Die Drachenwächter von Lacerta
Wieder Zuhause

Die Sonne begann schon, hinter den bewaldeten Hügeln unterzugehen, als ich endlich das Haus meiner Eltern erreichte. Ich klingelte, ließ mich auf die Treppe fallen und wartete. Mein 15-jähriger Bruder öffnete die Tür. 
"Na, in deiner Haut möchte ich jetzt nicht stecken", begrüßte er mich überschwänglich.
"Danke, es geht mir gut und ich lebe noch, nein, mach dir nur keine Umstände, mir zu helfen, meine Verletzungen sind wirklich nicht so schlimm, wie sie aussehen!" gab ich zurück und stand mühevoll auf.
"Wenn du wüsstest, wie Papa und Mama an die Decke gegangen sind, als du weggelaufen bist, würde dir dein Sarkasmus vergehen."
"Ich bin nicht weggelaufen! Ich wollte spazieren gehen und habe mich dabei im Wald verlaufen!" rief ich ungläubig.
"Ja, klar, und dann hast du dich vier Tage lang von Ameisen und Tannennadeln ernährt", kicherte er.
"Was soll ich denn sonst gemacht haben? Ich hatte doch nichts dabei! Ich würde doch nicht abhauen, ohne etwas mitzunehmen!"
"Blöd genug, das zu machen, wärst du schon", lachte er überheblich.
"Lass mich durch!" Ich stieß ihn zur Seite und ging in die Küche zum Kühlschrank. Ich hatte einen Bärenhunger. Zwischen Brot, Wurst und allem was ich sonst noch an Essbarem finden konnte, überlegte ich mir, dass mein Bruder unmöglich recht haben konnte. Der wollte sich bestimmt nur aufspielen, ich war nie und nimmer vier Tage weggewesen, und wenn doch, dann hatten sich meine Eltern sicher trotz allem Sorgen um mich gemacht. Ich sah auf den Kalender über der Tür, das Blatt war bis zum 11. September abgerissen, also drei Tage und nicht vier.
Gut, das war schon mal geklärt. Ich warf die Kühlschranktür zu und ging die Treppe im Flur hinauf in mein Zimmer. Alles war so, wie ich es verlassen hatte. Die Kleidung lag zum Teil auf dem Boden verstreut, meine Schulsachen lagen noch auf dem Schreibtisch, sogar das kleine Dachfenster stand noch offen.
Ich warf die Tür hinter mir ins Schloss und ließ mich auf mein Bett fallen. Mir war nie aufgefallen, wie weich und kuschelig es war. Ich wickelte mich ganz in meine warme Decke ein und es war mir egal, dass der Bezug schmutzig und blutig wurde. Ich war wirklich zuhause und lag in meinem Bett, ich konnte es nicht glauben. Noch eine Minute schloss ich die Augen und ruhte mich aus, dann griff ich zum Telefon auf meinem Nachttisch und wählte die Nummer meiner Freundin; sie hatte sich sicher Sorgen um mich gemacht.
Es klingelte dreimal, und dann meldete sie sich:
"Nathalie Bauer?"
"Es tut so gut deine Stimme zu hören."
"Elisa? Was ist los?"
"Ich dachte nur, du würdest gern wissen, dass ich wieder da bin..."
"Du warst weg? Wo denn? Das wusste ich ja gar nicht."
"Das ist eine lange Geschichte, du wirst mir kein Wort glauben, wenn ich sie dir erzähle, ich..."
"Du, sei mir nicht böse, ja? Aber kannst du sie mir nicht erzählen, wenn wir uns treffen? Es ist gerade etwas unpraktisch, ähm, weißt du noch, der Typ von dem ich dir erzählt hatte? Der mit den großen braunen Augen? Der ist gerade da, und..."
"Ist schon ok, da will ich nicht stören."
"Wirklich? Du bist ein Schatz, ich ruf dich morgen an, und erzähl dir, wie es gelaufen ist. Tschüss!"
Ich wollte noch etwas sagen, aber sie hatte schon aufgelegt.
Na Prima, niemanden schien es zu interessieren, wie es mir ging und was ich alles erlebt hatte. Ich ging nach nebenan ins Bad und ließ heißes Wasser in die Wanne laufen. Ich kehrte in mein Zimmer zurück, um mir frische Kleidung zu holen und stand zögernd vor meinem Schrank. Was würde ich mit auf meine "Reise" nehmen? Schnell verdrängte ich den Gedanken. Ich holte mir einen warmen Pullover und eine gemütliche Hose, zog mich ins Badezimmer zurück und schloss die Tür hinter mir ab.
Als ich meine Jacke auszog, fiel mir der Armreif wieder ein. Es war wie ein Schlag ins Gesicht: er war immer noch da und ließ sich nach wie vor nicht abziehen.
Die Tränen ließen sich nicht aufhalten. Ich lehnte mich an die Wand und ließ mich schließlich schluchzend auf den Boden gleiten. Dort saß ich dann und weinte mich aus, einsam und allein und voller Selbstmitleid. Ich zog meine schmutzigen Sachen aus, setzte mich in die Wanne und weinte dort weiter bis ich vollkommen erschöpft war. Nicht einmal das warme Wasser oder der Geruch von sämtlichen Badezusätzen, die ich mir alle ins Wasser gekippt hatte, konnte mir helfen. Schließlich stieg ich aus der Wanne, zog mich an und legte mich anschließend auf mein Bett, wo ich erschöpft einschlief.
Am nächsten Morgen wurde ich nicht, wie sonst immer, vom Hahn der Nachbarn, sondern von einem tiefen, lauten Krächzen geweckt. Müde sah ich zum Fenster, von wo der Schrei gekommen war. Dort sah ich hinter der Gardine einen großen geflügelten Schatten. Ich schloss meine Augen wieder, drehte mich auf die andere Seite und kuschelte mich tief in mein warmes, weiches Bett.
Die Tür flog auf, und ich fuhr hoch.
"Elisa! Was bildest du dir eigentlich ein?" Meine Mutter. Ich war hellwach.
"Kannst du dir überhaupt vorstellen, was du uns angetan hast? Und dann kommst du heim, und legst dich in dein Bett, ohne uns wenigstens Bescheid zu sagen? Wie kannst du nur..."
"Mama! Das war doch keine Absicht!" Ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte. "Ich hab mich im Wald verlaufen, und dann war ich einfach so müde, ich wollte gar nicht einschlafen!"
"Verlaufen? Ach ja, du bist einfach spazieren gegangen und hast dich dann verlaufen", fauchte sie mich an.
"Ja, ich meine..."
"Nein, Elisa, es reicht, ich will nichts mehr hören von deinen dummen Ausreden." Sie hob abwehrend die Hände in meine Richtung.
"Aber..."
"Schluss, genug ist genug. Ich will dich heute nicht mehr sehen." Mit einem Knall warf sie die Tür ins Schloss und war draußen. Ich hörte sie noch murmeln: "Und alles wegen dieses lächerlichen Streits. Das habe ich wirklich nicht verdient! Ich habe es ja immer gesagt, das Kind..." 
Mehr konnte ich nicht verstehen. Ich ließ mich fallen und grub mein Gesicht ins Kissen.
Nein, das hatte sie wirklich nicht verdient. Ich hatte das aber auch nicht verdient. Wahrscheinlich werden sich alle freuen, wenn ich weg bin, dachte ich niedergeschlagen.
Der große Rabe klopfte mit dem Schnabel von außen an die Scheibe. Scheinbar hatte er die ganze Zeit da gesessen und mitgehört. Ich öffnete das Fenster und er flog an mir vorbei ins Zimmer.

