Der Auftrag von Karin Sittenauer

"Bring sie hier her!"

Guys Miene zeigte keine Regung. "Mylord", antwortete er, "sie ist verschwunden."

"Dann such sie!"

"Ja, Mylord." 

Unbewegt verharrte Guy, bis der König ihm die Erlaubnis erteilte, sich zu entfernen. Dieser aber wandte sich dem Essen zu. Der junge Mann blieb stehen. Er war es gewöhnt, Befehle auszuführen. In Gedanken verweilte er bereits bei seinem Auftrag, die Tochter des früheren Herzogs zu suchen. Das konnte sich als schwierig erweisen. Seit Wochen galt sie als verschwunden, vielleicht noch länger. Zuerst musste Guy seine Spitzel aufsuchen. Bereits vor Tagen hatte er sie gemahnt, die Augen offen zu halten. Meist ahnte er die Befehle lange im Voraus.

König Penbios blickte auf. "Was tust du noch hier? Verschwinde!"

Nach einer kurzen Verbeugung entfernte sich der junge Mann. In unauffälliger Kleidung verließ er die Burg und stieg die gewundene Straße zur Stadt hinab. In dem Viertel, das er jetzt aufsuchen würde, durfte niemand den Grafen in ihm erkennen. Das würde ihn sein Leben kosten. Die Stadt war gebeutelt vom Krieg, von Eroberung und Fremdherrschaft. Überall wurde geplündert, vergewaltigt und gemordet. Das kümmerte Guy nicht. Für ihn war es eine normale Begleiterscheinung des Krieges, daran konnte er nichts ändern. 

Zuerst schritt er zügig voran. Niemand beachtete ihn. Dann aber verjüngten sich die Straßen und wurden zu Gassen auf deren Grund kaum Tageslicht fiel. Die Mauern neigten sich über Guys Haupt zueinander, als wollten sie sich gegenseitig auffangen. Quer über dem Boden lagen Männer. Schlafend oder tot, wen berührte das? Unwillig stieg der junge Graf über die Körper. Mit einem Mal regte sich etwas. Eine der Lumpengestalten packte sein Bein. Guy schwankte, riss sich los und trat nach dem Penner.

"Miargh othar deai", klang es zwischen den Lumpen hervor.

Diese Barbaren! Solche unverständliche, kehlige Laute! Ihre undefinierbaren Gesichter! Guy zog die Brauen zusammen. Alle Schlafenden erwachten zum Leben, richteten sich auf und krochen von überall her auf Guy zu. Beinahe hätte dieser "schert euch weg" gerufen, besann sich jedoch eines Besseren. Diese Worte in seiner Sprache hätten ihn als Fremden, als einen der Eroberer entlarvt. So blieb er stumm. Er trug kein Schwert bei sich, es hätte seine Tarnung verraten.. Stattdessen lag eine Hand auf seinem Dolch. Wieder packte der Mann in grauen Lumpen sein Bein und zog sich daran hoch. 

"Lagdishta", wimmerte er.

Weitere Hände griffen nach Guy. Sie zerrten an seinem Umhang. Ohne lange zu überlegen stach der junge Mann zu; ein geübter, glatter Stich direkt ins Herz. Dem Bettler entrang sich kein Laut. Stumm brach er zusammen und blieb auf dem Rücken liegen. Die anderen Männer wichen vor dem blutigen Dolch zurück und kauerten sich wieder auf ihre Plätze. Ungerührt setzte Guy seinen Weg fort. Hinter ihm durchwühlten die Bettler die Lumpen des Getöteten.

Einen Augenblick lang, als er den Dolch wieder unter dem Umhang verbarg, zitterten seine Hände. Jetzt blieb ihm Zeit zu denken und er verstand das Wort "lagdishta". Es hieß nichts anderes als "hilf". Nun denn, er hatte geholfen. Jetzt gab es einen Schmarotzer weniger.

Der Rote Hahn lag am Ende der Gasse; ein schmales, schiefes Gebäude ohne Stall. Wer hierher kam, konnte sich kein Pferd leisten. Und wenn ja doch, dann behielt er es nicht lange. Guys Gesicht verdüsterte sich. Diese Absteige mit dem niedrigen Raum und den schmierigen Tischen hasste er. Der Geruch von Betrunkenen hing wie Dunst zwischen den Bänken. In einer dunklen Nische, von der er den Raum überblicken konnte, setzte er sich. Der Wirt starrte kurz zu ihm hinüber, dann verschwand er durch eine niedrige Türe im hinteren Teil der Schankstube. Kurz darauf kehrte er zurück. Ihm folgte Ekop, ein junger Bursche, dem er einen Kelch in die Hand drückte.

