Das kühle Licht des Mondes brach sich in allen Regenbogenfarben
in den glitzernden Schnüren des Regens, welche die staubige Erde in
ein sumpfähnliches Gebilde verwandelt hatte, und mitten in dieser
grotesken Zusammensetzung lag der Geruch von verwesendem Fleisch. Es war
die Nähe des Todes, die Kajetan spürte, die leise Vorahnung des
Grauens, das nach dem Sterben, dem Untergang, lag, und es lief ihn in kalten
Schauern den Rücken hinunter als er das größte Verbrechen
seines Leben betrachtete. Und es erfüllte ihn mit Schmerz.
Die Lanze ragte wie ein stählerner Stamm aus dem gepeinigten
Leib des Drachen, um den herum geborstene Äste und loses Blattwerk
lag. Blut mischte sich in kleinen, schlammigen Pfützen mit Schweiß
und dem stetig fallenden Himmelswasser. Das prächtige Tier war voller
Narben, eitrigen Wunden, die wie die Schlunde der Hölle klafften und
aus denen der leicht blau angelaufene Lebenssaft des edlen Tieres in wirren
Mustern drang. Die verquollenen, fast leblos erscheinenden Augen des Tieres,
gelbe Kristalle, in denen ein schlitzförmiger Abgrund wütete,
schwarz wie Pech und durch die sich die Risse schwarzer Äderchen gruben,
öffneten sich nur zaghaft und waren schlaff, die schuppenlose Haut
der Lider senkte sich nur manchmal und war fahl. In der Luft lag das leise
Röcheln des Tieres und zwischen seinen Zähnen, faulige, gelb
bis schwarze Stumpen, schwebte rauchiger Schwefel. Es atmete, doch nur
noch sehr schwach, und in dem Moment, in dem Kajetan den ängstlichen
Gesichtsausdruck in dem fremden Antlitz des Wesens sah, breitete sich in
ihm eine mitleidige Leere aus. Er ballte die Hände zu Fäusten,
schüttelte mehrere Male den Kopf und versuchte die Tränen zurückzuhalten.
Sie hatten es tatsächlich gewagt, gewagt, den vorerst letzten
ihrer Art zu töten!
Unsägliche Wut stieg in Josias auf und er presste verbissen
die Zähne aufeinander und in seinem Gesicht entstand eine steile Falte,
seine Augen glommen vor Hass und er legte seine schwere Hand auf sein Schwert,
betrachtete das Werk des Teufels einige Male, während er tief einatmete
und lange Zeit tat er nichts. Doch dann riss er sein Schwert mit einem
scharfen, sirrenden Geräusch aus der Scheide, Metall schepperte und
er hob die Klinge blitzend in die Höhe, stieß einen unerbittlichen
Kampfschrei aus, während er all seine Muskeln anspannte. "Bei Rohan,
ich werde alle Drachen rächen!" Die flache Scheibe des Mondes spiegelte
sich glatt und makellos auf der breiten Schneide seines Schwertes und sein
Ruf gellte noch lange in die Nacht hinaus. Er fühlte, wie sich unsichtbare
Augen auf seine hünenhafte Gestalt richteten und ein leichtes Frösteln
übermannte ihn. Innerlich jaulte er auf.
Verdammt! Ich bin noch nicht weit genug von der Burg weg!
Er zwang sich widerwillig seine Waffe wegzustecken und sah sich
kurz um, lauschte in die Nacht. Aber außer dem regelmäßigen
Schnaufen des Drachen hörte er nichts... oder doch? Wieder blickte
er sich um, besah sich den verwüsteten Waldboden und den geschundenen
Leib des Drachen und bemerkte dabei einen Mann, der wenige Yard weiter
an einem Baum lehnte. Er war schwer verwundet - kaum schlimmer als der
Drache - und sein Körper lag zwischen hartem Wurzelwerk und den weichen
Blättern. Zweige bedeckten den größten Teil seines Leibes
und an einem starken Ast über ihm rann ein dünner Faden von Blut
aus einem feuchten Kleiderfetzen.
Mit schnellen Schritten trat der Truppführer zu dem Gefallenen
heran und kniete sich dann hin. Entgeistert sah er in das Gesicht des Mannes
und er erschrak, als er bemerkte, dass es ein vertrautes Gesicht war. "Twron!",
flüsterte er mit bebender Stimme. "Was..." Er kam nicht zu Ende, denn
Orkin unterbrach ihn, indem er den mit Blut und Schmutz bedeckten Kopf
mit schlaksigen Bewegungen zur Seite warf und die verkrusteten Augen in
die lästige Nässe des Wolkenbruchs schaute.