Als ich aus dem Badezimmer kam, war der Rabe immer noch da. Er starrte mich ungeduldig an. "Was ist?!" herrschte ich ihn an. Er zuckte kurz zusammen und dann kreischte er böse zurück und spreizte seine Flügel. 
"Schon gut, schon gut, reg dich ab, war ja nicht so gemeint..."
Er flog zur Tür und sah mich an, wieder krähte er. 
"Wenn du doch nur sprechen könntest! Obwohl, vielleicht ist es doch besser so wie es ist."
Er kreischte empört und flog die kurze Strecke zwischen mir und der Tür immer hin und her.
"Elisa, was ist das für ein Krach bei dir da oben??" rief mein Bruder Christoph von unten aus der Küche. "Kannst du vielleicht mal aufhören damit?"
"Das ist gar nichts! Bin schon still."
"Psst, Munin oder wer immer du bist, ich komme ja, aber du musst außen herum fliegen."
Ich überlegte, ob ich vielleicht das Fenster schließen und den Vogel fangen sollte, aber was hätte das für einen Sinn gehabt? Dann hätte ich eben einen normalen Vogel gefangen, dass ihn mir ein Drache mitgegeben hat, hätte mir ja doch niemand geglaubt. Und außerdem, selbst wenn ich ihn gefangen hätte, wäre da immer noch der andere gewesen. Und falls es mir gelingen sollte, beide außer Gefecht zu setzen, würde der Drache es spätestens bemerken, wenn sein Rindfleisch nicht geliefert wird.
Ich seufzte und zog meine Jacke an. Als sich der Vogel versichert hatte, dass ich mich auch wirklich fertig machte, flog er tatsächlich aus dem Fenster, als hätte er mich verstanden.

Ich wanderte durch den gesamten Ort, bis ich endlich beim Großbauern angekommen war. Das Grundstück lag etwas außerhalb und war von einer etwa 1,70 m hohen Mauer umgeben. Ich lief um das Grundstück herum und suchte eine Stelle, an der ich leicht eindringen konnte. An einigen Stellen wurde die Mauer von hohen Stahltoren unterbrochen, an denen ich ins Innere des Hofes sehen konnte. Es gab zwei riesige Ställe ohne Fenster, nur mit Lufteinlässen, ein Wohnhaus und einen großen Hundezwinger. Die Türen der Ställe waren einen Spaltbreit offen, aber ich bezweifelte, dass sie das auch bei Nacht waren. Insgesamt schien mir das Grundstück vollkommen abgesichert, denn ich vermutete, dass dieser scheinbar paranoide Besitzer seine Hunde nachts frei herumlaufen lassen würde. Na toll, hier einzubrechen, konnte ich auch gleich vergessen. Auf der anderen Seite musste ich einfach, wenn ich nicht wollte, dass mir der Armreif den ganzen Arm durchkokelte. Ich beschloss, in der Nacht wieder hierher zu kommen.

