Das Lied der Magie von Beate Sass

Der Wald jenseits der Ufer des Arhin-Flusses schien unendlich zu sein. Seine Ausläufer reichten im Norden und Osten bis zu den Hügeln von Erronthis und im Süden bis in das Vorland des Gebirges, das die Saryn poetisch den Rand der Welt nannten, oder bei seinem alten Namen: Berge der Assala. Dem Wald hatten sie keinen Namen gegeben. Er war da, alt wie die Berge, alt wie die Zeit. Sein Blätterdach war ähnlich ineinander verwoben wie das Geflecht seiner Wurzeln unter dem Boden. Gräser, Ranken, Farne und Buschwerk kämpften zwischen den Stämmen um ein bisschen Licht und überwucherten die Lichtungen, die sterbende Baumriesen bei ihrem Fall gerissen hatten.
Ein Wesen aus vielen, und erst in seiner Gesamtheit wirklich, wiederholte Raïssa im Geiste die Worte der Shama. Der Wald ist der Beginn von allem. Werden und Vergehen. Vollendete Harmonie. Magie. Leichtfüßig lief sie einen kaum sichtbaren Wildwechsel entlang. Sie liebte den Wald, sein kühles, von Blättern gefiltertes Licht, den Geruch nach Laub und Pilzen, das Singen der Vögel, die leisen Geräusche kleiner Tiere. Etwas Starkes, Friedliches war um diesen Wald. Jedes Mal, wenn die Wanderungen ihres Ghirvin sie hierher brachten, empfand sie es stärker. Sie blieb stehen, um zu lauschen und den Frieden dieses Ortes auf sich wirken zu lassen. Ungerufen kam ihr das letzte Gespräch mit der Shama am Ufer des Arhin wieder ins Gedächtnis.
Magie ist der Pulsschlag dieser Welt. Nur wenige können ihn fühlen. Du, meine Tochter, hast die Gabe. Aber sie schläft noch. Du mußt einen Weg finden, sie zu erwecken. Im Alten Wald ist der Fluß der Magie besonders stark, er wird dir helfen. Ungerufen erinnerte sie sich auch an den zweiten Teil ihres Gespräches, der sich auf ganz andere Dinge des Lebens bezog. Majah hatte eine Weile Myrinah zugesehen, die ihrer kleinen Tochter das Haar auskämmte und zu einer komplizierten Frisur flocht. Es ist langsam an der Zeit, an Junge zu denken, Raïssa. - Ich denke daran, Shama. - Wann wirst du einen Partner wählen? - Wen, Majah? Raïssa dachte an die Männer ihres Ghirvin. Die Shama hatte ja recht! Sie sah bereits ihren vierunddreißigsten Sommer und hatte damit ein Alter erreicht, in dem sie an Nachwuchs denken sollte. Bislang hatte sie niemanden gefunden, den sie als Erzeuger ihres Jungen in Betracht zog. Mihai vielleicht, seine Mutter war zu ihrem Ghirvin gekommen, nachdem sie geboren war. Sie lächelte, als sie an den zurückhaltenden Jäger dachte. Aber Delia hatte ihr Augenmerk auf ihn gerichtet und es würde sie sehr treffen, wenn sie mit ihr in Konkurrenz träte. Die Verwandtschaftsbande in ihrem Ghirvin waren eng geknüpft.
Ein Netz von schmalen Wildpfaden durchzog das dichte Unterholz. Etwas Ehrfurcht gebietendes war zwischen den bemoosten Stämmen. Die Jäger des Ghirvin drangen für gewöhnlich nicht so tief in den Wald vor und beschränkten ihre Beutezüge auf den Waldrand.
Gegen Mittag legte Raïssa eine Rast ein. Es war sehr still um sie. Selbst die Geräusche des Waldes schienen nur dazu zu dienen, die Stille hervorzuheben. Unter einer ausladenden Rotbuche setzte sie sich nieder und lehnte den Rücken an den glatten Stamm. Sie erfrischte sich mit einem Trunk aus ihrer Wasserflasche, legte den Kopf zurück und schloß die Augen. Ihr Geist folgte der Stille und saugte sie in sich auf.

Sie mußte eingeschlafen sein, trotzdem fühlte sie sich hellwach und eins mit dem Wald. Der Baum, an dessen Stamm sie ruhte, war alt. In einem langsam pulsierenden Strom stiegen unter seiner Borke die Lebenssäfte auf, verteilten sich über die Äste und die Zweige bis in die Adern der Blätter, die leise im sanften Wind raschelten. Sie sammelten Licht und Energie und gaben diese an den Baum zurück, stiegen durch den Stamm hinab zu den Wurzeln, immer tiefer hinab in das Erdreich, zu immer feineren Verzweigungen. Die tiefsten der zarten Fasern berührten das Netz der Magie, das sich wie ein schwach leuchtendes Gewebe tief unter dem Waldboden hinzog. Fast glaubte sie, dieses Gespinst zu sehen, zu berühren. Auch die Magie war im Fluss, pulsierte in einem langsamen Rhythmus. Von einem unsichtbaren Zentrum aus setzte sie sich in sanften Wellen durch alle Fasern des Netzes fort. Der Baum nahm diese Schwingung durch seine zarten Wurzelhärchen auf und gab sie über seine Blätter an die Luft ab. Der ganze Wald hing über dieses unterirdische Geflecht zusammen, ein riesiges Wesen, verbunden und verwoben, in seiner vielfältigen Gesamtheit ein Wesen - eine Gottheit, die von den Saryn alter Zeiten mit tiefem Respekt verehrt wurde.
Fröstelnd kehrte Raïssa in die warme Welt des Nachmittags zurück und schlug die Augen auf. Nur wenige Schritte von ihr entfernt hüpfte eine Amsel über den Boden und durchwühlte mit ruckartigen Schnabelstößen das Laub auf der Suche nach einer Mahlzeit. Eine kitzelnde Berührung prickelte über ihren Arm. Sie schnippte die vorwitzige Spinne weg und verscheuchte damit den Vogel. Mit steifen Gliedern erhob sie sich. Für einen Moment fühlte sie sich schwindelig und etwas orientierungslos und mußte sich an dem silberborkigen Stamm abstützen. Die glatte Rinde unter ihrer Hand war warm, voller Leben. Sie flößte ihr Vertrauen ein. Etwas Starkes, auf das sie sich stützen konnte. Es war die längste Geistreise, die sie je ohne Majahs Anleitung unternommen hatte. Und es war das erste Mal, dass sie davon so überwältigt worden war. Sie benötigte einige tiefe Atemzüge, bis sie sich in der Lage fühlte, weiterzugehen.
Nachdem ihr Geist einen Blick auf das unterirdische Geflecht aus Wurzeln und Magie getan hatte, konnte sie keinen Schritt tun, ohne beim Anblick der verschlungenen Pflanzen, durch die sie sich einen Weg bahnte, daran zu denken. Mehr und mehr kam es ihr vor, als ob sie statt eines Waldes ein Zauberreich durchquerte. Plötzlich wurde ihr bewußt, dass selbst die Wildwechsel, die ihr ein Vorwärtskommen  ermöglichten, den Strömen der Magie folgten.
Unverhofft stieß sie auf einen Bach. Das klare Wasser weckte in ihr den Wunsch, ein Bad zu nehmen, wenn sie eine geeignete Stelle fand. Sie folgte seinem Lauf. Das Glück war ihr hold. Ein umgestürzter Baum bildete mit angeschwemmten Ästen und Laub ein natürliches Wehr, das den Bach zu einem kleinen Tümpel aufstaute. Groß genug, um gefahrlos darin herum zu planschen. Wie die meisten Saryn aus ihrem Ghirvin konnte sie nicht schwimmen. Sie war drauf und dran, ihre Kleider abzuwerfen, als ihr ein Stückchen Rinde auffiel, das mit einer Vogelbeere geschmückt auf dem Wasser schwamm. Dann sah sie auch die Schnur, die von dem primitiven Schwimmer ans Ufer führte. Ein Busch versperrte ihr die weitere Sicht. 
Unbehaglich dachte Raïssa daran, dass sie außer einem Messer keine Waffe bei sich führte. Wenn nun ein Mensch hinter diesem Busch saß und den Fischen in dem Tümpel nachstellte? Der Gedanke war ihr unangenehm. Ihr Ghirvin ging den Menschen nach Möglichkeit aus dem Weg. Die Vorstellung, dass Menschen durch diesen Wald stapften, war ihr ein Graus. Auf alle Fälle mußte sie sich Klarheit verschaffen, das war sie sich und dem Ghirvin schuldig. Behutsam schlich sie weiter, jeden Schritt mit Sorgfalt setzend, um nicht aus Versehen einen Zweig zu zertreten. Sie schob sich  lautlos um den Busch. Dabei blieb der Saum ihrer Tunika an einem vorstehenden Zweig hängen. Er bog sich und schnellte dann raschelnd zurück. 
Raïssa hatte keine Zeit, sich darüber zu ärgern. Ein junger Mann sprang alarmiert auf die Füße, bereit sich jedweder Gefahr zu stellen. Bis auf ein gefährlich aussehendes Messer, das er angriffsbereit vor sich hielt, und einer Angelschnur, die um seinen großen Zeh gebunden war, war er so, wie seine Mutter ihn geboren hatte. Den Bruchteil einer Sekunde brauchte er, um Raïssa wahrzunehmen, seine Augen weiteten sich entsetzt und seine freie Hand schoß zwischen seine Beine, um das Nötigste zu bedecken. Gleichzeitig stieg ihm tiefe Röte ins Gesicht. Der Mann war ein Saryn wie sie, wenn auch größer und in den Schultern breiter als jeder andere Mann ihrer Rasse, den sie bisher gesehen hatte. Eine häßliche rote Narbe zog sich auffällig über seine unteren Rippen. Flüchtig bemerkte Raïssa weitere Spuren vergangener Kämpfe und schaute ihm unbefangen ins Gesicht, das von einem dunklen, funkelnden Augenpaar beherrscht wurde. Sein schwarzes, feuchtes Haar war nachlässig hinter die spitz zulaufenden Ohren zurück gestrichen und fiel in weichen, strähnigen Locken auf seine Schultern. An den Zweigen des Busches hing seine Kleidung zum trocknen. 