"Ein... Blitz..." Seine Stimme hob sich mit dem zweiten Wort und
senkte sich sogleich wieder, als der Schmerz die Grenze des Seins durchschlug,
stattdessen schrie er unwirklich schrill und sackte dann nach vorn zusammen.
Seinem Mund entflohen seltsame Wort, die Kajetan nicht verstand, Twron
sank in die Welt der Schatten über.
"Flugreiter!", scheuchte der Feldherr ihn auf und schüttelte
an Orkins Schulter. Dessen Kopf schien wie der einer Marionette einfach
lose zu sein und klappte wieder nach hinten, traf an den feuchten Stamm.
"Was ist geschehen?" Die herrschende Dringlichkeit in seiner Stimme schien
von dem fast Bewusstlosen erst jetzt registriert worden zu sein und die
verquollenen Lider öffneten sich etwas, die Augen waren trübe
und die Wangenknochen von blauen Flecken und Kratzspuren übersät.
Wieder kamen diese unverständlichen Laute, und das Gefühl,
dass, wenn er nichts aus dem Drachenreiter herausbrachte, die Welt zu Bruch
gehen würde. "Gleißendes Licht... in der Helligkeit... und...
ein Schemen... Die Dämonen..." Er brach ab und die Flüssigkeit
seines Lebens quoll in einem dicken, dunkelroten Strom aus seinem Mund.
Er starb... Und noch während ihm seine Seele entzogen wurde, wurde
seine Liebe zu den geflügelten Geschöpfen laut: "Josias!" Seine
Stimme war plötzlich fest und seine Hand griff stählern und fest
und so schnell, dass der Angesprochene es fast gar nicht mitbekommen hätte,
an seinen Kragen und zog ihn zu sich herab. "Erlöse... den Drachen!
Bitte... Erlöse Kronax!" Dann sank die Hand plötzlich schlaff
herab, löste sich von dem groben, schwarzen Leder seines Schutzes
und auch die Muskeln entspannten sich, aber der dämonische Gesichtausdruck
blieb, Augen, wie blind, sahen aus dunklen Höhlen heraus und alles
Leben wich aus ihm. Fast mit Tränen in den Augen drückte Kajetan
das schlanke Schwert des Reiters in dessen Hände und legte wie zur
Bestätigung seine eigenen Groben um die Schlanken. Etwas geschah,
was nicht beabsichtigt war. Die Seele wanderte zu Melwiora und den Schatten,
der Fluch des Seelenraubes und der Unsterblichkeit wirkte noch immer.
Kajetan erinnerte sich. Seine Finger spürten, was in dem toten
Körper vor sich ging, der Entzug war unübersehbar und selbst
noch im Tod stand der Junge Qualen aus.
Jeder Tote wird zu einem der ihren...
Das Buch von Timotheus. Er hatte es gelesen und war sich jetzt sicher,
was mit den Sterbenden geschah. "Ich werde nicht sterben!", sagte er plötzlich,
hart und kalt, das Gesicht in die Ferne nach Osten gerichtet, als könne
er damit dem dunklen Turm seinen Hass entgegenschreien. "Niemals!" Er klang
seltsam ruhig, und das erschreckte ihn. War er so unbeeindruckt von einem
Seelenklau? Hatte es ihm nichts ausgemacht, dass einer gestorben war, den
er nicht nur vom Sehen - denn Twron war ein Bote gewesen, der Bote
- kannte? Oder wollte er einfach nur Stärke gegenüber der Eisfrau,
Sowem Dun, beweisen? Die Dunkle hatte viele Namen und fast in jeder Geschichte
tauchte ihr Name auf. Doch was hatte sie zurückgefordert?
Erschrocken fuhr er wieder in die Wirklichkeit zurück, als
ihn die schrillen Schreie mehrerer Dämonen vernahm, die sich von den
Ebenen her durch Gebüsch und Geäst schlugen. Er wusste, dass
sie nah waren, roch ihren teuflischen Gestank. Wie in Gewohnheit legte
sich seine Hand auf den Knauf seines Schwertes. Nein, er würde nicht
kampflos aufgeben. Er hatte Orkin sein Wort gegeben, den Drachen zu erlösen.
