Die legendären Krieger von Rohan von Benedikt Julian Behnke
1. Teil: Der Herr der Winde / 2. Buch
Der schwarze Laurus 1 - Die Nacht

Schatten bohrten sich wie scharfkantige Felskeile in den grauenden Nebel, formlose Gestalten, die zu einem Ganzen zu werden versuchten, doch all ihre Bemühungen waren vergeblich, die dichte Wand aus Wolken und Dunst ließ sie nicht gewähren. Und so fielen ihre Seelen zurück, ein Regen aus kleinen Eiskristallen ging über das Land her, verkrüppelte Äste und Bäume ragten wie groteske Wesen aus der Dunkelheit auf. Ein Mädchen, nein, eine Frau von zierlicher, wunderschöner Gestalt stand da, gewandet in einen Umhang aus schwarzen Leinen und auf ihren Schultern ruhten Polster aus Schnee. "Ein Traum", sagte die Frau und ihre Stimme war betörend und bittersüß. "Alter Mann. Dein Neffe wird sein Ziel nie erreichen. Schon deshalb nicht, weil der Truppführer sich ganz hat einnehmen lassen. Ohne Widerstreben ist er meinem Rufe gefolgt und die Laterne musste nicht lange leuchten. Er ist bereits auf dem Weg in den Süden und Trishol verschwindet mehr und mehr aus seinen Gedanken."
"Nein..." Es war der alte Mann, der geantwortet hatte. Er saß da in der Ecke, dort, wo ihn die Düsternis wie eine wohlige Decke umhüllte, und hatte die Arme zum Schutze um sich gelegt. Seine Züge waren verwittert und seine Augen glasig vom vielen Weinen, die Schneeflocken schmolzen sofort, wenn sie seine Haut berührten.
"Komm zu mir! Schließ dich mir an!", drängte die junge Frau und ihre Gesten waren ruhig und auffordernd, wie die einer liebenden Mutter, die sich um ihr Kind kümmern wollte. "Zeige mir die Macht des Schattens! Lass mich teilhaben an seiner Magie..."
"Nein!", schrie der Mann und seine Stimme wandelte sich zu einem Schluchzen, das tief aus seiner Kehle kam und seine Brust hob und senkte sich mit bizarrer Schnelligkeit und Kraft... "Niemals werde ich deiner Macht verfallen! Nie wirst du Rone für dich gewinnen...!"
"Schweig!" Ihre Stimme war plötzlich so laut, schneidend und hallend, dass das Bild seiner Phantasie mit einem mal abbrach und tiefste Schwärze herrschte, die ihn ins Geschehen zurückbrachten...
Aus dem Kamin verschwand langsam aber sicher die Helligkeit, die Fugen und Ritze der Steine wurden in tiefblaue Schatten getaucht, als die Sonne über ihnen vorübergezogen war und Rone erwachte. Es war, als ob scharfe Katzenklauen in die wattigen Schichten seines Schlafes fahren würden und ihn aus seinem Trauma reißen. Die wischenden Farben klärten sich vorsichtig und die Schemen und dunklen Umrisse nahmen Gestalt an.
Er blinzelte.
Mit dem letzten Wimpernschlag verschwand auch das letzte Ungenaue in seinem Sichtfeld und er sah Männer und Frauen, gekleidet in die Farben des herbstlichen Waldes, die Bogen, Köcher und Pfeile darin trugen. Sie standen da wie Marionetten, denn ihre Bewegungen waren abrupt und meist unberechnet. Nein, diese Menschen wussten nicht, wie man kämpfte. Vermutlich hatte ihnen Arth beigebracht, wie sie mit den Waffen umgehen sollten, doch war dazu sicher nicht viel Zeit geblieben.
