Sonnenreiter von Latsi

"Wetten, dass du dich nicht traust?"
"Ich trau mich wohl!"
"Tust du nicht!"
"Tu ich doch!"
"Du gibst ja bloß an. Mädchen trauen sich sowas nie. Die fallen höchstens in Ohnmacht."
"Du fällst gleich selber in Ohnmacht, wenn ich dir eine runterhaue!"
"Dass du dich prügeln kannst, weiß ich. Aber einen Drachen zu reiten, das traust du dich nicht!"
Statt einer Antwort drehte sich Tira um und stapfte in Richtung Drachenhöhlen davon. Kolin folgte ihr - und damit begann das große Abenteuer.
Natürlich hatte Kolin nicht angenommen, dass Tira Ernst machen würde. Eigentlich erwartete er auch jetzt noch, dass sie sich auf die eine oder andere Art aus der Affäre ziehen würde - sich den Fuß verknacksen oder die näherrückende Mittagessenszeit bemerken oder so etwas. Aber Tira tat vorerst nichts dergleichen, sondern kletterte behände wie ein Wiesel vor ihm her den steilen Waldpfad hinauf, und je länger sie unterwegs waren, desto unbehaglicher wurde dem Jungen zumute. Schließlich kannte er Tira nun schon die gesamten elf Jahre seines Lebens (theoretisch, denn an die ersten drei oder vier konnte er sich natürlich nicht so genau erinnern) und wusste, wie zielstrebig und starrsinnig sie sein konnte, wenn sie sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte.
Die Kiefern, durch die sie sich zwängten, wurden immer krüppeliger, je höher sie kamen - die Baumgrenze war nicht mehr weit. Bald konnten sie schon frei ausschreiten, zwischen den nur noch buschhohen Bäumen hindurch, die sich rechts und links des kaum erkennbaren Pfades vor dem scharfen Bergwind duckten, ihre dicken Wurzeln in einem möglichst weiten Radius auf dem kargen Boden verankernd. Überall lagen größere und kleinere Steine herum.
Jetzt war Tira auf der Kuppe angelangt, strich sich die kinnlangen braunen Haare aus dem Gesicht und wartete auf ihren Freund. Schnaufend blieb Kolin neben ihr stehen und wischte sich mit dem Ärmel seines blauen Hemdes den Schweiß von der Stirn. Vor ihnen senkte sich der Boden sanft in eine kleine Talmulde ab. Hier wuchs keine einzige Krüppelkiefer mehr, es gab nur noch Gras und Steine. Zur linken öffnete sich die Mulde in eine schmale, felsige Schlucht, von der die beiden wussten, dass sie sich bis in die große Ebene erstreckte, die weite, flache Landschaft, die sie nur aus Erzählungen kannten. Ein munterer Bach bahnte sich rechts von ihnen seinen Weg herab durch das Geröll, speiste den blaugrünen kleinen Bergsee in der Mulde und verließ ihn auf der anderen Seite wieder, um über eine Felsstufe in die Schlucht zu stürzen. Die vierte Seite des Talkessels bestand aus einer massiven Felswand, die beinahe senkrecht vom Boden aufragte. Schräge Schichtungen zogen sich durch das Gestein, das an einigen Stellen rötlich schimmerte.
Aber nicht diese landschaftlichen Reize des kleinen Tales zogen die Blicke der beiden an, sondern die unten in der Wand zu erkennenden dunklen Öffnungen - die Drachenhöhlen! Es war nicht das erste Mal, dass sie hier standen und die Drachen beobachteten - aber es war sehr wohl das erste Mal, dass sie sich kurz ansahen und dann den Hang hinabgingen. Sie sprachen nicht mehr, bis sie am Ufer des Sees angekommen waren.
"Wollen wir wirklich?" fragte Kolin, als sie sich daran machten, den in den See mündenden Bach zu überqueren. Aber es war eigentlich keine wirkliche Frage, denn sogar er hatte jetzt das Gefühl, sich den Rest seines Lebens schämen zu müssen, wenn sie an dieser Stelle umdrehten und nach Hause gingen. Tira nickte nur. Es war nun, wo es Ernst wurde, keine Rede mehr von "du traust dich nicht", genauso wie auch klar war, dass sie es beide tun würden, nicht nur Tira. Sie balancierten über die Steine des schmalen Baches und blieben auf der anderen Seite einen Augenblick stehen, um sich zu orientieren.
Es gab fünf Drachenhöhlen in der Wand. Vor den am weitesten links gelegenen Öffnungen konnten sie von hier aus zwei Jungdrachen raufen sehen: Sie flogen immer wieder ein Stück auf, worauf sich dann der Schnellere auf den Rücken des anderen fallen ließ und ihm in den Nacken biss - so übten sie im Spiel Verhaltensweisen ein, mit denen sie später ihren Rang in der Gruppe festlegen würden. Zwei erwachsene Drachen lagen mit dem langen Schwanz in Richtung See auf ihren Vorderklauen und überwachten die Spiele der Kleinen. Vor der mittleren Höhle hockten drei weitere Echsen in der Sonne, eine davon breitete gerade in dem Moment in dem sie hinübersahen, ihre ledrigen Flügel aus und erhob sich mit einem kräftigen Sprung in die Luft. Kolin und Tira warfen sich augenblicklich zu Boden, aber der Drache flog gar nicht in ihre Richtung, sondern verschwand - in Schräglage, um nicht an den Felswänden anzuecken - in der Schlucht. Die beiden Kinder beobachteten auf dem Bauch liegend weiter. Ganz rechts, den Kopf den spielenden Jungtieren zugewandt, den Schwanz halb in der letzten Höhle, lag ein sechstes Exemplar.
"Der oder keiner", krächzte Tira aufgeregt, "an den können wir uns von hinten ranschleichen!"
Kolin nickte, er hatte dasselbe gedacht. Also huschten einen Augenblick später zwei kleine Gestalten den Bachlauf hinauf und dann an dem Schotterfeld und der Felswand entlang, bis nur noch wenige hundert Meter sie von der letzten Drachenhöhle trennten. Ab jetzt schlichen sie sich Zentimeter für Zentimeter vorwärts. Kolin hatte sein leuchtend blaues Hemd ausgezogen und hinten in die graue Leinenhose gestopft, um keine Aufmerksamkeit zu erregen (gegen seine ebenso leuchtenden roten Haare konnte er nichts unternehmen). Beiden klopfte das Herz bis zum Hals. Wenn der Drache sich nur nicht umdrehte und sie bemerkte! Seine grünlich-graue Haut glänzte in der Sonne. Olivfarbene, dreieckige Stacheln zogen sich von seinem langen Schwanz, den sie nun fast ganz sehen konnten, bis zum Halsansatz über seine Wirbelsäule. Sie mussten versuchen, an seiner linken Seite entlang bis zu seinem Vorderbein zu gelangen, bevor er sich umdrehen und sie mit seinem Feueratem treffen konnte.