Aber das konnte nicht geschehen, wenn sich die gierigen Klauen und Mäuler
der Feinde in das Fleisch des Wesens bohrten. Nein, er sollte durch einen
sauberen Schwertstich ins Herz sterben, ohne Schmerzen.
Breitbeinig stellte er sich vor das rotgeschuppte Wesen und hielt
drohend seine Waffe in beiden Händen. Es war dumm und aussichtslos,
das erkannte er jetzt, als sich Schweiß zwischen seinen klammen Fingern
sammelte und der in Leder eingebundene Griff rutschig und schmierig wurde.
Und vielleicht würde er es nicht überleben, oder wenigstens sehr
schwer verwundet werden, doch die Genugtuung, einem Freund geholfen zu
haben, würde bleiben. Er würde alles tun, um nicht in die Fänge
der Eisfrau zu gelangen!
Die Akzeptanz des baldigen Todes wuchs in ihm, während der
Regen stetig fiel und der Schlamm unter seinen schweren, eisenbeschlagenen
Stiefeln saugte und ihn zu sich hinabziehen wollte. Nur schwer würde
er seine Klinge zwischen die Feinde führen können, der weiche
Boden würde unter ihm wegrutschen, wenn er zu viel Kraft ins einen
Schlag legen würde. Es würde ihm also nur wenig Zeit bleiben,
um sich nach einem Sturz wieder aufzurappeln. Zu wenig Zeit. Er lächelte
und er fühlte sich glücklich. Wenn er starb, dann jetzt und hier,
denn jetzt war der Glauben an die Freiheit in ihm gestärkt worden.
Riagoth würde sich über jeden ihrer gefallenen Kämpfer aufregen,
und wenn er so lange kämpfen, bis sein eigener Körper löchrig,
zerstoßen und völlig zerrissen war, würde selbst die dunkle
Frau ihn nicht mehr gebrauchen können...
Wieder erklang dieses bekennende Heulen und Kreischen.
Wandler!
Das Gebüsch vor ihm zerbarst wie Papier, durch das man mit
aller Kraft eine Faust geschlagen hatte, und er sah, wie die düstere
Wand des Todes auf ihn zuwalzte...
Der alte Mann saß still allein im Schatten, und seine dürren
Finger bewegten sich wie vertrocknetes Laub in einem zarten Wind. Das dämmrige
Licht drang durch ein Fenster an der Westseite der Wand, goldenes Feuer
der Abendsonne drang hindurch und tauchte den engen Raum in wärmendes
Zwielicht. Die Kammer, in der er sich verbarg, war grob gemauert und Staub
lag als eine dünne Schicht über allem, färbte die hölzernen
Dielen leicht grau, während die Pollen des Frühlings ihren weichen
Tanz in den Strahlen aufführten. Draußen rauschte der Wind in
den Bäumen, strich wie eine sanfte Hand über Felder und weite,
hochgewachsene Grasweiden, brachte den Geruch von Honig und süßer
Feuchtigkeit mit.
Das Glitzern des Tages versank, verbarg sich in den tiefen Falten
des abendlichen Horizontes und Ausbrüche und Strahlen von flüssigem
Gold, gefasst in einen kreisrunden pulsierenden Ball, wichen einer stetigen
Kaskade aus drohenden Schatten und bedrückender Dunkelheit. Hügel,
gefärbt von gleißendem Licht, bildeten dunkle Umrisse vor der
viel zu hellen Lichtquelle und das kühle Graurosa der Nacht sank über
sie hinweg. Schatten standen an Hängen und auf Tälern, sich verzweigende
Äste von Bäumen wiederspiegelnd, die bereits zwischen dem Feuer
des Himmels verschwunden waren. Die Düfte der Sommernacht hielten
Einhalt in den Ländern und breiteten sich auf luftigen Wogen in allen
Ecken und Vierteln aus. Die Wärme des Tages verblasste und gab eisiger
Kälte und heulendem Wind die Oberhand, die nun wie von einer unsichtbaren
Hand gesteuert über die Wälder und Felder brausten. Roggen, Hafer
und Weizen wurde sanft in ihren Armen gewiegt und Bäume begannen zu
rauschen, die Schatten sich langsam zu verdichten und die vorherige Blässe
des Mondes begann aufzuklären, und nun erhellte mattes Silberlicht
die vertraute Umgebung. Das helle Blau hatte sich in ein tiefes Schwarz
gewandet, als der Mann die Hand von dem rauen Felsen nahm, und den Blick
abwendete vor dem, was sich außerhalb seines Gefängnisses abspielte.