Der fremde Saryn sagte kein Wort, verschanzte sich hinter dem Messer und starrte sie böse an. Er war offensichtlich nicht gewillt, den ersten Schritt zu tun. Raïssa erwiderte den Blick gelassen. Die Situation entbehrte nicht der Komik. "Wenn ich sicher sein könnte, dass du mir dieses Mordinstrument nicht zwischen die Rippen stößt, würde ich mich ja umdrehen", schlug sie ernsthaft vor. Der Bursche gefiel ihr. Er war gut gebaut und muskulös, wenn auch sehr mager. Ohne die zahlreichen Narben wäre er durchaus attraktiv gewesen. Er nickte knapp, erleichtert über diesen eleganten Ausweg. "Ich werde dir nichts tun." Er sprach mit einem fremden, merkwürdig weichen Akzent. Es klang in ihren Ohren durchaus anziehend.
Raïssa drehte ihm den Rücken zu. "Ich wußte nicht, dass noch ein Ghirvin hier in der Gegend ist", sagte sie, während sie hörte, wie er hastig seine Kleider von dem Busch rupfte. Eilig streifte er sein noch klammes Hemd über, schlang den Gürtel um die Hüften und schob das Messer im Rücken hinein. Er zitterte, als der kalte Stoff gegen seine Haut gedrückt wurde. Das Hemd war groß genug, um ein Kittel zu sein. Trotz der Löcher im Stoff fühlte er sich jetzt ausreichend bekleidet, um sich der Frau wieder zu stellen. 
Einen Moment lang betrachtete er ihren Rücken. Wie lange war es her, seit er zuletzt eine Frau seiner Rasse gesehen hatte? Monate? Er wußte es nicht mehr. Die Zeit hatte aufgehört, für ihn von Bedeutung zu sein. Er konnte es kaum glauben. Eine Saryn! Hier! Und er hatte sich in der denkbar ungünstigsten Lage überraschen lassen. Sie war merklich kleiner als er, mit schmalen Schultern, zwischen denen ihr glänzendes, haselnussbraunes Haar in einem dicken, geflochtenen Zopf bis zu ihrer Taille herabhing. Sein Blick blieb an ihren langen Beinen hängen, die in engen, braun gefärbten Hosen steckten. Solche Kleidung kam ihm für eine Frau geradezu unanständig vor, mochte aber in dieser Umgebung von Vorteil sein. "Du kannst dich jetzt wieder umdrehen", sagte er.
Sie wandte sich ihm wieder zu. Allein in dieser kleinen Bewegung lag Eleganz und Anmut. Er blickte in ihr offenes Gesicht. Die großen, hellbraunen Augen, mandelförmig und an den Außenwinkeln leicht angehoben, wie seine eigenen, bargen ein warmes Lächeln. Strähnen, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatten umrahmten wirr ihr schmales, fein geschnittenes Gesicht. Er spürte, wie sein Herz einen Hüpfer machte. Warum sollte eine solche Frau allein durch den Wald laufen? Mit einem flüchtigen Blick streifte Raïssa sein zerlumptes Äußeres und schaute in sein Gesicht. Vorher war ihr nicht aufgefallen, wie verhungert er aussah. Seine dunklen, verschatteten Augen schienen das einzige Lebendige in seinen beherrschten, mißtrauischen Zügen zu sein. 
"Ich bin Raïssa von den Batok", stellte sie sich vor, legte ihre Hand auf ihr Herz und neigte formell den Kopf. "Mein Ghirvin lagert vor dem Wald." Die Höflichkeitsgeste war an ihrem Gegenüber verloren. "Dein was?" "Ghirvin. Mein Clan, mein Stamm." Sie runzelte die Stirn. "Woher kommst du, dass du nicht weißt, was ein Ghirvin ist?" Er machte eine unbestimmte Handbewegung. "Von Süden." Erst jetzt wurde er sich der Schnur bewußt, die noch immer um seinen Zeh geknotet war. Verlegen hob er das Bein, um sie zu lösen, und kippte dabei fast um. "Ich... ich hatte mich ein wenig ausgeruht. Muss wohl eingeschlafen sein!" Raïssa legte wie zufällig wieder die Hand über den Mund, um ihn durch ihre Heiterkeit nicht noch mehr in Verlegenheit zu bringen. "Nachdem du jetzt weißt, wer ich bin, wüßte ich auch gern, mit wem ich das Vergnügen habe."
Er zögerte mit der Antwort und musterte sie abschätzend. Raïssa fragte sich, ob er grundsätzlich jeden so abweisend behandelte, oder ob er ihr noch nicht verziehen hatte, dass sie ihn in einem ungünstigen Moment überrascht hatte. Ein angespannter Zug hatte sich um seine Augen eingenistet, als ob er Schmerzen habe. "Ich bin Fuchs", sagte er, als er sich entschieden hatte, dass er sie nicht als Feind betrachten brauchte. Er rollte die Angelschnur auf. "Heute beißen sie sowieso nicht", kommentierte er achselzuckend. "Hast du damit überhaupt schon etwas gefangen?" fragte Raïssa neugierig. Es war bei ihren Leuten nicht üblich, auf diese Weise zu fischen. "Gelegentlich." Der Haken war genauso primitiv wie der Schwimmer. Wenn je ein Fisch da angebissen hatte, mußte er blind gewesen sein. Kein Wunder, dass Fuchs so heruntergekommen aussah! 
"Wenn dieses 'gelegentlich' noch nicht ganz so lange her ist, könnte ich zu einem Essen ein paar 'Carnias' beisteuern", schlug sie vor und klopfte auf ihre Tasche. Fuchs überraschte sie mit einem jungenhaften Grinsen, das für einen Moment alle Anspannung aus seinem Gesicht wischte. "Leider ist es schon lange genug her, dass der Fisch übel riechen würde, wenn ich ihn nicht gegessen hätte. Aber ich habe noch ein paar Beeren." "Beeren sind hervorragend", lächelte sie. 
Als sei es das Selbstverständlichste von der Welt, ließ sie sich neben dem aufgestauten Tümpel nieder und begann, die Carnias - eine Art Fladengebäck aus Fleischmehl - auszupacken. Fuchs holte eine aus Birkenrinde gefertigte Büchse unter dem Busch hervor und bot sie Raïssa an. Sie pickte ein paar Brombeeren heraus und reichte ihm eine Carnia. Neugierig musterte er das Gebäck, schnupperte kurz daran und hieb hungrig seine Zähne hinein. Der Höflichkeit halber nahm sich auch Raïssa einen Fladen, riß eine Ecke ab und knabberte daran. Nach und nach steckte sie Fuchs ihren ganzen Proviant zu. Sie schwieg, während er seinen Hunger stillte, und schaute gedankenvoll in das Wasser. Eine etwa spannenlange Gestalt huschte über den hellen Sand am Grunde des Tümpels und verschwand in dem Schatten des überhängenden Ufers auf der anderen Seite. Offenbar gab es Fische in diesem Gewässer. Fische mit sehr guten Augen. 
"Du kommst aus dem Land jenseits der Berge?" fragte sie, als von dem letzten Fladen nur noch Krümel übrig waren, die er sich sorgfältig aus dem Schoß pickte. "Ist das so offensichtlich?" "Ziemlich, wenn du aus dem Süden kommst. Außerdem siehst du aus, als ob du einen langen, schweren Weg hinter dir hättest." Fuchs schöpfte mit einem Lederbecher Wasser und bot ihr den Trunk an. "Du hast recht", sagte er. Sie gab ihm den geleerten Becher zurück. "Sagst du mir, warum du hierher gekommen bist?" Er sah nicht so aus, als ob er die Neigung verspürte. Umständlich füllte er den Becher erneut und trank ihn aus. "Ich konnte dort nicht länger leben", sagte er. "Also bin ich gegangen." "Zu Fuß? Den ganzen Weg?" "Ja." Mit einer verlegenen Geste strich er sein Haar zurück. "Ich habe gehofft, irgendwo in Khelenia-na‘dynh Saryn zu finden." "Wo?" "Im Land der hundert Reiche. So nennen wir das Land nördlich der Lhimathi-Berge." "Wir nennen sie Berge der Assala." Ein Ausdruck von Verlorenheit huschte über sein Gesicht. Seine Schultern hoben sich in einem lautlosen Seufzer. "Es ist schon lange her, seit ich mit dem letzten Saryn gesprochen habe. Du sprichst fast dieselbe Sprache wie ich, aber die Worte sind doch anders, die Namen. - Jetzt weiß ich, dass ich wirklich in einem fremden Land bin." "Wenn du Saryn suchst, dann geh zu den Batok. Wir lagern in der Flußschleife vor dem Wald, etwa vier Stunden nordöstlich von hier." Er sah sie verblüfft an. "Du nennst mir euren Lagerplatz?" "Ja. Wir freuen uns über Gäste." Verständnislos schüttelte er den Kopf. Wie unvorsichtig! Raïssa beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Er hockte etwa einen Schritt entfernt auf den Fersen, die Arme locker auf den Knien zusammengelegt und schaute gedankenverloren an ihr vorbei. Trotzdem hatte sie den Eindruck, dass er wachsam auf alle Geräusche achtete, die ihn umgaben. Sie erhob sich. "Ich muß jetzt weiter." 
"Du gehst nicht zu deinem Lager?" fragte er. "Nein. Noch nicht." "Ist kein Wächter mit dir gegangen?" Die Vorstellung erschien ihr absurd. "Nein, natürlich nicht. Wozu sollte ich einen Wächter brauchen?" Er hob seine knochigen Schultern. "Es ist gefährlich für eine Frau, allein durch den Wald zu laufen." – Er zögerte, als er ihren strengen Blick bemerkte. "Es... es gibt Menschen hier und du hast nicht einmal eine Waffe." Sie kreuzte die Arme vor der Brust. "Es waren noch nie Menschen in diesem Wald." "Du irrst. Ich habe ihre Spuren gesehen. - Wenn niemand von deinen Leuten da ist, werde ich dich schützen." Er sagte es in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. "Das ist nicht nötig", erklärte Raïssa nachdrücklich. "Ich bin auf einer Reise, auf der ich keinen Gefährten brauche. Wenn ich dich nach meiner Rückkehr bei unserem Ghirvin treffe, werde ich mich freuen. Aber heute gehe ich meinen Weg allein." Fuchs starrte sie an, als ob sie den Verstand verloren hätte. Raïssa streifte sich den Träger ihrer Umhängetasche über die Schulter. "Wir sehen uns später, Fuchs." Rasch lief sie wieder in den Wald, den verdutzten Saryn neben dem Tümpel zurücklassend. Fuchs starrte mit großen Augen auf die Stelle wo sie zwischen dem Blattwerk verschwunden war. Dann hob er seine Habseligkeiten auf, die er unter dem Busch verstaut hatte, und folgte ihr langsam. Ein unbestimmtes Gefühl sagte ihm, dass sie seine Hilfe früher nötig hatte, als ihr lieb war.