Ein rauer, beißender Geruch stieg ihm in die Nase, es war der Geruch von Rauch und Schwefel, der von einem der zahlreichen Lagerfeuer herwehte, welche die kalten Felsen erwärmten und ihnen einen gemütlichen Schimmer gab. Tatsächlich spürte Rone keine Kälte, nur das ungute Gefühl von etwas beobachtet zu werden. Vorsichtig drehte er den Kopf unter seiner Decke aus Kuhhäuten herum und sah in das Gesicht des stillen Hochländers, der sich ganz in die Schatten des Raumes zurückgezogen hatte. Dario stand da, bewegungslos, und hatte alles im Auge. Er brauchte nicht einmal den Kopf zu wenden, um zu sehen, was vor sich ging. Er sah einfach nur alles und sein Gesicht war einer zu Stein erstarrten Maske gleich, Schweiß glänzte, angestrahlt von den vielen Feuern, auf seiner Haut. Er hatte sich gegen die von Spinnweben verhangene Mauerwand gelehnt und nahm die Atmosphäre in sich auf, während sein Haupt leicht nach unten geneigt war. 
Über ihnen an der Decke mischte sich die kalte Luft des Abends mit der heizenden Schwüle der Halle, und bald darauf trat Thronn zu ihm heran. "Geht es dir besser?"
Rone sah ihn an, betrachtete die hochgewachsene Gestalt einen Augenblick lang und nickte dann. Er sah seinen Onkel das erste mal so, wie er ihn noch nie gesehen hatte, zärtlich und bekümmert. Sogar das vertraute Schimmern war in seine Augen zurückgekehrt. Er wirkte nach diesen Minuten der Ruhe irgendwie menschlicher, die Magie hatte seinen Körper freigegeben, nachdem er sich erneut Kraft durch Schlaf gegönnt hatte. "Die Magie...", versuchte der junge Elf erneut mit dem Grenzländer ins Gespräch zu kommen und legte den Kopf schief, versuchte ihn verständnisvoll anzublicken. "Ist sie das, für was wir sie halten? Ist sie Teil der körperlichen Vollkommenheit?"
"Die Magie ist vergänglich, Rone, so vergänglich wie das Leben." Er bewegte sich nicht, nur sein Mund öffnete und schloss sich, brachte Worte hervor, deren Bedeutung wie im Nebel verschwand. Der Rest war wieder kalt und tot geworden, so tot, wie es lange nicht mehr war. "Es ist eine Bürde sie zu beherrschen und jedes Mal, wenn du sie einsetzt, kommst du der Unterwelt ein Stück näher. Es ist wie ein Gesetz, das man nicht aussprechen darf. Und ich verstoße dagegen, indem ich dir davon erzähle." Sein Blick, regungslos. Seine Gestalt, groß und schwarz und unergründlich sein Denken. Mit dem Eintritt in den Rat der Druiden war er von der Welt der Normalen entglitten und seine Lösungen auf die Rätsel der Natur waren so, wie sie sein musste. Er tat das, was er für alle als das Beste empfand, er ließ viele sterben, um Einen zu retten, der alle rettet. Es war das Denken derer, welche die Magie besaßen, die Zauberkraft, die nur manchen gegeben ist und die gefährlich und nützlich zugleich ist.
Rone starrte den Dunklen an. Thronn hatte sich noch nie so deutlich zu dem geäußert, was er war und warum es so war. Er hatte nach Antwort verlangt und er hatte sie bekommen. Schon viele Male hatte er versucht, das Geheimnis zu entlocken, doch der Hexer hatte nie nachgegeben. Doch jetzt, als es kurz vor dem Untergang war, begann sich der undurchsichtige Charakter des anderen zu lichten und sich auf gewisse Weise zu offenbaren. "Warum...?"
"Weil es an der Zeit ist, Rone." Der dunkle Onkel trat näher an ihn heran. "Es ist Zeit, dir alles zu offenbaren." Er starrte ihn eine Weile lang verständnisvoll an, prägte sich den ungläubigen, erschrockenen Blick des anderen genau ein, bevor er weiter sprach. "Es ist dein Erbe, was dich mit der Magie verbindet."
Magie.