An diesem Abend packte ich eine Taschenlampe und ein paar Würste ein und machte mich, sobald es dunkel wurde, auf den Weg. Meine Eltern und Christoph schienen zu schlafen, trotzdem bemühte ich mich, kein Geräusch zu machen und schlich mich die Treppe herunter und am Wohnzimmer und der Küche vorbei bis zur Haustür. Ich wollte sie gerade schließen, als mir einfiel, dass ich keinen Schlüssel mitgenommen hatte. Also schlich ich mich in die Küche und nahm vorsichtig einen Schlüssel vom Brett. Nun hörte ich, dass der Fernseher nebenan im Wohnzimmer lief. Fluchend ging ich wieder nach draußen. Ich konnte nur hoffen, dass heute Nacht niemand mehr nach mir sehen würde. Auf der anderen Seite, das tat ja sonst auch niemand. Ich zuckte mit den Schultern und machte mich auf den Weg. Als ich gerade um die Ecke des Hauses ging, streifte mich etwas am Ärmel. Ich konnte gerade noch einen Schrei unterdrücken und fuhr herum. "Munin! Tu das nie wieder."
Er krähte nur leise und setzte sich auf meine Schulter.
"Willst du mir helfen? Gute Idee, du könntest mich warnen, wenn jemand kommt. Tust du das für mich?"
Munin krähte leise. Inzwischen fand ich ihn nicht mehr so unheimlich wie früher, aber Hugin wollte ich nicht begegnen. Er schien immer so weit entfernt wie möglich von mir weg zu sein und war auch nicht besonders freundlich. Ich sah einen Schatten in einiger Höhe vor mir her schweben. Das musste er wohl sein. 
"Sag mal Munin, kannst du mich verstehen? Einmal krähen für ja, zweimal für nein, in Ordnung?"
Er krähte einmal.
"Hm, na gut. Bist du Munin?"
Einfaches Krähen.
"Bist du Hugin?"
Zweifaches Krähen.
"Du machst mir Angst. Willst du damit sagen, du verstehst jedes Wort, das gesagt wird?"
Einfaches Krähen.
"In jeder Sprache? Auch die Tiere?"
Einfaches Krähen.
Jetzt flüsterte ich nur noch. "Wir sind da. Könntest du mich warnen, wenn jemand kommt? Ein langes Krähen, wenn die Hunde kommen, und ein kurzes, wenn ein Mensch kommt, ok?"
Er stieß sich mit einem einfachen Krähen von meiner Schulter ab und stieg in den dunklen Nachthimmel. Der Mond war von einer großen Wolke verborgen, aber sonst war der Himmel klar und die Sterne leuchteten. Ich schlich um das Grundstück herum bis zu einem Tor auf der Rückseite wo ich mich hinter einem Busch versteckte.
Ich hörte ein langgezogenes Krähen weit über mir und kurz darauf auch das Bellen von Hunden. Schnell packte ich die Würste aus meinem Rucksack. Eine legte ich auf die Innenseite des Tores. Schnell schlich ich mich wieder hinter meinen Busch. Ein paar Sekunden später hörte ich das Geräusch von Pfoten auf Beton und sah zwei magere, große Schatten schnell näher kommen. Am Tor hielten sie inne und stürzten sich auf die Wurst. Als sie aufgegessen war, witterten sie mit den Nasen im Wind und fingen an zu knurren. Ich warf von meinem Versteck aus eine weitere Wurst durch das Tor.
Einer der beiden fing sie im Flug auf und der andere begann laut zu kläffen, bis ich ihm auch eine Wurst zuwarf. Dann waren sie einen Moment beschäftigt und ich kam näher an sie heran. Sie begannen laut und drohend zu knurren und blitzten mich aus kleinen schwarzen Augen an. Schnell rückte ich die beiden letzten Würste heraus und brachte sie damit zum Schweigen. Während sie fraßen, machte ich mich auf den Heimweg. Das war leichter gewesen, als ich erwartet hatte.
Vielleicht würden sie mich nach einigen weiteren Besuchen ohne knurren und bellen auf das Grundstück lassen. Als nächstes wollte ich herausfinden, wie der Tagesablauf des Bauers war. Wann war die beste Zeit um anzugreifen? Ich kam mir vor wie ein Rebellenführer, der ein Attentat auf eine Regierungsperson plante. Wie kam ich nur auf einen so kindischen Gedanken. Ich musste über mich selbst lächeln.
Munin schwang sich auf meine Schulter. Das erinnerte mich wieder an den Drachen und das Lächeln verging mir gründlich. Ich fragte mich, ob damit mein Leben vorbei war. Ich hatte immer noch keinen Plan, wie ich meinem Schicksal entkommen konnte.

Tief in Gedanken versunken kam ich zuhause an. Leise steckte ich den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn mit einem ganz leisen Klick um. Die Tür war offen und ich ging hinein. Munin flatterte von meiner Schulter nach draußen. In diesem Moment wurde ich geblendet.
"Wo bist du gewesen?"
"Christoph, bist du verrückt? Du weckst noch Papa und Mama!"
"Du bist verrückt, dich einfach so wegzuschleichen. Wo bist du gewesen?"
"Das kann ich dir nicht sagen."
"Fein, aber ich kann Papa und Mama was sagen."
"Das würdest du nicht tun!"
Er zuckt mit den Schultern und drehte sich um. Mit der Taschenlampe beleuchtete er seinen Weg die Treppe hinauf und in sein Zimmer, das am andern Ende des Flurs entgegengesetzt zu meinem Zimmer lag.
"Er wird es nicht tun. So hinterhältig ist er nicht, das wird er nicht tun..." Das sagte ich mir immer wieder. Trotzdem hatte ich ein mulmiges Gefühl, das mich auch nicht verließ, als ich später im Bett lag und nicht einschlafen konnte.