Der Feueratem! Sobald ein Kind im Dorf laufen konnte, wurde ihm klargemacht, was das bedeutete - jeder, der in der Nähe einer Drachenkolonie lebt, muss darüber Bescheid wissen, um sich im Falle einer Begegnung mit einem Drachen richtig verhalten zu können:
Drachen sind Reptilien, also Kaltblüter. Da bei ihnen aber aufgrund ihrer Größe das morgendliche Sonnenbad zum Aufwärmen nicht ausreichen würde, hat sich Mutter Natur für sie etwas Besonderes ausgedacht: einen äußerst hitzeunempfindlichen Magen-Darm-Trakt und die Fähigkeit, dessen Inhalt innerhalb kürzester Zeit zum Gären zu bringen. Die dadurch entstehende Hitze wärmt das Blut des Drachen an. Da diese Wärme nun aber im Magen erzeugt wird, bedeutet ein Drachenrülpser - und naturgemäß rülpst ein Drache oft, da bei der Gärung auch Gase entstehen - ziemlich heiße Luft. Dass ein Drache Flammen spuckt, ist natürlich Blödsinn, aber die herausgerülpsten Gase sind so heiß, dass ein Mensch, der sie abbekommt, buchstäblich gebacken wird. Dummerweise ist nun das gegenseitige Anrülpsen unter Drachen ein Zeichen der Zuneigung, und da die Echsen ausgesprochen gesellige und freundliche Tiere sind, ist für sie alles, was nicht auf ihrem Speiseplan steht, ein Freund (natürliche Feinde gibt es selbstverständlich nicht) - darum muss ein Mensch, der sich einem Drachen nähert, damit rechnen, zur Begrüßung freundlich angerülpst zu werden. Das allein macht die Begegnung mit diesen Tieren so gefährlich, denn aggressiv sind sie in keiner Weise.
Tira und Kolin waren jetzt an der Höhlenöffnung angekommen. Vorsichtig lugte Tira um die Ecke. Die Höhle war leer. Jetzt kam es darauf an. Kolin suchte Tiras Hand und drückte sie fest, Tira drückte zurück - und dann schlüpften sie so leise wie es irgend ging in den Schatten des Höhleneingangs, um sich dem Drachenschwanz aus einem möglichst kleinen Winkel zu nähern. Als sie eben an seiner Schwanzspitze angekommen waren, machte der bisher vollkommen ruhig daliegende Drache mit einem Mal eine Bewegung. Sein Schwanz schnellte in die Höhe und wäre Tira beinahe auf den Kopf gefallen, wenn sie nicht geistesgegenwärtig einen Schritt zur Seite gemacht hätte. Der Drache schien die Bewegung aus dem Augenwinkel gesehen zu haben, sein Kopf schwang herum und das große runde Auge mit der schlitzförmigen Pupille sah sie direkt an. Es war nicht nötig, sich darüber zu verständigen, was nun zu tun sei: sie mussten auf seinen Rücken gelangen, ehe er seinen Rülpser vorbereitet und sich ganz zu ihnen umgedreht hatte. Sie rannten um ihr Leben, am Hinterbein vorbei, die Flanke entlang, in der es bereits bedrohlich zu gluckern begann, zum Vorderbein, - der Drache reckte den Hals, um die Speiseröhre zu strecken - Tira sprang zum hochstehenden Ellenbogen hoch, griff zu, versuchte sich hinaufzuziehen, schaffte es nicht, rutschte ab, - der Drache machte einen Schritt nach rechts, um sie wieder ins Blickfeld zu bekommen - erneutes Rennen zu seinem Vorderbein, diesmal war Kolin vorn, sprang, hielt sich fest und schaffte es, sich hochzustemmen, Tira sprang wieder, Kolin fasste ihre Hand, - der Drache machte einen erneuten Schritt nach rechts, Kolin schrie auf, konnte sich gerade noch halten, Tira hing sich festklammernd am Unterarm des Drachen, dann gelang es Kolin endlich, sie hochzuziehen, sie kletterten auf den Rücken der Echse, die sich noch einmal zur Seite bewegte - und dann brach sich das Gas aus dem Magen des Drachen Bahn und er rülpste laut und anhaltend. Die Luft vor seinem Maul flimmerte, und immer noch heiße Luft wehte nach hinten zu den beiden Kindern, die sich inzwischen keuchend jeweils zwischen zwei seiner Rückenstacheln niedergelassen hatten.
Die Hornplatten auf dem Rücken eines Drachen scheinen wie dafür gemacht, dass ein Mensch sich dazwischensetzt: sie bilden zum Kopf des Drachen hin leicht eingedellte Dreiecke, die nach hinten zu schmalen Kanten auslaufen, so dass man sich bequem gegen die hintere lehnen und an der vorderen festhalten kann. Kolin und Tira hatten sich instinktiv die richtigen Plätze ausgesucht - nicht zu weit vorn, um dem Drachen nicht direkt auf den empfindlichen Nackenwirbeln zu sitzen, aber auch in gebührendem Abstand zu den jetzt noch zu je drei dunklen, nach schräg hinten über den Rücken des Drachen wegstehenden Spitzen zusammengefalteten Flügeln.
Der Drache wirkte zuerst etwas ungehalten, dass sein Rülpser so ins Leere gegangen war, beruhigte sich dann aber schnell wieder. Er schien gegen ihren Aufenthalt auf seinem Rücken ansonsten nichts einzuwenden zu haben.
Langsam trottete er aus dem Schatten der Felswand und gesellte sich zu den beiden mittleren Drachen hinüber. Als er sie erreichte, streckte er den langen Hals nach vorn und zischte, worauf die zwei Tiere, die offensichtlich in der Rangordnung unter ihm standen, ihm durch Ducken und mit dem Kopf hin- und herpendeln ihre Unterordnung versicherten. Er legte sich hin, schloss die Augen und schien die Wärme zu genießen. Die beiden Kinder auf seinem Rücken sahen sich an, seufzten und stellten sich auf eine lange Wartezeit ein.