Sollte auch er sie endlich erlangen? Sein Erbe... Die Magie war sein Erbe, sein Geburtsrecht und erst jetzt erfuhr er von dieser Sache... Er war benommen, benommen von den vielen Fragen, die ihm in dem Moment durch den Kopf gingen, miteinander rangen wie zwei dunkle Wesen. Alles um ihn herum verschwamm, während seine Augen sich durch alles hindurchzubohren schienen. Lange hatte er davon geträumt Magie zu besitzen, sie einzusetzen, wie es Thronn getan hatte. Und jetzt war es soweit und er konnte es nicht fassen. Seine geheimsten Träume schrieen und stiegen ihm mit samt seinem ganzen Blut in den Kopf. Es dröhnte hinter seiner Stirn und noch immer war er wie gelähmt und er hörte nur noch Regen, Regen auf einer Straße, die von Dunst und Nebel verschleiert war. Dort stand ein Mann, gekleidet in einen einfachen Regenmantel und er war nur ein Schatten, ein Schemen, der sich bewegte.
"Nicht in mir wohnte die Kraft", sagte Warrket dann schließlich und sah den Jungen eindringlich an. Was er ihm jetzt sagen würde, würde seine ganze Zukunft zu Nichte machen. Es war eine Entscheidung, eine Hürde, die er nehmen musste, oder sich einen Pfad suchen, der einfacher verlief, jedoch in keiner Weise seiner Vorstellung entsprach.
Wieder stieg ein Bild in dem Elfen auf, eine Parodie von Farben, die explodierten und sich über ihn legten, wie Lianen und fleischfressende Pflanzen, ihn drohten zu ersticken, ihn jedoch mit ihrer aufregenden Blütenpracht reizten. Es waren zwei Träume, zwei Visionen, zwei Vorstellungen. Die eine wäre ein Leben in Einsamkeit und Trauer und stetigen Aufgaben und sein Leben würde lang, dafür aber ruhig und wichtig für die Zukunft sein. Die andere wäre die pure Ruhelosigkeit und Zufriedenheit, die sich in überschwänglicher Freude zeigen würde und sie würde nur von kurzer Dauer, dafür aber bedrückend erfüllt sein. Er mochte beide Pfade nicht besonders, doch er musste sich jetzt entscheiden, das war es sicher, was den Druiden so lange zurückgehalten hatte mit der Wahrheit herauszurücken, die Angst, dass sein Cousin in einen unendlichen Strudel verfallen würde und nie aus dem Sumpf der Entscheidung entsteigen würde können.
"Sie wurde von Anfang an in dich gelegt, Rone. Du solltest es sein, der die Welt vor dem völligen Ende bewahrt." Er setzte sich neben ihn und lehnte sich gegen die Felsnase, die sich bedrohlich, rau und ausgehöhlt aus dem Naturgestein rechts von ihm erhob. "Lange habe ich über das nachgedacht, als ich es begriffen hatte. Und es hat verborgene Ängste in mir wachgerufen." Sein Lachen war eher betrübt als belustigt und grenzte an Verrücktheit, während er sein Haupt zwischen die dürren Beine sinken ließ. Seine Gestalt wirkt jetzt kümmerlich und dünn, schwach und viel zu groß und schwer, um sich richtig auf den Beinen halten zu können. Aufmerksam betrachtete Rone dieses verbrauchte, bleiche Gesicht, das geprägt von den Problemen der Welt war, gezeichnet von den Problemen Rohans. "Und lange Zeit verfiel ich der Ungewissheit und der Gedankenverlorenheit, mein Leben würde trübe und ich niedergeschlagen. Kaum noch trat ich an die Sonne und ich lebte lieber allein. In dieser Zeit las ich viel. Und nach Jahren der Bedrückung trat ich wieder hervor, erhob mich aus den Schatten und stand da. Ich hatte mich entschieden." Sie blickten sich an, und glaubten den Schmerz des anderen genau zu fühlen, der sie ausmergelte. "Es ist schwer zu akzeptieren, wenn es Jahre lang hieß, in einem läge die Hoffnung und man müsse sich absondern, besser und schneller werden als die anderen, besondere Fähigkeiten erlernen und die Probleme einer ganzen Nation auf die eigenen Schultern legen. Und nach diesen langen Jahren, die einen völlig zerstört hatten, bekam man gesagt, dass man sich geirrt hatte, dass doch ein anderer der Erwählte war und seine eigene vergeudete Zeit unwichtig war." Er schien betrübt und kraftlos einzuatmen, denn es fiel ihm schwer zu sagen, was er sagen musste, was die anderen nicht mehr sagen konnten. "Sogar der Schatten hatte sich geirrt." Ein abfälliges Geräusch entfloh seinen Lippen und Verachtung wanderte einen Moment in ihm. "Ich hatte dich gehasst, Rone, dich und den Schatten, bis ich endlich die Notwendigkeit des Ganzen begriff." Er lächelte erfüllt und versuchte die Tropfen eines imaginären Regens auf seinen Lidern zu spüren. "Es musste alles so geschehen, um Melwiora abzulenken."
