Die legendären Krieger von Rohan von Benedikt Julian Behnke
1. Teil: Der Herr der Winde / 2. Buch
Der schwarze Laurus 6 - Auf dem Eisfluss

Eine starke Schlechtwetterfront begann sich mit schwerem Dunst aus dem Westen nach Osten zu bewegen, der Himmel verdunkelte sich bereits über dem tiefen Waldland, wobei es nur manchmal regnete - den größten Teil ihrer Last wollten sie wohl über die Berge und ins Hochland bringen.
Die Krieger, welche aus den Gängen von Trishol entflohen waren, setzten erst am späten Nachmittag, als die Sonne schon begann sich von ihrem höchsten Punkte zu verziehen und das Drumherum kälter und windstiller wurde, vom Ufer ab, glitten majestätisch und erhaben über die silberne Strömung des Flusses nach Südwesten hinab. Die Menschen standen dicht nebeneinandergedrängt in den Mitten der insgesamt dreizehn Flöße, ihre Gesichter waren bedrückt und manche sogar hoffnungsvoll, wenn sie nicht gerade an das Kommende dachten, denn sie hatten erst wenig ihres geplanten Weges zurückgelegt und das Schlimmste stand ihnen noch bevor. Selbst wenn sie es schaffen würden, das große Tor der Hochländer - was nun von den Dämonen besiedelt war - zu durchbrechen, stünde ihnen noch ein langer Marsch durch das ganze Tiefland bevor und es gab nur wenige, die bezweifelten, dass selbst dort noch alte Stämme von Walddämonen waren, die sich tief darin versteckt hielten.
Während Trajan, Rykorn, Dario und die beiden Zwerge mit den Stangen beschäftigt waren, die sie benutzen sollte, um das Floss vom Ufer abzustoßen oder es von Felsen und Findlingen zu bewahren - die typisch für die raue, einsame, beinahe baumlose Gegend des Hochlandes waren - hatte sich der Rest der Truppe in der Mitte eines der breiten Schiffchen zusammengefunden und stellten Pläne für die Weiterreise auf. Sie stritten oft, wenn auch nur, um die angespannte Stimmung fortzuwischen, die sich bei dem seltsamen Gefühl ausbreitete, das sie hatten, wenn sie geradezu über das kühle Nass schwebten. In ihrer Mitte - sie saßen im Kreis - hatten sie eine vergilbte und an vielen Stellen eingerissene Karte aufgeschlagen, die das Tiefland und seine Gefahren zeigte. Es war die, die Patrinell aus der Burg von Trishol hatte mitgehen lassen, nachdem ihm der König das Schwert überreicht hatte, das er dann sicher an einen geheimen Platz gebracht hatte. Der Hüter dieser Waffe würde wissen, wann er sie freizugeben hatte, denn es war ein Vertrauter des Königs gewesen, wenn nicht sogar mehr als das.
"Wenn wir von Südosten den Fluss heraufgefahren kommen, werden uns die Dämonen sehen." Arth warf einen prüfenden Blick in die Runde. "Also warten wir bis zur Morgendämmerung und fahren dann bei dichtem Nebel vorbei, und einen Seitenarm des Flusses hinauf in eine Felseinbuchtung." Die anderen nickten, folgten der Geste seines Fingers, als dieser der kleineren Flussbiegung nach Osten folgte. "Wir errichten unser Lager nur für wenige Stunden dort, denn es wird regnen und der Fluss über die Ufer treten. Während die zweiduzend Krieger das Tor durchschreiten, werden wir in den Wachturm hinaufsteigen und diese geifernden Biester noch im Schlaf erledigen. Das Tor wird frei sein und wir kommen bei Abenddämmerung aus den Einmündungen des Rokronpasses heraus und ziehen die halbe Nacht weiter, bis zu den heilenden Quellen der Silberseen." Wieder einstimmiges Nicken, doch nur die Hälfte der Gesichter - das waren Rone und Rune Meridian - schienen den Plan zu verstehen und zeigten Interesse. Thronn, der immer noch von der Last der Nacht geplagt wurde, die beiden langen Klingen nun auf dem Rücken überkreuzt, verstand nicht so recht, auf was der General hinaus wollte. Natürlich war es von Vorteil bis zum nächsten Tag zu warten, doch würde ihnen das nicht Zeit rauben? Etwas in ihm riet ihm, sich einzumischen, doch sein Verstand befahl ihm das Gegenteil. Patrinell war ein überkorrekter Mann, der wusste was er tat, auch wenn er vor Wut und Zorn brannte. Immer blieb er ernst, hart - trotz seiner weichen, eher schmächtigen Gestalt - oder fest von allem Überzeugt, doch sein Lachen war selten und wenn er es tat, war es voller Spott und Belustigung über andere. 