Am nächsten Tag, und ich erinnerte mich, dass ich jetzt nur noch fünf Tage Zeit hatte, wachte ich mit einem Magenknurren auf. Ich legte keinen Wert darauf, einem meiner Familie zu begegnen, also schlich ich mich leise in die Küche.
Alles ging gut, bis sich die Kühlschranktür mit einem 'flupp' öffnete. Im Nebenzimmer, dem Wohnzimmer, hörte ich das Quietschen des Fernsehsessels. Schnell überlegte ich mir, wo ich mich verstecken könnte, aber es war zu spät. Als ich mich umdrehte, sah ich, dass mein Vater im Schlafanzug in der Tür stand. Er begann sehr leise zu sprechen. 
"Guten Morgen, mein Schatz, hast du gut geschlafen?"
"Hallo Papa, ja, sehr gut, und du?" Ich versuchte möglichst gut gelaunt zu klingen.
"Oh, auch sehr gut. Du bist gestern so früh ins Bett gegangen, was war denn los?"
Ich wusste, dass was faul war, denn er hatte mich seit meiner Rückkehr noch nicht gesehen und zusammengestaucht. Ich konnte das Spiel nur weiterspielen.
"Mir ging´s nicht so gut, aber jetzt ist alles in Ordnung."
"So, das freut mich. Für mich ist nicht alles in Ordnung, fürchte ich."
Stille. An dieser Stelle sollte ich fragen, was nicht in Ordnung war, und dann würde er mich anschreien. Aber ich beschloss, etwas neues zu versuchen.
Schnell schnappte ich mir ein paar Brote und ging zur Tür. Dann zwang ich mich zur Ruhe und sagte ganz mitleidig: "Oh nein, das tut mir aber leid, hoffentlich geht´s dir bald besser", und verschwand.
"Ich glaube, du spinnst!" dröhnte es hinter mir. "Du warst die halbe Nacht weg! Du glaubst wohl, dass du dir hier alles erlauben kannst!..."
Ich unterdrückte einen Seufzer und drehte mich wieder zu meinem Vater herum, um mich anschreien zu lassen. Er konnte wohl kaum noch wütender werden, also begann ich mein Brot zu essen, ich hatte wirklich schrecklichen Hunger. Als ich irgendwo aus seinem Redeschwall das Wort "Hausarrest" heraushörte, setzte mein Herz aus.
"Das kannst du nicht, ich muss hier weg!" stammelte ich.
"Du wirst schön hier bleiben, mein Kind!" lachte er. "Du wirst schon sehen, wer hier am längeren Hebel sitzt!"
Eine Diskussion war sinnlos, ich musste einen Fluchtweg finden. "Ok, ich geh dann wieder in mein Zimmer, wenn du fertig bist", sagte ich achselzuckend. Er blieb mit offenem Mund stehen. Das kannte er nicht von mir!

In den nächsten Tagen versuchte ich meinen Eltern möglichst aus dem Weg zu gehen und zermarterte mir das Hirn nach einem Fluchtplan. Es gab kaum eine Chance von dem Erdgeschoß aus nach draußen zu gelangen, ohne dass es jemand hören würde.
Also saß ich den gesamten ersten Tag in meinem Zimmer, überlegte, was ich auf meine "Reise" mitnehmen sollte, und was mich erwartete, wenn ich entweder meinen Auftrag erledigte, oder was geschah, wenn ich es nicht tat.
Am zweiten Tag kam mir endlich die rettende Idee, die so simpel war, dass ich lachen mußte. Ich bastelte mir eine Strickleiter aus einem dünnen, aber starken Seil, das ich an der Toilette im Bad befestigen wollte, und das so leicht war, dass ich es mühelos tragen konnte und es nicht im Garten verstecken mußte, wo es meine Eltern vielleicht fanden. Der große Haken an der Sache war nur, wie ich das Seil befestigen sollte, wenn ich doch auf der Wiese stand und hinein wollte. Ich konnte die Leiter nicht hängen lassen, weil man sie früher der später bemerkt hätte. Aber auch da hatte ich einen, wenn auch sehr riskanten Einfall...

Am nächsten Tag wären es nur noch drei Tage, bis ich dem Drachen sein Essen bringen sollte, also mußte ich jede Nacht nutzen, um die Hunde an mich zu gewöhnen und herauszufinden, ob es noch ein anderes Alarmsystem, oder eine Wache gab, was zwar zugegebenermaßen unwahrscheinlich, aber immerhin möglich war. Und so machte ich mich an die Arbeit und knotete meine Leiter, die zwar nur aus einer Reihe von unterschiedlichen Schlaufen bestand, die aber für meine Zwecke ausreichend war. Als ich fertig war, konnte ich meine Finger kaum noch bewegen und draußen dämmerte es schon. Ich aß noch etwas, wünschte meiner Familie eine gute Nacht und stopfte einige Kleidung so unter die Decke, dass es - so hoffte ich zumindest - so aussah, als ob ich im Bett lag. Ich ging zum Badezimmer-Fenster, rief Hugin und Munin und erklärte ihnen meinen Plan. Hugin kreischte, bevor ich fertig war, und flog davon. Das war schon sehr aufbauend, aber wenigstens Munin blieb da und machte den Eindruck, als hätte er mich verstanden und würde mir zustimmen. Ich schwang mich aus dem Fenster in den Baum hinein, wo ich prompt den einzigen dicken Ast verpaßte und durch die Zweige hindurch auf den Boden knallte. Atemlos und einen Fluch unterdrückend blieb ich auf dem Boden liegen und hoffte, dass niemand den Lärm gehört hatte. Mein Bruder erschien im Wohnzimmerfenster und sah sich um. Offensichtlich konnte er mich nicht sehen und war zu faul, nach draußen zu gehen um nachzuschauen, denn er drehte sich um und wandte sich wohl wieder dem Fernseher zu. 