"Warum?" Der Elf schien völlig aufgelöst und seine Bewegungen waren durcheinander, immer noch war das enge Gedränge von unbeantworteten Fragen in seinem Kopf.
"Das wenige, was ich weiß, hat mir der Schatten enthüllt. Ich werde diese Nacht nie vergessen..." Doch als er sich zu erinnern versuchte, war alles in seinem Hirn wie ausgelöscht, unbeschreibliche Leere war in seinem Kopf. Der Dorn des Todes begann sich langsam aber sicher in seinen Körper zu treiben. "Rone...!" Schnell glitt seine Hand zu dem Jungen hinüber und seine Finger schlossen sich fest und unbarmherzig um sein Handgelenk. Feuer schien in dem anderen zu brennen, ein Feuer der Hölle, das ihn von Innen zerstörte. Hitze war in seinen Händen, Hitze, gefolgt von eisiger Kälte, die jedoch nicht minder brannte. Seine Hand verkrampfte sich und Rone rang Schmerzensschreie hinunter, die sich impulsiv in seiner Kehle formten. Das schweißnasse und vor Schmerz gerötet und verzerrte Gesicht des Grenzländers bäumte sich auf und er schrie. Tränenflüssigkeit schossen zwischen seinen zusammengepressten Lidern hervor und ätzte wie Säure...
Doch dann stürmte etwas Riesiges, Dunkles heran, eine Farbveränderung der Luft und legte sich wie ein riesiger, schützender Mantel, das Tuch des Himmelszeltes über den Hexer. Tränen verdampften und die wie erhitzter Stahl glühenden Wangen kühlten rasch, während in ihm ein wahrer Kampf ausgefochten wurde. Der Schatten rang mit etwas, das in Thronn war, sich eben hereingewagt hatte, um Magie zu stehlen und zu nehmen. Und es war die Art Verbrechen, die der Schatten selbst vereiteln musste. Er stemmte sich gegen das Böse, gegen das tobende, gestaltlose Monster, das grotesk in seinem Unterbewusstsein geschlichen war und drängte es zurück. Allagan setzte seine ganze Kraft ein, während sich Klauen und Hände gegeneinander pressten und die gewaltige, mentalen Körper gegeneinander fochten. Weiße Druidenmagie strömte aus den Handflächen Senragors und drang in den dunklen Körper des Unholdes.
Du wirst es nicht schaffen, ihn für dich zu gewinnen!
Verschwinde, Bestie!
Die Körper rangen noch immer und Flammen der Wut brannten um sie herum auf, die stechenden, giftigen Flammen des Monsters trafen auf den Zauber und verschmolzen zu eisigen Feuerbällen in der Mitte, die explodierten und ihre kalte Glut von sich schleuderten.
Stille!
Alles verharrte und die ringenden Gestalten wurden zerrissen, wie wallender Nebel, das Feuer aus Thronn vertrieben und alle Flammen und Fackeln in den Gängen erloschen, als wäre plötzlich ein heulender Sturmwind unter sie gefahren. Warrket sank zusammen, völlig entkräftet und seine Augen durchdrangen nur schwach die glasigen Linsen, die sich aus Schweiß, Tränen und Wutfeuer gebildet hatten. Er atmete schwer. Doch noch immer brannte das Feuer. Jetzt jedoch war es nicht mehr in den geprüften Armen des Hexers.
