De Immortalis von Soriel Daíra |
Ihre Schritte hallten endlos lang in der Höhle der Grotte wider. Ein wenig eingeschüchtert sahen sich die fünf Gefährten um, denn so riesig konnte diese Halle doch nicht sein, dass nach wenigen Schritten ein hundertfaches Echo von allen Seiten auf sie eindrang. Der Eingang war zum selben Zeitpunkt hinter einer Biegung verschwunden, als die kleinere der beiden Sonnen ihr blässliches Licht mit letzter Kraft über den Schattenberg gesandt hatte, Stunden nachdem ihr Schwestergestirn dort schon versunken war. Im unsicheren Schein der Fackel wirkte der kleine Kreis, den die Strahlen erreichten, verzerrt und unwirklich. Unterschiedlich große Gesteinsbrocken lagen in allen vorstellbaren Formen auf dem Boden. Das blasige schwarze Lavagestein gab ihnen ein pockennarbiges Aussehen, das die Phantasie der Gruppe allmählich überreizte. Sie glaubten ebenso, grauenerregende Monstren zu sehen wie auf Knien flehende Menschen mit schmerzverzerrten Gesichtern. "Könntet Ihr nicht ein wenig mehr Licht machen, Gambrinius? Es ist... unheimlich, und ich befürchte, mich verlässt der Mut, bevor wir unsere Aufgabe erfüllt haben." Der Alchemist lächelte verhalten. Sie alle fürchteten sich, aber Ramuel war der einzige, der in seinem kindlichen Gemüt aussprach, was alle dachten. Ein warmes Gefühl von freundschaftlicher Liebe zu dem Kind durchströmte den alten Mann, und als er ihm flüchtig über den Kopf strich, durchzuckte ihn eine kurze, nichtsdestoweniger sehr intensive Vision. Gambrinius keuchte, kniff die Augen vor einem inneren gleißenden Licht zusammen und zog hastig die Hand weg. Besorgte Blicke musterten ihn, und Tjark hielt den alten Mann mit starken Händen. Dennoch stellte niemand eine Frage, denn solche Visionen waren in den letzten Jahren öfter vorgekommen. Syndra griff mit schmalen, zartgliedrigen Fingern in Gambrinius’ Tasche, zog eine mattgrün leuchtende Phiole heraus und flößte sie ihm ein. Stirnrunzelnd betrachtete sie sein Gesicht, und erst als der Alchemist die Augen wieder aufschlug und die Elfe wie schon die Male zuvor schwach, aber dankbar anlächelte, glätteten sich ihre anmutigen Gesichtszüge, und ihre großen violetten Augen blickten mitleidig in das von Alter und Anstrengung gezeichnete Gesicht. Einzig die Augen des Zwerges schwankten misstrauisch von der nun leeren Phiole und Syndra zu Gambrinius, aber Takrotil ersparte sich sein sonst an dieser Stelle folgendes Gegrummel, als ihn Tjarks warnender Blick traf. Der hünenhafte Krieger hatte bei den letzten Malen schon unmissverständlich klargemacht, dass er sich das Gejammer des Zwerges in Bezug auf Magie von Elfen und Menschen nicht noch einmal anhören würde. Ein einziger Blick Takrotils auf Tjarks Schwert, das gut doppelt so lang war wie er selbst, tat ein übriges. Er packte seine Axt fester und sah sich in der Grotte, soweit der Lichtschein es zuließ, um. Sein Blick fiel zunächst auf seine Gefährten, wie sie da aufeinander hockten und die möglichen Gefahren der Höhle völlig ignorierten. Gambrinius, einer der sieben Weisen aus dem Schattenbergtal, dessen grauer Bart nur wenig länger war als der übriggebliebene Rest seines Haupthaares, die tiefen Falten und Linien in seinem Gesicht, die knotigen, leicht zittrigen Hände, die - wie Takrotil zugestehen musste - dennoch sehr geschickt in der Versorgung von Wunden waren. Um dessen dürren Körper schlotterte eine bei Tageslicht hellblaue Robe, die nun - in der flackernden Dunkelheit - grau und kraftlos wirkte. Wenigstens wurde sein Atem allmählich ruhiger und auch die blasse Haut nahm langsam wieder etwas Farbe an. Daneben die zarte Syndra, ihres Zeichens