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Diese Story wurde von den Drachental-Besuchern
zur zweitbesten deutschen Fantasy-Story 2001 im Drachental gewählt!

Ein zweites Leben von Karin Sittenauer

Gleich einem geisterhaften Wind flüsterte es im Kerker von Tiredachan; Furcht kroch durch die dunklen Gewölbe. Im Verlies der Burg stöhnten die abgemagerten Gefangenen: Sie raunten sich zu:

"Es gibt einen neuen Wärter! Er ist scharf auf frisches Fleisch!"

Der zerlumpte, widerwärtige Mann neben Kiaren stieß sie mit dem Fuß an. Wie ein Pferd schnaubte er durch die Nasenflügel. "Hast du gehört, Junge!" Er grinste breit und zeigte seine braunen Zähne. "Einen hübschen Jungen wie dich wird er gerne nehmen." Jetzt lachte er schrill und laut. "Hoffentlich lässt er uns wenigstens zusehen. Ein wenig Abwechslung!"

"Lass mich in Ruhe!" Kiaren drückte sich noch tiefer in ihren Winkel. Sie versuchte gleichsam eins zu werden mit feuchtem Stroh und kalten Mauern. 

In wenigen Tagen würde ihre Blutung einsetzen. Jeder könnte sehen, dass sie eine Frau war und kein schmächtiger, unterernährter Junge. Wie ausgehungerte Wölfe über gefundenes Aas würden die Männer über sie herfallen. Nein, nicht ihre Mitgefangenen. Sie alle lebten mit Ketten an ihren Platz gezwungen. - Die Kerkerwärter würden kommen und sich ihrer erinnern. Kiaren flehte zu sämtlichen Mächten, dass sie diesen Tag nicht mehr erleben musste. 

Mit einem Seufzer schloss sie die Augen, versuchte ihren Atem zu beruhigen. Sie fühlte sich schon beinahe wie tot. Dieser Körper gehörte nicht mehr zu ihr. Ihr Geist wanderte davon; in ein grünes Tal mit sich sanft wiegenden Gräsern und einem ruhig fließenden Fluss, dessen Ufer große Weiden begrenzten. Das Flüstern im Kerker wurde zu wispernden Blättern im Wind. Würde dieses schwache Herz doch endlich zu schlagen aufhören und sie unter den Weiden zurück lassen. 

Auf einmal tauchte eine Gestalt aus dem Wasser. Obwohl Kiaren den Mann noch nie zuvor gesehen hatte, fühlte sie sich in seiner Nähe wohl, lächelte ihm zu wie einem guten Freund. Seine Augen waren wie grünes Moos und langes Haar trieb wie Algen im Wasser. Das bleiche Gesicht erinnerte Kiaren an den Mond, geduldig und voller Sanftmut. Sie streckte ihm ihre Arme entgegen und glitt ins Wasser. Jetzt dachte sie nicht mehr an das Elend, das hinter ihr lag. Sie fühlte sich umgeben von streichelnden Wellen und beruhigenden Worten.

"Du sollst noch nicht sterben", rauschten die Bäume über ihr und plätscherte das Wasser, in das sie versank.

"Ich geh nicht zurück. Ich bleibe hier bei euch", erwiderte sie und fühlte sich voller Hoffnung.

"Noch nicht! ... Du gehörst nicht hierher!"

Kiaren begriff nichts, hielt sich an dem fließenden Körper fest und trieb selbst in unendliche Glückseligkeit davon. Sie löste sich auf, verteilte sich im zärtlichen Nass und sah blankgeriebene Kieselsteine am Grunde liegen. - Sanft umschmeichelt von ruhigem Wasser, dann von groben Wellen der Schneeschmelze hin und her gerollt.

"Du gehörst nicht hierher", tönte es erneut. Nichts blieb übrig von dem zart wiegenden Weggleiten. Kiaren schlitterte zurück, unfreiwillig, ärgerlich und störrisch. Wieder wurde sie geschüttelt und die gleiche Stimme beschwor sie: "Wach auf! Ich habe nicht viel Zeit. Jetzt komm endlich, sonst ist es zu spät!"

Eine Gestalt beugte sich über sie. Dunkel war alles, was Kiaren von dem Fremden sah. Dem Schwarz des Mantels wurde vom Feuerschein der Fackel ein bläulicher Schimmer verliehen. Wie die Tiefen des Wassers, denen man Kiaren soeben entrissen hatte. Dennoch roch sie den Fluss immer noch - der Mann verströmte diesen Duft von Reinheit in dieser grauenhaften Umgebung. Jetzt fühlte Kiaren wieder die Schwäche ihres Körpers, die Machtlosigkeit ihres eigenen Willens und ihre verzweifelte Sehnsucht nach Erlösung. 