Leichtfüßig eilte Raïssa zwischen den Bäumen dahin. Von Zeit zu Zeit blieb sie stehen, sah sich um und horchte. Außer dem Flüstern des Windes in den Blättern und dem Gesang der Vögel in den Zweigen hörte sie nichts. Für eine Weile glaubte sie, dass er ihr folgte, doch nichts bestätigte ihren Verdacht. 
Unmerklich wurde es stiller um sie. Die Bäume rückten dichter zusammen, dicke Flechten wucherten wie ein Pelz auf ihren Stämmen und Ästen. Die Vögel wurden schüchterner und stiller. Das Unterholz ballte sich zu dornigen Dickichten. Die Tiere, die in Generationen die Pfade getreten hatten, waren merklich kleiner als sie. Ihre Wege führten wie niedrige Tunnel mitten durch die dornigen Sträucher hindurch. Raïssa versuchte erfolglos, das Dickicht zu umgehen. Es konnte nicht mehr weit sein. Die verborgene Magie des Waldes sang in ihrem Blut und kribbelte in ihren Gliedern. Schließlich ließ sie sich auf die Knie nieder und zwängte sich durch den größten der tunnelartigen Wechsel. Dabei hoffte sie inständig, nicht auf das Tier zu treffen, das vor ihr diesen Weg benutzt hatte. 
Erhitzt und zerzaust kam sie schließlich ins Freie, Hände und Knie zerschunden und schmutzig. Sie richtete sich auf und strich einige Haarsträhnen aus ihrem Gesicht zurück. Direkt vor ihr spaltete eine längliche Kluft den Boden. An ihrem Grund plätscherte ein Bach über ein Bett aus moosgrünen, dicken Steinen. Im schwindenden Licht des Tages sammelten sich bereits die Schatten am Grund der Kluft. Raïssa fühlte, dass ihr Ziel dort unten lag, so deutlich, als ob ein Wegweiser aufgestellt wäre. Vorsichtig machte sie sich an den Abstieg. Sie rutschte und glitt den steilen Abhang hinunter und tauchte ein in den Schatten. Das Vorwärtskommen war jetzt sehr schwierig. Das Bachbett  füllte die gesamte Talsohle aus, die moosigen Steine waren nass und glitschig. Erschwerend kam die hereinbrechende Dunkelheit hinzu. Schließlich erreichte sie das kesselförmige Ende der Kluft. Umgeben von hohem, dünnhalmigem Gras, entsprang der Bach in einem fast kreisrunden Becken. Dahinter erhob sich steil eine von großblättrigen Ranken bewachsene Felswand. Raïssa sackte erschöpft zu Boden; sie war am Ende ihrer Kräfte. Das Gras umschmeichelte sie wie eine zärtliche Berührung. Neckend strichen die Rispen der Gräser über die nackte Haut ihrer Arme und ihres Gesichtes. Raïssa drehte sich auf den Rücken und blickte in den Ausschnitt blauen Himmels über sich. Um sie herum sammelten sich schon die Schatten der Nacht. Aus den Augenwinkeln sah sie sie heran kriechen. Das leise Murmeln der Quelle klang merkwürdig laut in ihren Ohren, beinahe wie Stimme, die unentwegt in einer fremden Sprache auf sie einredete. Sie beobachtete, wie der Himmel sich langsam verdunkelte.
Wieder glitt sie in diesen merkwürdigen Wachschlaf. Dieser Ort war von Magie durchdrungen. Die dünnen Fäden der Magie, die sie früher am Tag im Boden tief unter ihren Füßen erspürt hatte, waren hier ungleich stärker. Es war ein unbestimmtes Gefühl, das mit der Kraft eines fließenden Stromes an ihrem Bewußtsein zog. Der Eindruck des Fließenden wurde übermächtig. Sie fühlte die Magie dieses Ortes, warm und prickelnd. Mit dem Wasser der Quelle stieg sie aus unergründlichen Tiefen herauf und durchtränkte diesen Ort. Ein Klingen, das sie noch nie gehört hatte, erfüllte sie. Losgelöst von Raum und Zeit trieb Raïssa in diesem Fluß aus Wärme und Klang. Sie hatte alles vergessen, wo sie war, wer sie war, oder wann. Überall und nirgends zur gleichen Zeit.
Als sie die Augen aufschlug und in ein von belaubten Zweigen umrahmten Ausschnitt weißen Himmels blickte, glaubte sie für einen Moment, eine Pflanze zu sein, die fest mit dem Boden unter sich verwurzelt war. Dann erinnerte sie sich daran, dass sie eine Saryn war, Angehörige der Eingeborenen dieses Landes, die seit Anbeginn der Zeit die Wälder, Hügel und Ebenen dieses Landes durchwanderten und damit eins geworden waren. Es war tiefe Stille um sie her, bis auf das Murmeln der Quelle und einem leichten Rascheln der Blätter. Selbst diese leisen Geräusche klangen in ihren Ohren wie die Bruchstücke jener Klänge, die noch in ihrem Blut nachschwangen. Leise summend versuchte sie, diese Töne in Laute zu fassen. 
Wieviel Zeit mochte vergangen sein? Eine Nacht? Zwei Nächte? Raïssa schüttelte schmunzelnd den Kopf. Als ob Zeit im ewigen Lied der Magie eine Rolle spielte! Glücklich tänzelte sie über das haarfeine Gras und die dicken Moospolster am Bachufer. Aus vollem Herzen sang sie die Melodien, die sie in ihrem Inneren und in der Natur um sich herum hörte - und die Magie antwortete ihr. Sie stieg gleichsam aus dem Boden auf und schwirrte in der Luft. Sie verband sich mit den Tönen und erfüllte Raïssa. Außer Atem verhielt sie schließlich, die Arme ausgebreitet, den Kopf in den Nacken geworfen und fühlte, wie sie langsam wieder zu der Frau wurde, die sie war.
Es war Zeit, zum Lager zurückzukehren. Die ersten Schritte zurück tanzte sie noch, Kopf und Herz voller Klänge und Musik. Es ließ erst nach, als sie sich den steilen Anstieg hinauf kämpfte und wieder durch den niedrigen, tunnelgleichen Pfad durch die Büsche drückte. Unvermutet wurde sie im Nacken gepackt und hoch gezerrt, als sie gerade ins Freie gekrochen war. Sie schrie überrascht auf.
"Was haben wir denn hier?" fragte der große haarige Mann, der sie mit eisernem Griff gepackt hatte und hochhielt wie einen Welpen. Raïssa krümmte sich und versuchte sich aus diesem zwingenden Griff herauszuwinden. Sie war zu erschrocken, um entsetzt zu sein. Der Mann erschien ihr groß wie ein Riese. Ungekämmtes, flammenfarbiges Haar umwucherte seinen kantigen Schädel, sein Kinn verschwand unter einem goldblonden Gestrüpp, das von einem breiten Grinsen geteilt wurde. Brust, Arme und Beine waren mit dicken Muskelpaketen bepackt. Ein vielfach geflickter Kittel und eine ausgebeulte Hose von unbestimmbarer Farbe bildeten seine Kleidung. "Sie mal an, ein Spitzohr-Mädchen." Er ließ ihren Nacken los und ergriff statt dessen ihr Handgelenk mit einer Pratze, gegen die ihre Hand klein wie die eines Kindes wirkte. Raïssa, kratzte, biß und trat um sich. Er schüttelte sie wie eine Ratte. "Scheint eher eine Wildkatze zu sein", bemerkte ein zweiter Mann und gesellte sich zu seinem Kumpan. Er hatte sonnverbrannte Haut und schwarzes, struppiges Haar, das er im Nacken zusammen gebunden hatte. "Ist noch mehr von diesem Kroppzeug da?" "Sieht nicht so aus, Ervit. - Hör auf damit, du kleines Luder." Sie hatte ihm die Zähne in die Hand gegraben. Er gab Raïssa eine schallende Ohrfeige. Wenn er sie nicht gleichzeitig festgehalten hätte, hätte die Wucht seines Schlages sie ein paar Schritte weit befördert. Tränen schossen ihr in die Augen.
Als sie wieder klar sehen konnte, waren noch zwei blondhaarige Burschen zu ihnen gestoßen. Die vier Männer starrten sie interessiert an. "Ein hübsches Ding", meinte einer gerade. "Wir sollten sie uns brüderlich teilen." Einer der jungen Burschen, dem die beiden oberen Vorderzähne fehlten, zischelte begeistert: "Man erzählt sich wahre Wunderdinge von diesen Weibern." Raïssa zwinkerte empört die Tränen aus ihren Augen. Ihre Chancen standen denkbar schlecht. Gegen vier starke Männer, die allesamt größer, schwerer und um ein Vielfaches stärker waren als sie, konnte sie niemals ankommen. Es graute ihr vor dem, was ihr bevorstand. Vier häßliche, stinkende Menschenmänner! Der große Rothaarige schien der Anführer zu sein. 
Verstohlen tastete sie mit der Hand zu ihrem Gürtel. Halb verborgen von den Falten ihrer Tunika hing ihr Messer in einer Lederscheide. Es war keine Waffe. Die einseitig geschliffene gerade Klinge war nur so lang wie ihr Mittelfinger. Der Riese würde sich wahrscheinlich totlachen, wenn sie ihn damit bedrohte. Trotzdem fühlte sie sich etwas besser, als sie den vertrauten Holzgriff unter ihrer Hand fühlte.  "Komm mit, Püppchen." Grob zerrte er sie mit sich. Stolpernd versuchte sie, mit ihm Schritt zu halten und gleichzeitig das kostbare Messer in ihrem Gewand zu verbergen. Ranken und Dornen hakten sich in ihre Kleidung, als ob selbst der Wald sie zurückhalten wolle. Doch die schwachen Pflanzen richteten nichts weiter aus, als ihr die Haut zu zerkratzen und winzige Löcher in den Stoff zu reißen. Die anderen Männer folgten ihnen, sich laut die baldigen Vergnügungen ausmalend, die sie mit ihr zu haben gedachten. Angst drohte sie zu überwältigen. Der Rothaarige hielt ihr Gelenk fest umklammert. Plötzlich riß sie das Messer hervor und hieb es dem Mann kraftvoll über die Hand. Er schrie erschrocken auf und ließ sie los. Raïssa warf sich zur Seite und floh in das Unterholz. Die anderen nahmen laut johlend die Verfolgung auf. Es dauerte nicht lange und die Männer hatten sie wieder eingefangen und entwaffnet. 