Rone erschauerte wie im Fieberwahn, als das Eis und die Macht durch seinen Körper stoben und es war seltsam leicht, ihre Richtungswechsel vorauszusagen und sie zu kontrollieren. Es flimmerte vor seinen Augen, doch er hatte das Gefühl, dass sein Körper anders war als Thronns. In seinem waren Bahnen, Gruben und Röhren, Rillen für den Strom der Macht angelegt worden, durch die sie fließen konnte und ihre Anwesenheit erfüllte ihn mit Kraft. Und es war unfassbar.
Stille...
Er erinnerte sich an dieses Wort, das er im Geiste geschrieen hatte, als er die beiden Gestalten in Warrket hatte kämpfen sehen. Er hatte gesehen, welche Macht sie besaßen und wie stark ihre Kräfte sie maßen und sie mit sich zu spielen schienen. Der Druide hatte jene Hand auf seinen Arm gelegt und erst hatte er die Macht nur gespürt, ein vorsichtiges Flämmchen, das in seinem Herz züngelte, nur, um dann mit allem Zauber der Welt hervorzuplatzen und sich auszubreiten. Er hatte dieses Wort geschrieen, als er von einer seltsamen Taubheit besessen war und in dem Körper des anderen hatten die magischen Lettern vibriert und hatten dann begonnen zu brennen, zu brennen und zu prägen. Dann war der Wind gekommen, hatte alles mit Macht und größter Wirkung fortgeblasen und die Gegner zu Asche zerfallen lassen, die Macht der Feuer der anderen war zerstört worden, mit nur einem Hauch. Dem Hauch eines Wortes, das er gedacht hatte. War das seine Macht? Konnte er Worte lebendig werden lassen und sie zu seiner Macht werden lassen? Konnte er in die Körper und Köpfe anderer Menschen eindringen und sie von innen heraus sprengen? War es ihm gegeben auf einer anderen Ebene der Gedanken zu kommunizieren?
Noch lange lag er da, war sich der Blicke der anderen Menschen nicht bewusst, die sich um die seltsame Szene versammelt hatte und in tiefstes Schweigen verfallen waren. Nicht der leiseste Windhauch war zu vernehmen oder zu spüren. Der Druide lag still und regungslos, doch auch in seinem Blick wohnte noch das Leben. Nur Rone hörte die Botschaften, die ihm durch die leisen Bewegungen der Luft zugeflüstert wurden.
Höre mich, letzter Nachkomme des größten Zauberers der Welt, höre meine Worte.
Ich bin Senragor Allagan, der war.
Dies ist deine Bestimmung...
Bestimmung konnte, in den Augen Rones, vieles bedeuten. Macht, Tod, ewige Ruhe. Aber... war es nicht alles das Selbe? Immer noch hörte er das leise Summen und Pfeifen der Stimmen in seinem Ohr, doch er war nicht gewillt auf sie zu antworten. Statt dessen blickte er weiter stumm in die Leere und tat nichts, als zu warten. Doch er wusste nicht auf was. Aus dem Augenwinkel sah er den Hexer, der sich jetzt langsam erhob. Er musste gewartet haben, bis er sich erholt hatte, denn seine Bewegungen waren unverändert. Genau das war es, was dem Elfen Angst machte. Überhaupt machte ihm das Geschenk Angst, das er vom Schicksal erhalten hatte, und er fühlte sich erregt, erregt, durch einen Strudel von Energie, der in seinem Inneren wütete und von etwas Schwarzem, das langsam Gestalt annahm. Im Gegensatz zu der Thronns, war seine Magie anders, sie war warm und kam von Herzen, konnte von Gefühlen gesteuert werden. Und vielleicht war es gerade das, was es so schwer machte mit ihr umzugehen. Sie war kraftvoller und es tat ihm nicht weh mit ihr umzugehen, denn es war seine angeborene Macht.