All das beobachtete Guy nur aus den Augenwinkeln. Mehr Aufmerksamkeit schenkte er den anderen Gästen. Abgerissene Männer in dünner Kleidung und mit verfilztem Haar. Ihre Gespräche bestanden aus Lallen, das er nicht verstehen konnte. Auch wenn er der einzige der neuen Herren des Landes war, der mit den Einheimischen sprach, es bereitete ihm immer noch Schwierigkeiten.

Der Bursche kam heran, setzte sich auf die schmale Bank gegenüber, wuchtete den Kelch vor Guy auf den Tisch und beugte sich herüber. Wie jedes Mal, dachte der Graf und regte sich nicht. 

"Eu‘r Wein, Sir", flüsterte Ekop.

Guy würde ihn nicht anrühren, verschwendete nicht einmal einen flüchtigen Blick darauf. Stattdessen gab er seinem Gegenüber mit einem knappen Nicken zu verstehen, dass er hörte. Langsam, damit der Graf der fremden Sprache folgen konnte, begann der magere Bursche:

"Überfall‘ne Karawanen. Inner Wüste. Sie lauern drauf, die Bandit‘n."

Dies wusste Guy schon lange. Sein ausdrucksloses Gesicht zeigte dem Spitzel, dass seine Information keinerlei Interesse fand. Dafür würde er keine Münze sehen. So versuchte Ekop es erneut:

"Gänge sinn unnerm Tempel. Alles unnerhölt. Streng geheim, s‘Ganze."

Endlich etwas Interessanteres, dennoch wirkte Guy gelangweilt. "Das ist mir bekannt", sprach er langsam. "Hast du nichts anderes zu bieten?"

Nervös rutschte der Junge auf seinem Hosenboden hin und her. Er sah seine Belohnung in Staub zerrinnen. "Sir, nee, nichs Neu‘s! Ich würds sagn! Wen solle bespitzeln?"

"Ich suche jemanden ...."

Gespannt lauschte der Bursche. "Wen? Wen? Ich find‘n!"

"Kiaren von Tiredachan. Die Tochter des früheren Herzogs." 

Die Augen in dem mageren Gesicht vergrößerten sich wie von Zauberhand. Einen Moment herrschte Stille, dann piepste die dünne Stimme: "Sie‘s tot! Gestorben! Beim Überfall!"

"Warum denkst du, dass ich dir nicht glaube?"

"Es‘s wahr!" Jetzt zappelte er noch mehr auf der Bank hin und her.

"Bring mir Beweise." Schweigen folgte diesen Worten. "Das kannst du nicht? Weil du lügst! Führe mich zu ihr!"

"Nee, dann binne n‘Verräter."

"Das bist du ohnehin ... Du wirst ein wohlhabender Verräter sein! Und wenn du erst einmal Gold in deinen Händen hältst, wer fragt dann noch nach dem Woher?"

Guy schob seine Hand über den Tisch, darauf bedacht, sein Gegenüber nicht zu berühren. Als er die Finger zurückzog kamen zwei Goldmünzen zum Vorschein.

"Das ist nur die Anzahlung...".

Ein gieriges Flackern verlieh Ekops Augen einen fiebrigen Glanz. Seine Hand schnellte hervor und schon war das Gold verschwunden. 

"Es‘s gefährlich."

"Geh voran!" 

"Jo, Sir!" 

Der Bursche sprang auf und Guy folgte ihm. Mehrere der zwielichtigen Gestalten beobachteten ihn. Sie erhoben sich und verließen einige Augenblicke später die Schänke. Gespannt musterte Guy sie. An der Hausmauer blieben sie stehen und erleichterten sich. Von ihnen drohte keine Gefahr. Die Aufmerksamkeit des Grafen erlahmte. Sein Interesse galt den Schattengestalten in den Gassen und dem Weg, den sie zurücklegten. Auf keinen Fall durfte er die Orientierung verlieren. 

Dies gestaltete sich als schwierig, denn die gewundenen Gassen der Stadtmitte bildeten an sich bereits ein Labyrinth. Als sie den großen Markt vor dem Tempel erreichten, breitete die Nacht bereits ihr undurchsichtiges Tuch über die Stadt. Der Platz vor dem großen Tor lag verlassen da. Als Guy vor Monaten in die Stadt eingeritten war, hatten Fackeln das gesamte Areal erhellt. Jetzt war das anders. Die fremde Religion hatte man verboten, das Gotteshaus geplündert und die Priester hingerichtet. Dieses große Gebäude war nichts anderes als ein leeres Skelett, das in den Himmel ragte. 

Ekop späte um sich, dann überquerte er den Platz und führte den jungen Grafen an eine Seitenpforte, die er durch einen kräftigen Stoß einen Spalt weit aufschob. Guy stockte der Atem. Beide glitten in unerträglichen Gestank hinein. Erst nach einiger Zeit konnte der Graf in der Dunkelheit etwas erkennen. Dann sah er die halb verwesten Leichen, die am Boden lagen. 