Der Rothaarige starrte sie wütend an. Blut tropfte von seiner Hand. "Du elendes kleines Biest", zischte er haßerfüllt. Er schlug ihr ein paar Mal mit der gesunden, flachen Hand ins Gesicht, dass ihr die Ohren klingelten. "Fessel ihr die Hände!" Ervit zwang ihr die Hände zusammen und wand eine Bogensehne um ihre Gelenke. Raïssa wehrte sich verzweifelt, doch der überlegenen Kraft der Männer hatte sie nichts entgegen zu setzen.
Plötzlich schrie einer der beiden Blondschöpfe auf und knickte in der Mitte ein. Ein schwarzgefiederter Pfeilschaft ragte aus seinen Rippen. Ervit schnappte erschrocken nach Luft. "Verd..." Hastig griff er nach seinem Schwert, kam aber nicht dazu, es zu ziehen. Mit einem wilden Kampfschrei brach Fuchs aus dem Unterholz und stürzte sich entschlossen auf die Banditen. Er hieb seinen Bogen gegen Ervits Kehle, der instinktiv zurückwich, und stürmte gegen den Rothaarigen. Der Bandit stieß Raïssa von sich, fegte mit einem wütenden Aufschrei den Bogen zur Seite und empfing Fuchs mit einem mörderischen Fausthieb. Der Saryn wich im letzten Moment zur Seite. Der Schlag erwischte ihn an der Schulter und reichte aus, ihn zu Boden zu werfen. Raïssa war zurückgetaumelt und hinter einen Baum geglitten. Angstvoll spähte sie um den Stamm herum. So erleichtert sie über Fuchs‘ plötzliches Erscheinen war, so sehr fürchtete sie auch, dass ihr Retter sein heldenmütiges Eingreifen mit dem Leben bezahlen würde. Sie mußte ihm beistehen, irgendwie helfen. Irgendwie! 
Ervit hatte sein Schwert aus dem Gürtel gerissen und griff den Saryn an. Fuchs rollte über den Boden und kam geschmeidig wieder auf die Füße. In der Bewegung hatte er sein Messer gezogen und lenkte damit einen Schlag ab, den Ervit auf ihn niedersausen ließ, führte eine Scheinattacke gegen den zweiten Blondschopf, wirbelte herum und zog statt dessen Ervit das Messer über den Arm, drehte sich wieder, tauchte unter einem Hieb des Blonden weg und trat ihm kraftvoll gegen das Knie, schnellte sich in einer flachen Rolle über den Boden, kam direkt vor dem Rothaarigen auf die Füße und hieb das Messer gegen seinen Hals. Der Bandit konnte nicht schnell genug zurückweichen. Die Klinge schnitt durch sein Fleisch. Gleichzeitig stieß er mit seinem eigenen Messer zu. Geräuschvoll zerfetzte es das Hemd des Saryn, der bereits wieder davon sprang und sich dem Blonden zuwandte, der sich jaulend das Knie hielt. Mit einem Satz war er hinter ihm, riss ihn mit einem groben Griff ins Haar zu sich herunter und zog ihm das Messer über die Kehle und faßte dabei schon Ervit ins Auge, der das Schwert mit der gesunden Hand wieder aufgenommen hatte und sich ihm, vorsichtiger diesmal, wieder näherte. "Das wirst du dreckige, kleine Ratte bereuen", zischte er haßerfüllt. Fuchs gab dem röchelnden Blonden einen Stoß und wandte seine ganze Aufmerksamkeit Ervit zu. Seine glitzernden, schwarzen Augen schienen das einzig Lebendige in seinem maskenhaft starren Gesicht zu sein. Ervits Züge waren zu einer haßerfüllten Fratze verzerrt. "Du Dreckskerl! Du hast meine Freunde ermordet!" Mit erhobenem Schwert drang er auf ihn ein. Fuchs duckte sich unter den Hieben, sprang zurück, zur Seite, und lauerte auf einen günstigen Moment zum Gegenangriff. 
Raïssa sah ihnen atemlos zu. Von Herzen wünschte sie Fuchs den Sieg. Lange konnte er den Kampf nicht mehr durchhalten, nicht in seinem schlechten Zustand. Es war erstaunlich, was er alles aus seinem ausgemergelten Körper holte. Wenn Ervit ihn töten sollte, würde sie vermutlich auch sterben.
Der Rothaarige war in die Knie gebrochen und preßte ächzend eine Hand auf die Wunde in seinem Hals. Mühsam rappelte er sich wieder auf. "Gib’s ihm, Ervit", krächzte er und nahm den Dolch wieder auf. "Halt‘ ihn noch einen Moment hin." Raïssa ließ sich auf die Knie fallen und streckte ein Bein vor. Rothaar stolperte darüber und fiel fluchend auf die Nase. Fuchs wirbelte herum und schnellte sich mit einem schon akrobatischen Sprung zu ihm hinüber. Ervit stürmte mit einem zornigen Aufschrei hinter ihm her. Bevor Rothaar wieder auf die Beine kommen konnte, war er über ihm und schnitt ihm die Kehle durch, fuhr herum und schleuderte das Messer gegen Ervit. Mit einem hohlen Laut drang es in seine Brust. Der Bandit ließ das Schwert fallen und brach vor dem Saryn sterbend zusammen. Fuchs wich flink zur Seite aus, die Hände kampfbereit erhoben, und suchte mit flackerndem Blick nach weiteren Gegnern. Doch es war niemand mehr auf den Füßen. Schwer atmend entspannte er sich. Dann zog er sein Messer aus Ervits Brust, wischte die Klinge an dessen Hemd sauber und sah sich nach Raïssa um. 
Sie starrte ihn mit schreckgeweiteten Augen an. War das wirklich derselbe junge Mann, den sie am Tümpel überrascht hatte? Sein Gesicht spiegelte eine harte Unerbittlichkeit, vor der sie sich zutiefst fürchtete. Instinktiv wich sie vor ihm zurück. Du Gans! Er hat dich vor den Kerlen gerettet! Er kam zu ihr, umfaßte ihre gefesselten Gelenke mit einer Entschlossenheit, die der des Rothaarigen in nichts nachstand, und ließ sich neben ihr auf ein Knie nieder. Mit einem raschen Schnitt durchtrennte er die Bogensehne. "Bist du in Ordnung?" Unvermittelt wurden seine Züge weicher. Er betrachtete sie besorgt. Seine Augen waren so dunkel, dass Pupille und Iris miteinander verschmolzen schienen. Raïssa fürchtete, sich in ihren Tiefen zu verlieren und wandte sich ab. Sie nickte tapfer. Das Blut schoß schmerzhaft in ihre Hände zurück. "Du bist gerade rechtzeitig gekommen." Ein jungenhaftes, verlegenes Lächeln geisterte über sein Gesicht. "Ich... war zufällig in der Gegend", sagte er. Das war dreist gelogen! Sie war sich sicher, dass er ihr nachgegangen war, was immer er sich auch davon versprochen hatte. Ein Zittern stieg in ihrem Innern auf. Seine bloße Nähe machte sie nervös, erregte sie mehr als jeder andere Saryn, dem sie bisher begegnet war. Eine plötzliche Schüchternheit überkam sie. Fuchs erhob sich und half ihr auf die Füße. "Warte einen Moment. Ich hole meine Waffen." 
Raïssa lehnte sich gegen den Stamm. Ihr schwindelte. Es war alles so schnell gegangen. Zwei Schritte von ihr entfernt lag ihr Peiniger in einer purpurnen Lache. Schillernde Fliegen umsummten die toten Banditen. Mit einem flauen Gefühl im Magen beobachtete sie, wie Fuchs mit der größten Selbstverständlichkeit zwischen den Leichen herumging, seinen Bogen aufhob und den Pfeil aus dem zusammen gekrümmten Körper des jungen, blonden Mannes zerrte. Nach einem kritischen Blick auf die Spitze ließ er ihn in seinem leeren Köcher verschwinden. Abgesehen von dem zerfetzten Hemd, das sich kaum noch auf seinem Körper hielt, und einigen Blutspritzern auf den Armen sah er unversehrt aus. Raïssa atmete ein paar Mal tief durch. Langsam löste sich der Knoten von Schock und Furcht in ihrem Innern. "Sollten wir nicht irgendetwas tun?", fragte sie rau. Fuchs zupfte die Reste seines Hemdes zurecht und stopfte sie in den Gürtel. "Was tun?" Er hob Ervits Kurzschwert auf und prüfte die Klinge. Mit einem zufriedenen Brummen schob er es in seinen Gürtel. "Die Menschen. Sollten wir sie nicht... was tun Menschen mit ihren Toten.?" "Mach dir darüber keine Gedanken", erwiderte Fuchs und kam zu ihr zurück. "Der Wald sorgt für die Toten. Laß uns von hier verschwinden, Raïssa." 