Es ist relativ leicht für einen Menschen, einen Drachen zu besteigen. Es ist noch leichter, sich auf seinem Rücken zu halten - aber es ist unmöglich, einem Drachen irgendetwas zu befehlen. Ein Drache fliegt wann und wohin er will, und ob dabei irgendjemand oder -etwas auf seinem Rücken sitzt, ist ihm schlichtweg egal. Vielleicht ist ihm dessen Anwesenheit auch gar nicht bewusst - Drachen sind nicht die intelligentesten Tiere, denn aufgrund ihrer Größe brauchen sie weder viel Verstand, um sich gegen irgendwelche Feinde zu wehren, noch um Beute zu machen.
Die folgende Stunde verbrachte Tira hauptsächlich damit aufzupassen, dass sie beim Einnicken nicht herunterfiel, während Kolin sich zunehmend Sorgen um seine Haut machte - wie die meisten rothaarigen Menschen war er sehr anfällig für Sonnenbrand.
Dann endlich rührte sich der Drache wieder. Er gähnte ausgiebig - je zwei Reihen Zähne, eine davon aus beeindruckenden Reißzähnen, glänzten weiß im Licht - und dann ging alles sehr schnell. Die große Echse erhob sich, entfaltete die Flügel, stieß sich ab, Kolin und Tira wurden gegen ihre "Rückenlehnen" gedrückt - und ehe sie zweimal schlucken konnten, waren sie schon hoch in der Luft. Der Wind pfiff ihnen um die Ohren, hinter Kolin sausten die großen, dunklen Schwingen durch die Luft, sie klammerten sich ängstlich fest und wagten kaum, nach rechts und links ins Nichts zu schauen. Der Drachenrücken unter ihnen, der ihnen auf der Erde riesig breit vorgekommen war, schien auf einmal ein ausgesprochen schmaler und wackliger Sitzplatz zu sein. Tira hatte das Bedürfnis, ihre Stiefel neu zu schnüren, damit sie ihr nicht von den Füßen fielen, aber sie traute sich nicht, auch nur eine Hand von dem Zacken vor ihr zu nehmen. Erst nach einer ganzen Weile wagte sie, die Augen von der noppigen Drachenhaut vor ihr zu heben und nach vorn zu blicken.
Was sie sah, raubte ihr so sehr den Atem, dass sie ihre Angst völlig vergaß. Der Drache war nicht wie der, den sie vorhin hatten fortfliegen sehen, in die Schlucht eingetaucht, sondern flog höher, viel höher - er hatte eine Schleife über dem Talkessel gedreht und rauschte nun im Steilflug die Felswand empor. Tira merkte, wie sicher sie saß, und lockerte ihren Griff etwas, als sie die obere Kante des Felsens erreichten. Der Anblick, der sich ihr nun bot, veranlasste sie zu einem kleinen Jauchzer. Unter ihr erstreckte sich ein weites Plateau, rötlich wie die Wand, und auf diesem Hintergrund entfalteten sich sattgrüne, leuchtendgelbe, blaugraue und weißliche Farbflecken - vereinzelte Grasstellen und verschiedene Flechtenarten, die den felsigen Untergrund an einigen Stellen fast völlig verdeckten und so immer neue Muster bildeten.
Kolin hatte inzwischen aus einem anderen Grund ebenfalls seine Angst verloren: Er flog! Er, Kolin Barnedssohn, flog auf einem Drachen durch die Luft! Sein Herz klopfte nicht mehr aus Furcht bis in den Hals, sondern vor Aufregung und Stolz. Es war ein unbeschreiblich wundervolles Gefühl, die Luft im Haar zu spüren und zu wissen, dass er sich hoch, hoch über der Erde befand, vom Wind getragen wurde - nicht die Luft bewegte sich, sondern er! Hinter sich hörte er die Drachenschwingen schlagen, spürte die Luftverwirbelungen auf dem Rücken - das machte ihn neben seinem Stolz auch demütig: letztendlich hatte er es schließlich nur der Gutmütigkeit dieses großen Tieres unter ihm zu verdanken, dass er, der kleine, leicht rundliche Menschenjunge, diesen Flug erleben durfte.
Die Landschaft glitt so rasch unter ihnen hinweg, dass es ihnen schwerfiel sich bewusst zu machen, wie lange es dauern würde, diese Strecke zu Fuß zurückzulegen. Das Hochplateau senkte sich langsam ab, die Flechten und der nackte Fels verschwanden, auf grasige Almen folgten vereinzelte Bäume, bis sie schließlich über ein weites Waldgebiet segelten. Der Drache flog jetzt immer tiefer und tiefer, bis er fast die Wipfel streifte, und schaute nach unten, als suche er etwas. Dann ließ er sich mit einem Mal fallen. Kolin schrie auf vor Schreck, zumal er schon eben begonnen hatte zu befürchten, dass das Reptil sich auf einem Jagdausflug befand. Er legte nicht allzu viel Wert darauf, mit anzusehen, wie die großen Klauen ein Reh oder so etwas in blutige Fetzen rissen. Aber was half es - der Drache würde sie nicht um ihre Meinung fragen. Er hatte die Flügel angelegt und rauschte nun durch die Zweige nach unten. Einen Wimpernschlag später landete er recht unsanft auf dem Waldboden, so dass Tira beinahe heruntergefallen wäre. Als sie sich wieder zurechtgesetzt hatte und sich nach der zukünftigen Beute des Drachens umsah, konnte sie keine entdecken. Der lichte Wald um sie herum war leer. Jetzt setzte der Drache sich in Bewegung. Zielstrebig marschierte er auf ein ausgedehntes Gebüsch zu und begann, ganze Zweige davon abzufressen.
"Himbeeren!" staunte Tira, "Wusstest du, dass Drachen Himbeeren fressen?"
Kolin schüttelte den Kopf. Woher hätten sie es auch wissen sollen? Es war schon lange niemand aus dem Dorf mehr mit den Drachen geflogen. Der Vater des alten Ornt hatte es in seiner Jugend getan, behauptete dieser, aber der alte Ornt erzählte viel, und ein großer Teil davon war erwiesenermaßen nur Erfindung. Jeder wusste, dass es möglich war, aber zu welchem Zweck sollte man die Gefahr auf sich nehmen, sich einem Drachen zu nähern? In einem Bergdorf war das Überleben zu hart, um sich mehr als nötig mit den Dingen abzugeben, die nicht nützlich waren.