"Was macht Euch so hart, Arth?", fragte der Druide plötzlich, legte die Hände auf seine Knie. Sein Blick war ernst und die Schärfte, die in ihm lag, zerstörte für einige Sekunden das Konzept des Generals.
"Äh... was?", fragte er völlig perplex, den Finger von der Karte hebend, um sich durch die Haare zu fahren. Sein Blick war aufgelöst, doch der schlanke Mann versuchte sich wieder zu fassen.
"Ich fragte, was Euch so hart macht. Es ist der Krieg, nicht wahr?" Sekunden entstanden, die völlig ohne Regung waren, sich dann aber vorsichtig aufzulösen begannen.
"Ach das...", erwiderte er gelassen, machte ein abfällige Bewegung und lächelte gezwungen. Verzweifelt suchte er nach einem Ausweg, fand ihn jedoch nicht. Was hatte dieser dunkle Kerl an sich, dass er einen immer wieder in Verlegenheit brachte? Er kannte Thronn nicht lange, höchstens etwas weniger als einen Tag, dennoch war es ihm, als hätte er ihn vorher schon einmal getroffen, als Trishol noch nicht unter der Knute der Grauen stand. Sein schäbiges Wissen über diesen Mann schloss sich aus dessen Zügen, es waren - in seinen Augen - die eines Profimörders, eines Killers, der aus reiner Genugtuung tötete. Die Erinnerung schwebte wie eine Wolke aus dunkelgrauem bis pechschwarzem Rauch und Dunst in seinen Gedanken herum, blakte an den Wänden und Mauern seines Gehirns und verschmutzten sie. Es war, als ob Warrket mit Absicht wollte, dass man ihn vergaß, dass sich alle Gedanken um ihn auslöschten. Er sah noch einige Zeit still auf das raue und abgeschabte Holz des Floßes, hob dann aber doch seinen Blick, um eine Gegenfrage zu stellen: "Wie konntet Ihr Euch so schnell von der Krankheit erholen, Hexer?"
"Eure Art von Fragen gefallen mir nicht, General!", sagte Thronn barsch und wieder war sein Blick kalt, als könne er töten.
"Stellt Ihr Euch nicht auch diese Fragen, Hexer?" Ein Grinsen von Selbstsicherheit und leichter Arroganz hing einen kurzen Augenblick in seinen Zügen, doch der Druide fing es erstaunend gelassen und ignorierend auf, zuckte sogar - aber kaum merklich - die Achseln.
"Ich bin kein Hexer mehr, Patrinell. Denn mit der Krankheit wurde auch die Magie von mir genommen, nur, dass ich es selber war, der sie mir entriss. Ich schloss sie weg und vergaß den Schlüssel, einzig ein Rätsel meines Traumes blieb und das bin nicht einmal ich im Stande zu lösen!" Beinahe betroffen starrte er auf die Auen, die sich rechts und links von ihnen als sanfte Hügel erhoben.