Abgesandte der Hochelfen jenseits des Drachentales. Sie schien sehr zerbrechlich und schwach zu sein, doch Takrotil spürte eine große Kraft in ihr. Er hasste alles, was auch nur annähernd mit Magie zu tun hatte, und obwohl dieses Lichtwesen mit den langen blassgelben Haaren und den großen Augen aus purer Magie zu bestehen schien, fiel es ihm schwer, diesen Groll Syndra selbst gegenüber zu hegen. Der Zwerg sah mit Genugtuung, dass wenigstens Tjark aufmerksam in die erdrückende Dunkelheit ringsum spähte. Seine nicht sehr pompöse Lederrüstung, seiner eigenen so ähnlich, fand ebenso sein Wohlwollen, denn sie behinderte ihn nicht und gab ihm dennoch den nötigen Schutz. Das kurzgeschnittene braune Haar fiel ihm nicht in die klaren blauen Augen, und sein muskulöser Körper versprach eine gewisse Sicherheit. Und zu guter Letzt: Ramuel. Das ungewöhnliche Menschenkind, in dem so viel mehr steckte, als es zunächst schien. Schmächtig, aber groß für einen Achtjährigen, trug er den mit wundervollen Schnitzereien versehenen Stab des Alchemisten. Die auffälligen rötlichen Augen bildeten einen starken Kontrast zu der milchigen Haut und den weißen Haaren des Kindes. Er hatte noch nie einen solchen Menschen gesehen, und wahrscheinlich würde er auch nie wieder einen sehen. Im Stillen ärgerte er sich über sich selbst. Wenn er die Wahl hätte, würde er wahrscheinlich nicht noch einmal in ein derart waghalsiges Abenteuer aufbrechen – Drachenhort hin oder her. Aber Feigheit lag seinem Volk nicht. Unbehaglich in seinen langen roten Bart murmelnd
suchte er nach dem noch nicht erreichten Rand des Gewölbes, denn er
fühlte sich zutiefst beobachtet. Alle paar Minuten rollte ein dumpfer
Ton durch die Grotte, den niemand der Gefährten erklären konnte,
und es herrschte ein steter, leiser Windhauch vor. Vorsichtig gingen die
Fünf weiter, lauschten dem klappernden Hall ihrer Schritte und des
sonderbaren Tones, der irgendwie gedämpft und machtvoll erklang.
Eindringlinge. Nach Äonen von Jahren
in Ruhe begann sich der Körper des Geschöpfes zu regen. Es waren
Eindringlinge in seinen Hallen. Das Auge des Wächters hatte es ihm
gesagt. Sein Auge. Der leise Windhauch, den die Gefährten am
Eingang der Grotte gespürt hatten, war hier sehr viel stärker,
und auch der pulsende dumpfe Ton war hier klarer zu hören. Zwischen
den einzelnen Herzschlägen lagen Minuten, und den Windstoß verursachte
der Große Alte mit seinem Atem. Er wusste nicht, ob es noch andere
seiner Art gab, ob sie in anderen Tempeln wachten und warteten. Die Fähigkeit,
Kontakt mit ihnen aufzunehmen, war schon vor so langer Zeit verloren gegangen,
dass er sich nicht mehr erinnern konnte. Er lag dort und atmete, lauschte
dem flüsternden Verstreichen der Zeit selbst. Er war schon alt gewesen,
als die Welt geboren wurde, und er würde noch da sein, wenn die Menschheit
nur noch Erinnerung war. Sein gigantischer Körper, vor Jahrmillionen
war er silbrig gewesen, war beinahe ganz zu Stein erstarrt.
Die kleine Gruppe ging zutiefst verunsichert
weiter. Nachdem sie das Tor durchschritten hatten, war eine Zeitlang das
seltsam knirschende Geräusch ertönt, das ihnen auch nach dessen
Verstummen in den Ohren widerhallte und ihre Körper mit Gänsehaut
überzog. Einzig Ramuel verspürte davon nichts. Er lauschte etwas
anderem. Ein machtvolles Singen war in ihm, drängend, fordernd und
liebkosend zugleich. Er bewegte sich mittlerweile in Trance, fand traumwandlerisch
seinen Weg. Und im gleichen Maße wie der dumpfe rollende Ton lauter
wurde - den immer noch niemand als das identifizieren konnte, was es war
- zog diese Stimme stärker an ihm. Ramuel war unendlich fasziniert.