Plötzlich wollte er alles verändern und alles, was noch übrig blieb, verstehen. Nun lag in seiner Macht mehr als nur Leben zu nehmen. Jetzt konnte er es geben und erschaffen. Genau das war geschehen, was Riagoth am allermeisten gefürchtet hatte, doch noch für sie nicht alles verloren, denn schließlich besaß der Junge das Kästchen nicht, dessen Inhalt ihm hätte helfen können. So war er nur ein ebenwürdiger Gegner für sie, aber er war noch unerfahren und sie existierte bereits seit Jahren.
Thronn, der nach der ganzen Aufregung noch genau so dunkel wie bleich wirkte, begab sich, nachdem er sich durch den Kamin nach dem Stand des Mondes und der Sterne erkundigt hatte, zu Patrinell, um mit ihm über den weiteren Vorgang ihrer Reise zu sprechen.
"Es wird Zeit, dass wir uns postieren", sagte der General. "In wenigen Minuten werden die Dämonen hier sein. Und wir müssen gewinnen! Wir dürfen nicht aufgeben!"
"Ich bin mir nicht sicher, ob es für uns noch relevant ist die Stellung zu halten.", schaltete sich Warrket ein und sein Auftreten war kühl und von geradezu unheimlicher Fassung. "Ihr habt sicher bemerkt, was in Rone vorgefallen ist."
Patrinell sah ihn entgeistert an und erwiderte dann gelassen. "Ich mische mich nicht in die Angelegenheiten der Druiden, Hexer, oder Zauberer ein."
"In diesem Fall solltet Ihr aber.", gab der Dunkle mit erhobenem Finger zu bedenken. "In dem Jungen steckt jetzt eine neuentdeckte Kraft. Wir müssen den Spiegel zerstören. Melwioras Gegenwart ist einfach zu nah." Er machte eine schneidende Bewegung mit der Hand. "Und wenn wir es nicht tun, werden immer weitere der unsichtbaren Wesen in die Körper eurer Leute eintauchen und sie vergiften! Von Innen heraus werden sich die Dämonen ausbreiten und es wird viele Verrate geben. Wenigstens das sollten wie verhindern!"
Hinter Arths Stirn arbeitete es, während er in die Richtung blickte, in der immer noch der junge Elf saß und in dem der Teufel sein Werk zu treiben schien. "Also gut.", murmelte er nach einiger Bedenkzeit. "Wir werden alle gehen. In meiner Heimatstadt Rovanion sind die Mauern noch dick und gut bewacht." Er nickte dem Hexer zu. "Ihr habt gewonnen,", sagte er zustimmend und seine Augen zollten Entschlossenheit. "noch diese Nacht werden wir aufbrechen. Ich lasse alle Vorbereitungen für die Reise treffen. Wenn die Dämonen kommen, sollen sei keinen lebenden Trisholer Bürger mehr finden!"

Den Arm wie zum Abschied erhoben, wie zum Gruße und in den Augen spiegelte sich die Tür, die Tür in das Innere, die Tür in die Geheimgänge!
Sie hatten das Rätsel gelöst und Freude war in ihnen. Die Wege, alles, schien ihnen so vertraut und Rune erkannte jede einzelne Stelle aus seinen Träumen und seiner Vergangenheit wieder. Er sah Biegungen und Treppen, schlug sie jedoch aus und lief immer gerade aus, fast Tränen waren in seine Augen, als er die Gänge und großen Hallen der Könige durchschritt und viele noch in ihrer alten Pracht vorfand, unentdeckt von den Dämonen. Es war das erste Mal seit langem, dass er wieder neuen Mut und Freude gefasst hatte, dass ihm die Welt vor Füßen lag und er sie greifen durfte. Und so rannte und rannte er, immer einen Fuß vor den anderen setzend und halb blind durch die Tunnel und Gänge. Es war der Geruch seines Vaters, dem er folgte, den Glaube an seine Anwesenheit und den Glaube den General noch lebend vorzufinden. Er wusste über alles Bescheid, er konnte ihm sagen, was mit seinem Vater los war und wo Azraìl versteckt war, welche Pläne der alte König von Rohan gehabt hatte. Seine Schritte verlangsamten sich merklich und er vernahm wieder den Atem der anderen hinter ihm, wie sie rannten, schwitzten und keuchten.