"Sagt‘ ich’s doch!", zischte der Gefangene neben ihr. "Frisches Fleisch!" Jetzt kicherte er. Das hohe, abgehackte Kichern eines Wahnsinnigen. "Du bist ein hübsches Bürschchen. Fast wie ein Mädchen! Hätt‘ ich direkt auch Lust drauf!" 

Die junge Frau biss sich auf die Lippen und drehte den Kopf zur Wand. Der Fremde löste ihre Ketten. Ihre Hände zitterten. Kiaren wusste allzu gut, was sie nun erwartete. Er zog sie auf die Füße. Ihr schwindelte. Sie vermochte kaum zu stehen, schwankte, bis er einen Arm um ihren Körper legte und sie stützte. Er hielt sie fest und führte sie aus der Zelle. 

Der Mitgefangene schrie ihnen giftig hinterher: "Nein! Nicht draußen! Mach‘ es hier, hier, hier!" Dann verfiel er in erbärmliches Gewinsel.

Die Hand des Wärters lag unter Kiarens Brust. Jetzt klärte sich ihr Geist vollkommen. Entsetzen umfing sie. Er musste einfach fühlen, dass sie eine Frau war! Und er tat es. Wissend sah er in ihre Augen, hielt ihren Blick fest, während sich sein Griff um ihren Körper lockerte. Schließlich lag sein Arm um Kiarens Taille, unverfänglich und doch stützend. Seine Miene  zeigte etwas wie Verlegenheit wegen der zu großen Vertraulichkeit.

"Wer ... wer seid Ihr?", fragte Kiaren atemholend.

Je weiter sie durch die düsteren Gewölbe gingen desto auffälliger hinkte er. Ein Gebrechen, das sich zu verschlimmern schien, je tiefer sie ins Gestein vordrangen.

"Fenbog", sprach er, nichts als diesen Namen. 

Wenn er noch schwächer würde, dachte Kiaren, könnte sie ihn leicht überwältigen.

Er führte sie weiter; der Gang verengte sich. Wasser tropfte von den Felsen. Es kündete wie das sie umgebende Urgestein von Anfang und Ende zur gleichen Zeit. Das Ende, ja, danach sehnte Kiaren sich. Zurückzukehren in die Welt der Nymphen, zu dem Bach, dessen ruhiges Plätschern im Gleichklang mit ihrem Herzschlag war. Kein Leid mehr zu fühlen und nie mehr verletzt zu werden!

Zuletzt stützte Kiaren den Mann mehr als er sie. Das wäre die Gelegenheit, sich von seiner Gegenwart zu befreien! Sie holte tief Atem, nahm allen Mut zusammen. Jetzt müsste sie ihn niederstoßen, sofort! Mit einem Mal blieb er stehen, atmete tief ein, so wie ein Verdurstender Wasser in sich aufsog.

"Ich bin nicht geschaffen für das Land", sprach er, "und du nicht für das Leben im Wasser."

Kiaren hielt in ihrem Angriff inne, ehe sie ihn begonnen hatte. Ihre Furcht wandelte sich zu Neugier. Dieser Fremde schien ihr nichts antun zu wollen. Langsam, als würde dies seine letzten Kräfte beanspruchen, schob er die Kapuze zurück, öffnete den Umhang und ließ ihn zu Boden gleiten. Dort blieb nichts zurück als eine Pfütze klaren, blaugrünen Wassers, das sich kurz darauf einen Weg in die Tiefe suchte. Im Schein der langsam verlöschenden Fackel erkannte Kiaren das Flussbett, das vor ihnen lag.

"Du kannst den Fluss durchschwimmen. Am anderen Ufer erwartet dich die Freiheit."

Sein bleiches Gesicht erinnerte Kiaren an den Mond, geduldig und voller Sanftmut.

"Danke", flüsterte sie und fühlte Tränen über ihre Wangen perlen.

"Wir sagten dir doch, dass es für dich noch nicht an der Zeit ist zu sterben."

Als er in das dunkle Nass eintauchte wirkten seine Augen wie grünes Moos und sein langes Haar trieb wie Algen im Wasser. Dann versank er, hinterließ kaum erkennbare Wellen, die schnell mit dem Lauf des Flusses entschwanden.

Kiaren aber nutzte das Geschenk, das er ihr gemacht hatte: Ein zweites Leben, aufgestiegen aus den Tiefen des Todes. Leise ließ sie sich ins Wasser gleiten und schwamm.
 

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