Er lebte! Der Große Alte lebte!!! Und er hatte irgendetwas mit ihm
- Ramuel - vor! Ein winzig kleiner Teil von dem Jungen wollte aus der lähmenden
Trance erwachen, denn er spürte, dass sie ihrem Verderben entgegenliefen,
waren sie doch alle davon überzeugt gewesen, dass der Drache längst
tot war. Seit Jahrhunderten war keine Regung von ihm mehr verzeichnet worden,
und nun, nachdem das Volk aufmüpfig und diebisch geworden war, hatte
der Rat beschlossen, das Herz des Schattenberges zu sich zu holen,
bevor es Opfer von Plünderern und anderen dunklen Gesellen wurde.
"Irgendetwas stimmt hier nicht", raunte Takrotil. "Du spürst es also auch?" Die sensiblen Sinne der Elfe standen den Ahnungen des Zwergs in nichts nach. Syndra musterte Ramuel. Er schien irgendwie nicht ganz bei der Sache zu sein und lief inzwischen fast voraus. Ihr gefiel der Ausdruck auf seinem Gesicht nicht, es war, als fehlte irgendetwas. Die Elfe überlegte, ob sie ihn ansprechen sollte, hatte aber schon zu viele Magier gesehen, die sich vor Ausübung eines wichtigen Rituals selbst in Trance versetzten, um die nötige Klarheit zu erlangen, als dass sie gewagt hätte, den Jungen nun zu stören. Da sie keine Ahnung hatte, wo sich sein Geist in diesem Moment befand, begnügte sie sich damit, zu ihm aufzuschließen und ihn weiter mit großen, violetten Augen nachdenklich zu mustern. Sie war so in Gedanken vertieft, dass sie erst reagierte, als schon alles zu spät war. Die schmale Treppe, der sie folgten, war so mit Geröll übersät, dass Gambrinius Mühe hatte, die Stufen zu finden und das Gleichgewicht zu halten. Er stützte sich auf seinen Stab und konzentrierte sich auf die einzelnen Schritte. Da er seinen Blick auf den Boden gerichtet hatte, merkte er nicht, dass der winzige Stein, der die Spitze seines Stabes zierte, pulsierend anfing zu glühen. Das matte Licht, das er ausstrahlte, war im zittrigen Fackelschein kaum auszumachen, und nur einem sehr aufmerksamen Beobachter wäre vielleicht aufgefallen, dass es im selben Rhythmus wie das Grollen erfolgte. Der Alchemist keuchte und dachte gerade, dass er vielleicht für solche Abenteuer schlicht zu alt geworden war, als er Syndras entsetztem Aufschrei und dem Kreischen von Stahl auf Stein gewahr wurde. Er blieb stehen und starrte fassungslos auf das chaotische Bild, das sich vor seinen Augen abspielte. Das kurze Gespräch mit der Elfe hatte Takrotil die Gewissheit gegeben, dass irgendetwas ganz und gar nicht so lief, wie er es sich vorgestellt hatte. Nachdem seine eigenen dunklen Ahnungen von Syndra noch bestätigt worden waren, starrte er mit aufgerissenen Augen ins Dunkel und versuchte, in den Schatten der Treppenabsätze etwas auszumachen. Er wurde immer nervöser und hielt seine Axt fester gepackt. Der Zwerg bemerkte, dass Syndra ein wenig schneller lief, um Ramuel einzuholen, der mit fast unheimlichem Geschick über die stellenweise eingebrochene Treppe kletterte. Er glaubte, ein leises Geräusch zu hören, das sich anhörte, als würde Stein über Stein kratzen, und nur einen Atemzug später sah er, wie sich eine der Statuen, die rechts und links in den Stein gemeißelt waren, sich bewegte. Takrotil blinzelte ungläubig und dachte noch "Verdammte Magie!", als Syndra den Kopf hob und ihr Blick auf das unförmige Etwas fiel. Dem Zwerg war es die ganze Zeit so vorgekommen, als tappten sie seit Ewigkeiten durch die Finsternis, doch von dem Moment an, als die Hochelfe aufschrie und