Die Tür, die zu seinem Zimmer führte, war nur schmal,
das Holz bis auf wenige Stellen verrottet und deswegen an vielen Stellen
mit Eisen verstärkt. Der Türrahmen selbst war nicht das Problem,
die Scharniere waren rostig, Bindungsmaterial bröckelte zwischen den
Steinquadern heraus und so gab es auch viele kleine Spalte, durch die das
Licht auch hinaus in den Gang fallen konnte.
Der Mann, er, hatte den noch nie betreten, so weit er sich erinnern
konnte, und wenn er hinaussehen wollte, erkannte er nichts weiter als feuchtes,
schwarzes Gestein, kleine, silbrig glänzende Wasserpfützen in
Felsmulden und einen Stollen, der sich noch weit bis hinten erstrecken
musste, aber durch die markelose Schwärze, die dort herrschte, war
nichts zu sehen. Nur wenn ein Wächter kam, glomm in der Ferne ein
Öllämpchen auf und lederne Stiefel schabten auf dem Stein.
Jetzt befühlte er mit den Fingern den Stoff seines Bettes,
auf dem er platzgenommen hatte. Jener war seidig und weich und man konnte
sich hineinkuscheln und würde dann wahrscheinlich nie mehr aufwachen...
Und so hatte er es unterlassen, hatte sich nachts vor dem harten Bettkasten
auf dem kalten Boden im Schatten zusammengekauert und war mutlos eingeschlafen.
Er hatte keine Lust, sich in den sonnenerwärmten Teil des Raumes zu
legen, er empfand es als zu allein; er konnte sich dort nicht geborgen
fühlen. Das Bett und die Mauer gleich daneben, leisteten ihm derweil
bei seiner nächtlichen Ruhe Gesellschaft, und das war es, was er brauchte.
Er setzte sich auf den Boden hinunter; erhob seine leichte, dürre
Gestalt und ließ sie auf den Stein sinken. Ganz nah spürte er
die Kälte an seinen alten Knochen und er lehnte sich gemächlich
zurück, legte den Kopf in die Ecke zwischen Bettkasten und Mauerwerk,
und drehte ihn dann einige Male prüfend hin und her. Es waren dünne,
silberweiße Fäden, zerzaust und viel zu lang, die er spürte,
seine Haare, die durch den Druck seines fast kahlen Schädels gegen
das Felsgestein gescheuert wurden, karg und vereinzelt. Seine Haut war
zerfurcht, von Narben übersäht und faltig, glich bis auf wenigem
gegerbtem Leder, das nach langen Tagen der Sonne und des Windes verwittert
war.
Der Mann war von der Sonne braungebrannt, doch dieser Eindruck ließ
langsam nach, die Farbe verblasste und die dunklen Ringe unter und duzende
von kleinen Fältchen um seine Augen wurden langsam aber sicher wieder
sichtbar. Seine Augen strahlten in einem hellen, geheimnisvollem Blau,
doch sie schienen bereits bar allen Lebens, waren trüb und milchig
und überdacht von buschigen, schneeweißen Brauen, an einigen
Stellen blutverkrustet. Sein Kinn war nun beinahe bartlos - irgendwann
hatte er ihn ausgerissen, nur um etwas zu spüren - und voller Beulen
und Narben, und sein Mund war schmal, die Lippen rissig und dünn,
vertrocknetes Blut klebte an seinem Mundwinkel.
Trocken war seine Kehle und durstig machte ihn erst recht der in
tiefem Silberweiß glänzende Fluss vor den hohen Zinnen des Bollwerks.
Hunger hatte er schon lange nicht mehr und seine Gestalt glich einer zerrupften
Vogelscheuche aus Reisig, trug nur die abgewetzte Lederkleidung in den
Farben des tiefsten Dickichts des Waldes, die er schon bei seiner Gefangennahme
getragen hatte und war so zerbrechlich, wie es eine Scheibe aus hauchdünnem
Glas war. Einzig und allein der Tod mochte wissen, wann er ging. Seid langem
schon hatte er das Gefühl, dass sich etwas Schwarzes, Leeres in ihm
ausbreitete und er hatte schon viele Male in Gedanken mit ihm darüber
gesprochen, hatte jedoch immer das gleiche gesehen.