Der Tiefländer sagte nichts mehr dazu, hielt seinen Blick abgewandt und sah ebenfalls einige Minuten auf die Umgebung, die sie umgab. Er betrachtete die dunkle Gestalt Darios, die an der Vorderseite des flachen Schiffchens stand, den Kopf leicht nach vorn geneigt, während er die lange Lenkstange in den Boden des Flusses stieß, dessen Geräusch laut und brausend in ihren Ohren lagen. Hier gab es viele Stromschnellen und die Schiffer mussten beachten, nicht mit scharfen Felskanten oder den anderen Flößen in Berührung zu kommen. Der Hochländer Dario war von unergründlicher Gestalt, hatte etwas Verschlagenes und Unnatürliches an sich, etwas Ruhiges, aus dem er seine Kraft schöpfte, wenn es darum ging, Feinde in die Flucht zu schlagen. Stets hatte er bei der Freitruppe mitgekämpft, war jedes Mal ohne auch nur die kleinste Verletzung zurück gekommen und hatte die Siegesfeier mit einem Kelch Wein genossen. Doch er hatte dies bescheiden getan, und so, als wäre es nicht seine Feier, sondern die eines anderen aus seiner Truppe. Er war einer von denen - wie man so schön sagte -, die für ihre Freunde sterben würden, aber dieses Seltsame an dem Hochländer widersprach dieser Aussage, denn er war auch einer, der für Geld seine Freunde im Stich lassen würde. Und das schlimmste war, er war unberechenbar und dunkel, ganz wie der Druide, doch seinen Zügen haftete etwas Grausames an, während Thronn nur kalt war. Er dagegen war berechenbar, man konnte bereits im Voraus sagen, was er tun würde. Stellte man ihm eine Aufgabe und gab ihm mehrere Lösungen, wog er sie lange und immer wieder ab, bis er schließlich der günstigsten zustimmte, auch wenn dies ein Verlust seinerseits sein würde, jedoch am wirkungsvollsten den Sieg brachte. Der Zauberer stellte es nicht in Frage, ob er sich für jemanden opfern sollte, er würde es tun, wenn es erforderlich war, nicht, wenn der, den es zu schützen galt, ein Fremder und Gebrauchsloser ohne Nutzen war. Patrinell überlegte weiter, fand einige Stellen sogar amüsant, und fragte sich deswegen, was wohl passieren würde, wenn Dario dieser war, den er schützen musste, jedoch hatte dieser Geld für den Verrat an jenem bekommen. Und Thronn wäre es, der ebenfalls eine Aufgabe von größter Wichtigkeit erfüllen sollte. Wie konnte Thronn sich vor sich selber werfen, um sich vor der mordenden Klinge Darios zu schützen? Etwas unkomplizierteres konnte es wohl gar nicht geben und unwiderruflich musste Patrinell lächeln. Wieder war es dieser hämische - oder doch ernste? - Zug auf seinem Gesicht, der sich mit vager Abschätzung mischte, während er den anderen aus dunklen Augen ansah. "Wir machen hier Lager", sagte er plötzlich und dann lauter: "Halt!" Hob die Hand, um die anderen Flöße ebenfalls zum Stillstand zu bringen, und das Holz setzte mit einem klackenden Geräusch auf dem Gras und den zerklüfteten Felsen auf.
"Wir werden wohl doch nicht ganz bis zum Tor kommen.", bemerkte Rune und sah zu Arth hinauf, der sich erhoben hatte, seinen Blick vor den Strahlen der sinkenden Sonne geschützt über die Landen sandte.
"Vor uns liegen noch etwa dreizehn Meilen und der Nebel ist noch zu weit entfernt!", sagte er scharf, während er den Wind prüfte, und auf die sich heranschiebenden Wolken achtete. "Wir werden wohl auf Nummer sicher gehen müssen." Er wandte sich ab, machte abermals eine markante Handbewegung in die Reihen der Krieger, wobei er einen seichten Hang zu einem kleinen Waldstück hinaufmarschierte, das dicht und knorrig gewachsen war, fast sogar tot schien. "Wir schlagen unser Lager dort auf! Die Bäume wirken wie eine Festung, wie Palisaden! Irgendwo in diesem Dickicht wird es doch wohl eine Lichtung geben!" Den letzten Satz sagte er etwas lauter und nur zu sich und seinen herannahenden Kameraden gewandt. "Traut Ihr Euch zu, einen Weg in das Innere dieser Baummauer zu schlagen?", fragte er und sein Kopfnicken deutete in die Richtung, aus der die großen Bäume wie grotesk aus dem hellgrünen, vom ständigen Regen plattgedrückten Gras ragten. Dieser Anblick war wirklich einmalig und nur in der Nähe der Grenze zu beobachten, uralte Bäume, die zahlreich bereits tot und als nur kleines Waldstück und eng verschlungen uhrplötzlich wie aus dem Boden gewachsen dastanden, völlig allein und auf mehrere Meilen abgetrennt von anderen Baumgruppen. Die anderen - Rykorn, Kelt, Rune, Thronn und Palax - nickten nur kurz und bestätigend, dann machten sie sich bereits daran ihre Waffen aus den Gurten zu ziehen, während sich einige andere ihrer dreihundertmannstarken Truppe daran machten, bereits kleine Feuer vor dem Gewirr aus riesigen Laubbäumen zu entzünden, um ihre vom kühlen Wind auf dem Wasser steif gewordenen Glieder zu erwärmen. Er sah die ganz in Weiß gekleideten Gestalten, Leichentücher waren es, die sie trugen, verschmutzt und grob, erblickte die breite Silhouette von Flößen, die das Ufer säumten und es ganz in Anspruch nahmen. Die Sonne sank schon in das Grau und Dunkelblau des Stadiums, welches zwischen den beiden Zeitpunkten Tag und Nacht herrschte und flüssiges Gold breiteten sich über den Landstrichen des Horizontes aus, dort, wo es von den erdrückenden Mauern der Dunstwolken überdeckt wurde und wo es nur als durchscheinendes Etwas hinter einem nassem Leinentuch war.