Der Drache tauchte beinahe in das Himbeergebüsch ein, so dass Tira und Kolin sich einerseits vor den dornigen Zweigen in Acht nehmen mussten, andererseits nun selbst die Möglichkeit hatten, sich an den reifen Beeren gütlich zu tun, denn absteigen wollten sie natürlich nicht.
Erst nachdem er einen großen Teil der Pflanzen vollständig abgefressen hatte, schien der Drache genug zu haben, leckte sich mit der langen, schmalen Zunge den Himbeersaft von der Schnauze und machte einen gewaltigen Satz nach oben. Die Flügel konnte er zwischen den Bäumen nicht ausbreiten, darum krallte er sich an zwei dicken Ästen fest und zog sich nach oben, bis die Schwingen Platz genug hatten, stieß sich von dem unter seiner Last zusammenbrechenden Baumwipfel ab und flog wieder.
"Ach du Schreck!" rief Kolin, als sie sich wieder zurechtgesetzt und den Klammergriff um den vorderen Rückenstachel etwas gelöst hatten, und zeigte auf den Himmel. Über den Bergen, ihrer Heimat, auf die sie nun wieder zuhielten, zog mit rasender Geschwindigkeit eine Wolkenwand auf, schwärzer als es die beiden jemals gesehen hatten.
Tira begann zu zittern. Sie fürchtete sich eigentlich nicht vor Gewittern, aber auf dem Drachenrücken...
Kolin ging es ähnlich. Vor allem machte ihm der Gedanke an starken Wind Angst. Was, wenn der Sturm den Drachen in eine starke Schräglage brächte? Sie könnten sich nicht ewig festhalten! Doch gerade, als die Panik ihn überkommen wollte, fiel ihm ein, dass er immer eine lange, feste Lederschnur in der Tasche hatte, so wie es ihm sein Vater beigebracht hatte. "Im Gebirge muss man immer ein Seil dabeihaben, und wenn es nur ein dünnes ist!" sagte er oft genug, und Kolin war jetzt froh, darauf gehört zu haben. Zum Glück waren die Hornplatten nicht ganz glatt, so dass die Schnur gut hielt, als er sich probeweise damit festband. Danach war noch genug Schnur übrig, die er um Tiras Bauch und den Stachel in ihrem Rücken wickelte.
Er war gerade damit fertig, als das Gewitter sie erreichte. Regen prasselte auf sie nieder, Blitze zuckten pausenlos über den Himmel und ihr Donnern dröhnte unerträglich laut in ihren Ohren. Der Drache schlug heftig mit den Flügeln und versuchte, sich über die Wolken zu erheben, aber inzwischen hatte auch der Wind eingesetzt, und er hatte sichtlich Mühe, überhaupt in der Luft zu bleiben. Mehrmals drückte ihm eine unerwartete Bö einen Flügel weg, so dass er nach der Seite wegkippte und abzustürzen drohte, aber er kämpfte sich jedes Mal wieder hoch und versuchte, die Richtung auf die Berge beizubehalten. Kolin merkte an der Anspannung der Muskeln unter seinen Beinen, dass die Echse müde wurde, und schließlich gab sie auf, drehte sich in die entgegengesetzte Richtung und ließ sich vom Wind tragen, anstatt gegen ihn anzukämpfen. Der Sturm tobte und heulte, und sie sausten mit ihm davon, schaukelnd und auf und ab taumelnd, aber doch sicherer als vorher.
Weder Tira noch Kolin konnten später sagen, wie lange das so ging. Sie wussten nicht einmal, wo sie sich befanden. Der Regen bildete hin und her wehende Schleier, die ihnen völlig die Sicht nahmen, aber sie waren sowieso viel zu verängstigt, um irgendetwas wahrzunehmen außer dem immer schwächer werdenden Drachen unter ihnen, der lebensrettenden Schnur um ihre Bäuche und der Kälte.
Dann endlich wurde der Sturm schwächer. Der Regen ließ nach, und der Himmel hellte sich auf. Kolin spürte, wie die letzte Kraft den Drachen verließ, wie er seine Muskeln entspannte und sich einfach zu Boden gleiten ließ.
Wie betäubt saßen die beiden Kinder auf dem Drachenrücken und konnten nicht fassen, dass sie lebten. Sie hatten das Gewitter unversehrt überstanden. Der Drache atmete schwer, aber auch er war am Leben. Sie spürten, wie die Sonne hervorkam und damit begann, ihre tropfenden Körper zu wärmen und zu trocknen - und erst da gelangte die Information in Tiras Gehirn, die ihre Augen schon seit geraumer Zeit versuchten zu vermitteln: Häuser. Rund um sie herum standen in einiger Entfernung Häuser aus Stein, und unter den Klauen des Drachen befanden sich rötliche Pflastersteine. Sie waren mitten auf einem weitläufigen, runden Marktplatz in einer steinernen Stadt gelandet, und zwischen ihnen und den Häusern bildete sich nun ein zweiter Ring, ein Ring aus Menschen.
"Kolin", fragte Tira, und ihre Stimme zitterte etwas, "Was machen die da?"
"Ich weiß nicht", antwortete der Junge und starrte auf die bedrohlich wirkende Menge. Sie hatten beide noch niemals so viele Menschen auf einem Haufen gesehen - ihr Dorf hatte nur 43 Einwohner, und dies hier waren hunderte. Sie trugen seltsame, unpraktische Kleider, wie Kolin bemerkte, als sich der Ring immer mehr schloss: Männer wie Frauen waren in lange Umhänge gehüllt, darunter schauten gelegentlich geschnürte Wämser und weite Röcke bei den Frauen und lange, schlauchartige Gewänder bei den Männern hervor. Manche hatten hohe Hüte auf dem Kopf, und jeder von ihnen hielt einen mehr oder weniger langen Stab in der Rechten. Kinder waren keine zu sehen. Jetzt hoben alle diese Menschen gleichzeitig die Stäbe in die Höhe - und plötzlich schossen aus den verdickten Enden der Stäbe grünliche Strahlen in die Höhe, glitten durch die Luft wie Bänder und trafen sich genau über den drei Eindringlingen, so dass sie eine hohe, strahlende Kuppel bildeten. Kolin und Tira waren vor Schreck wie gelähmt. Magie! Das musste Magie sein. In ihrem Dorf kam sie nicht vor. Wozu auch? Zum Ziegenhüten oder zum Bestellen der Gemüsegärten war sie nicht zu gebrauchen, geschweige denn dass man damit eine Bergwiese mähen könnte. Magie war etwas für Krieger oder Weise, nicht für Bergbauern.