Keuchend stand ich auf, was gar nicht so leicht war, denn alles tat mir weh. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass nichts gebrochen war, lief ich los. Hinken würde es wahrscheinlich eher treffen, denn ich schien mir den Knöchel verstaucht zu haben, von den ganzen Kratzern und kleinen Wunden ganz zu schweigen.
Irgendwie bin ich zum Bauernhof gekommen, die Rodweiler empfingen mich schon knurrend und bellend, ich schob ihnen wieder etwas Fleisch und Wurst zu und hoffte, sie damit etwas freundlicher zu stimmen, doch jedes mal, wenn sie fertig gegessen hatten, begannen sie wieder zu knurren. Schließlich verschwand ich wieder. Nun kam der schwierige Teil meines Plans: Ich musste wieder ins Haus gelangen. Leise schlich ich mich in den Garten. Im Haus war alles dunkel, scheinbar schliefen sie schon alle. Es konnte aber auch sein, dass sie mir nur eine Falle stellen wollten und nur darauf warteten, dass ich mich verriet. Ich schlich mich durch das Loch in der Hecke und versteckte mich hinter dem großen Baum, an dem ich vorher versucht hatte, herunter zu klettern. "Munin, komm her!" flüsterte ich. Nichts regte sich. "Muuunin!" diesmal etwas lauter. Stille. "Komm her, du verflixter Vogel, ich brauche deine Hilfe!" - diesmal schon ein Keifen. Endlich raschelte es über mir und der große Rabe ließ sich vor mir auf den Boden gleiten. Ich packte meine "Strickleiter" aus und hielt Munin ein Ende hin. Ich sah das Mondlicht in seinen kleinen Augen funkeln, er sah mich an, bewegte sich aber nicht. "Na komm, ich habs doch erklärt, lass mich jetzt nicht im Stich", bettelte ich.  Als ich schon am Verzweifeln war, zwinkerte er - so schien es mir wenigstens - und nahm die Schlinge an der Strickleiter in den Schnabel. Ich atmete auf. "Musst du mich immer so erschrecken?" Er flog zum Badezimmerfenster und verschwand im dunklen Inneren des Hauses.
Nach einer Weile erschien er wieder und krähte lautstark. "Pssst!" zischte ich. Ich zog am unteren Ende der Strickleiter, die aus dem Fenster hing. Die Leiter hielt. Ich atmete auf und war unendlich erleichtert. Offensichtlich hatte Munin die Schlaufe wirklich irgendwo im Bad befestigt. Langsam kletterte ich hoch, wobei ich mich mehr als ein mal verhedderte oder abrutschte.
Schließlich schaffte ich es aber doch noch und kletterte durch das Fenster hinein. Es war stockduster und totenstill. Hatte mich jemand gehört? Ich rutschte auf der Fensterbank aus und knallte lautstark mit der Schulter voran auf die Fliesen im Bad. 
Irgend etwas im Haus bewegte sich. So leise wie möglich, und so gut es eben mit meiner schmerzenden Schulter ging, zog ich die Strickleiter durchs Fenster herein und verstaute sie wieder in meinem Rucksack.
Ich schloss das Fenster und öffnete leise die Tür zum Flur. Ich wartete.
Alles war Still, also schlich ich im Dunkeln langsam auf meine Zimmertür zu. Als ich sie öffnete knarrte sie, was sich in der Stille des Hauses noch lauter anhörte, als es sowieso schon war. Ich hielt die Luft an und wartete. In irgend einem anderen Zimmer räusperte sich jemand, dann war es wieder still, nur die Uhr in der Küche tickte. Ich schlüpfte hinein, schloss die Tür hinter mir und ließ mich - als ich sicher war, dass niemand auf mich wartete - Erleichtert auf mein Bett fallen.

Zwei Tage. Das war der erste Gedanke, als ich am nächsten Morgen aufwachte. Es war heiß und schwül und die Sonne schien schon durch mein Fenster, als ich aufstand, um mich zu duschen und mich umzuziehen, damit niemand merkte, dass ich heute Nacht in Jeans geschlafen hatte. Die Kratzer in meinem Gesicht und an meinen Armen würde wohl kaum jemand von meiner Familie bemerken, und wenn doch, dann würde sicher niemanden interessieren, was passiert war, dachte ich, als ich mich im Spiegel sah. Ich tat mir selbst dafür sehr leid. Überall war meine Haut zerkratzt, meine Schulter tat weh, mein rechter Knöchel war dick geschwollen, und sogar die Haut um meinen "tollen" Armreif war gerötet und brannte. Die nächsten Stunden verbrachte ich damit, meine Verletzungen so gut es ging mit Cremes und Verbänden zu versorgen. Danach wusste ich irgendwie nicht so ganz, was ich tun sollte. Also kontrollierte ich meinen Rucksack, den ich schon lange vorher gepackt hatte. Taschenlampe, Batterien, Messer (aus der Küche geklaut), Waschsachen, Kleidung, Fotos von meinen Freunden und - kaum zu glauben - auch von meiner Familie, meine "tolle" Leiter, meinen Walkman, etwas Proviant, und - ganz wichtig - einen Fotoapparat mit vier Filmen, falls ich doch noch einen Beweis für den Drachen brauchte. Der Tag wollte nicht enden. Die Zeiger meiner Uhr krochen im Zeitlupentempo über das silberne Zifferblatt, während ich in meinem stickigen Zimmer saß und versuchte mich abzulenken.
Doch meine Gedanken begannen immer wieder um die gleichen Themen zu kreisen. Meinen Eltern würde es zweifellos auffallen, dass Fleisch und Wurst fehlte, aber das konnte ich nicht ändern, da ich ja Hausarrest hatte und somit keine neue kaufen konnte. Mit etwas Glück würden sie mich erst zur Rede stellen wollen, wenn es schon zu spät, und ich über alle Berge war.  So lag ich die meiste Zeit auf meinem Bett, las und hörte Musik. Mir Gedanken über eine Flucht vor dem Drachen zu machen, hatte ich irgendwie aufgehört. Durch die Vögel schien er über alles Bescheid zu wissen, was ich tat, und mir den Arm abzuhacken war es nicht wert, außerdem hätte ich mich nicht getraut. In letzter Zeit hatte ich die Nase voll von meiner Familie und meinen "Freunden". Soviel schlimmer konnte das, was mir der Drache bot, oder besser das, wozu er mich zwang, gar nicht sein, dachte ich, auf keinen Fall würde es jedenfalls langweilig sein. Ob er mich fressen würde? Dann war ich meine Sorgen jedenfalls los.
So in meine Gedanken versunken schlief ich ein. Mein Vater platzte ins Zimmer und ich schrak hoch.
"Du wirst morgen früh verreisen. Zu deiner Tante nach München. Pack deine Sachen!" Mit diesen Worten war er auch schon draußen und knallte die Tür hinter sich zu.
Ich war hellwach. 20.00 Uhr, ich musste handeln. Ich wartete, bis es ruhig im Haus war, dann versuchte ich noch einmal, mit Nathalie zu telefonieren, doch der Anrufbeantworter lief; ich sagte nur, dass ich sie lieb hatte und ihr alles Gute wünschte.