Alles erweckte den Eindruck, als hätte seit Wochen niemand den Fuß in den Tempel gesetzt. Und doch durchquerte Ekop den Raum dermaßen zielgerichtet, dass diese Annahme schnell widerlegt wurde. Er befand sich regelmäßig hier, daran gab es keinen Zweifel. Um die eigene Anwesenheit zu verbergen begrub man die Leichen absichtlich nicht. Der steinerne Altar lag in Trümmern, ebenso wie eine Anzahl irdener Opferschalen. 

Sie tasteten sich um den zerstörten Altar herum. Guy hielt sich an der Mauer fest und zuckte zurück. Er hatte einen der in Stein gemeiselten Götzen berührt. Irgendetwas hatte ihn in die Handfläche gestochen. Hinter sich hörte er ein Geräusch. Schreckhaft fuhr er herum. Nichts, jetzt blieb alles stumm. Er hörte schon Geister flüstern, wie lächerlich! Während er Ekop in eine Kammer hinter dem Altarraum folgte, führte er seine Hand an den Mund und schmeckte Blut.

"Wir brauchen Licht, Bastard", zischte er.

"Sofort, Sir", kam die leise Antwort. Der Bursche blieb stehen, beinahe wäre Guy mit ihm zusammengestoßen.

"Was tust du?"

"Aufmach‘n, Sir."

Lautlos glitt eine überlebensgroße Figur eines bärtigen Mannes mit Hirschgeweih zur Seite und gab den Blick auf einen schmalen Gang frei. In einem eisernen Ring an der Wand steckte ein brennender Holzspan und erhellte die Umgebung. Die kleine Flamme flackerte in dem Luftzug.

"Wohin führt der Gang?"

"Inne Katakomben", erwiderte der Spitzel. 

"Wie hast du ihn geöffnet?"

Der dünne Bursche zeigte auf die Verziehrungen, die rings um den Eingang die steinerne Wand ausfüllten. Spiralen und Endlosmuster. Diese Symbole kannte Guy zu genüge. In diesem fremden Land fand man sie überall. Ekop deutete auf eine gewundene, endlose Schlange. "Auf‘n Kopf drück‘n und schon isse auf."

"Geh voran."

Auf der Innenseite gab es ein genaues Ebenbild der Schlange. Wieder drückte Ekop. So lautlos er vorher seinen Platz verlassen hatte schob sich der Stein wieder zurück. Auf dem Boden lagen mehrere Holzspäne. Ekop entzündete zwei und reichte einen davon dem Grafen. Der Gang führte in die Tiefe. Guy schwindelte. Wie in eine Gruft, ein unendlich großes Grab. Immer wieder zweigten Gänge ab, häufig wechselten sie die Richtung. Ohne dass sein Führer es bemerkte schwärzte Guy die Abbiegungen mit seinem Holzspan. Er musste den Weg auch alleine finden. Wenn sich die Aufständigen hier verbargen, dann würde er das Nest ausheben lassen!

Als der Spitzel erneut stehen blieb, war Guy um die Rast froh. Er lehnte sich an die gewölbeartige Wand und atmete tief durch. Die Luft hier machte ihn krank.

"Wartet, Sir. Ich lock‘se her!"

Mit einem Nicken bestätigte Guy und sah Ekop verschwinden. Er schloss die Augen. Bei allen Göttern, er fühlte sich elend. Ein Luftzug ließ die Flamme in seinen Händen flackern, blies sie beinahe aus. Dann brannte sie wieder ruhig und stetig. Lauschend verharrte der junge Graf. Irgendetwas lief hier vollkommen verkehrt. Er würde umkehren und mit Bewaffneten zurück kommen. Langsam löste er sich aus der Nische. Sein Körper fühlte sich wie nach dem Genuss von allzu viel Wein ungewohnt träge an. 

Unvermittelt sah er die Lichter zu beiden Seiten des Ganges. Dann drang das Geräusch von Stiefeln auf Gestein zu ihm. Männer mit Schwertern und Messern kamen auf ihn zu. Eine Falle! Er war blindlings in eine Falle getappt! Viel langsamer als sonst zog er den Dolch und schob seinen Rücken zurück in die Nische. Ihm blieb keine Chance! Wenn er ausbrechen wollte, dann musste er sich den Weg frei kämpfen. Aus der Richtung, die er mit Ekop gekommen war, näherten sich nur zwei Männer.