Kolin fasste nach Tiras Hand. Es tat gut zu wissen, dass sie da war. Tira drückte zurück, aber gleichzeitig starrte sie nach oben - so bedrohlich die grüne Kuppel auch sein mochte, sie war wunderschön. Der von einzelnen Wolken durchzogene Himmel schimmerte durch die halb durchsichtigen Strahlen hindurch, die sich noch während sie schaute langsam wandelten und über ein helles Gelb zu leuchtendem Orange wechselten. Gerade als die Kuppel ein tiefes Rot erreichte, sah sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Einer der Magier löste sich aus dem Ring und kam näher. Sein Mantel war golden, und bei jedem Schritt blitzten purpurfarbene Stiefel am unteren Saum hervor. Etwa zehn Schritte vor ihnen blieb er stehen. Langes graues Haar wallte unter dem Hut hervor und auf seine Schultern nieder. Tira hatte noch niemals einen so ehrfurchtgebietenden Mann gesehen. Über einer leicht gekrümmten Nase blickten zwei stechende Augen sie an. Und dann tat der Mann etwas Unerwartetes: Er nahm den Hut ab und verbeugte sich tief. Tira fielen fast die Augen aus dem Kopf.
"Bote der Sonne!" rief er jetzt. "Bote der Sonne, seid willkommen! Wir haben Äonen lang geduldig auf Euch gewartet."
Dann hob er eine Hand, und alle Anwesenden begannen, in einem seltsamen Singsang etwas zu rezitieren, das sich wie eine Prophezeiung anhörte: "Wenn die Zeit gekommen ist, werden die wehenden Winde den Meister der Weisheit heranbringen, der mit Feuer und Kraft das Dunkle auslöschen und der Magie der Sonne zu ihrem Recht verhelfen wird. Seid bereit! Seid bereit! Seid bereit für den Drachen, den Boten der Sonne!"
Am Ende des Spruches warf sich jeder auf den Boden, nur der Mann im goldenen Mantel blieb stehen und sah den Drachen erwartungsvoll an. Aber die Echse war zu erschöpft, um auf ihn zu reagieren - um genau zu sein: sie war eingeschlafen.
Kolin zupfte Tira am Ärmel. "Du, Tira - versteh ich das falsch, oder glauben die, der Drache könnte sprechen und Magie erzeugen?" flüsterte er.
Tira zuckte nur die Achseln, denn jetzt schien der alte Magier begriffen zu haben, dass er fürs Erste keine Antwort von dem Drachen bekommen würde, und richtete seine Aufmerksamkeit nunmehr auf die beiden Kinder auf dessen Rücken. "Steigt herab, Sonnenreiter!" rief er leise, um den Drachen nicht zu wecken. Als ob ein Drache sich von irgendetwas stören ließe, wenn er schlief - Tira wäre beinahe in nervöses Kichern ausgebrochen, konnte sich aber gerade noch beherrschen. Dann wurde sie sich des Inhalts seines Rufes bewusst. "Meint der uns?" fragte sie ungläubig.
"Scheint so", antwortete Kolin. "Und ich glaube, wenn wir nicht absteigen, kriegen wir mächtig Ärger, oder was denkst du?"
"Wahrscheinlich", stimmte Tira ihm zu, fasste wiederum nach seiner Hand, und gemeinsam kletterten und rutschten sie an der Seite des Drachen herab.
Beiden war ziemlich flau im Magen, als sie schließlich direkt vor dem goldenen Mann standen. Sie ließen einander nicht los.
"Willkommen!" grüßte der Magier sie und neigte dabei wieder den Kopf.
"Danke, und guten Tag." Kolins Stimme klang ziemlich piepsig, aber was sollte man auch erwarten, wenn man solche Angst hatte! Sie folgten seinem Beispiel und verbeugten sich ihrerseits.
"Nicht doch, Sonnenreiter! Ich bin nichts als euer ergebener Diener. Mein unwichtiger Name ist Lergoban, Bürgermeister und Hüter des Sonnenstrahls." Und wieder verbeugte er sich.
Kolin und Tira sahen sich an. Bürgermeister? Ein Magier als Bürgermeister?
Ein Gedanke traf das Mädchen so plötzlich, dass sie ohne nachzudenken damit herausplatzte: "Seid ihr denn hier alle Magier?"
Lergobans Körper straffte sich sichtlich, als er mit unverhohlenem Stolz in der Stimme antwortete: "Ja. Wir alle, vom Ritter bis zum Straßenfeger, haben die Gabe der Magie. Wir dulden schon lange keinen unmagischen Menschen mehr unter uns. Der kristallene Sonnenstrahl ist seit alters her unser Zeichen für die Reinheit der Magie. Und jetzt ist der Bote der Sonne mit dem Wind gekommen, wie es in der alten Prophezeiung gesagt wurde, und er wird unsere Kraft stärken und uns mit seinem Feueratem helfen, endgültig das Land zu säubern. - Da, wo ihr herkommt, ist das Dunkel schon besiegt, wie ich vermute, wenn sogar Kinder stark genug sind, den Sonnenboten zu reiten?"
Ein drückendes Schweigen machte sich zwischen ihnen breit. In den Gedanken Kolins raste es. Was sollten sie antworten? Er öffnete den Mund und holte Luft, um irgendetwas zu sagen, auch wenn er nicht wusste, was genau der Bürgermeister meinte, nur um dieses gefährliche Schweigen nicht länger andauern zu lassen - aber es war bereits zu spät. Lergobans Augenlider zuckten kurz, dann streckte er Kolin seinen Stab hin und bat: "Eine kleine Probe deiner Lichtmagie?"
Kolin schüttelte den Kopf, ohne etwas sagen zu können - abgesehen davon, dass sein Hals wie zugeschnürt war, fiel ihm sowieso keine passende Ausrede ein.