Die Nacht war kalt, kälter als die anderen und aus den Schatten der Bäume schienen merkwürdige Wesen zu wachsen, die grotesk und bösartig waren, während der eisige Wind die Sturmfront über das Grenztor trieb. Und in den Bäumen raschelte und rauschte es, war Leben, obwohl sie wie tot erschienen, mit ihrer blassen, grauen Farbe und den knorrigen Gestalten, die sie bildeten. Doch es waren die Wächter, die sich dort oben zwischen den moosgrünen Blättern bewegten, um eine bessere Aussicht über den Lagerplatz zu haben. Rune lehnte sich leicht zurück, während er dem rauchigen Schatten der Wolken zusah, die sich über den von Sternen übersäten Himmel von Westen kommend ausbreiteten und Ungewissheit, Dunkelheit und Nebel mit sich brachte, der sich über die feucht werdenden, grasigen Hügel legte. Das dunkle Baldachin der Baumkronen hatte eine fünf Yard große Lücke gelassen, durch die der Hochländer das Geschehen am allerhöchsten Gewölbe beobachtete, die Weiten des Alls zu ergründen versuchte. In seinem Augenwinkel flackerte und leuchtete das Feuer, hatte wärmende und heiße Farben, doch Runes Umgebung blieb kalt, ließ sich nicht durch die goldenen Flammen erwärmen. Es war, als ob sich eine Decke aus Frost nur um ihn geschlungen hatte, die ihn gleichzeitig zu schützen und abzugrenzen versuchte, und ihn wach hielt. Es fröstelte und bekam eine Gänsehaut, die ihn erst recht bemerken ließ, wie kalt es war. Sogar, als er sich etwas näher an das Feuer herangewagt hatte, war es ihm nicht wärmer geworden, die Hitze drang nicht durch die Barriere durch, und auch die züngelnden Flammenspitzen waren wie Eis, als er sie berührte, dennoch war die Stelle verbrannt und der Schmerz war der Selbe, nur tausendmal eisiger. Er starrte in die Schatten, welche die abartigen Bäume und Sträucher bildeten.
Nichts hatte er Patrinell von dem Tagebuch seines Vaters erzählt, und das Wissen, wo Azraìl verborgen war, blieb so im Gehirn des Tiefländers. Er sehnte sich nach dem Schwert, dessen Griff einst von seines Vaters Händen fest umschlungen war. Auch bedrängte ihn die Frage danach, wo sein Vater war. In dem Buch stand geschrieben, dass er fortging, um sich dem zu stellen, was sein Land bedrängte.
Unverband griff er nach dem Buch in seinem Rucksack. Es war klein und eher schäbig als noch gut erhalten, das Leder fühlte sich im Gegensatz zu allem anderen sehr warm an und die goldene Inschrift auf dem Buchrücken glitzerte im hellen Sternenlicht und glomm selbst wie eine Flamme im Schein des Feuers. Der Meridian, stand da in weit ausgeschmückter Schrift und darunter war - ebenfalls in der gleichen Farbe und Genauigkeit - das Wappen des Hochlandes zu sehen, der zerklüftete Berg hinter den weiten Hügelwiesen.