Als sie näher kamen erkannte Guy sie: die zwei Männer aus der Bar! Sie hatten ihn verfolgt. Ein simpler Plan, um ihn zu töten! Ihm blieb wenig Zeit, er musste sie erledigen, bevor die anderen Angreifer heran kamen. Ein kurzer Kampf entbrannte. Den einen Mann verletzte er am Arm. Dem anderen wollte er den Dolch in den Hals stoßen, verfehlte ihn und führte ihm nur eine Schnittwunde zu. Schon wurde er von hinten gepackt. Man entwaffnete ihn. Seine Reaktionsfähigkeit war miserabel. Der eigene Körper wollte ihm nicht gehorchen! Ansonsten hätte er es ihnen schwerer gemacht.

Grob zerrte man Guy den Gang entlang. Nun verlor er entgültig die Orientierung. Dieses Labyrinth konnte er nicht mehr überblicken. Irgendwann, es schien ihm eine Ewigkeit, erreichten sie ein weiträumiges Gewölbe. Niedrig aber unendlich weit erstreckte sich der Saal in alle Richtungen. Die Decke wurde von sechseckigen Säulen gestützt. Überall saßen Frauen, Männer und Kinder. Zwischen die Säulen gespannte Decken trennten kleine Nischen ab und schafften ein Minimum an Abgeschiedenheit. 

Es erschien Guy wie ein Traum, ein unerträglicher Albtraum. Große, hungrige Augen starrten ihn an, während er weiter gezogen wurde. Er stolperte mehrmals. Jäh erkannte er Ekop unter den Leuten. Der Spitzel trat vor und hielt fordernd die Hand auf. 

"Her mit de Beutel, wie versproch‘n!"

Mehrere Hände betatschten Guys Wäsche, bis sie das Gold fanden. Ohne den Inhalt zu prüfen warf ein Mann das Säckchen zu Ekop. Gierig fing ihn dieser auf, öffnete die Verschnürung, starrte hinein und grinste. Dann hüpfte er an dem Grafen vorbei, zeigte ihm eine lange Nase und sang: 

"Ein reicher Verräter! Jetzt binne ein reicher Verräter!"

Noch einmal schnitt er eine Grimasse und verschwand in der Menge. Guy hätte ihm nicht trauen dürfen. Man sollte niemals einem Verräter vertrauen, nicht einmal beim Verrat. Irgendwie aber schien es ihm nicht mehr wichtig, alles wurde für ihn mehr und mehr nebensächlich. Er hatte das Gefühl, als würde dies nicht wirklich geschehen. Die Menschen, die sich herandrängten und ihn anstarrten. Der große, dunkle Mann, vor den man ihn führte und der ihn abfällig musterte, bevor er ihm eine riesige Faust in den Magen rammte. Selbst den Schmerz verspürte er nurmehr am Rande. Seine Umgebung schien sich um ihn zu drehen. 

Auch die Worte, mit denen man ihn als des Königs Laffen beschimpfte, berührten ihn nicht wirklich. Er machte sich nicht einmal mehr Sorgen um seine Zukunft. Selbst der Tod verlor seinen Schrecken oder vielmehr, Guy dachte nicht darüber nach. Er sah die Geschehnisse an sich vorüberziehen, sich in einem Strudel schneller und schneller drehen und in die Tiefe sinken. Dann zerrten sie ihn weiter, stießen ihn auf die Knie und rissen seinen Kopf hoch.

"Sieh ihn dir an!" Er kniete vor einem steinernen Podest. Darauf befand sich ein grobschlächtiger steinerner Sitz, der sicherlich einen Thron darstellen sollte. Eine Gestalt im Lumpenmantel saß darauf. "Das ist dein König! Ja, knie nieder vor ihm, so wie er uns zur Unterwerfung zwingen will!" 

Der große Mann brüllte, dennoch drangen seine Worte nur vage in Guys Bewusstsein vor. Dort saß ein Skelett. Der König war eine Leiche, der man eine hölzerne Krone auf das Haupt gedrückt und einen verschlissenen Mantel um die Schultern gelegt hatte. Große, leere Augenhöhlen starrten auf die Menge herab.

"Küss seine Füße!" 

Man stieß Guy noch näher. Er beugte sich dennoch nicht hinab, starrte auf diesen Totenkopf, der sich zu bewegen schien. Der König der Bettler neigte sein Haupt zu ihm herab und öffnete den fleischlosen Mund. Des Grafen Augen weiteten sich in schierem Entsetzen. Wieder wurde er gestoßen, doch er konnte sich nicht abwenden. Das schaffte er nicht. Ohnehin lief alles nur am Rande ab, alles bis auf diesen Toten, der eine Hand hob und auf ihn zeigte! Wieder bewegte sich das offenliegende Gebiss, wieder schien es ihm etwas mitteilen zu wollen. Er aber konnte es nicht hören. Plötzlich schlug man ihn. Hart stürzte Guy zu Boden. 

"Tu, was ich dir gesagt habe! Küss die Füße deines geliebten Königs!"