Fuchs legte seinen Arm um sie, schützend und beruhigend, und führte sie weg. Raïssa ließ sich gegen seinen knochigen Körper drücken und genoß das kurze Gefühl der Sicherheit, das er ihr durch seine bloße Nähe vermittelte. So dicht an ihm spürte sie seine Erschöpfung. Was immer ihm die Kraft gegeben hatte, gegen die Männer zu kämpfen, verließ ihn langsam. Sie fühlte den Wirbel seines Herzschlags, seinen schnellen Atem und das Flattern seiner Muskeln. Nach einigen Schritten blieb er stehen und nahm sie in beide Arme. Raïssa zitterte. Sein Griff war bestimmt, aber so leicht, dass sie ihm jederzeit hätte entschlüpfen können. Mit einer Zartheit, die sie ihm nicht zugetraut hatte, streichelte er ihr Haar. "Ich hätte niemals zugelassen, dass diese Tiere dir ein Leid antun", sagte er leise. Raïssa strich mit den Fingerspitzen seine hohen Wangenknochen hinunter und hinterließ eine Spur in dem Film von Schweiß und Schmutz auf seiner Haut. "Das war tollkühn!" "Mag sein. Trotzdem würde ich es wieder tun. Jederzeit." "Ich hatte solche Angst, dass sie dich töten!" Seine Augen weiteten sich in ehrlichem Erstaunen. "Angst? Um mich?" Impulsiv nahm sie sein hageres Gesicht wie schützend zwischen ihre Hände. Du Dummkopf, wollte sie sagen, um wen denn sonst? Doch etwas hielt sie zurück. Statt dessen sagte sie: "Ich bin froh, dass es dich gibt. Danke." Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küßte ihn auf die Lippen. Einen Moment war er wie erstarrt, doch dann drückte er sie an sich und erwiderte ihren Kuß. Es war so lange her, dass er eine Frau umarmt hatte! Fuchs konnte sein Verlangen kaum beherrschen. Sie entzog sich ihm. "Nein, Fuchs. Nicht hier. Nicht, wo der Tod so nahe ist." Einen Moment schaute er sie verständnislos an, doch dann nickte er. "Ich habe ein Stück von hier mein Lager. Wenn... wenn du mitkommen möchtest..." Raïssa senkte ihren Blick in den seinen. Nichts als Bewunderung und Begehren spiegelten sich in den dunklen Tiefen seiner verschatteten Augen. Den Kampf schien er bereits vergessen zu haben. "Zeig mir den Weg." Ein jungenhaftes, glückliches Grinsen huschte über sein Gesicht. "Dann komm!" Er nahm ihre Hand und zog sie mit sich. Raïssa paßte sich seinem raschen Schritt an. Er bewegte sich leicht und schnell, wie ein Mann aus ihrem Ghirvin. Eigentlich war es ihr unverständlich, weshalb er so heruntergekommen war, wenn er so offensichtlich mit dem Leben im Wald vertraut war.
"Nicht so schnell", stieß sie hervor. Als er nicht reagierte setzte sie hinzu: "Du tust mir weh!" Widerwillig ließ Fuchs sie los. "Das wollte ich nicht." Er warf einen reuevollen Blick auf ihre zerschundenen Handgelenke. "Es gibt Wasser hier in der Gegend. Das wird dir helfen." Er führte sie zielstrebig durch das Unterholz. Der Boden stieg langsam an. Tief unter sich fühlte Raïssa ganz schwach den klingenden Strom der Magie, wie ein fernes Summen. Unvermittelt ragten moosbewachsene Felsen vor ihnen auf. Etwa fünf Längen über ihnen wölbte sich Wurzelwerk und Blätterdickicht über die Kante. In einer Spalte plätscherte ein dünnes Rinnsal herab und folgte einer schmalen Rinne am Fuß der Felsen. Fuchs lehnte seinen Bogen gegen die Felswand, riß zwei Streifen seines ohnehin zerfetzten Hemdes ab, tränkte sie sorgfältig mit Wasser und wand den kalten Stoff um ihre Gelenke. Wohltuend legte sich die Kühle über die brennend heißen Linien, die die Bogensehne in ihr Fleisch gegraben hatte. Fuchs ließ das Wasser über seine Hände und Arme rinnen und wusch die letzten Spuren des Kampfes von seiner Haut. Zuguterletzt schöpfte er mit beiden Händen das kalte Wasser in sein Gesicht und über seinen Kopf. 
Raïssa lehnte sich mit dem Rücken gegen den Felsen. Ihre Knie hatten noch immer nicht die gewünschte Festigkeit zurück erlangt. Fuchs‘ Gegenwart war nicht dazu angetan, diesen Zustand in absehbarer Zeit zu ändern. Sie beobachtete ihn, während sie ihre Gelenke vorsichtig rieb. Das Hemd rutschte langsam von seiner Schulter. Gedankenlos zog er es wieder zurecht, und wandte sich wieder zu ihr um. Sein Haar ringelte sich in nassen Strähnen vorwitzig in seine Stirn und verlieh ihm ein verwegenes Aussehen. "Du bist verletzt", stellte Raïssa fest. Durch die Löcher in seinem Hemd schimmerte ein dünne, rote Linie. Das Messer des Banditen mußte seine Haut geritzt haben. "Wahrscheinlich sterbe ich daran", bestätigte er trocken. Mit einer galanten Bewegung streckte er seine Hand zu ihr aus. "Möchtest du meine letzten Stunden mit mir teilen?" Raïssa lächelte. Der Bursche gefiel ihr, mit seinem Kampfgeist, seinem Mut und seiner Freundlichkeit. Sie legte ihre Hand in die seine. "Es ist mir eine Ehre." Er zog sie an sich. "Hast du gefunden, was du gesucht hast?" Raïssa dachte an die verwunschene Quelle, die das Lied der Magie in ihrer Seele zum Klingen gebracht hatte und nickte leicht. "Mehr sogar." Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küßte ihn.

Ein knackender Ast war die einzige Warnung. Zwischen den Bäumen erschienen wie durch Zauberei zwei hochgewachsene Männer mit dunklen Haaren und schwarzer Lederkleidung, auf der aufgenähte Ringe und Plättchen glänzten. Zwischen ihnen hechelte ein großer Hund. Fuchs schnappte hörbar nach Luft, riß kampfbereit seine Waffen aus dem Gürtel und sprang vor Raïssa. "Flieh!" Sie gehorchte nicht sofort. Der vordere Krieger zog wortlos sein Schwert, der hintere, der sein Haar hoch am Hinterkopf zu einem locker fallenden Zopf zusammengebunden hatte,  trat einen Schritt zur Seite und hob eine Waffe, die wie ein kurzer waagerechter Bogen mit einem langen Griff in der Mitte aussah. Im Schußkanal lag matt glänzend ein etwa unterarmlanger Vierkantbolzen.  
Der Schwertmann gab dem Hund einen knappen Befehl. Das Tier sprang mit langen Sätzen auf sie zu und lenkte Fuchs‘ Aufmerksamkeit für einen Moment ab. Im selben Moment drückte der Mann den Abzugsbügel. Es gab ein  hohles, singendes Geräusch, der Bolzen durchschlug Fuchs‘ Schulter und trat bis über die Hälfte seiner Länge im Rücken wieder heraus. Er stolperte unter der Wucht des Geschosses zurück. Das Kurzschwert entfiel seiner kraftlosen Hand. Der Hund sprang ihn an und warf ihn vollends zu Boden. Raïssa schnellte sich mit einem Sprung in die Büsche und preßte sich an den Boden. Angstvoll spähte sie zwischen den dicht belaubten Zweigen hindurch und wisperte verzweifelt Fuchs‘ Namen. 
Er gab sich noch nicht geschlagen. Noch immer hielt er sein Messer fest umklammert und hieb blindwütig nach dem Hund. Das Tier wich seinem Angriff geschickt aus. Fuchs nutzte diesen Moment, um wieder auf die Füße zu kommen. Er ignorierte das Geschoß in seiner Schulter, das seinen rechten Arm zu einem nutzlosen Anhängsel machte. Mit vorgehaltener Waffe fixierte er seine Angreifer. Der Schwertmann pfiff den Hund zurück und kam langsam auf ihn zu, seine Klinge lässig gesenkt. 
"Die Jagd hat lange gedauert, Fuchs", sagte er. Seine Stimme war sehr tief und volltönend. "Ich habe den Auftrag, dich lebend zurückzubringen. Aber die Belohnung bekomme ich auch, wenn ich nur deinen Kopf abliefere. Ergib dich also." Fuchs griff an, bevor er zu Ende gesprochen hatte. Trotz der Verletzung bewegte er sich erstaunlich schnell. Der Schwertmann schien die Attacke geahnt zu haben. Sein Schwert zischte hoch und schoß pfeifend auf ihn herab. Fuchs wich dem Schnitt mit einer knappen Drehung aus, doch die Klinge traf den Schaft in seiner Schulter. Mit einem halb unterdrückten Aufschrei brach er in die Knie. Der Mann versetzte ihm einen brutalen Tritt in den Leib. Fuchs wurde von der Wucht herum geworfen, aber er dachte nicht daran, aufzugeben. Er krümmte sich, kam auf die Knie und hieb hasserfüllt sein Messer gegen die Beine des Mannes. Der Krieger trat es ihm aus der Hand und schlug ihm sein Schwert mit der flachen Seite gegen den Kopf. Fuchs stürzte wieder, und bekam noch einen Tritt. Raïssa biß sich auf die Lippen, um nicht laut aufzuschreien. Der Mann stellte seinen Stiefel auf das Gelenk seiner Waffenhand. "Das war’s, Spitzohr." Er drückte die Spitze seines Schwertes gegen Fuchs’ Hals. "Mattis! Fessele ihn! – Wo ist der andere?" "Weg", erwiderte der Schütze. Er schlang den Tragriemen seiner Waffe um die Schulter und schnürte ihrem Gefangenen die Hände mit Lederriemen auf den Rücken. Raïssa zwinkerte sich die Tränen aus ihren Augen. Ohnmacht und Wut durchfluteten sie in heißen Wellen. 
Der Hund, der schwanzwedelnd um seine Herren herumlief, verlor plötzlich das Interesse. Witternd hob er die Nase und umrundete den Kampfplatz in immer weiter werdenden Kreisen. Mit Schrecken erkannte Raïssa, dass es ihr Geruch war, der dem Hund in der Nase kitzelte. Verzweifelt preßte sie sich flach auf den Boden und wünschte nichts sehnlicher, als vollkommen mit dem Wald zu verschmelzen. Eins zu werden mit der Gesamtheit. Flüchtig hatte sie den Eindruck, als würde sie in das Wurzelgeflecht unter ihrem Körper versinken, roch Moos und Pilze und spürte am ganzen Körper prickelnde Wärme, als ob sich jedes einzelne Haar an ihrem Körper aufrichtete. Zeit und Raum hörten auf, von Bedeutung zu sein. Der Hund brach geräuschvoll durch ihr Gebüsch, ohne sie zu bemerken. Als Raïssa sich wieder an ihren Körper erinnerte und mit unsäglicher Anstrengung den Kopf hob war sie allein.