Er schlug es auf der Seite auf, auf der er aufgehört hatte zu lesen und das füllige Gold der tiefdringenden Lettern stach und blendete ihn wie der Aufgang einer unwahrscheinlich heißen Sonne. Etwas von dem Leben und der Stärke, die er in den viel zu langen Nächten in der Großburg von Trishol hatte abgeben müssen, kehrte wieder in ihn ein, ein Feuer, das ihn von Innen wärmte und es war beruhigender und viel schöner als die knisternden Flammen, die von der Mitte des Lagerplatzes herdrangen. Er vernahm das leise Säuseln des Windes, das Flüstern der Männer, das zarte Trippeln von kleinen Füßchen im Laub, während er seine Augen über die Schrift schickte und der Sog der Buchstaben ihn mehr und mehr für sich gewann. Was er dort las, gefiel ihm nicht. Nicht, weil es etwas schlimmes ersann, sondern weil er den Sinn des Ganzen nicht herausfiltern konnte. Ähnlich wie die Auskunft über die verborgenen Gänge war auch der Rest des Tagebuches in Rätselform verfasst und nur für Leute gedacht, welche die beschriebenen Sachen kannten und somit auch den Sinn verstanden. Aber trotz der Tatsache, dass Rune ein Vertrauter war, fiel es ihm meist schwer alles haarklein zu übersetzen und so entstanden - wie er schnell merkte - oft große Lücken, die er füllen musste, oder er würde kläglich versinken in dem Sumpf, den das teuflische Tagebuch geschaffen hatte.
Plötzlich kamen Schritte näher, das Geräusch von nackten Füßen, die über rauen Untergrund liefen und er sah ein wehendes, schneeweißes Gewand, dessen Träger wie ein Rachegeist oder gar ein Engel wirkte. Das Haar floss ihm golden und lang bis auf die Schultern, schimmerte wie blankgeputzte Münzen, umrahmte ein Gesicht von solcher Unschuld und Schönheit, dass Meridian erbebte und es ihm kalt den Rücken hinunterlief. Unverholen waren seine Augen von dem brüchigen Papier auf das Mädchen gewandert, das sich ihm nur zaghaft, wenn auch bestrebt näherte. Und er war geblendet von dem, was er sah, nämlich von der Vollkommenheit des Lichtes. Ihre Züge waren fein und ihre Haut beinahe so weiß wie das Laken, das sie trug, und ihre Augen funkelten in einem dunklen Braun, das durchzogen von noch dunkleren Rissen war, ihre Lippen waren voll und rosig und erst jetzt erkannte Rune, dass es kein Mädchen, sondern eine sehr junge Frau war, der er gegenüberstand. Für einen Moment des Erstaunens wagte er es nicht sich zu erheben, zu rühren, glaubte sich in einem endlosen Kreis verloren und er musste sie einfach nur anstarren. Es war für ihn, als existiere er gar nicht, als ob er nur Zuschauer bei etwas wäre, das ihm die Möglichkeit verlieh, Dinge von einem ganz anderen Ort aus zu sehen, gleich dem Spiegel aus Kristallglas, von dem ihm berichtet wurde. Sie war nackt unter dem weißen Hemd, das ihr bis unter die Knie reichte, die Arme waren frei und der Stoff schmiegte sich an einigen Stellen eng an ihren Körper, dort, wo sie nicht mehr so ganz kindlich wirkte.