Eine Farce! Das alles war eine Posse, die sie zur Belustigung der vertriebenen Menschen aufführten. Der König eine Verhöhnung des wirklichen und Guy als sein Gefolgsmann eine der Hauptpersonen. Allerdings begriff er nichts davon. Wie in Trance rappelte er sich auf. Er konnte seinen Blick nicht von dem skelettierten Gesicht abwenden. Voller Grauen beobachtete er, wie die leeren Augenhöhlen seinen Bewegungen folgten. Er wurde erneut geschlagen. Guy besaß kein Zeitgefühl mehr und auch keine Schmerzempfindung. Er fühlte sich ebenso leer wie das Skelett und zugleich erfüllt von Geräuschen und Botschaften. Wenn er sie nur verstehen könnte.

"Bring es zu Ende!", befahl der große Dunkle erbarmungslos. 

"Ich schneide ihm die Kehle durch!"

Die scharfe Klinge seines eigenen Dolches wurde ihm an den Hals gehalten. Als sie die Haut verletzte tat es weh.

"Nein! Ich will diese Sauerei nicht! Brich ihm das Genick."

Die Klinge wurde weg genommen. Einen Moment lang durchdrang Erleichterung Guys Gleichgültigkeit. Irgendwie stand er neben sich, beobachtete das Geschehen wie im Traum. Ein Arm legte sich um sein Genick, eine große Hand auf seinen Kopf. Sie begann zu drücken. Guy fühlte sich vollkommen wehrlos. Wieder grinste das Skelett. Es öffnete den Mund und schüttelte sich vor Vergnügen. Die Knochen schlugen aufeinander. Das konnte Guy ganz deutlich hören. 

Jäh gaben seine Beine nach. Er stürzte auf die Knie. Das lockerte den tödlichen Griff ein wenig, jedoch nicht lange. Kinder standen neben ihm, Finger in den Mündern und auf den Nägeln kauend. Dann plötzlich stand sie vor ihm. Eine junge Frau trat zwischen ihn und den König. Damit durchbrach sie den unheimlichen Bann zwischen Guy und dem Toten. 

"Hört auf!" Der Griff um seinen Hals lockerte sich. "Was ist mit ihm?", fragte sie. 

"Keine Ahnung! Was soll sein, Kiaren? Er ist ein Lakei des Königs. Er ist verrückt!"

Sie beugte sich zu ihm, bis ihr schmales Gesicht vor dem seinen auftauchte, starrte ihm in die Augen und berührte seine Stirn. "Er ist heiß."

"Wen kümmert das?"

Die Fremde nahm die Hände des jungen Grafen und drehte die Handflächen nach oben. Er hatte keine Kraft und keinen Willen mehr, sie ihr zu entziehen. "Ein Einstich", murmelte sie und fuhr mit einem Finger über den kleinen, geröteten Punkt. "Er hat einen der Götter berührt." Vor Guys Augen breitete sich vollkommene Schwärze aus. Er stürzte.
 

Nur mühsam ließen sich seine Augen öffnen. Die Lider fühlten sich wie Blei an. Kurz sah Guy über sich etwas funkeln, dann fielen sie ihm wieder zu. Befand er sich noch in der Gewalt der Aufständigen? Er würde sich ganz still halten, um ihnen nicht zu zeigen, dass er wach war. Vorsichtig zwang er seine Augen nochmals auf. Diesmal für längere Zeit. Der Morgenstern stand über ihm am Himmel, als Letzter noch gut zu sehen, während die kleineren Sterne in der beginnenden Morgendämmerung verblassten. 

Ganz langsam drehte er seinen Kopf. Das versetzte ihm schmerzende Stiche. Er war alleine! Und er befand sich nicht mehr in den Katakomben. Abrupt richtete er sich auf. Schwindel überfiel ihn so heftig, dass er sich erbrechen musste. Als sein Magen sich wieder beruhigte blickte er sich erneut um. Man hatte ihn unweit der Stadt am Fluss liegen gelassen. Schwerfällig kroch er die wenigen Fuß zum Wasser, streckte seine Hände danach aus und trank. Nein, es war kein Traum gewesen! Er tastete seinen Körper ab. Als er auf verletzte Stellen traf zuckte er mehrmals zurück. Seine Börse fehlte, doch der Dolch steckte in seinem Gürtel, als wäre nichts geschehen.

Die Erinnerung kehrte nur zögernd und undeutlich zurück. Er sah die Katakomben, die Männer und er wusste wieder, dass sie ihn geschlagen hatten. Das erklärte seine Schmerzen. Noch ein Bild tauchte auf: eine schlanke, junge Frau in Männerkleidung. Der Name Kiaren spukte in seinem Geist. Die Herzogstochter? Verflucht, hätte Ekop ihn nur nicht verraten! Guy wusch sich das Gesicht, bis das kühle Wasser seine Sinne klärte. Seine linke Handfläche war gerötet. Die Stimme der Frau sprach wie aus Nebelschwaden: "Er hat einen der Götter berührt."