"Bist du sicher, dass wir den Richtigen erwischt haben, Errolf?" fragte Mattis und sah zweifelnd zu Fuchs hinüber. "Wir hatten seine Spur oft verloren." Sie hatten ihr Lager nicht weit von der Stelle aufgeschlagen, wo sie ihn gefangengenommen hatten. "Ganz sicher." Errolf durchwühlte seine Satteltaschen und kramte eine Zange hervor. "Schau her." Er ging zu dem Saryn hinüber, den sie aufrecht stehend an einen Baum gebunden hatten und der mit glasigem Blick ins Nichts starrte. Mit einem Schritt war er bei ihm und entblößte die rechte Brust ihres Gefangenen. Vier sichelförmig gekrümmte, in einer Raute gruppierten Narben zeichneten sich deutlich darauf ab. "Siehst du?" Mattis nickte. "Die Eulenkralle, das Zeichen der Bruderschaft des schwarzen Mondes." "Zieh den Bolzen raus, Errolf, wir müssen ihn verbinden, sonst hält er den Rückweg nicht durch." Errolf lachte trocken. "Du verschwendest dein Mitgefühl. Dieser Kerl ist zäher als er aussieht. Er stirbt nicht so schnell. Behandle ihn nicht zu gut, sobald er sich besser fühlt, wird er uns bei der ersten Gelegenheit die Kehle durchschneiden, wie diesen anderen armen Burschen da draußen." Doch er faßte das geflügelte Schaftende des Bolzens mit der Zange und zog ihn heraus.
Fuchs erblaßte bis in die Lippen, aber er gab keinen Laut von sich. Aus der Wunde quoll   Blut und rann als dünnes Rinnsal herab. Errolf betrachtete sie nachdenklich. "Möchte wissen, wie sie das machen", sagte er zu Mattis, den blutigen Bolzen in der Hand. "Diese Schattenkämpfer ertragen die schlimmsten Schmerzen. Sie haben sogar die Macht, ihren Blutfluß zu kontrollieren. Diese Spitzohren sind alle Hexer!"  Mattis versorgte die Verletzung mit Salbe und Verbandsleinen. "Wir haben einen weiten Weg vor uns", sagte er, während er so gut es ging den Stoff um die Schulter wickelte. "Er sollte wenigstens in der Lage sein, ihn so weit wie möglich auf eigenen Füßen zu laufen." "Ja. Und anschließend muß er für seine Hinrichtung in Form sein." 

Raïssa kroch auf allen Vieren an das Lager der Männer heran, wobei sie peinlich genau auf die Windrichtung achtete, damit der Hund sie nicht verriet. Die beiden Südländer hatten ein Feuer angezündet und kochten ihr Abendessen. Drei Pferde waren zwischen den Bäumen angebunden und dösten, der Hund lag zu ihren Füßen und nagte an einem Knochen. Zwei Reitsättel und ein Packsattel lagen in einem unordentlichen Haufen mit Ledertaschen und Beuteln neben den Männern. Fuchs stand zusammengesunken an einen Baum gebunden. Je ein Lederseil um Brust und Beine hielten ihn aufrecht. Diese gemeinen Kerle! Raïssa unterdrückte ihren aufkeimenden Zorn. Selbst wenn Fuchs ihr Feind war, gab es keinen Grund, ihn dermaßen schlecht zu behandeln. Er war verwundet! Sie mußte ihn so schnell wie möglich da heraus holen! Bis Mitternacht blieb sie bewegungslos liegen, beobachtete, wie die Männer zu Abend aßen, ohne ihrem Gefangenen etwas abzugeben, und sich unterhielten. Sie verstand kein Wort dieser schnellen Sprache, deren Silben lebhaft übereinander zu purzeln schienen. Dann legte sich der kleinere der Männer neben das Feuer und zog die Decke über seine Schultern. Der andere vertrat sich kurz die Beine, sah nach den Tieren, prüfte Fuchs‘ Fesseln, und ließ sich wieder nieder, um Wache zu halten. 
Immer wieder irrte Raïssas Blick zu dem gefangenen Saryn hinüber. Die Sorge um ihn nagte an ihrer Seele. Sie fürchtete, dass er sein Leben dort an dem Baum beendete, weil die Menschen nicht willens waren, ihn angemessen zu versorgen. Selbst auf die Entfernung glaubte sie zu spüren, wie seine Kräfte schwanden. Die Magie ist allgegenwärtig. Die Worte der Shama nahmen in ihrem Geist so deutlich Gestalt an, als läge sie direkt neben ihr. Nutze sie. So wie sie dich erfüllt, erfüllst du sie. Nutze die Kraft. - Aber wie? Wie eine Antwort auf ihre verzweifelte Frage erinnerte sie sich an den Frieden voller Klang und Wärme bei der Quelle. Das war er! Ihr Zugang zur Magie. Der Klang! Sie erinnerte sich genau an die Töne, die sich harmonisch voller Majestät aneinanderreihten. Mit ihrer Seele suchte sie nach diesen Klängen, öffnete sich weit und fand die Korrespondenz in den Adern der Magie unter dem Wald. Sie hoben sich ihr entgegen und änderten sich mit der Modulation des Klanges. Müdigkeit..., Schlaf..., Erschöpfung..., Ruhe... Mit aller Kraft konzentrierte sie sich auf diese Gefühle, und sandte sie magisch verstärkt aus.
Als der Wächter zusammensank und sich benommen in eine bequemere Haltung rollte, jubelte sie innerlich und huschte zu Fuchs hinüber. Sie berührte seine unverletzte Schulter. Er reagierte nicht. "Fuchs!" flüsterte sie. Der Zauber mußte ihn genauso eingeschläfert haben wie die anderen. Wenigstens hoffte sie das. Sie rüttelte ihn. "Au!" Die Silbe war nicht lauter gesprochen als ein angestrengtes Atmen. "Kannst du laufen?" "Kommt drauf an, wie weit." Raïssa zerschnitt die Fesseln, erst die um die Beine, dann die um die  Brust und zuletzt die um seine Hände. Sie schob sich unter seine gesunde Schulter, um zu verhindern, dass er stürzte. "Was ist mit den Rundohren?" keuchte Fuchs und biß sich auf die Lippen, um die Schmerzen zurückzuhalten. "Sie schlafen." Er stützte sich schwer auf sie und spähte angestrengt zu den beiden reglosen Gestalten hinüber. "Gib mir dein Messer", forderte er. Obwohl er seine Stimme nicht über ein Flüstern erhob, lag so viel kalte Entschlossenheit darin, dass sie zurückschreckte.  "Du läßt die Menschen in Ruhe!", zischte sie empört. "Komm jetzt." Energisch dirigierte sie ihn in den Wald. 
Raïssa brachte ihn zu dem einzigen Zufluchtsort, den sie in der Nähe kannte: der Kluft mit der magischen Quelle. Es war weit nach Mitternacht, als sie ihr Ziel erreichten. Selbst bei Dunkelheit sah der Ort verzaubert aus. Mond und Sterne warfen ein silbriges Licht auf die Quelle und das Gras, das jetzt blaugrau aussah. Glühwürmchen sprenkelten es mit gelbgrünen Funken. "Wir sind da", sagte Raïssa atemlos. Mit einem Seufzer sank Fuchs zu Boden. "Wo sind wir hier?" Seine Stimme war so leise, dass sie ihn kaum noch verstehen konnte. "In Sicherheit." Er gab ein ersticktes Geräusch von sich, das sie für ein Lachen hielt. "Laß mich nach deiner Wunde sehen." Sie nestelte an dem Hemd, das er um die Schulter gewickelt hatte, um keine verräterischen Blutspuren zu hinterlassen, und den Leinenbinden. "Im Dunkeln?" Sie ahnte seine amüsierte Bemerkung mehr, als dass sie sie hörte. "Ja, genau. Laß mich nur machen." "Bist du eine grhiva?" "Eine was?" "Eine... Hexe." "So was in der Art." Er sog die Luft zischend ein, als sie die letzte Lage Stoff herunter nahm. Seine Schulter glänzte dunkel vom Blut. "Spar deine Kräfte, Raïssa", wisperte er fatalistisch. "Morgen früh werden wir sowieso sterben." "Unsinn", widersprach sie energisch. "Sei still." "Die Rundohren werden unsere Spur schnell gefunden haben." "Du sollst still sein!"
Sie hatte nichts dabei, um dieses große Loch zu behandeln. Die Wunden bluteten jetzt heftig. In Ermangelung anderer Mittel drückte sie ihre Handflächen von hinten und vorne dagegen. Fuchs sackte schwer gegen sie, als Erschöpfung und Blutverlust ihren Tribut forderten und er in Bewußtlosigkeit glitt. Tränen sammelten sich in ihren Augen. Sie spürte, wie irgendetwas in ihm sich widerstrebend zurückzog und sie allein zurückließ. "Stirb nicht!" flüsterte sie inbrünstig. "Gib jetzt nicht auf. Nicht nach allem was wir durchgemacht haben!" Sie preßte ihre Hände fest gegen seine Schulter. Das Blut drängte zwischen ihren Fingern hindurch, als sei ein Damm gebrochen. "O Göttin", flehte sie. "Hilf mir!" Es mußte doch etwas geben, was sie tun konnte! Sie hatte sich die verborgene Magie des Waldes zu Nutze gemacht, um die Fremden außer Gefecht zu setzen. Warum sollte sie es nicht ein weiteres Mal schaffen, sich die Kräfte der Erde dienstbar zu machen? Es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren, die Angst lenkte sie zu sehr ab. Die Magie war hier neben der Quelle besonders stark. Sie fühlte sie in dem Boden unter sich und in der Luft um sie herum, wie ein Kribbeln, ein fernes Summen. Gleichzeitig fühlte sie über das Blut unter ihren Händen, wie der eiserne Wille, der sein Herz weiter schlagen ließ, erlahmte. Seine Lebenskraft lief unter ihren Fingern davon. Eine verzweifelte Idee nahm in ihr Gestalt an.