Er zog die Beine an und schlang die Arme um sie, der Schatten und
die Dunkelheit verdichtete sich und er konnte regelrecht spüren, wenn
nicht sogar sehen, dass die Hitze des Tages in leichtem dampfendem Nebel
aus den ebenholzschwarzen Brettern des Bodens glitt. Auch sie waren morsch
und alt und man konnte sie bedrohlich knacken hören, wenn man auf
ihnen ging und feiner Staub musste dann in den Raum unter ihm rieseln.
Er fragte sich immer wieder, für welchen Zweck die Kammer unter ihm
benutzt wurde, oder sollte sie etwa in Vergessenheit geraten? War es einfach
nur ein bodenloser Abgrund, der darauf wartete, dass die obere Schicht
barst und er hinabfiel, direkt in den Schlund der Hölle? Nein, er
schüttelte vorsichtig den Kopf auf dem dünnen Hals und spürte
seine letzten paar Haare, wusste, dass es keine Hölle gab. Und auch
keinen Himmel. Schatten regierten das Leben nach dem Tod, ruhelose Geister,
die einem in Träumen erschienen und nach einem riefen, ihre Schreie
endlos hoffend und leidvoll verzerrt...
Schabende Stiefel von draußen weckten ihn aus seinem Traum
und er öffnete weit die Augen, suchend nach dem bekannten Licht der
Öllampe.
Doch das Schaben ging vorüber, wie das Licht der Öllampe,
und die trostlose Dunkelheit blieb, schaffte aus dem beinahe behaglichen
Raum ein Gefängnis, kalt und leblos. Dem Mann war kalt, er begann
zu frösteln, sein Atem bildete neblige Wolken über ihm, und aus
dem Eis und dem Schatten gegenüber schien sich eine Gestalt zu formen,
ein Umriss noch, doch schnell größer werdend, als wäre
ein unsichtbarer Teil der Wand hervorgehoben und gezeichnet von Körperumrissen.
Der Schatten!, heulte es in ihm auf und sein dürrer
Körper begann sich zu bewegen, seine Haut schabte aneinander wie vertrocknete
Blätter und die kleinen, silbergrauen Härchen auf seinem Arm
begannen sich zu kräuseln. Er stand vorsichtig auf und ein lauer Luftzug
wehte ihm entgegen, er würde das Paradies betreten, erneut, und der
Schatten würde ihm alles zeigen. Hinter seinen steinernen Zügen
befand sich ein jungenhaftes Lächeln, das zu einem wilden Lachen überging,
von dem auf der äußeren Schicht nichts zu sehen war. Der in
schwarzes Tuch gewandete Schemen blieb, der Schatten in der Ecke zwischen
Wand und schmaler Tür blieb, das gestaltlose Wesen bewegte sich nicht,
wartete, doch die zerschlissenen Umrisse seines Mantels begannen schon
aus der Welt der Dunkelheit hervorzuleuchten...
Vorsichtig legte er sich auf seine Matratze, zog die seidige, meergrüne
Decke über seinen Körper und spürte das Gewicht auf seinen
Knochen wie Blei, und der Schmerz pochte in den Wunden und schartigen Knochen.
Das Feuer der Erwartung und Erbittung loderte, seine Qualen bürgten
für das, was gleich kommen mochte, und so ließ er es geschehen.
Es war wie eine sanfte Droge, der Genuss, die Zukunft zu erblicken, zu
sehen, was in der Welt vorgehen würde. Und was für eine Ironie
war es noch dazu, dass er jene nie mehr betreten würde!
Ich werde sie töten! Alle! Die Visionen begannen und
noch bevor er seine verkrampften Augenlider schloss, sah er, wie sich der
treibende Vorhang aus Schatten und Dunkelheit um ihn herum zuzog, wie sich
die Decke der Düsternis über ihn legte und die Umrisse einer
pechschwarzen Gestalt in weißen, hell gleißenden Lichtfäden
zum Vorschein kamen.
