Das Lied der Wanderin - Drachentränen von Ela
Prolog

Matt und glanzlos hing die Sonnenscheibe am grauen Himmel und ihre kraftlosen, kränklichen Strahlen drangen nur wie unter großen Anstrengungen durch die zerschlissenen Wolkenfetzen, die ziellos an ihr vorbeitrieben. Der Wind war wärmer geworden und vom Schnee der letzten Monate waren nur noch vereinzelte schmutzige Flecken geblieben. 
"Warum kehren wir denn nicht einfach um?" Slaithan schob seine Kapuze ein wenig zurück und sah zu seinem Onkel hinüber. 
"Es ist doch wohl nicht zu übersehen, dass der Frühling nicht mehr lange auf sich warten lässt. All dieses Geschwätz vom ewigen Winter, das ist doch blanker Unsinn. Warum gibt eigentlich noch irgendjemand etwas auf diese Prophezeiungen? Sieht denn keiner, dass die alte Hexe uns nur zum Narren hält?"
Slaithan wartete auf einen Satz der Zustimmung, aber sein Onkel schwieg, so wie er es meistens tat. 
Es gibt eine Zeit zu reden und eine Zeit zu schweigen, belehrte er Slaithan fast täglich. Du, mein Neffe, hast das Sprechen bereits mehr als zur Genüge gelernt und nun lerne, wann es an der Zeit ist, zu schweigen, denn nur der Schweigsame hört‚ was dem Schwätzer entgeht.
Obwohl diese Worte sich wie klebriges Harz in seinem Gedächtnis festgesetzt hatten, wollte Slaithan jetzt nicht schweigen und warten. Das konnte er tun, wenn er alt und grau war wie sein Onkel, aber nicht, so lange er noch jung war. Da gab es besseres, als die Hände in den Schoß zu legen und abzuwarten. Die Welt war voller Abenteuer und Gefahren, die nur darauf warteten, dass sie jemand herausforderte. Und er war fest entschlossen, diese Herausforderungen anzunehmen, wenn sie diesen sinnlosen Ritt endlich hinter sich hatten.
"Seit wie vielen Jahren treibt sie das Spiel nun schon? Zehn Jahre, fünfzehn?"
"Siebenundvierzig."
"Siebenundvierzig?!" Slaithan riss in ungläubigem Staunen die Augen so weit auf, dass es aussah, als würden sie ihm jeden Moment aus den Höhlen fallen.
"Und noch immer ist niemand auf die Idee gekommen, dass das alles nur Humbug ist?" Abschätzig zog Slaithan die Mundwinkel nach unten und schnaubte durch die Nase. "Ich weiß wirklich besseres mit meiner Zeit anzufangen, als tagelang durch dieses Ödland zu reiten, nur um dann zu hören, dass der ewige Winter doch noch nicht begonnen hat."
Missmutig starrte Slaithan auf seine Hände. Von seinem Onkel kam natürlich wieder keine Reaktion. Manchmal konnte einem sein ständiges Schweigen und Abwarten ziemlich auf die Nerven gehen und Slaithan fühlte sich gerade dadurch dazu provoziert, immer wieder nachzuhaken. Obwohl er auch jetzt am liebsten weiter gefragt hätte, biss er jedoch trotzig die Zähne zusammen und schwieg. 
Nach einer Weile drehte er den Kopf ein wenig zur Seite und sah wieder zu seinem Onkel hinüber, der aufrecht und mit ernstem Gesichtsausdruck neben ihm herritt. Die langen weißen Haare hatte er im Nacken  zusammengebunden und unter seinen Umhang gesteckt. Slaithan fiel zum ersten Mal auf, dass er seinen Onkel schon immer so in Erinnerung hatte. Wahrscheinlich war er schon mit weißen Haaren und Vollbart auf die Welt gekommen. Bei der Vorstellung seines Onkels als rosigen Säugling, der aus Leibeskräften schreiend in der Wiege lag und die winzigen Fäuste in seinen Vollbart gekrallt hatte, musste er unwillkürlich grinsen. 
"Es ist schön, dass Du unserer Reise nun doch eine fröhliche Seite abgewinnen kannst." Caerons Stimme klang ruhig und gelassen wie immer. "Ich hatte schon befürchtet, deine schlechte Laune auch noch auf dem ganzen Rückweg ertragen zu müssen."