Ihre Blicke hatten sich von Anfang an getroffen und fest ineinander verschlungen, ein Geben und Nehmen war entstanden und allein dies sagte mehr, als tausend Worte es könnten. Sie setzte sich neben ihn, lehnte sich an den Baum, unter dem er - eingehüllt in eine Decke aus Wolfsfell - ruhte und starrte auf das Buch in seinen Händen, und so konnte er die Schönheit ihres Antlitzes genießen, ohne von ihr selbst gestört zu werden, während sie die im Mondlicht glimmenden Lettern las. Dann sah sie ihn wieder an und es war, als ob ihn ein Messer aus glühendem Stahl durchbohrte, in ihm riss und ihn von Innen aushöhlte. Er wusste, dass sie nicht umsonst gekommen war und das war es, was ihm Schwierigkeiten bereitete, denn seine Kiefer waren wie gelähmt, ein taubes Gefühl beherrschte seinen ganzen Körper und es war schlimmer als zuvor, als ihn nur dieses eine bedrückende Gefühl eingenommen hatte, das Gefühl des Aufgewühlt seins. Und wieder focht ein heißes Feuer gegen eine bedrückende, einnehmende Kälte und beide schienen das uneingenommene Äußere auszuschlachten. Unter seiner Haut pulsierte ein dumpfer Schmerz, der kaum der Rede wert gewesen wäre, wenn dieser Schmerz nicht mehr wäre, als nur das, was er zu sein vorgab, eine nachheilende Verletzung, die er sich während einem Kampf zugezogen hatte, eine Wunde, die ihm innerlich zugefügt worden war. 
Das Mädchen starrte ihn an und sie wirkte wie eine Elfe, ein Geschöpf, das so eben und makellos war, wie nur Gott allein. "Ich bin Yara", sagte sie mit süßer, ruhiger Stimme, die etwas Hartes an sich hatte, das wiederum von etwas kam, das tief in ihr lauerte... "und ich bin gekommen, um dich etwas zu fragen." Rune antwortete nicht, denn sein Blick haftete noch immer an ihr und er konnte nicht begreifen, was gerade in ihm vorging. "Willst du mit mir kommen?" Ihre Stimme war ein Flüstern, nur ein Hauch, der in den Geräuschen der nächtlichen Umgebung verklang.
Impulsiv und aus einem inneren Drang heraus legte Meridian seine Hand auf das Schwert, das in seinem Gürtel hing und blieb dort für eine Weile, während er sich stockend erhob, doch das Misstrauen in seinem Gesicht, was eigentlich weilen sollte, wurde von tiefer Verwunderung überdeckt. Die Decke mit den Fasern und Haaren des Wolfes glitt leicht und weich wie Seide von ihm ab, zerwühlt von den Stunden der Ruhe. In Runes Gliedern lag ein andauerndes Pochen, das nach Ruhe verlangte und sie waren steif, wie verloren, doch die junge Frau lockte ihn weiter und ihr sanfter Ausdruck und die Perfektion ihres Äußeren zog ihn wie einen Magneten einen weiteren Magneten anzieht an. Sie ging langsam, vorsichtig und leicht geduckt durch die Blätter und allein diese Haltung ihres schlanken Körpers erregte den Prinzen. Er folgte ihr durch das Lager, das Leder, das wie ein Schuppenpanzer an seiner Haut lag, scheuerte aufeinander und er fühlte die Erde, den Fels und die kleinen Zweige unter seinen Schuhen. Auch er schlich geradezu voran, und langsam begannen sich seine Umrisse wie die leuchtenden Yaras mit der Nacht und den Bäumen zu verschmelzen, begannen ein Teil von ihr zu werden.
Dann traten sie aus dem Schutze des Waldes heraus, das niedrige, taunasse Gras umspülte die nackten, schneeweißen Knöchel des Mädchens, umhüllten sie in ihren satten Farben und dem dunklen Grün. Und so ging sie Hügel um Hügel, führte ihn nach Südwesten, immer weiter in den dichter werdenden Nebel, der mit den finsteren Wolken gekommen war. Leichtfüßig und behände durchquerten sie den glänzenden Faden des Eisflusses, der seinen Namen nicht umsonst trug, denn das Wasser war mehr als kalt und spülte die leichte Taubheit in seinen Gliedern fort, brachte statt dessen aber ein beständiges Brennen mit, als er zu frösteln begann und sein Atem kondensierte. Er sah sie jetzt nur noch als ein wahrer Geist des Nebels, der vor ihm floh, in dem gleichen Tempo, in dem er ihm folgte.