augenblicklich zu Stein erstarrte, ging alles ganz schnell. Tjark, der die Fackel in der linken und das Schwert in der rechten Hand trug, suchte sich seinen Weg schräg vor Gambrinius, um dem alten Mann den Weg zu leuchten. Er ging in Gedanken zum wiederholten Mal seinen Plan durch, wie er an das Blut des Drachen gelangen könnte. Takrotil würde sowieso nur Augen für das Gold haben, und Gambrinius’ und Ramuels ganze Aufmerksamkeit galt dem Kristall. Er überlegte gerade, wie er die Elfe ablenken konnte, zumindest solange, bis er sein Schwert in den Körper des Großen Alten gerammt hatte. Dann endlich würde er unbesiegbar sein. Der Krieger hoffte, dass der Drache tot war, aber wenn nicht – nun, umso besser. Das Ungeheuer würde genügend mit den anderen zu tun haben, die seinen Schatz stehlen wollten, und sobald seine Waffe und er selbst mit dem Blut benetzt waren, konnte ihm niemand mehr etwas anhaben. Als Syndra schrie, sah er verwundert auf. Im selben Moment brüllte auch der Zwerg und ließ seine Axt auf einen Schatten vor Syndra krachen. Ein widerliches Kreischen ertönte, als die scharfe Mithrilklinge auf Stein traf und wirkungslos abglitt. Tjark stand noch untätig neben dem Alchemisten, der ebenso alarmiert stehen geblieben war, als Takrotil seinen Namen schrie. Das weckte ihn endlich aus seinem Erstaunen, und er stürmte nach vorn. Innerhalb weniger Sekunden brach die Hölle los. Gambrinius sah den Schatten ebenso wie Tjark, aber im Gegensatz zu dem Krieger hatte er eine Befürchtung, um was es sich handeln könnte. Als sich selbst der Zwergenstahl als nutzlos erwies, erhärtete sich sein Verdacht. "Ihr Götter steht uns bei", dachte er, "es ist..." "Ein Basilisk!! Tjark, Takrotil - SEHT IHM
NICHT IN DIE AUGEN! Um der Götter willen - SEHT IHN NICHT AN!!" Er
fürchtete, dass es schon zu spät war, und war erleichtert, dass
Ramuel schon hinter dem Ungetüm war. Er verstand zwar nicht,
warum der Junge das alles ignorierte, aber wenigstens war er außer
Gefahr. Seine Gedanken rasten und schienen gleichzeitig wie Sirup zu sein.
Wie in aller Welt sollten sie einem Basilisken widerstehen? Auf jeden Fall
nicht mit purer Körperkraft, wie es Tjark und Takrotil soeben versuchten.
Syndra war verloren, und Ramuel schon auf dem Weg zur Grotte, also blieb
nur noch er selbst übrig, wollte er verhindern, dass das Schicksal
seiner Freunde einen ebensolchen Verlauf nahm wie das der Elfe. Der Alchemist
schloss die Augen und fing an, seine Gedanken und seinen Geist auf einen
bestimmten Punkt in sich zu richten. Es war schon sehr lange her, dass
er das letzte Mal wahre Magie gewirkt hatte. Damals war er zu Gast gewesen
bei einem befreundeten Zirkel, und dort hatte er Myria kennen gelernt;
eine streng aussehende, aber großartige Frau war sie gewesen, und
mächtig dazu. Mehrere Jahre hatte er den Kontakt zu ihr aufrechterhalten,
und im Laufe der Zeit lehrte sie ihn einen Teil ihrer Fähigkeiten.
Auf diese Fähigkeiten versuchte er sich nun zu besinnen. Es wurde
dunkel um ihn herum, und in sich folgte er einem matten Leuchten auf der
Suche nach Wissen. Schweißperlen traten auf seine Stirn, während
sich seine Lippen unbewusst bewegten. Er keuchte, stolperte beinahe, als
er sich hart auf seinen Stab stützte und riss die Augen auf. Seine
Suche schien vergeblich, das einzige, das er fand, war Schabernackmagie,
geeignet, kleine Kinder bei Laune zu halten, aber nicht einen tödlichen
Basilisken außer Gefecht zu setzen.