Das Wesen war in einen langen, schwarzen Kapuzenmantel gehüllt,
zerfetzt und an einigen Stellen zerschlissen, rußgeschwärzte,
dort, wo sich nacktes, fiebrigheißes Fleisch befand. Dünn und
knochig und von einem schwarzen Netz überwebt waren die zu Klauen
gekrümmten, langen Finger mit scharfen Klauen an den Spitzen, und
dort unter der weiten Kapuze eröffnete sich weite Leere, als blicke
man in einen tiefen Tunnel, an dessen Ende kein Licht ist. Die Kreatur
ging gebückt und ihre säuselnde Stimme war von Schmerzensschreien
und dem lautstarken Heulen von Wind begleitet. "Erkenne..." Es war ein
tiefes Raunen, ein Befehl, der aus den Tiefen seines Gesichtes kam und
in dem Kopf des Mannes zu vibrieren schien. Der Alte blieb regungslos,
doch sein Herz begann zu klopfen und seine Lippen bewegten sich, als er
die Worte des Dunklen mit leiser, bebender Stimme nachflüsterte...
"Erkenne..."
"Höre...", raunte der Schatten und aus seiner wohltönenden,
jedoch beängstigend verhallenden Stimme wurde ein schriller Schrei,
in dem mehr als nur Leid mitschwang: Begierde, Hass, Erregung, Lust, Erfüllung...
Tod. Der Ruf war gellend und zog sich lang, und der Alte biss die Zähne
fest zusammen, sog die Luft scharf und kühl durch sie hinein. Sein
rasendes Herz schien gleich von innen seinen Brustkorb zu zerschmettern,
als er nachzusprechen versuchte:
"Höre..." Sein Leib zuckte, geplagt von Krämpfen, und
eine unbeschreibliche Last in seinem Kopf zerrte sein Denken hinab, scharfe
Klauen hatten sich in sein Hirn gebohrt und zogen seinen Kopf mit den kargen,
dünnen Haaren tiefer hinab, kämpften um den Besitz...
"Rieche..." Das Geräusch von Luft, die scharf durch die
Nase gesogen wurde, gellte durch die Schwärze der Nacht, und Böen
eisigen Windes streiften sein schweißnasses Gesicht, sodass er stark
zitterte und der Frost sich in seine Fingerspitzen zu fressen begann, bis
sich sein ganzer Unterarm taub vor Kälte anfühlte. Er hörte
das Ein- und Ausatmen des Schatten deutlich und fühlte, wie die Luft
weiter durch dessen Körper strömte und in einem Gemisch aus frischer
und fauliger Luft endete.
"Rieche...", schaffte er gerade noch herauszupressen, bevor er
vor Schmerz und Kälte aufgeschrieen hätte, und klammerte seine
Finger fest an den Saum der Decke, grub sie tief hinein und versuchte sie
nie wieder loszulassen, ließ sie starr werden.
"Und sieh..." Aus den dunklen Gewändern leuchtete plötzlich
etwas auf, zwei rote Funken, wie glühende Kohlen in der Nacht, und
sie strahlten das Feuer und die Vernichtung aus... Und der dürre,
alte Mann erkannte zu spät, dass es nicht der Schatten, sondern der
Tod gewesen war, der ihn zu so später Stunde noch ereilt hatte.
Er riss die Augen schlagartig auf, die Pupillen waren seltsam gebleicht,
schienen rissig und auf seinem Gesicht lag das Wissen über grausame
Verdammnis. So genau hatte sich der Schatten noch nie offenbart... Er würde
sie töten, alle, seine ganze Familie, er, der Mann im schwarzen Gewand,
und seine Zeit war gekommen. Nur stellte sich noch die Frage, wann er entschlafen
sollte. Würde er diese Nacht noch überleben? Würde er einen
weiteren Sonnenaufgang bewundern können? Würde die Düsternis
des Nichts ihm erlauben, weitere Stunden hier zu verbringen? Und wenn ja,
wie viele? Waren es Tage? Oder etwa nur Minuten, Sekunden...?
Er schluckte und auf seiner Zunge lag ein schalschmeckender, leicht
fauliger Belag, der seine Kehle und Lippen austrocknen ließ. Wieder
hatte er Durst, die Leere in ihm schien zu wachsen. Seine hochgewachsene,
aber kümmerlich dürre Gestalt mit den wirren Büscheln weißen
Haares überall war gebrochen und wie mit einem mal schwerer zu bewegen.