War nicht das Geflecht von Adern, Venen und Nerven dem der Wurzeln des Waldes unter ihren Füßen ähnlich? Sagte die Shama nicht, dass alle Geschöpfe dieser Welt in einem lebenden Geflecht miteinander verbunden seien? Raïssa griff nach der Magie, nahm den Klang auf, den sie in ihrem inneren Ohr erzeugte. Sie sang den Ton, modulierte ihn, bis sie fühlte, wie die Magie sich in ihm bündelte und bereitwillig ihrer Führung folgte. Raïssa konzentrierte sich auf die Wunde unter ihren Händen, suchte nach dem Ton, der den Blutfluß eindämmen konnte. Ihr Geist wanderte frei. Sie tauchte in den roten Strom, folgte ihm zu seinem Ursprung, den zerissenen Gefäßen und zerschmetterten Knochen. Sie sang die Harmonien, wie sie sein sollten. Die Magie folgte ihrer Führung, berührte das Chaos, ordnete, fügte zusammen. Die Blutgefäße schlossen sich, leiteten das Blut in die alten Bahnen. Raïssa tauchte tiefer hinab, führte mit ihrem wortlosen Gesang die Harmonie tief in sein Inneres, um seine Lebenskraft wieder zu stärken. Flüchtig streifte sie alte Wunden, tief sitzenden Schmerz, Trauer, Haß und Verzweiflung, um die sie sich jetzt nicht kümmern konnte. Es gab Vordringlicheres. Das, was Fuchs ausmachte, hatte sich bereits so weit zurückgezogen, dass sie es kaum noch spüren konnte. Vielleicht war es gut so. Nichts stellte sich der heilenden Macht entgegen, die Raïssas Gesang folgte. Erst als sie den ungehinderten Fluß von Lebenskraft in seinen Adern fühlte, zog sie sich zurück. Graues Zwielicht umgab sie. Fuchs lag in ihrem Schoß, sein Gesicht war geisterhaft bleich, wie das eines Toten. Sein Blut hatte ihre Finger verklebt und bildete dicke Krusten. Vorsichtig löste sich Raïssa von ihm und ließ ihn auf das Gras gleiten. Steifbeinig ging sie zu dem Bach hinüber, wusch sich Hände und Arme und kehrte mit einem wassergetränkten Bausch Moos zurück. Behutsam reinigte sie seine Schulter und stellte zu ihrer freudigen Erleichterung fest, dass die Wunden sich geschlossen hatten. Sie legte die Hand auf seine Brust und freute sich an seinem flachen Atem und dem leisen Schlag seines Herzens. Er lebte! Und er würde weiter leben!
Tiefe Müdigkeit erfüllte sie und gleichzeitig fühlte sie sich sehr wach. Mit seltener Deutlichkeit spürte sie den Wald erwachen. Nach und nach erhoben ferne Vögel ihre Stimmen, Insekten begannen, sich zu regen, Tiere raschelten im Unterholz.
Auch die Fremden würden vermutlich bald erwachen. Fuchs‘ Befürchtungen waren berechtigt. Der Hund würde ihre Spur rasch finden. Sie mußte etwas unternehmen, eine falsche Spur legen. Die Ahnung eines Plans reifte in ihr. Alles was sie brauchte, war Zeit – Zeit, um Fuchs in die Sicherheit ihres Ghirvins zu bringen. Sie nahm die blutigen Leinenbinden mit und lief den Weg zurück, den sie in der Nacht hergekommen waren.
Die aufgewühlte Spur den steilen Abhang hinunter würde sie nicht verwischen können. Mit Entsetzen erkannte sie die zahlreichen Hinweise, die sie hinterlassen hatten: Abgebrochene Zweige, hier und da aufgestörtes Laub oder einzelne Blutstropfen auf Blättern, wenn sie sich durch Büsche gezwängt hatten. Ein zerwühlter Fleck auf dem Boden erinnerte an einen schmerzhaften Sturz, den sie mit Fuchs in der Dunkelheit getan hatte. Zwischen dem zerdrückten Laub reckten sich die grünen Blätter einer krautigen Pflanze. Raïssa starrte die Triebe an und begriff plötzlich. Stinkkraut! Wenn ein Hund an diesem Kraut roch, verlor er für Stunden seinen Geruchssinn. Vorsichtig grub sie die Pflanze aus und nahm sie mit. Auf ihrer Flucht hatten sie einen flachen, steinigen Bach überquert, hier wollte sie die falsche Spur beginnen.
Sie rieb das Kraut über den Verband und grub es auf ihrer Fährte ein. Dann folgte sie dem Bachlauf ein langes Stück, wobei sie darauf achtete, undeutliche Spuren zu hinterlassen, die den Menschen auffallen mußten. Die blutigen Binden durchnäßte sie in dem Bach und tropfte damit Blutspuren auf Steine, Moos oder Blätter. In einem weiten Bogen kehrte sie zu der Kluft mit der magischen Quelle zurück. Wenn die Menschen merkten, dass sie dem Gespür ihres Hundes nicht mehr vertrauen konnten, würden sie sich schon gründlich verlaufen haben. 
Fuchs saß auf einem der Steine am Bach als sie zurückkehrte und ließ die Füße ins Wasser hängen. Das Hemd lag grob gewaschen neben ihm. Seine Schulter war geschwollen und schillerte in verschiedenen Schattierungen von Purpur. Er nickte ihr zu, rührte sich jedoch nicht von der Stelle. Raïssa ging zu ihm. "Wie geht es dir?" Fuchs grinste, ohne dass seine Augen darin einbezogen waren. "Gut." Sein eingefallenes Äußeres strafte ihn Lügen. Raïssa ließ sich neben ihm auf die Knie nieder und schöpfte mit der Hand Wasser aus dem Bach, stillte ihren Durst und ließ sich einige Handvoll über den Nacken rinnen. "Mich wundert, dass du überhaupt schon wieder auf den Beinen bist", sagte sie. "Bin ich nicht", erwiderte Fuchs gleichmütig. "Ich hatte Durst und habe mich hierher geschleppt. Jetzt fehlt mir die Kraft, um wieder zurück zu kriechen." 
Behutsam untersuchte Raïssa seine Schulter. Die aggressive Färbung verriet nur zu deutlich, dass sie noch lange nicht gesund war. "Kannst du den Arm bewegen?" "Ich ziehe es vor, ihn ganz ruhig zu halten", erwiderte er trocken und sah zu, wie seine Zehen im Wasser plätscherten. "Danke für deine Hilfe", setzte er unbeholfen hinzu. "Ich bin es nicht gewohnt, jemanden etwas zu schulden..." "Du schuldest mir nichts", erwiderte Raïssa rasch. "Du hast mich vor diesen Banditen gerettet, weißt du noch?" "Das war etwas anderes." Seine Verlegenheit war fast mit den Händen greifbar. Raïssa wechselte rasch das Thema. "Dein Haar sieht furchtbar aus." Sie strich eine verfilzte Strähne aus seinem Gesicht, wie sie es bei einem Jungen tun würde. Seine Haut fühlte sich unter ihren Fingerspitzen kalt und feucht an. Kein gutes Zeichen. Sie zog einen Holzkamm aus ihrer Gürteltasche. Mit einem Blick vergewisserte sie sich, dass er ihre Fürsorge duldete, und machte sich daran, ihm das verfilzte Haar vorsichtig auszukämmen. "Wer sind diese Menschen?", fragte sie beiläufig. "Sarynjäger", erwiderte er grimmig. 
"Weshalb haben sie dich angegriffen?" Fuchs zuckte zusammen als Raïssas Kamm eine empfindliche Stelle berührte. Sofort nahm sie den Kamm zurück und tastete behutsam mit den Fingerspitzen nach einer Verletzung. Unter seinem Haar fühlte sie eine lange Narbe und eine Verdickung des Knochens. "Bereitet dir das noch Schwierigkeiten?" fragte sie. Ein Wunder, dass er überhaupt noch lebt! "Gelegentlich." Sehr behutsam arbeitete Raïssa weiter. "Wenn du etwas mitteilsamer wärst, könnte ich dir vielleicht helfen", sagte sie mißbilligend. "Es gibt Dinge, die dich einfach nichts angehen." "Natürlich. Das meiste, was auf dieser Welt geschieht, geht mich nichts an." Sein Haar war lange vernachlässigt worden. Die Strähnen waren teilweise so verfilzt, dass sie ihr Messer zu Hilfe nehmen mußte. "Genaugenommen", plauderte sie unbefangen weiter, "gingen dich meine Schwierigkeiten auch nichts an. Trotzdem hast du dich kopfüber hinein gestürzt, um mir zu helfen." "Du brauchtest Hilfe." "Jeder kommt einmal in die Situation, Hilfe zu brauchen. - Anwesende natürlich ausgenommen." Fuchs starrte steif in den Bach. Amüsiert bemerkte sie, wie sich seine Ohren röteten. "Du redest Mist", sagte er rau. "Ich habe mich für deine Hilfe bereits bedankt." "Eine Hand wäscht die andere, Fuchs." Sie zupfte einen Faden aus ihrer Kleidung und band damit sein Haar im Nacken zusammen. 
Gelassen setzte sie sich neben ihn und zog die Beine an. Der Bach strudelte plätschernd um dicke Steine in seinem Bett. "Haben diese Sarynjäger versucht, dir den Kopf einzuschlagen?" "Wohl nicht." Er schoß einen kurzen, funkelnden Blick zu ihr hinüber. "Ich weiß nicht, wie es passierte", fuhr er widerwillig fort. "Von meinen Gefährten blieb keiner am Leben, um mir zu sagen, was wirklich passiert ist. Als ich wieder zu mir kam, war ich allein. Mein Pferd lag neben mir und war so tot, dass es schon roch. Ich hatte überall Schmerzen und konnte kaum sehen. Irgendwie habe ich es geschafft, nicht an Ort und Stelle zu krepieren. Als es mir wieder etwas besser ging, habe ich mich auf den Weg in die Berge gemacht und jetzt bin ich hier." Raïssa nahm es hin, dass er nicht ausführlicher erzählen wollte. "Wie lange bist du schon unterwegs?" Er runzelte nachdenklich die Stirn. "Etwa zehn Mondläufe, schätze ich." Ein angestrengter Ton schlich sich in seine Stimme. "Erzähl mir von den Sarynjägern." "Da gibt es nicht viel zu erzählen. Sie spüren für Geld flüchtige Saryn auf. Es wundert mich, dass sie nicht schon längst hier sind. Unsere Spur muß mehr als deutlich sein und dieser Köter riecht einen Tropfen Blut auf zwei Malin im Umkreis." "Mach dir keine Sorgen. Ich habe eine falsche Fährte gelegt, das sollte sie eine Weile aufhalten." "Du bist zurückgegangen? Das war unvorsichtig. Sie hätten..." Fuchs verstummte schaudernd. Er zog seine Füße aus dem Wasser und winkelte die Beine an. "Wenn wir wieder auf sie treffen, Raïssa, lauf weg, so schnell du kannst. Ich will nicht, dass dir meinetwegen etwas geschieht." "Und was geschieht mit dir, wenn sie dich noch einmal erwischen?" Er seufzte. "Sie werden dafür sorgen, dass ich nicht noch einmal fliehen kann und mich zurück nach Ketash bringen. Falls ich dann noch lebe, werde ich dort auf sehr unangenehme Art sterben." Obwohl seine Stimme ungerührt klang, war er allein bei der Vorstellung blaß geworden. "Du hast zweifellos ein sehr interessantes Leben geführt", bemerkte Raïssa und betrachtete nachdenklich sein scharf geschnittenes, hohläugiges Profil und die eingefallenen Wangen. Aber anscheinend auch ein sehr hartes und freudloses. Wer bist du, Fuchs? Wer bist du wirklich?