Als der Nachhall der letzten Worte schwand, traf sein Blick den des Kriegers und des Zwergs, und sie schauten so überrascht zu ihm auf, dass er sich nicht mehr halten konnte und nun in das mühsam zurückgehaltene wiehernde Lachen ausbrach. Er prustete immer noch und wischte sich die Tränen von den runzligen Wangen, als er endlich bei den beiden angekommen war. "Ein Kinderzauber... fürwahr, ihr Götter habt Humor!" Der Alchemist blickte vergnügt auf die beiden Gestalten, die ihn mit immer noch gezogenen Waffen aus großen Augen anstierten, und zog sie dann von dem flirrenden bunten Spiegel weg, der jetzt den Basilisken in voller Höhe umgab. Die gleißenden Lichter tauchten den Weg in wundervolle Farben und beleuchtete Syndras kaltes Gesicht. Gambrinius’ Lächeln schwand, und er machte sich daran, seine Freunde zur Eile zu mahnen. Als Takrotil einwarf, sie könnten die Elfe nicht hier lassen, beruhigte der alte Mann ihn. "Auf dem Rückweg werden wir sie mitnehmen. Zunächst gilt es eine Aufgabe zu erfüllen, und Ramuel ist schon weit vorausgelaufen." Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und stieg, so schnell es seine alten Knochen zuließen, die Stufen weiter hinab. Nach einem Augenblick folgten ihm auch Tjark und der Zwerg. Der Kontakt zu dem steinernen Götzen brach ab wie abgeschnitten, und er vermutete, dass die Menschenwesen ihn irgendwie außer Gefecht gesetzt hatten. Doch der kurze Aufschub hatte genügt, um das Gefäß seinem Ziel näher zu bringen, ohne dass der lästige Rest zu schnell folgen konnte. Das Geschöpf machte sich bereit, den uralten Körper zu verlassen, eine anstrengende und gefährliche Prozedur, und begann sein inneres Auge und damit seinen Geist in den grellweiß leuchtenden Klumpen zu projizieren. Einen spärlichen, verzichtbaren Rest ließ es in dem beinahe zu Stein erstarrten Koloss, um die nötige Maskerade aufrecht zu erhalten. In dem Augenblick, in dem der Vorgang beendet war, trat Ramuel in die Höhle. Wäre sein Geist an Ort und Stelle gewesen, so hätten sich seine Augen vor Entsetzen und Faszination geweitet, während sein Blick auf das unglaubliche Ungetüm fiel, so aber bewegte sich sein Körper hastig und geschickt und ohne zu zögern auf den Ursprung der wogenden Helligkeit zu. Das Licht brannte sich in die roten Augen des Kindes, und als Ramuel die Hände ausstreckte, um den Kristall zu berühren, starrte er in die lodernden Feuer im Inneren der Kugel. Obwohl er sein Augenlicht im Bruchteil einer Sekunde verlor, konnte er mit seinem Geiste direkt in das Herz des Schattenberges sehen. Und er sah sie. Riesige, unglaublich anmutige katzengleiche Geschöpfe, die ihn mit wissenden Augen zufrieden anstarrten, ihre uralten Gedanken lobten und liebkosten seine eigenen. Seine Fingerspitzen tauchten in die kühle Oberfläche ein und badeten im kalten Feuer des Kristalls. Verzückung und Ekstase jagten durch Geist und Körper des Jungen, und seine innere Stimme schrie zu diesen wunderbaren Geschöpfen, sie sollen ihn aufnehmen in ihre Mitte, ihn zu einem der ihren machen. Ein Augenpaar, rotglühend wie seine eigenen, schwebte auf ihn zu, und der Junge spürte erschauernd, wie der Große Alte ihn um Einlass bat. Jauchzend ging er in die Knie, und in einem glühend heißen inneren Feuer verschmolzen die beiden Wesen miteinander. Die drei übriggebliebenen Gestalten der
kleinen Gruppe erreichten die Halle und sahen das Kind vor dem Kristall
knien. Es schrie aus vollem Halse, aber es hörte sich auf eine perverse
Art und Weise lustvoll und nicht im geringsten ängstlich an. Gambrinius
schüttelte benommen den Kopf, irgendetwas schien mit seinen Augen
nicht zu stimmen. Für den Bruchteil einer Sekunde hätte er jeden
heiligen Eid geschworen, dass um den Jungen herum eine rotglühende
Korona in der vagen Gestalt eines Drachen erschienen war, aber als er einmal
kurz blinzelte, war davon nichts mehr zu sehen gewesen. Immer noch ein
wenig erschüttert mahnte er sich selbst zur Eile an und ging schnell
auf den Jungen zu.