Ich holte das restliche Fleisch aus der Gefriertruhe und packte noch ein paar Papiertaschentücher in meine Jacke. Dann setzte ich mit einiger Mühe meinen Rucksack auf und ging zum Badezimmerfenster. Ich warf den Rucksack nach draußen und hoffte, dass nichts kaputt ging. Dann sprang ich hinterher. Diesmal ging alles gut, und ich erwischte den richtigen Ast, so dass ich mich mehr oder weniger langsam am Baum herunterhangeln konnte. Ich rief nach Munin und erklärte ihm die Lage. Obwohl ich nicht das Gefühl hatte, dass er auch nur ein Wort verstanden hatte, setzte ich meinen Rucksack auf und ging los. Nun musste ich meinen Plan eben vorziehen und die Rinder jetzt stehlen.
Ich sah nicht zurück, als ich zum letzten mal meine Straße entlang ging. Irgendwie wusste ich, dass es das letzte mal war, ich würde nie zurückkehren. Ich kämpfte mit den Tränen und versuchte mich auf meinen Auftrag zu konzentrieren.

Am Bauernhof angekommen, hockte ich mich ins Dunkel und wartete, bis die Hunde kamen. Zum Glück verhielten sie sich still. Einer wedelte sogar mit seinem Schwanz. Ich kletterte über die Mauer und redete dabei beruhigend auf die beiden ein. Als sie zu knurren begannen, packte ich etwas Wurst aus und legte sie auf den Boden. Ich beeilte mich zum Kuhstall zu kommen, während die Tiere noch fraßen, doch auf dem halben Weg holten sie mich ein. Wieder legte ich etwas auf den Boden und ging weiter. Ich hatte den Stall erreicht, die Tür war zum Glück angelehnt. Als ich sie mit einem leisen Quietschen aufzog, schlug mir ein beißender Geruch nach Mist und Urin entgegen. Scheinbar behandelte der Bauer seine Kühe schlechter als seine Hunde, dachte ich. Als ich den dunklen Stall betrat, wurden die Kühe unruhig. Ich schloss schnell die Tür hinter mir, als ich die Hunde kommen hörte. Das Geräusch der Hundekrallen auf dem Betonboden jagte mir Angst ein.
Ich wollte meine Taschenlampe nicht benutzen, aus Angst, jemand könnte den Lichtschein von außen durch die Ritzen sehen. Langsam gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit und ich konnte viele Augenpaare erkennen, in denen sich das Licht des Mondes spiegelte. Sie blickten mich ängstlich an. Während ich beruhigend auf sie einredete, versuchte ich, das Gitter zu öffnen, hinter dem sie alle aufgereiht angebunden waren. Draußen hörte ich die Hunde an der Tür scharren und kratzen. Ich musste mich beeilen. Das Gitter ließ sich zum Glück leicht öffnen, und die Ketten waren auch einfach nur eingehakt. Überhaupt war es Glück, dass die Rinder angekettet waren, in meiner Eile hatte ich nämlich ein Seil oder etwas ähnliches vergessen. Gut, ich hätte auch meine Strickleiter auseinander knoten können. Die Hunde begannen vor der Tür ungeduldig zu knurren. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie den Bauern wecken würden. Über dessen Schrotflinte hatte ich schon genug gehört. Ich beeilte mich und befreite wahllos vier der Rinder. Offensichtlich neugierig trotteten sie hinter mir her. Ich packte ein saftiges Stück Steak aus, öffnete die Tür kurz und warf es nach draußen. Dann ging ich selbst, die vier Rinder hinter mir herziehend. Ich hakte jeweils eine Kette in eine andere ein, so, dass ich nur noch auf zwei achten musste. Je näher ich dem Ausgang kam, desto stärker musste ich die Schlachttiere ziehen. Mitten auf dem Hof holten mich die Hunde wieder ein. Ich gab ihnen das letzte Fleisch, das ich bei mir hatte. Ich zerrte an den Ketten, doch die Rindviecher bewegten sich kaum von der Stelle. Ich versuchte auch von hinten zu schieben, aber als das erste mit einem lauten Muhen reagierte, gab ich diese Taktik auf. Der Bauer würde noch wach werden, wenn das so weiter ging. Mir fiel auf, dass ich die Stalltür nicht geschlossen hatte.