Das hatte ihn also außer Gefecht gesetzt! Dieser kleine Stich vom steinernen Bildnis eines Götzen! Dornen, die mit Gift getränkt waren. Er lachte verächtlich auf. Dies würde nicht noch einmal geschehen! Schwankend kam er auf die Beine und stapfte los. Jetzt blieb ihm alle Zeit der Welt. Den Mechanismus des geheimen Eingangs kannte er. Ja, Ekop verriet alles, das zu verbergen wichtig wäre! 

Die Sonne spähte erst knapp über den Horizont, als Guy den Tempel betrat. Wieder wurde ihm vom Gestank übel, doch er musste sich nicht mehr übergeben. Das Dämmerlicht des Morgens erhellte das Innere. Er konnte sich vergewissern, dass sich niemand hier befand. Die Geheimtüre ließ sich leicht öffnen und dahinter brannte noch immer die kleine Flamme am Holzspan. Sogar seine schwarzen Markierungen zeigten noch den Weg. Sehr vorsichtig schlich er sich ins Innere des Labyrinths. Plötzlich endeten seine Wegweiser, hier hatte man ihn überfallen. Ab jetzt musste er sich selbst zurechtfinden. 

Erst mit der Zeit wurde ihm bewusst, wie unendlich sich die verborgenen Gänge erstreckten. Hin und wieder hörte er Stimmen, schlich sich näher, doch nie bekam er seine Beute zu sehen! Aufgeben würde er trotzdem nicht. Jetzt galt es nicht nur einen Befehl auszuführen, sondern auch seine Ehre zu retten. Lange schlich er durch die Gänge bis er sie entdeckte. Eine junge Frau in Männerkleidung, dunkles Haar, schlanker, beinahe magerer Körper. Ein triumphierendes Lächeln machte sich in seinem Gesicht breit. 

Nur Geduld, die passende Gelegenheit würde sich ergeben! Er verharrte im Schatten und beobachtete die Herzogstochter. Diese Narren fühlten sich derart sicher, dass sie keine Wachen postiert hatten und niemandem Kontrollgänge befahlen. Nein, hätte Guy hier die Befehlsgewalt, dann würde es so einen Leichtsinn nicht geben!

Endlich kam der Augenblick, an dem sie alleine war und ihm den Rücken zuwandte. Schnell stand er hinter ihr, packte sie und hielt ihr den Dolch an die Kehle.

"Keinen Mucks! Ihr seid schneller tot, als dass Euch jemand helfen könnte!", flüsterte er. 

Sie bewegte sich nicht, atmete nur sehr hastig. Guy zog sie mit sich in die Gänge zurück und damit in die Dunkelheit. Vollkommen leise ging all dies vonstatten und nachdem sie mehrere Biegungen hinter sich gebracht hatten hörte er ganz leise eine Frauenstimme, die nach Kiaren rief. Sie aber antwortete nicht – war vernünftig genug, es nicht zu tun. 

Als sie das Innere des Tempels erreichten, fiel warmes Sonnenlicht durch die Fenster. Gedämpfter Lärm vom Marktplatz drang herein. Die Stadt war erwacht. Bevölkert von Einheimischen stellte sie für Guy eine Gefahr dar. Fiel er allein nicht weiter auf, mit einer Gefangenen an seiner Seite würde er es zweifellos tun. Nein, er konnte die Herzogstochter jetzt nicht auf die Burg schaffen.

Hastig sah er sich im Tempel um. Götzen wohin er blickte. Die Toten aber lagen alle im vorderen Bereich. Offensichtlich sollten sie Eindringlinge vom Altar und damit von der Geheimtür abhalten. Grob stieß Guy die junge Frau vorwärts.

"Wollt Ihr mir die Rippen brechen?", fuhr sie ihn an.

"Nein."

"Das tut Ihr aber!"

Er blieb stehen. Mit hochgezogenen Brauen musterte er Kiaren. "Soll ich Euch abtasten, um festzustellen, was noch heil ist?"

"Nur zu! Wenn Ihr wollt, dass ich Euch in eine gewisse Stelle trete!"

Vielleicht erwartete er Angst oder Zurückhaltung. Eine mutige Antwort von einer Gefangenen jedenfalls nicht. Sie brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Vor seinem inneren Auge tauchte dieser Totenkönig wieder auf. Erneut sah er, wie das Skelett sich vor Lachen schüttelte. Eine boshafte Freude, die es empfunden hatte, weil man ihn töten wollte. 

"Dann geht von alleine", sprach er und zeigte die Richtung.