Eine steile Falte bildete sich auf der Stirn des Magiers. Er sagte nichts, während er Tira den Stab hinhielt.
"Wir können nicht zaubern", sagte Tira fest. Was half es noch, zu leugnen?
Der Satz schien über den ganzen Platz zu hallen. Es war, als wären alle anderen Geräusche mit einem Mal verstummt, um Platz zu machen für diese vier Wörter, die sich ausdehnten und so groß wie Berge wurden, um jeden einzelnen Gehörgang zu füllen. Die Stille dauerte nur einen Herzschlag lang, dann erhob sich ein Raunen überall, Stirnen wurden gerunzelt, Augen wurden schmal, und immer mehr Zauberstäbe richteten sich auf die beiden Kinder.
Lergoban fasste sie mit hartem Griff an den Armen und rief laut: "Nein! Wir dürfen ihnen noch nichts tun!"
Das Murmeln wurde lauter und wandelte sich zu einzelnen empörten und entsetzten Rufen: "Aber das Dunkel!" - "Sie sind unmagisch!" - "Der Sonnenmagie muss zu ihrem Recht verholfen werden!"
Lergoban hob die Hand. "Vergesst nicht, dass sie mit dem Sonnenboten gekommen sind!"
Alle Augen wanderten herum zu dem immer noch schlafenden Drachen. Stille machte sich breit.
Wieder ergriff Lergoban das Wort: "Wir müssen das Gespräch mit ihm abwarten. - Bringt sie in den Turm!"
Zwei Männer in blauen Mänteln kamen heran, richteten ihre Stäbe auf Tira und Kolin, und die beiden fühlten, wie etwas wie eine harte Hand ihre Nacken umfasste und sie unwiderstehlich nach vorn zwang. Sie konnten weder seitlich ausbrechen noch stehen bleiben. Auf diese Weise lenkten die beiden Magier sie durch die großzügig angelegten Straßen der Stadt, deren Pracht sie aber vor Angst nur unterbewusst wahrnahmen. Was würde nun mit ihnen geschehen? Anscheinend war es hier etwas unerhört Schlimmes, kein Magier zu sein. "Noch nichts tun" hatte Lergoban gesagt. Diese Menschen wollten sie töten oder verzaubern - jedenfalls hatten sie nichts Gutes im Sinn, und die beiden Kinder wussten nicht einmal, an welchem wahrscheinlich seidenen Faden dieses "Noch nicht" hing.
Jetzt waren sie anscheinend an ihrem Ziel angelangt. Erst als der Zauber sie zwang stehenzubleiben, wurden sie des massigen Turmes überhaupt gewahr, auf den sie schon eine ganze Zeit zugegangen sein mussten. Er erhob sich höher als zwei Häuser vor ihnen, gebaut aus unbehauenen Felsbrocken aus Granit, ein dunkles, archaisch wirkendes Gebäude. Sie konnten nur eine einzige, kleine Tür erkennen und ganz weit oben eine Fensteröffnung.
Wieder wurden sie vorwärts gezwungen, auf die dicke Eisentür zu, die sich von allein öffnete, als sie näher kamen. Tira und Kolin stolperten über die Schwelle ins Dunkel. Ihre Begleiter blieben vor der Tür stehen. Einen Augenblick lang wurde ihren Augen Zeit gegeben, sich an die Finsternis zu gewöhnen, dann drückten die beiden Zauberer sie auf eine Art Rinne zu, die sie inzwischen schemenhaft erkennen konnten. Sie stand mitten in dem runden Raum und schien irgendwo hoch oben an die Wand gelehnt zu sein. Die Magie schob sie darauf, und dann sausten sie, von der unsichtbaren Kraft getrieben, nach oben, wo sie auf einer schmalen Plattform aus Brettern, die in Höhe des Fensters an die Mauern angebracht war, zum Stehen kamen. Sofort kippte die Rinne unerreichbar auf die andere Seite. Unten fiel die Tür ins Schloss. Ihre Bewacher hatten die ganze Zeit nicht ein Wort mit ihnen gesprochen.
Wie zwei verängstigte kleine Vögel, die zum ersten Mal das Nest verlassen haben, hockten Kolin und Tira auf dem abgenutzten Holz, unter sich viele Fuß Nichts, im Rücken kalter, unebener Stein und im Herzen Angst und Verzweiflung. Sie hielten sich in den Armen und weinten. Nicht einmal Tira schämte sich dafür. Es tat gut, sich so gehenzulassen, und sie hatten ja auch allen Grund dazu.
Das blasse Licht, das aus dem vergitterten Fenster in den Turm fiel, wurde in demselben Maße schwächer wie Tiras Schluchzen verebbte. Auch Kolin wischte sich seltener über die Augen. Schließlich saßen sie nur noch da und starrten auf die gegenüberliegende Wand, bis sie sie nicht mehr erkennen konnten und Tira vor Erschöpfung eingeschlafen war. Kolin blieb noch eine Weile wach und versuchte, einen Fluchtplan zu entwerfen, aber schließlich übermannte auch ihn die Müdigkeit. Eng aneinandergekuschelt schliefen sie, wie nur Kinder es in einer so ausweglosen Lage können.
Irgendwann wachte Kolin auf, ohne zu wissen warum. Er tastete nach Tira - sie war noch da. Er lauschte - nichts war zu hören. Alles schien so weit in Ordnung, wie es in ihrer augenblicklichen Situation sein konnte. Beruhigt legte er sich wieder hin - aber bevor seine Augen erneut zufielen, schreckte er plötzlich hoch: ein bläuliches Leuchten schimmerte durch das Fenster in den Turm und in seine Augen. Er stand auf und sah hinaus - und konnte einen überraschten Ausruf nicht verhindern.
"Was ist los?" murmelte Tira schlaftrunken und stellte sich wankend auf.
"Man kann alles sehen! Sie haben wieder eine Kuppel gemacht, und Lergoban geht auf den Drachen zu!" erwiderte Kolin atemlos.
Schlagartig war Tira wieder völlig wach und trat neben ihren Freund.