Mist, zu spät.
"Munin, hilf mir, bitte!" flüsterte ich, und erstaunlicherweise segelte gleich ein Schatten durch die Luft. Ein zweiter, größerer folgte ihm einen Moment später. Gemeinsam flogen sie im Tiefflug hinter den Wiederkäuern her, denen die Sache offensichtlich unheimlich war. Mit weit aufgerissenen Augen, aber mucksmäuschenstill setzten sie sich in Bewegung.
Die Wachhunde kamen, als ich etwa fünf Meter vom Tor entfernt war. Sie knurrten und bellten und versuchten die Vögel zu erwischen. Diese brachten sich in Sicherheit und einer der Rodweiler stürzte sich auf mich. Zum Glück erwischte er zunächst nur mein Hosenbein, aber durch den Lärm und die Hunde in Panik geraten, versuchten die Rinder zu flüchten und zerrten an ihren Ketten. Plötzlich griff der andere Hund eines der Tiere an. Das versuchte sich zu wehren und riss sich los. Ich verlor das Gleichgewicht und fiel auf den Rücken.
Sofort war der erste Hund bei mir und versuchte, mir die Kehle durchzubeißen. Mit einer Hand versuchte ich mich zu wehren, während ich mich mit der anderen in der Kette verhedderte und von den übrigen Rindern über den Boden geschleift wurde. Hätte ich Luft bekommen, hätte ich sicher so laut geschrieen, wie ich konnte, so allerdings konnte ich keinen Laut von mir geben. Ich sah ein riesiges Maul vor meinem Gesicht auftauchen. Es öffnete sich und das Tier zog die Lefzen zurück und starrte mich mit seinen hasserfüllten kalten Augen an, bevor es seine Kiefer um meine Kehle schloss. Plötzlich spritzte mir Blut ins Gesicht. Ich dachte, jetzt würde ich sterben, bis mir aufging, dass es nicht mein Blut war, das mir übers Gesicht lief. Das Gewicht auf meiner Brust verschwand, und ich sah wie der Hund gegen ein scheinbar riesiges Schattenwesen kämpfte. Statt zwei Augen hatte der Hund nur noch eins, das er gegen den Feind zu schützen versuchte, während er selbst ihn immer wieder angriff. Ich sprang auf, schnappte mir die Ketten und zerrte die Rinder in Richtung Ausgang. Ein Rabe hackte von hinten immer wieder auf die Tiere ein, die zwar ununterbrochen brüllten, sich aber jetzt wenigstens vorwärtsbewegten, um vor ihrem Peiniger zu fliehen. Der andere Hund stand mit gefletschten Zähnen da und schien sich unsicher darüber zu sein, was er tun sollte. Hinter mir im Bauernhaus ging das Licht an und eine laute Männerstimme fragte, woher der Lärm käme. Ich zerrte die Rinder durch das Tor, das sich zum Glück ohne Probleme öffnen ließ, und bog um die Ecke. Hier konnte uns der Bauer nicht mehr sehen, es sei denn, er würde uns folgen. Der erste Hund ließ von seinem Gegner ab und rannte hinter mir her. Das war sein Fehler. Als ich zurückblickte, sah ich, wie sich der Schatten auf ihn stürzte und dem Tier mit einem Triumphschrei das zweite Auge herausriss. Der Rodweiler jaulte auf, und in diesem Moment stürzte sich das Wesen auf seine Kehle. Nach ein paar Sekunden war alles vorbei.  Im Mondlicht konnte ich sehen, wie der große Vogel sich über sie blutende Leiche des Hundes beugte. Angewidert drehte ich mich um, als ich sah, wie er kleine Stücke rosa Fleisch aus seiner Beute riss und verschlang. Der kleinere Rabe gesellte sich zu ihm. Mir wurde übel. Solche Grausamkeit hatte ich bis dahin noch nie in meinem Leben gesehen. Der Hund tat mir leid, und ich bereute, was ich getan hatte.