Tief in ihren Inneren ertönte ein unglaubliches dumpfes Geheul, das Blut des Drachen sang und schrie und ließ die schwachen menschlichen Gefäße zerbersten. Takrotil ließ seine Axt fallen, schlug die Hände an die Ohren und sackte in die Knie. Sekunden später rollten seine Augen nach hinten, bis nur noch das Weiße zu sehen war. Blut lief ihm aus allen Körperöffnungen, es schlug Blasen und verkochte an der Oberfläche der Haut. Schmerz verzerrte seine Gesichtszüge, bis sich ein Gott seiner erbarmte und ihn endlich zu sich holte. Tjarks Schicksal meinte es nicht so gut mit ihm. Er schaffte es noch, das Schwert in seiner Gier aus der klaffenden Wunde zu ziehen, als ihn die brodelnde Flüssigkeit über und über bespritzte. Der Krieger heulte auf, als sich das Blut des Großen Alten säuregleich in seine Haut einfraß und ihn erblinden ließ. Das Schwert fiel klirrend zu Boden, seine Hände flogen zunächst an seine Augen, dann an seinen Kopf, als er die Stimme des Drachenblutes in sich ertönen hörte. Sein Verstand kapitulierte innerhalb von Sekundenbruchteilen, und ein wahnsinniges Lachen ebnete sich seinen Weg durch seine Kehle. Er lachte und schrie und schluchzte, und plötzlich heulte er auf und stolperte ungelenk Richtung Ausgang. Gambrinius lag zu Ramuels Füßen.
Der Junge stellte zufrieden fest, dass der alte Mann nur bewusstlos war.
Ein Teil von ihm - der neue, fremd-vertraute Teil - beharrte darauf, ihn
zu töten, doch der Ramuel-Teil in ihm verlangte das Leben seines Freundes.
Ein kurzer Hauch Zorn flackerte in dem Mischwesen auf, und in diesem Moment
erwachte der Alchemist. Er blickte in das fahle Gesicht mit den gespenstisch
rotglühenden Augen, das sich zu ihm hinunterbeugte, und flüsterte
mit brechender Stimme: "Was hast du getan?" Deutlich war die Angst darin
herauszuhören. Der Junge sagte nichts, sondern beugte sich zu dem
alten Mann hinunter und zog ihn auf die Füße. Gambrinius, starr
vor Schreck, ließ es geschehen. Die beiden ungleichen Gestalten standen
einander gegenüber, das Wesen mit den fremdartigen rotleuchtenden
Augen ergriff die zittrigen Hände des Alten. "Habt keine Furcht",
raunte es, "für Euch beginnt nun ein neues Leben. Ihr sollt mein Diener
sein." Der rote Widerschein verlosch, als das Drachenwesen die Augen schloss,
nun glühte nur noch der Kristall zwischen ihnen. Er führte die
Hände des Alchemisten zu der pulsenden Lichtquelle, umschloss das
Herz mit seinen eigenen und begann in einer gutturalen, dunklen,
nichtmenschlichen Stimme Worte zu intonieren. Das Leuchten wurde blasser;
entgeistert sah Gambrinius, wie das weiße, kalte Licht in seine Adern
eindrang und sich zu seinem Herzen vorarbeitete. Er spürte es heiß
und singend in sich und ergab sich dann dem Stärkeren. Kraftlos senkte
er seinen Blick, bereit, sich dem Tode zu stellen. Das triumphierende Lachen
seines ehemaligen Schülers klang ihm noch lange in den Ohren.
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