Plötzlich war die Decke und die Matratze nicht mehr aus weichem
Stoff, sondern aus drückendem Stein. Er fühlte sich, als hätte
er Jahrhunderte durchwandert, alles in einer Sekunde, und unglaubliche
Schwäche wütete in ihm, marterte in seinen Muskeln und ließ
sie schrumpfen. Etwas fehlte ihm, das spürte er, als wäre ihm
etwas entzogen.
Und schlagartig wusste er, was es war.
Es war so einfach, wie eine Feder vom Boden aufzuklauben, sie zu
heben und zu betrachten. Nicht die Natur und das freie Leben draußen
in den Wäldern waren es, die ihm fehlten, auch nicht Nahrung oder
ähnliches...
Es war seine Magie.
Magie, die durch Jahrtausende hinweg fortbestanden war und ihm ein
Leben von unnatürlich langer Dauer bereitet hatte, Magie, die ihm
viele Dinge erleichtert hatte. Er vermisste das weißblaue Glimmen
an seinen Fingerspitzen, unvergesslich war die Macht über Geist und
Körper des anderen, die Macht der Zerstörung. Aber auch die der
Wiedergeburt, denn jeder Tod bedeutete automatisch neues Leben, und Leben
zu schenken war es, was ihm so viel Freude bereitet hatte, die Gewissheit,
auch etwas Gutes getan zu haben im Leben... Dieses Feuer war nun in ihm
erloschen, genommen von ihm, dem schwarzgewandeten Mann mit dem Schwert...
Er betrachtete mit schlaffen Blicken seine Hände, faltig, knochig
und vernarbt waren sie, die Nägel an den Rändern verschmutzt
und oftmals gespalten. Es waren Hände, die fest anpacken konnten,
Hände, die weich und zärtlich sein konnten. Aber vor allem waren
es Hände, denen etwas genommen worden war, denn einst verstanden sie
es mit Zauber umzugehen. Und nun war alles zunichte, das Leben ging zu
Ende, sein Erbe würde wiederum Erbe für seine Nachkommen sein,
seine Erben. Sie würden es lernen müssen, mit einer fremden Kraft
umzugehen, die sie anfangs nicht verstehen würden, doch der dunkle
Onkel wird ihnen dabei behilflich sein, er wusste schon längst, was
es mit der Hexerei auf sich hatte. Hart und einsilbig seine Antworten,
kalt und beherrscht sein Auftreten, unnatürlich stark seine mentale
Kraft, weise sein Rat, und zärtlich seine Hand. Der dunkle Onkel wird
es wissen... Thronn...
Nun wich das Leben aus ihm. Nicht sofort, sondern langsam und bestätig,
der Sog der Schwärze hüllte ihn ein und seine Augen umwölkten
sich in den Farben des Todes, wie Spiegel, Tore in ein anderes Reich, in
ein Reich, das von der Kälte der Nacht geprägt war.
Die Farbe seines Gesichtes verblasste schon, die schlaffen Züge
ermatteten völlig, und übrig blieb einzig und allein eine leblose
Hülle, in deren Augen sich die Angst vor dem Kommenden eingenistet
hatte... Ja, er wird kommen, der dunkle Mann mit dem Schwert, sie zu vernichten
ersuchen. Sein Zeichen wird der Schädel sein, Schädelträger
wird er entsenden und die Erben werden fliehen. Und ihre Flucht wird unendlich
sein...
Ich werde sie finden und hinabstürzen in das Reich der Verdammnis!
Doch er starb nicht.
Das Unmöglichste, was er sich vorstellen konnte, war passiert:
er war nicht gestorben, dennoch war er bar allen Lebens. Er fragte sich,
wie das kommen konnte. Was war mit ihm geschehen? Er war dem Tod nicht
abgeneigt, sein Alter war hoch und er wollte endlich die Augen schließen,
er wollte endlich ruhen.
Aber mehr geschah nicht.
