namen verraten!", schlug der rothaarige Krieger vor.

Der Mann aus dem Zwielicht - er nannte sich Lanmu - und der Kansheg saßen da und redeten lange.
"Noch immer wissen sie nicht, wie nahe sie dem Licht sind!"
"Nein, aber sie sind dabei, es zu finden. Wenn nicht noch etwas Unvorhergesehenes passiert, dann finden sie es!"
"Was also tun wir hier?", fragte Morghid.
Lanmu wiegte seinen grausigen Schädel:
"Ich weiß es nicht. Aber es kann kein Zufall sein, dass wir uns hier trafen. Gleich in beiden Legenden ist das mit dem Licht, welches wir unseren Völkern zu bringen haben. Aber ich sehe hier kein Licht. Das Nebelauge dort oben ist unerreichbar für uns. Wir sind umsonst hier, denn nichts geschieht!"
Schon wollte ihm Morghid nickend zustimmen, da fiel ihm etwas ein:
"Es stimmt nicht, Lanmu. Etwas ist doch geschehen. Etwas, das es in all den Jahrtausenden nicht gab, das als unmöglich galt!"
Da begriff es der schwarze Krieger aus dem Zwielicht auch. Er rief:
"Ja, bei den Nebeln von Mamsut, du hast recht, Morghid! Etwas ist in der Tat geschehen. Denn wir beide sitzen hier zusammen, anstatt uns gegenseitig zu töten. Ist es das?"
War es das?
"Sie haben das Licht gefunden. Werden sie auch verstehen?"
"Ja, mein Freund aus dem Zwielicht. Das ist es. Wir haben das Licht gefunden. Es ist das Licht der Freundschaft und des Friedens. Und wir beide, du und ich, sind auserkoren, es heim zu den unsrigen zu bringen."
Eine lange Weile hörte man nur das Atmen der Zeit. Von sehr weit weg drang das Wiehern eines Rosses bis in dieses Rund.
Da sagte Morghid:
"Lanmu, das war eine Prüfung - und wir haben sie bestanden."
"Jetzt ..."
Der schwarze Krieger schaute dem Kansheg tief in die Augen:
"Mein Freund mit den roten Haaren. Wir haben sie nicht bestanden. Der weitaus schwerere Teil steht uns noch bevor. Wir werden heimkehren zu den Unsrigen, was noch nie geschah. Und wir werden sie die Freundschaft zwischen dir und mir lehren müssen. Wir zwei tragen das Feuer in uns, doch ob es reicht, unsere Völker damit zu erleuchten, muss sich weisen!"
"Jetzt - haben sie VERSTANDEN!"
Das Tor öffnete sich rasselnd und hereingesprengt kamen zwei Pferde.
Ein weißes und ein schwarzes.

Das Feuer des Großen Rates brannte schon drei Tage. Seit der Nacht, als das Unglaubliche geschah.
Seit das Elbenfeuer erlosch!
Das ewige, heilige Zeichen war vom Himmel verschwunden. Groß war die Angst in den Hütten der Kansheg. Niemand wagte sich des Nachts ins Freie, niemand wollte einen Blick zum nördlichen Horizont wagen. Denn das Firmament dort war so entsetzlich leer.
Von weither kamen die Kansheg zum großen Versammlungsplatz des Volkes bei den heiligen Steinen. Alle kamen sie auf ihren Pferden. Mit ihren Greisen und Kindern kamen sie und der Kreis der Menschen um die heilige Stätte wurde immer größer. Schweigend hockten die Menschen auf der Erde und warteten auf den Spruch der Druiden.
Vergessen war die ewige Schlacht und zum ersten Mal seit Menschengedenken blieben die Grenzen unbewacht. Unwichtig war die Bedrohung durch das Zwielicht. Denn der Hort ihrer Sehnsüchte, der Nabel ihres Seins - das Elbenfeuer - leuchtete nicht mehr seinem auserwählten Volk.
Dann kam der große Häuptling an der Spitze des Wasserfalken-Clans geritten und gesellte sich schweigend zu den anderen.
Wie würde der Spruch der Druiden lauten?
Die Ahnung eines drohenden Unheils senkte sich auf die Versammlung wie der Rauch eines großen Feuers, vom Wind zu Boden gedrückt.
Drei Tage lagen die Druiden auf den heiligen Steinen und träumten. Im Rauch des Ne-Ne-Poo reisten sie zu dem fernen Land der Elfen, um dieses böse Omen zu erforschen.
Drei Tage saßen die Männer, Frauen und Kinder der zehn Stämme schweigend und warteten. Nur die alte Trommel des Großen Rates schlug wie ein müdes Herz.
Drei Tage, in denen kein Feuer in den Essen brannte. In denen die Ochsen nicht vor den Pflug geschirrt wurden und das Gras nicht gemäht wurde.
Drei lange Tage war das weite Land der Kansheg wie gelähmt und sogar die Erde schien den Atem anzuhalten.
Dann erwachten die Druiden und stiegen von den Steinen herab.
Der große Häuptling der zehn Stämme, Morbayn, erwartete sie ungeduldig und fragte:
"Nun, was habt ihr erfahren?"
Der älteste unter den weisen Männern sprach:
"Es ist großes Unheil geschehen. Die Welt wird untergehen, sehr bald!"
Aber diesmal irrten die Druiden.
Nicht die Welt würde untergehen, sondern nur die alte Ordnung.
Denn weit im Norden bestiegen zwei Männer, wie sie unterschiedlicher nicht hätten sein können, ihre Pferde und ritten gemeinsam heim.
Zusammen ritten sie und keiner blickte sich um, dort wo einst das Nebelauge stand.
Und das Elbenfeuer.
 

© Joe Estrada
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