"Wir müssen von hier verschwinden", sagte Fuchs. "Deine falsche Fährte wird sie nicht ewig aufhalten." Raïssa nickte zweifelnd. "Kannst du laufen?" Er preßte kurz die Lippen aufeinander und senkte verlegen den Blick. "Nicht besonders gut, fürchte ich", gestand er. "Aber ich werde so weit und so schnell laufen, wie es notwendig ist." "Bis zum Lager meines Ghirvins ist es etwa einen halben Tag", sagte Raïssa. Fuchs schüttelte entschieden den Kopf. "Das ist keine gute Idee. Ich will sie nicht zu eurem Lager führen." "Wohin willst du dann gehen? Unser Lager ist der einzige Ort, der Zuflucht bietet. Die Menschen werden uns nichts tun. Wir sind zu viele." Fuchs erhob sich mühsam. "Darauf würde ich mich nicht verlassen." Plötzlicher Zorn überschwemmte sie. "Sag mir, was los ist", forderte sie scharf. "Es ist mir gleich, womit du ihren Haß auf dich gezogen hast, aber wenn es den Ghirvin gefährdet, mußt du es mir sagen!" Fuchs hob sein Hemd auf. Mit einem kritischen Blick musterte er die Löcher und Flecken und zog es umständlich an. Raïssa verspürte den dringenden Wunsch, ihm einen Tritt zu versetzen. "In Ketash wäre es ein Verbrechen, mir zu helfen oder auch nur eine Schale Wasser zu geben", sagte er schließlich und strich mit den Fingern sehnsüchtig über ihre Wange. "Meine Anwesenheit bringt deinen Ghirvin nur in Gefahr." Raïssa ergriff seine Hand. "Und was willst du tun? Du kannst nicht hier bleiben." Der Gedanke, sich von ihm zu trennen, ohne die Möglichkeit gehabt zu haben, ihn richtig kennen zu lernen, erschien ihr unerträglich. "Ich denke, du solltest die Entscheidung Bator überlassen", sagte sie. "Unsere Männer sind nicht so gute Kämpfer wie du, aber das heißt nicht, dass wir hilflos wären." "Bator?" "Unser Anführer. - Ein Saryn ist nicht dafür geschaffen, allein zu sein, Fuchs. Du bist lange genug allein gewesen." Er wandte sich abrupt ab. "Wie du meinst. Gehen wir." Raïssa seufzte lautlos.

Schon bald stellte sich heraus, dass es Fuchs noch lange nicht so gut ging, wie er sie glauben machen wollte. Er überließ ihr bereitwillig die Führung und mühte sich, mit ihr Schritt zu halten. Der Wald kam ihr stiller vor, als hielte er den Atem an, um sich ein Schauspiel, das sich anbahnte, nicht entgehen zu lassen. Mit jedem Schritt wurde sie nervöser. Obwohl sich Fuchs fast so leise bewegte, wie sie selbst, kam ihr jedes Rascheln und Stolpern, das er in seiner Erschöpfung verursachte, wie ein lautes Signal vor. Flechtenüberzogene Baumstämme und üppig wucherndes Unterholz versperrten ihr die Sicht. Das Gefühl, nach jeder Biegung des Wildwechsels, dem sie folgten, in einen Hinterhalt zu laufen, wurde übermächtig. Verstört blieb sie stehen und strengte Augen und Ohren an. Vor ihnen ein zartes Rascheln, als eine Maus über den kaum sichtbaren Pfad huschte. Das leise Schaben kleiner Krallen an der Rinde eines Baumes. Über ihren Köpfen rannte ein Eichhörnchen über einen Ast, einen Zapfen zwischen den Zähnen. Abgrundtiefe Erschöpfung schlich sich in ihren Körper. Die Anstrengungen der letzten Stunden forderten immer dringender ihren Tribut. Doch sie durfte ihrem Bedürfnis nach Ruhe nicht nachgeben, noch nicht. Alles hing von ihrer Aufmerksamkeit ab. Ihr Orientierungssinn hatte sie noch nie getrogen. Mit traumwandlerischer Sicherheit fand sie die schmalen Wechsel, die sie zum Waldrand zurückführten. Von Zeit zu Zeit blieb sie stehen, um Fuchs Gelegenheit zu geben, wieder zu Atem zu kommen. Besorgt musterte sie ihn, wenn sie glaubte, dass er nicht auf sie achtete. Er war sichtlich am Ende seiner Kräfte. Genau wie sie strengte er seine Sinne an, um eine Gefahr rechtzeitig wahrzunehmen. Die Sarynjäger hatten Pferde dabei. Sie mußten sie rechtzeitig hören können.
Es war schon beinahe Mittag, als sie das gefürchtete Geräusch vernahmen. Sie erstarrten. Linker Hand von ihnen setzten harte Hufe mit dumpfen Lauten auf den laubbedeckten Boden auf, vom Geräusch knackender Zweige begleitet. Fuchs schaute sich gehetzt um und drängte Raïssa in das Unterholz. Hinter dem dicken Stamm einer Buche gingen sie in Deckung. Fuchs sah sich nach einer geeigneten Waffe um. Hastig kratzte er zwei Steine aus dem Boden zwischen den Wurzeln und riß einen schmalen Stoffstreifen aus seinem Hemd. "Lauf weg", raunte er Raïssa zu, während er die Enden des Streifens zwischen die Finger der linken Hand nahm und einen der Steine in die so entstandene Schlaufe plazierte. "Alleine gehe ich nicht", erwiderte Raïssa entschlossen. Ihre Stimme klang weit tapferer, als sie sich fühlte. Krampfhaft suchte sie nach dem magischen Gespinst in dem Boden unter ihren Füßen. Sie konnte es spüren, aber so sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte es nicht erreichen und sich nutzbar machen. "Sei nicht dumm", wies Fuchs sie zurecht. "Ich kann nicht mehr schnell laufen. Aber ich kann sie aufhalten." Raïssa schüttelte stumm den Kopf. Fuchs hielt ihren Blick fest. "Raïssa, Liebste", flüsterte er heiser. "Flieh. Laß meinen Tod nicht sinnlos sein." Er umarmte sie und küßte sie mit verzweifelter Leidenschaft. Dann riß er sich mühsam von ihr los. "Flieh jetzt. Die Run-d-ohren kommen an mir nicht so schnell vorbei." Er wandte sich ab, richtete seine Aufmerksamkeit auf den schmalen Pfad und ließ die Schlinge langsam kreisen. Raïssa wischte sich die Tränen aus den Augen. Zorn und Trauer verdrängten ihre lähmende Müdigkeit. Das war doch alles sinnlos! Sie wollte nicht, dass er sich für sie opferte. Sie wollte ihn lebend und gesund bei sich haben.  
Die Reiter näherten sich rasch. Fuchs ließ den Stein schneller wirbeln und spähte angestrengt ins Unterholz, wo ihre Feinde jeden Moment auftauchen mußten. Das erste Pferd kam in Sicht. Es war ein kleinwüchsiges, braunes Tier mit falber Mähne. Raïssa schrie überrascht auf! Sie kannte es. Aber da hatte Fuchs schon den Stein aus der Schlinge geschleudert. Er zischte auf den ersten Reiter zu. "Nein!" schrie Raïssa. "Das sind Saryn! Sie gehören zu meinem Ghrivin! Mihai! Arif!" Der Stein verfehlte sein Ziel und schlug eine halbe Armeslänge neben dem vorderen Reiter prasselnd ins Unterholz. Der Saryn schrie überrascht auf und riß seinen Bogen hoch. "Mihai! Nicht!" rief Raïssa und sprang auf den schmalen Pfad.  
Der Saryn, ein junger, schlanker Mann mit blauschwarzem Haar, das glatt und offen über seine Schultern hing, ließ den Bogen sinken. "Raïssa!" Er sprang aus dem Sattel und umarmte sie erleichtert. "Bist du wohlauf? Ist alles in Ordnung mit dir? Du siehst erschöpft aus!" "Ja, ja", stieß sie hervor. Erleichterung schwemmte über sie. "Ich bin froh, euch zwei zu sehen! Was macht ihr hier?" "Wir haben dich gesucht. Die Shama hat gesagt, dass du Hilfe brauchst." "Wir kommen ganz gut zurecht", bemerkte Fuchs und verließ ebenfalls die Deckung. Er hatte den zweiten Stein in die Schlinge gelegt, die locker in seiner Hand hing. Die Männer schauten sich schweigend und abschätzend an. "Das ist Fuchs", sagte Raïssa. "Er hat mich vor vier Menschen gerettet. Aber jetzt werden wir von zwei Männern verfolgt. Sie sind gefährlich." "Steigt auf", sagte Arif. "Und laßt uns verschwinden." Er streckte Fuchs die Hand entgegen und zog ihn hinter sich auf den Rücken seines Tieres, Mihai und Raïssa bestiegen das andere Pferd. 
Sie waren nicht mehr weit vom Rand des Alten Waldes entfernt. Raïssa legte die Arme um Mihais Mitte und lehnte sich müde an seinen Rücken. Sie fühlte sich bereits jetzt wunderbar sicher. Die Anspannung der letzten Tage löste sich endlich und machte einer wohligen Erschöpfung Platz. Sie wollte sich nur noch ausruhen und schlafen. Und Fuchs würde bei ihr sein. Am Rande ihrer Wahrnehmung fühlte sie das Zupfen der Magie wie einen fernen Klang voller Harmonie. Unvermutet streichelte Wärme über ihre Wangen. Schläfrig öffnete sie die Augen. Sie hatten den Schatten der Bäume verlassen. Die Pferde trotteten durch hohes Gras, das ihre herabhängenden Füße streifte. Linker Hand glitzerten die breiten, trägen Fluten des Arhin-Flusses. Und weit vor sich ahnte sie mehr als dass sie sie wirklich sah, die zusammengescharten Zelte ihres Ghirvin und den dünnen aufsteigenden Rauch der Kochfeuer. Sie seufzte leise und zufrieden. Daheim. 
 

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