Meridian wusste nicht, warum er ihr folgte. Ihre Frage war unnatürlich und seltsam gewesen und jetzt, da ihre durchnässte Kleidung eng an ihrem Körper klebte und die betörenden Stellen ihrer Weiblichkeit hindurchschimmerten, wollte er sie. Er wollte sie in dem Maße, in dem Goran die Eisfrau gewollt hatte und er wusste jetzt auch, warum er sich ihr hingegeben hatte. Die eisige Kälte des Wassers und die unumgängliche Schönheit dieses Mädchens hatten eine Atmosphäre geschaffen, die ihn schneller laufen ließ und ihm vor Augen führte, wie erfrischend und leicht es war, zu lieben. Rasch kam er näher, die Hände nach ihr ausgestreckt und seine zu Klauen gekrümmten Finger durchfuhren den Nebel und die kühle Luft wie ein Messer einen Körper. Er hatte getötet, er wusste, wie es war, einem Gegner das Schwert in den Leib zu rammen und meist war es schwer genug. So schwer war es jetzt auch durch die Barriere aus Schatten und Dunst zu gelangen, während er das flüssige Gold ihrer Haare und das weiße Lodern ihres Kleides sah. Sie war so nah, und doch so fern, wenn er sich nach ihr ausstreckte. Nun lief er nur noch, um sie zu holen, in die Arme schließen zu können und mit seiner eigenen Hitze zu erwärmen, denn auch sie musste frösteln. Er dachte nicht mehr an das Lager, an das Buch, oder an seinen Vater, oder das Schwert. Nur noch sie zählte und sie hatte ihn genommen, so, wie er sie begehrt hatte und doch sogleich gewusst hatte, dass sie für ihn unerreichbar war.
Der Soldat wusste jetzt mit absoluter Sicherheit, dass sie ebenfalls wusste, was er in ihr gesehen hatte und so wurden ihre Schritte nicht langsamer, das Zucken ihrer nackten, erkühlten Füße im seichten Gras, die sich an schroffen Steinen und kleinen Felsbrocken aufgeschürft und -geschrammt hatten, blieb nicht aus. Aber sie bemerkte das Blut nicht, und irgendwie war es auch, als existierten die Kratzer nicht, die sie um ihrer Schönheit berauben wollten...

Der Tag brach kühl und unverhofft windig heran, und die Sonne war nur eine flache, glänzende Scheibe, die sich langsam in die umhüllende Dunkelheit der Wolken legte. Während Dario still und mit geneigtem Haupt durch die Reihen der Leute schlenderte, hing er seinen Gedanken nach, die zum größten Teil dunkel und geheimnisvoll waren. Das wirre, schwarze Haar fiel ihm in vielen Strähnen ins Gesicht, während ein laues Lüftchen seinen schwarzen Mantel durchfurchte. Der Krieger sah, dass etwas fehlte, entdeckte die zerwühlten Überreste Runes Lager, doch tat nichts dagegen. Allein das Geräusch, das seine Stiefel machten, wenn sie in den weichen Boden einsanken, schien ihn zu beruhigen. Die Hände über dem Rücken verschränkt wanderte er so dahin, sah in viele verschiedene Gesichter, die ihm meist fremd waren, doch er prägte sie sich ein.
Einzig und allein das Mädchen sorgte ihn, das er letzte Nacht zwischen den Büschen erblickt hatte, in einem Moment noch ein erzückendes, wunderschönes Ding, das nur das Licht der Sonne widerspiegelte, im anderen ein Monster, ein Schattenwesen, ein Wandler, der es gewagt hatte, sich unter die Leute zu mischen. Riagoth hatte wohl ein weiteres Mal ihre Spitzel ausgesandt und diesmal hatte es einen von ihnen erwischt. Der junge Meridian musste ein gefundenes Fressen für sie gewesen sein, dennoch bereute er es nicht, dass er nicht eingegriffen hatte, ein Kampf gegen einen Wandler konnte praktisch nicht gewonnen werden. Wandler waren formbare Wesen, Schatten, die sich der beliebigen Umgebung anpassen konnten und somit praktisch unsichtbar waren. Trat man ihm mit einem Schwert gegenüber, würde sich das Wesen nur zeigen, wenn es wollte, dass man es sah und dann war es meist schon zu spät.
Dario hielt sich etwas abseits des Lagers und seine Finger durchsuchten das Gras, während seine Augen auf den Flößen ruhten, die gerade mit Nahrung und Rucksäcken beladen wurden...
 

© Benedikt Julian Behnke
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Und schon geht's weiter zum 17. Kapitel (7. Kapitel des 2. Buches): "Die Spur"

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