Tatsächlich - das Fenster schien wie ein Fernglas zu wirken, denn sie sahen die Szenerie so nah, als seien sie nur wenige Schritte entfernt, obwohl sie doch durch die halbe Stadt gelaufen waren, um hierher zu gelangen. Die blaue Lichtmagie, die sich über dem Ring aus Menschen wölbte, war die einzige Beleuchtung. Diesmal wechselte die Farbe nicht, so dass sie nichts von dem ablenkte, was in der Mitte des Platzes geschah. Der Drache war wach und sah dem immer näher kommenden Bürgermeister interessiert entgegen. Die beiden Gefangenen konnten dank des augenscheinlich magisch behandelten Fensters jeden einzelnen Schritt auf dem Pflaster hören.
"Halt", flüsterte Kolin, "er ist schon viel zu dicht dran!"
Er hatte recht. Doch Lergoban ging immer noch weiter. Schon streckte der Drache den Hals.
"Oh nein!" schluckte Tira. Auch wenn er sie gefangengesetzt hatte - sie wünschte niemandem, vom Drachenatem getroffen zu werden.
Jetzt endlich blieb der alte Mann stehen. "Edler Sonnenbote!" rief er. "Was sollen wir mit den Kindern des Dunkels machen, die mit Euch herkamen? Ich habe veranlasst, dass sie vorerst verschont wurden. Was -"
Es sollte ihm nicht vergönnt sein, seinen Satz zu beenden. Lautstark brach sich der Drachenrülpser Bahn. Die Luft flimmerte vor Hitze, und Lergoban brach mit einem schrecklichen Schrei zusammen.
Stille herrschte auf dem Platz. Niemand wagte, sich dem alten Mann und damit dem Drachen zu nähern, aber genauso wenig traute man sich, zurückzuweichen.
"Er ist wütend..." tönte auf einmal eine flüsternde Stimme über den Platz. "Was haben wir falsch gemacht?" fragte eine andere. "Was jetzt?" wollte eine dritte wissen. Unsicherheit und Furcht brachen auf allen Gesichtern durch. Zweifel begannen zu keimen: "Er ist doch der Sonnenbote, oder?"
"Natürlich ist er das!" Mit einer tiefen, ruhigen Stimme wurden diese Worte laut in die Runde gesprochen, ja beinahe gerufen. Ein Raunen ging über den Platz: "Terindor, der Ritter!"
Ein kräftiger, dunkelhaariger Mann trat aus den Reihen der Menschen auf den offenen Platz. Sein roter Mantel hing ihm nur locker über die Schultern, sein Kopf war unbedeckt.
"Begreift ihr noch nicht? Der Sonnenbote wollte uns auf die Probe stellen, indem er diese Kinder mit sich brachte. Jetzt hat er Lergoban bestraft, weil der wegen kleinlicher Bedenken die Vernichtung des Dunklen verzögert hat. - Bote der Sonne!" rief er, indem er sich dem Drachen zuwandte. "Wir werden die Kinder augenblicklich vernichten. Erlaubt uns nur, alles nach dem gewohnten Ritual zu vollziehen."
Der Drache wackelte mit dem Kopf auf und ab und machte einen Schritt auf den Ritter zu. Es war ihm unangenehm, dass er dem Mann nicht höflich anrülpsen konnte - er hatte gerade seine ganze Ladung verbraucht. Weil sein letzter so lange her gewesen war, hatte er die Kontrolle über den Gasausbruch verloren und nicht wie sonst einen Teil zurückbehalten.
Selbstverständlich nahmen die Menschen diese Bewegung als Zeichen der Zustimmung. Jubel brach los, und dann begann eine hektische Betriebsamkeit. Blitze huschten über den Platz, Stühle und Sessel wurden magisch herbeibefördert, und eine kleine Gruppe sonderte sich in einer Nebelwolke von den anderen ab und schienen zu meditieren.
An dieser Stelle packte Kolin seine Freundin an der Schulter. "Wir müssen hier raus!" keuchte er, und erst jetzt begriff auch TIra das ganze Ausmaß der Gefahr, die ihnen drohte. An 'vernichten' gab es nichts zu deuten.
"Wie denn?" jammerte sie. "Hier kann wahrscheinlich nicht mal ein Zauberer raus!"
Kolin starrte sie an. Nur wenige Sekunden waren nötig, dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. "Zauberer! Natürlich! Ich möchte wetten, die können sich gar nicht vorstellen, wie es ist, nicht... zaubern... zu können..." Bei den letzten Worten begann er schon damit, an den Eisenstangen zu rütteln, die das Fenster vergitterten. Sie bewegten sich leicht. Er untersuchte sie genauer - tatsächlich, sie waren einfach von innen an das Mauerwerk geschraubt. Er kramte sein Taschenmesser hervor, und im Nu war eine Öffnung entstanden, groß genug selbst für einen dicklichen Elfjährigen. Tira würde sowieso bequem hindurchpassen.
"Was hast du vor, Kolin?" fragte sie, aber da fiel es ihr selber auf. Die unbehauenen Steine, aus denen der Turm gemauert war, boten genug Halt für Hände und Füße eines geübten Kletterers. Und Klettern war selbstverständlich mit das Erste, was man im Gebirge lernte.
Kolin streckte vorsichtig den Kopf aus dem Fenster. Es war keine Wache vor der Tür postiert, mehr noch: die ganze Gegend lag wie ausgestorben. Alle Bewohner der Stadt befanden sich auf dem großen Platz, in deren Mitte der Drache lag. Niemand hielt es für nötig, den mit einer alten, heutzutage unbekannten Magie und noch etlichen modernen magischen Verschlüssen gesicherten Gefangenenturm zu beobachten. Darum bemerkte auch niemand die beiden kleinen Gestalten, die sich wie Spinnen langsam an der Außenseite herabhangelten; niemand sah, wie die größere im blauen Hemd einmal beinahe abstürzte, sich aber gerade noch fangen konnte, wie die kleinere an einer Stelle festhing und nicht vor und zurück wusste, bis sie sich in einem waghalsigen Manöver ein Stückchen fallen ließ, um den nächsten Vorsprung zu erreichen, und wie schließlich beide völlig erschöpft unten ankamen, sich kurz ansahen und dann so schnell die überanstrengten Muskeln es zuließen in den nächsten Hauseingang schlüpften. Der Himmel wurde langsam heller.
"Und jetzt?" wisperte Tira.
"Wir müssen auf jeden Fall zum Drachen zurück, sonst kommen wir nie nach Hause!" flüsterte Kolin und fuhr sich verzweifelt mit der Hand durch den roten Schopf. "Aber der liegt mitten auf dem Platz, und überhaupt - wer weiß, wann er genug hat und wegfliegt? So lange können wir nicht auf seinem Rücken sitzen, selbst wenn wir bis dahin kommen!"