Vorsichtig stieg sie über die Leichen und bahnte sich einen Weg in den südlichsten Teil des Tempels. Wieder sah sich der Graf um. Schließlich entdeckte er eine Nische, die hinter Gesteinsbrocken beinahe unsichtbar blieb.

"Dort hinein!"

"Zu Befehl", murrte sie.

"Setzt Euch!"

Ohne ein Wort gehorchte sie. Mit seinem Gürtel band er ihr die Hände hinter dem Rücken. Mittlerweile erinnerte er sich. Sie hatte ihm das Leben gerettet. Wie dumm! Wenige Schritte von ihr entfernt ließ auch er sich nieder. Mit seinem Körper versperrte er ihr den Weg zum Ausgang.

"Wie gehabt. Solltet Ihr schreien, so töte ich Euch", erklärte er.

Sie war hübsch. In feinen Kleidern und mit gepflegtem Haar könnte sie eine Schönheit sein. Der König würde sich mit ihr vergnügen. Der Fürst stand auf Mädchen, die gerade zu Frauen wurden und noch keine Erfahrung in der Liebe gesammelt hatten. Vielleicht würde er sie heiraten, um die Völker zu einen. Die Menschen zu unterdrücken und mit Gewalt gefügig zu halten gefiel dem König, doch nicht lange, das wusste Guy aus Erfahrung. Irgendwann würde es ihn langweilen. 

"Es wäre alles nicht nötig gewesen", murmelte Guy mehr zu sich selbst.

"Was?"

Er machte eine ausladende Bewegung mit der Hand. "Die Zerstörungen, überhaupt der Krieg." Kiaren hob eine Braue, sagte aber nichts. Guy fuhr fort: "Der König hätte um Eure Hand anhalten können. Nach dem Tod Eurer Eltern hättet Ihr das Herzogtum Tiredachan geerbt. Damit wäre es an den König gefallen; in einem besseren Zustand als jetzt."

Die junge Frau lachte kurz und verächtlich auf. "Denkt Ihr, ich hätte ihn geehelicht?"

"Sicher nicht freiwillig. Doch hätte Euer Vater nach Eurem Willen gefragt?"

"Ich hatte einen Bruder." Trauer überschattete ihre Züge. "Er wäre der künftige Herzog geworden."

"Euer Bruder hätte seine Volljährigkeit nicht erlebt." 

Das Gesicht des Grafen zeigte keinerlei Regung. Kiaren aber presste die Lippen aufeinander. Purer Hass loderte in ihrem Inneren. Vorsichtig späte Guy aus der Nische. 

"Wenn es dunkel ist, machen wir uns auf den Weg", erklärte er ungerührt.

"Und wem gebührt die Ehre, zu einer Ehe mit Euch gezwungen zu werden? Oder dürft Ihr nicht heiraten, um ganz dem König zu gehören?"

Aus irgendeinem Grund konnte er nicht wütend sein, überhörte ihren Spott bewusst. Vermutlich lag es an seiner Müdigkeit. Er wünschte sich ein heißes Bad und danach ein warmes Bett, um seine schmerzenden Glieder auszustrecken. Erschöpft schloss er die Augen, begann aber trotzdem leise zu erzählen:

"Ich bin verlobt. Das Mädchen ist fünf Jahre alt. Wenn sie zwölf ist werden wir heiraten. So lange wird sie von meiner Mutter erzogen."

Trotz der gebundenen Hände erhob sich Kiaren vollkommen lautlos. Ständig starrte sie den Mann an. Unmerklich öffnete er eines seiner Augenlider einen Spalt. Jetzt konnte er schemenhaft durch die Wimpern spähen. Offensichtlich wollte sie an ihm vorbei und aus dem Tempel gelangen. Draußen auf dem Marktplatz würde sie Hilfe finden. Einen Schritt nach dem anderen bewegte sie sich vorwärts. Guy sprach weiter:

"Solange bleibt sie ein Unterpfand dafür, dass ihr Vater keinen Angriff auf unsere Grafschaft ausführt." Inzwischen war die Herzogstochter bei ihm. Hielt sie ihn für solch einen Idioten, dass sie annahm, er würde nichts bemerken? "Wenn meine Mutter meine Braut erzieht, ist gewährleistet, dass sie mir später gehorcht."

Genau als Kiaren über ihn steigen wollte packte er ihre Beine. Sie stürzte zu Boden. Guy rollte sich über sie und blieb auf ihr liegen. Verzweifelt wand sie sich unter ihm.

"Herunter! Geht weg! Schert Euch zu den Bestien, die Euch hervorgebracht haben!"

"Das werde ich tun. Nachts. Und Ihr werdet mich zum König begleiten."