Er war auf einer unerklärlichen Zwischenebene gefangen, die
er sich nicht im geringsten hätte vorstellen können. Nicht einmal
gedacht hatte er an so etwas. Jedoch war es geschehen und es war ein Gefühl,
was er nie gekannt hatte. Es war, als hätte er die Augen geschlossen
und würde in eine unendliche Schwärze blicken, und wenn er seinen
Körper zu bewegen versuchte, gehorchte nur eine vage Ahnung. In seinem
Geiste entstand das Bild, in dem ein alter Mann den Arm hob oder die Lider
öffnete. Es waren verblichene Umrisse vor einer tiefen Dunkelheit
und die Farben waren verwischt, wie als hätte jemand Wasser über
ein Ölgemälde gegossen. Trostlosigkeit nagte an seinem Herz und
er schämte sich, je nur eine Hoffnung an den Himmel oder die Hölle
verschwendet zu haben, sondern gestand sich ein, dass der Tod wirklich
nur aus Schatten bestand und dass er jetzt auch nur noch ein Schatten war.
Was für eine Ironie..., dachte er und wäre er noch bei vollem
Bewusstsein gewesen, hätte er gelächelt. Und so würde der
Schwarze sogar noch im Tod über ihn Macht haben.
Eisige Krallen hüllten ihn ein, bargen ihn sicher in den Händen,
doch er fühlte sich alles andere als geborgen. Er spürte das
Eis durch den Stoff seiner dünnen Lederkleidung, wie als wäre
es auf seiner Haut. Und er konnte sich ja nicht rühren!
Verzweiflung kam in ihm auf und verschwand in dem gleichen Moment,
in welchem sie gekommen war, verblasste einfach, als sie zum Greifen nah
war, löste sich auf, als verzweifelte Finger nach ihr griffen.
Tränen rangen die eingefallenen Wangen des Mannes herunter
und er roch das Salz auf seiner Haut. Wenigstens etwas, was er fühlen
konnte, überlegte er unsicher und fühlte sich allein. Die Kralle
redete ihm ein, er wäre hier sicher, man könne ihm nichts tun,
dies wäre sein Zuhause. Aber kaum hatte dieses düstre Wesen die
Worte ausgesprochen, wusste der Alte, dass es Lügen waren. Er versuchte
sich zu wehren, doch die Klaue sträubte sich und hielt ihn nur noch
fester, dunkle Magie webte ihre Bänder um ihn...
Sein Körper war schmerzerfüllt und er selbst so müde,
dass er fast auf der Stelle zusammengebrochen wäre, hätte der
Schatten ihn nicht gehalten. In seinem Kopf pochte es, Fluten von feindlicher
Magie durchstoben seinen Körper, durchtränkten seine Arme und
Gelenke und jagten den Schmerz bis in sein Hirn. Er wollte sich zerreißen,
mit einem Mal alles von sich werfen und schlaff zusammensinken, doch sein
unheimlicher Kerkermeister hielt ihn, wie er ihn all die Jahre in der kleinen
Kammer gehalten hatte. Nun wusste er, was mit jenen passierte, die ausbrechen
wollten. Zwar hatte er es geschafft, war jedoch dafür in ein weiteres
Gefängnis gelangt, ein Gefängnis, das noch schrecklicher war
als alles, was er je durchgemacht hatte.
Das Blut stieg ihm in den Kopf und pulsierte dort, als er das Haupt
kraftlos senkte. Fest biss er die Zähen zusammen, spannte die Wangenknochen
und überhaupt alle Muskeln in seinem Körper an, als könne
ihn allein das von seiner schrecklichen Last befreien.
Ich bin alt. Willst du mich wirklich noch quälen?
Was hast du davon?
Wie lange willst du es noch tun?
Hätte er gekonnt, hätte er geschrieen als unerträgliche
Wut in ihm aufstieg.
Töte mich!
Töte mich jetzt!
Die Antwort kam schneller und war überraschend realer, als
er es sich hatte träumen lassen. Die Stimme war tief und gefasst,
zeugte von großer Selbstsicherheit und verklang mit einem leisen
Anflug von Spott. "Nein. Ha, ha, ha, ha…" Das Gelächter war dumpf
und hohl und das Gesicht des Sprechers lag im Schatten. Der alte Mann erschauderte,
als er den Kerkermeister plötzlich wie aus verschlafenen Augen anstarrte.
"Du hast mich nicht erwartet, alter Mann. Ha, ha, ha…" Wieder verklang
sein Lachen dumpf und hohl, wie der Hauch eines Windes.
Der Alte öffnete die Augen weit, bis sie beinahe gelb hervorstanden
und die kleinen Falten vertieften sich. "Zolle einem weisen, vom Leben
geprüften Mann Respekt, Ramhad!"
© Benedikt
Julian Behnke
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