"Kolin! Sieh nur!" hauchte Tira und deutete auf die Wand der kleinen Eingangshalle, in der sie standen. An einigen Haken hingen mehrere bunte Mäntel, zwei davon relativ klein. "Mit Kapuze!" seufzte Tira beinahe glücklich, als sie sich einen gelben Mantel umhängte. Kolin hüllte sich in den zweiten, dunkelgrünen, beide schoben die weiten Kapuzen über die Köpfe, dann verließen sie den Hauseingang und rannten auf den Lärm und das Licht zu.
Als sie am Rand des großen Platzes ankamen und vorsichtig im Schatten eines Hauses stehenblieben, löste sich gerade die Nebelwolke links von ihnen auf, und vier weißbärtige Magier traten daraus hervor, schritten in einer Reihe gemessen zu vier Sesseln, die man an einer Seite des Platzes aufgebaut hatte, und setzten sich darauf. Schlagartig wurde es ruhig, und die Menge ballte sich in einigem Abstand vor den Sesseln.
Nach einem langen Augenblick erhob sich einer der vier Alten wieder, hob den Stab, aus dem mit einem Mal Funken sprühten, während sämtliches andere Licht verlosch, und sagte laut: "Die Entscheidung ist getroffen. Zwei Exekutoren sind bestimmt: Ambortul und Gifared sind erwählt, ihre Würdigkeit zu erweisen und das Dunkel zu verkleinern. Zeigt eure Magie und tötet das Böse!" Während er sprach, stiegen die Funken aus seinem Stab in die Höhe, teilten sich und wanderten zu zwei sehr jungen Männern hinüber, über deren Köpfen sie je einen Kranz bildeten, sie so kennzeichnend. Beide waren nicht älter als 16 Jahre, und beide erröteten vor Stolz. Es schien eine Art Initiation zu sein, eine Tat, die sie zu den Erwachsenen zählen lassen würde. Mit hocherhobenen Köpfen stolzierten sie zu den Sesseln hinüber. Aller Augen waren auf sie gerichtet. Keiner kümmerte sich um die beiden Kinder, die langsam um die Menge herumschlenderten, zumal sie in Magiermäntel gehüllt waren wie alle anderen auch. Schließlich waren sie fast am inneren Rand des Pulkes angelangt. Ambortul und Gifared küssten währenddessen den kristallenen Sonnenstrahl, ein lichtsprühendes, wie lebendig wirkendes Meisterwerk des magischen Edelsteinschleifens. Dann erhielt jeder einen neuen Zauberstab, und die alten Magier sprachen über die Pflicht, die Ehre und den Ruhm, deren sie als Mitglieder der Gemeinschaft teilhaftig werden sollten. Diese Rede wurde allerdings nie beendet.
"Der Sonnenbote!" rief plötzlich jemand am Innenrand der Menschenmasse laut. Alle drehten sich um und sahen, was Kolin und Tira schon einige Sekunden früher bemerkt hatten: Der Drache begann, seine Flügel zu öffnen. Der Ritter Terindor, der anscheinend die Stelle des schwerverletzten Lergoban eingenommen hatte, sprang auf einen Stuhl, um über die Menge hinwegsehen zu können, und rief: "Bote der Sonne! Was habt Ihr uns zu sagen?!"
Dann ging alles ganz schnell. Tira und Kolin rannten um ihr Leben auf den Drachen zu, während ihnen aus mehreren Mündern ein verdutztes "Halt!" hinterher scholl. Die Kapuzen rutschten ihnen von den Köpfen, und ein Aufschrei des Entsetzens ging durch die Masse, als man Kolins rotes Haar erkannte. Keiner war geistesgegenwärtig genug, die beiden Kinder durch Magie anzuhalten, statt dessen versuchten einige, sie zu Fuß zu verfolgen, kamen aber aufgrund ihrer hinderlichen Gewänder nur schlecht voran, ja die meisten stolperten früher oder später darüber und fielen hin. Als die Kinder den Drachen erreichten, hatte er die Flügel schon vollständig ausgebreitet. Wie am Beginn ihrer Reise sprang Kolin als erster am Vorderbein hoch und zog Tira nach, und einen Augenblick später saßen sie wieder zwischen den Rückenstacheln. Nicht eine Sekunde zu früh, denn nun sprang der Drache, schlug mit den Flügeln - sie flogen.
Tira blickte auf den bunten Teppich aus Gesichtern und Mänteln herab, die entsetzt dem Helfer nachschauten, auf den sie so lange gewartet hatten und der sie nun verließ, ohne ihnen mit Kraft und Feuer gegen das Böse beigestanden zu haben. Auf einmal taten sie ihr leid. "Er ist nicht magisch!" schrie sie hinab. "Ein Drache ist bloß ein Tier! Und niemand ist 'dunkel', weil er nicht zaubern kann!"
Sie wusste nicht, ob es noch jemand gehört hatte, denn der Drache war ausgeruht, und im Nu waren sie schon so hoch in der Luft, dass die Stadt im grauen Licht klein unter ihnen lag wie ein Haufen erleuchteter Kieselsteine. Tira schaute nach hinten, bis sie nichts mehr davon sehen konnte. Als sie sich wieder nach vorn wandte, jauchzte sie auf. Es wurde immer heller, und vor ihnen lagen wie eine schwarze Masse die Berge. Und am oberen Rand dieser Dunkelheit konnte sie nun einen rötlichen Schimmer ausmachen, der wuchs und sich ausbreitete, bis die Sonne hellgelb zum Vorschein kam, höher stieg und schließlich Tira, Kolin und den Drachen in ihr goldenes Licht tauchte. Tira schaute nach unten. Das flache, von Feldern und Wegen gefleckt und gestreift wirkende Land lag noch gänzlich im Dunkeln. Sie drehte sich zu Kolin um und rief gegen die rauschenden Schwingen an: "Ist das nicht seltsam? Bei uns ist schon Sonne, da unten noch nicht!"
Kolin grinste. "Seltsam? Wir sind doch Sonnenreiter, schon vergessen?"
Unbeeindruckt von dem befreiten Gelächter auf seinem Rücken flog der Drache mit kräftigen Flügelschlägen durch den Morgen, in Richtung Gebirge.
Nach Hause.
 
© Latsi
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