Immer noch versuchte sie sich von ihm zu befreien. Ein Lächeln ließ sein Gesicht freundlicher erscheinen. Ihre Bewegungen unter seinem Körper gefielen ihm. Diese junge Frau bewies Mut. Im Grunde genommen war sie viel zu schade für den König. Er könnte sie hier und jetzt nehmen!

"Wenn Ihr noch einmal zu fliehen versucht, töte ich Euch!"

"Etwas anderes wisst Ihr nicht zu sagen?", fuhr sie ihn an.

"Eure hübsche Hand mit dem funkelnden Siegelring bringe ich dem König als Beweis für Euren Tod!"

Jetzt hielt sie still. Mit großen, braunen Augen sah sie ihn an. "Einen schnellen Tod fürchte ich nicht! Wisst Ihr, ich habe bereits Schlimmeres als abgeschlagene Hände gesehen!"

Ja, sie wollte tapfer sein, doch Guy ließ sich nicht täuschen. Diesen Ausdruck in ihren Augen kannte er, hatte ihn häufig bemerkt, wenn er sich die Zeit genommen hatte hinzusehen. Heute hatte er Zeit, viel Zeit. Interessiert musterte er Kiarens Gesicht. Ihre Lippen waren sicherlich einmal voll gewesen, doch jetzt presste sie sie zusammen. Die winzige Falte zwischen ihren Brauen deutete an, dass sie für ihre Jugend zu ernst war. 

Vor allem ihre Augen zeigten die Berührung des Krieges. Diese Mischung aus Zorn, Schmerz und aussichtslosem Aufbäumen war die Frucht der Gewalt. Und dennoch wirkte Kiaren unerfahren und gutgläubig. Der junge Graf berührte mit den Fingerspitzen ihre Wangen, fuhr über die weiche Haut. Sogleich drehte sie den Kopf zur Seite. Endlich ließ er von ihr ab. Beide setzten sich an ihre vorherigen Plätze. Später sprach Kiaren leise:

"Was Ihr mit Eurer Braut macht ist schändlich. Das ist Menschenhandel! In Tiredachan ist das schon lange verboten."

Der junge Graf schwieg lange. Dabei blickte er Kiaren in die Augen. Sie wich ihm nicht aus. Schließlich nickte er: "Ihr habt Recht. Allerdings macht sie eine gute Partie."

Verächtlich lachte sie. "Ihr seid zu alt! Ihr könntet der Vater des Mädchens sein!"

Wieder nickte er. "Ja, beinahe." Warum hatte er ihr all das erzählt? Aus welchem Grund sprach er mit ihr? "Wieso habt Ihr mir das Leben gerettet?", fragte er schließlich.

"Vermutlich nur deshalb, weil schon zu viele Menschen getötet wurden." Wieder malte der Schmerz verfrühte Reife auf ihr Gesicht. "Nicht weil Ihr es verdient hättet. Ihr führt die Befehle des Königs aus. Dabei ist es Euch gleichgültig, ob sie gerechtfertigt sind!"

"In der Tat, so ist es", sprach der Graf. "Und jetzt haltet den Mund."

Lange Zeit saßen sie schweigend nebeneinander. Guy kämpfte mit dem Schlaf. Dann wieder musterte er die Herzogstochter. Ihre langen Wimpern gefielen ihm ebenso gut wie das schmale Gesicht, der sanfte Schwung des Halses und die geraden Schultern. Auch ihre dunkelbraunen Haare mit dem rötlichen Schimmer drängten danach, berührt zu werden. Plötzlich erhob er sich und ging zu ihr. Er zog seinen Dolch. 

"Was habt Ihr vor?", fragte sie. Zum ersten Mal erkannte er Furcht in ihren Zügen. Schon löste er den Gurt von ihren Handgelenken.

 "Ab heute seid Ihr tot", erwiderte er. Angstvoll zuckte sie zusammen.

Er zog ihr den goldenen Siegelring der Herzöge von Tiredachan von ihrem Finger und verließ die Nische. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass sie ihn beobachtete. Endlich fand er, wonach er suchte. Die Leiche einer Frau. Angewidert beugte er sich hinab, steckte den Ring an einen verwesten Finger, riss der Frau einen Teil ihres Rockes vom Leib und hieb ihr mit dem Dolch die Hand ab. Als er das stinkende Fleisch in das Tuch wickelte erschien Kiaren neben ihm.

"Beim Überfall auf die Stadt wurde ich getötet?", fragte sie verwirrt.

Nach einem langen Blick in ihre Augen lächelte er. "Jetzt sind wir quitt. Mein Leben gegen Eures."

Ohne ein weiteres Wort wandte er sich ab und verließ den Tempel. Abendröte überzog den Himmel. Niemand achtete auf den Grafen, als er allein die Straße zur Burg hinauf stieg.
 

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