Slaithan spürte, wie ihm die Röte in die Wangen stieg. Er hasste es, rot zu werden und es machte ihn wütend.
"Ist es denn ein Wunder, dass ich nicht gerade Freudensprünge mache?", ereiferte er sich. 
"Seit fast drei Tagen sind wir nun unterwegs, einen halben Tag haben wir noch vor uns, bis wir endlich am Ziel sind und dann müssen wir den ganzen Weg wieder zurück. Und alles dafür, dass uns eine alte Frau sagen wird, dass der Frühling kommt. Das kann ich Dir auch sagen - und zwar ohne tagelangen Ritt."
"So, das kannst du?"
Slaithan spürte den spöttischen Blick seines Onkels auf ihm ruhen, aber er gab vor, es nicht zu bemerken und sah stattdessen schweigend geradeaus, so wie es sein Onkel ihm immer gepredigt hatte. 
"Und was, mein lieber Neffe, glaubst du, befähigt dich dazu? Dein Hang dazu, dein Herz auf der Zunge zu tragen, ist es jedenfalls nicht. Im Sommer werden es zwei Jahre, dass du bei mir bist und du hast immer noch nicht gelernt, nicht so vorschnell zu urteilen. Wie oft schon musstest du dich eines besseren belehren lassen, obwohl du ganz fest von der Richtigkeit deiner Meinung überzeugt warst?"
"Aber Onkel Caeron, diesmal ist es doch wirklich offensichtlich, was sie sagen wird. Ich kann den Frühling beinahe schon riechen."
"Dann ist deine Nase so schlecht wie deine Ohren. Oder ist dir etwa nicht aufgefallen, dass noch keine einzige Vogelstimme zu hören ist?"
Slaithan, der gerade zu einer Entgegnung ansetzen wollte, schwieg verblüfft und klappte seinen Mund wortlos zu. Er lauschte angestrengt, drehte seinen Kopf bald in diese, bald in jene Richtung, aber die einzigen Geräusche waren das Fauchen des Windes, der die kahlen Äste und Zweige der Baumgerippe erzittern ließ, das Schnauben der Pferde und das Scharren und Stampfen ihrer Hufe in der auftauenden Erde. 
Sein Onkel hatte tatsächlich recht, nirgends sang auch nur ein Vogel. Ihm war das zuvor überhaupt nicht bewusst gewesen, aber jetzt, da ihn Caeron darauf aufmerksam gemacht hatte, fiel es ihm dafür umso deutlicher auf. Die Erde, die Luft, der Himmel - alles sah aus wie immer. Wenn nur diese Totenstille nicht gewesen wäre.
Unwillkürlich breitete sich eine Gänsehaut auf seinen Armen aus und Slaithan schluckte beklommen.
"Wenn sie den Frühling aber einfach nur verschlafen haben? Schließlich ist es noch ziemlich kalt und es regnet ziemlich häufig, so dass es doch sein könnte, dass..."
Sein Onkel zog lediglich die Augenbrauen hoch und warf ihm einen kurzen Blick zu. 
Slaithan biss sich auf die Unterlippe. Er wusste selbst, dass das eine ziemlich einfältige Bemerkung gewesen war. Aber es musste doch irgendeine vernünftige Erklärung dafür geben, dass bisher kein Vogel singen wollte. Der Schwarze Winter mit ewiger Dunkelheit und Kälte war ein Märchen aus Zeiten, die so lange vergangen waren, dass nicht einmal die Ältesten sich richtig daran erinnern konnten. Das waren doch nur Schauergeschichten, mit denen man kleine Kinder erschreckte, die nicht artig waren. So etwas konnte nicht wahr werden. 
Irgendwo hinter ihnen stob höhnisch krächzend und mit rauschendem Flügelschlag ein Schwarm Krähen empor. 
Unwillkürlich zuckte Slaithan zusammen.
So etwas durfte nicht wahr werden.
 
© Ela
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Und schon geht's hier weiter zum 1. Kapitel

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