Die Bäume ragten dunkel und bedrohlich vor mir auf als ich den Waldrand erreichte. Hugin und Munin waren noch nicht da, um mir den Weg zu zeigen. Also beschloss ich, einen Moment zu warten und die Rinder grasen zu lassen. Die Tiere und ich mussten uns erst mal beruhigen. Mein Herz raste. Wieder und wieder sah ich, wie sich die beiden Raben über den toten Hund beugten und an seinem Fleisch pickten. Was hatte ich getan? Ich legte mich ins Gras und sah zu den Sternen hinauf. Der Wind rauschte in den Baumwipfeln, irgendwo weit entfernt rief ein Uhu und ich begann mich so langsam zu beruhigen. Da hörte ich ein seltsames Geräusch. Ich hatte doch wirklich schon genug um die Ohren, oder? Ich stand auf und sah mich um. In einiger Entfernung schlich ein dunkler Schatten um die Bäume. Was ich heute erlebt hatte war zuviel, als dass ich jetzt Angst bekommen hätte. Ich hatte einfach die Nase voll, meine Nerven waren total überreizt und ich wollte nur noch meine Ruhe haben. Also ignorierte ich den Schatten so gut es ging und hielt Ausschau nach Munin oder Hugin. Nach einer Weile, die mir in meiner Ungeduld wie eine Ewigkeit vorkam, hörte ich Fluggeräusche und sah kurz darauf, wie sich die Silhouette eines großen Vogels vom Nachthimmel abhob. Der Vogel stieß zur Begrüßung einen Schrei aus, der mir eine Gänsehaut über den Rücken jagte, jetzt wo ich wusste, wie grausam der Rabe war. Das große Tier setzte sich auf meinen Arm und rieb seinen Schnabel an meiner Wange. Ich war ihm für seine Hilfe sehr dankbar und ich freute mich über seine Zutraulichkeit, aber bildete ich mir das ein, oder war der Schnabel etwas feucht, womöglich noch vom Blut des toten Rodweilers? Mir wurde übel.
Munin krähte und verschwand im Wald. Also los, dachte ich und schnappte mir meinen Rucksack und die Ketten der Rinder. Zuerst sah ich gar nichts, aber dann gewöhnten sich meine Augen und ich sah das schwache Mondlicht, das durch die Bäume fiel. Wir gingen immer tiefer in den Wald hinein. Eigentlich hatte ich gedacht, ich würde viele Tiere hören, aber mich umfing eine Totenstille, sogar die Geräusche meiner eigenen Schritte wurden vom Waldboden gedämpft. Es wurde immer dunkler, und weil ich jetzt absolut nichts mehr erkennen konnte, holte ich meine Taschenlampe heraus und schaltete sie ein. Nun kam ich mir erst recht wie ein Eindringling vor. Ich selbst konnte außerhalb des Lichtkegels meiner Taschenlampe nichts erkennen, aber mich musste man noch in großer Entfernung sehen können. Das Schnaufen der Kühe hörte sich in der Stille unnatürlich laut an und von ihrem warmen Atem in meinem Rücken bekam ich eine Gänsehaut. Etwas beobachtete mich. Ich sah mich um und leuchtete in alle Ecken, doch jedes mal wenn ich mich umdrehte, hatte ich das Gefühl, etwas müsste mich von hinten anfallen. Mein Herz schlug bis zum Hals. Was immer mich verfolgte, musste es schon von weitem hören. Leichte Beute. Ich hätte das Licht ausmachen müssen, um nicht gesehen zu werden, aber ich konnte es nicht. Die Rinder waren auch unruhig, aber sie waren nicht so in Panik wie ich. Ich sagte mir, dass ich doch unmöglich noch dümmer als diese Tiere sein konnte, und dass ich vor nichts Angst haben müsste. Aber mein Gefühl sagte mir etwas anderes.
Ständig nagte es an mir und versuchte mir klar zu machen, dass etwas Jagd auf mich machte. Hinter mir knackte es, und es waren nicht die Kühe. Ich fuhr herum und schrie so laut ich konnte, als ich meinen Verfolger endlich sah. Ein schwarzer Schatten mit glutroten Augen stürzte auf mich zu. "Verschwinde", schrie ich und war kurz davor, meine Taschenlampe nach dem Monster zu werfen, als ich erkannte, was es war. Es war der zweite Kampfhund, den wir lebend zurückgelassen hatten. Er stoppte und kreiste um mich und die Tiere herum.
Offensichtlich hatte er mich noch nicht in Stücke gerissen. Also versuchte ich mich zusammen zu nehmen und sprach beruhigend (das bildete ich mir zumindest ein) auf das Tier ein. Langsam zog ich meinen Rucksack ab und griff hinein. Der Rodweiler beobachtete mich misstrauisch und mit gefletschten Zähnen. Ich holte ein Wurstbrot heraus und hielt es ihm entgegen. Sein Verhalten änderte sich schlagartig. Er hörte auf zu knurren und machte vorsichtig einen Schritt auf mich zu. Ich warf ihm ein kleines Stück vom Brot entgegen und er schnappte gierig danach. Es schien ihm zu schmecken, denn er bettelte nach mehr. Ich hielt ihm den Rest des Brotes entgegen, und nach einigem Zögern fraß er mir aus der Hand. Ich hatte schon Angst, dass das ganze Spiel von vorn losgehen würde, wenn ich nichts mehr für ihn hatte. Aber er suchte nur kurz nach mehr und drängte sich dann zitternd an mich. Scheinbar hatte er genauso viel Angst wie ich. Diese Veränderung war kaum zu glauben.
Wir gingen weiter in den Wald hinein, und seltsamerweise hatte ich nicht so viel Angst, wie vorher. Munin kam zurück, und wollte sich sofort auf den Hund stürzen, aber ich ging dazwischen und versuchte ihm zu erklären, dass er von nun an mitkommen würde. Munin war sichtlich beleidigt, ließ aber schließlich von seinem Opfer ab und flog weiter voraus. Mit Hugin würde es sicher größere Probleme geben. Wir liefen immer weiter und weiter, Munin zeigte uns den Weg. Als es schon dämmerte, stoppten wir auf einmal direkt vor einem Felsen. Dann verschwand Munin irgendwo am Himmel, und ich stand eine Weile da und wusste nicht so recht, was ich tun sollte. Schließlich machte ich es mir gemütlich und teilte meinen Proviant mit dem Hund. Plötzlich donnerte es und die Erde bebte, erschrocken sprang ich auf, die Rinder gerieten in Panik und der Rodweiler kläffte und knurrte den unsichtbaren Feind an. Ich hatte alle Hände damit zu tun, die Tiere festzuhalten, als sich auch noch plötzlich die Felswand öffnete und ein Gang ins Innere sichtbar wurde. Ein schwach erleuchteter Tunnel, der nach unten in die Tiefe führte.
 

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Und schon geht's weiter zum 4. Kapitel: Das Tor

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