"Was ist?", fragte Trajan, während er sich gegen die Wand lehnte, um sich kurz erholen. Noch immer jagte sein Herz; er war Rune kaum nachgekommen.
Doch der Hochländer antwortete ihm nicht. Er stand da und sah direkt nach vorne, hatte die letzte große Halle im Blickfeld. Sie war zerstört und all ihrer Schönheit beraubt. Die Gebeine der ehemaligen Könige verschwunden und ein breiter Riss zog sich scharfkantig und grotesk durch den Boden. "Nein..." Er glaubte es nicht. Der Sieg war doch so nahe gewesen... Wie hatten die Dämonen von den Gängen gewusst? Wie hatten sie es bloß erfahren? War sein Vater etwa auch wie diese unterirdische Kammer zerstört worden? "Zerstört... alles... Die große Halle der Könige..." Sein getrübter Blick wanderte furchtsam umher, streifte umgestürzte Steinfiguren und die Skelette derer, die in der Nacht des Ansturms darum gekämpft hatten die Schändung zu bewahren. Er wusste genau, wie zerkratzt und verschwitzt die Kämpfer gewesen sein mussten, wie zerstochen und geschändet ihre Leiber sein mussten. Sogar hörte er noch das Sausen und Schwirren der Pfeile, die mit Öl getränkt und brennend wie ein erfrischender Regen hernieder geprasselt waren, wie die Funken gespritzt waren und die Umgebung erhellt hatten, die Aufprallstelle schwarz gefärbt hatten. Sie mussten blutverschmiert und entkräftet gewesen sein.
Er wusste es genau.
Warum?
Er sah sie.
Sie standen sich direkt gegenüber, nur die breite Schlucht trennte sie und der einzige Weg, der sie zueinander geführt hätte, war die Brücke, deren Gerippe noch immer regungslos in der Mitte hing, das bodenlose Schwarz überdeckend. An vorderster Stelle der aus dem Nebel und dem Schatten der Gruft heraustretenden Gestalten stand ein hochgewachsener, strohblonder, dürrer Mann, der einen schweren, pechschwarzen Umhang trug und dessen Gewänder mit der gleichen Farbe getränkt waren. Sein Blick war oberflächlich, als würde er nur ihre Umrisse entdecken und den Rest einfach durchdringen. Neben ihm stand ein Junge, unverkenntlich ein Elf, aus dessen Augen das Wissen um die Macht loderte.
Dann sank Rune zusammen. Er war doch nicht der Anführer der Letzten gewesen und das traf ihn hart wie ein Schlag in die Magengrube. Kaum fühlte er die kleinen Steinchen auf dem Boden, die sich spitz in seine Knie bohrten, war es ihm egal. Einerseits war es erleichternd einen anderen zu sehen, andererseits war es ein schwerer Rückschlag gegenüber seiner Ehre. So lange war er im Schutze der Hauptburg gewesen, während die letzten Bürger der Stadt hier in den Hallen darum gekämpft hatten zu überleben und ihre Stadt, ihr letzter Halt, fest zu umklammern. Und jetzt trat auch ein anderes, bekanntes Gesicht aus dem Dunklen und zeigte sich ihm beinahe gleichgesinnt. Der General der Stadtwache sah ihn und seine Begleiter an, die sich nun, gehüllt in ihre Rüstungen, schützend hinter ihm aufbauten.
Die Sicht verschwamm ihm und die sich lange angesammelte Schläfrigkeit kam mit einem Mal zurück, die Männer wurden zu Schemen, Schatten, die auf ihn zugingen und ihn in die Mitte nahmen, seine Kraftlosigkeit respektierten.
 

© Benedikt Julian Behnke
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Und schon geht's weiter zum 12. Kapitel (2. Kapitel des 2. Buches): "Mordgeister"

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