Diese Geschichte ist ab 2005 am Drachentaler Wettbewerb leider nicht mehr teilnahmeberechtigt,
da sie in den vorherigen Jahren zu wenig Punkte erhalten hat.
 
Der Mann ohne Herz von B. J. F. Dunst

Vor einem Jahr ist mir was passiert, etwas sehr Sonderbares, und davon will ich euch jetzt erzählen. 
Damals lebte ich noch allein in dem Hause meiner Eltern, die aber schon lange gestorben waren. Meine sechs lieben Brüder waren ausgezogen, um eine Braut zu freien und mir wollten sie auch eine mitbringen.
Eines sonnigen Tages war mir das Warten dann zu dumm geworden. Ich packte allerlei Proviant in meinen Rucksack, steckte mein Jagdmesser in den Gürtel und zog aus, um meine Brüder zu suchen.
Auf einem breiten Pfad, kam ich bald zu einem langen Felsen, der einsam in der Wiese am Wegesrand lag. Da ich schon einige Stunden gewandert war und die Sonne mir sehr zusetzte, beschloss ich, hier im Schatten des großen Steins meine erste Rast einzulegen. Ihr müsst wissen, dass ich nicht gern alleine esse und so rief ich, obgleich es ein wenig sonderbar klingen mochte: 'Holla, herbei wer mein Gast sein will!' und obwohl ich annahm, dass meinem Ruf in dieser Einsamkeit keiner folgen würde, hörte ich alsbald ein lautes 'Muh' hinter mir. Ich sah mich um und da stand ein großer, roter Ochse. Zu meiner hellen Verwunderung sprach er mich an: 'Du hast eingeladen, ich möchte wohl dein Gast sein!' Ich lachte. 'Sei willkommen und lange zu, so gut ich's habe!' Da legte sich der Ochse behaglich auf den Boden, ließ es sich schmecken und leckte sich dann mit der Zunge sein Maul. Als er satt war und sich dem Gehen zuwandte, sprach er noch zu mir: 'Hab´ vielen Dank, und wenn du einmal jemanden brauchst, der dir in Not und Gefahr helfen soll, so rufe nur in Gedanken nach mir, deinem Gast!' Darauf verschwand er hinter den nächsten Bäumen. Kurze Zeit später erhob auch ich mich und betrachtete ein letztes Mal den Fels. Mir fiel auf, dass er seltsam geformt war und bald erkannte ich, dass wohl ein Bildhauer an ihm gearbeitet hatte. Ich konnte die Gesichter mehrerer Menschen erkennen, zwölfe an der Zahl, und einige kamen mir auch bekannt vor, dennoch wusste ich nicht, wer sie waren. 

Nach weiteren zwei Stunden - die Sonne stand gerade im Zenit - kam ich zu einer kleinen Kate. Davor kehrte ein junges Mägdlein den Weg von Blättern frei. Ich grüßte sie und auch sie grüßte mich. Sie war sehr hübsch und gefiel mir von Anfang. Ihr Name war Marie. Da fragte sie mich auch gleich, woher ich komme und wohin ich denn reisen wolle. Ich seufzte und antwortete ihr: 'Ach, ich bin sehr traurig. Ich hatte noch sechs Brüder, die sind von dannen gezogen, sich Bräute zu holen und mir wollten sie auch eine mitbringen. Sie sind aber nimmer wiedergekommen, und nun bin auch ich fort gewandert, meine Brüder zu suchen.' Als ich das gesagt hatte, riss die Magd weit die Augen auf. 'Ach, lieber Wanderer!' rief sie. 'Da brauchst du gar nicht weiter zu gehen! Erst setze dich und iss und trinke etwas und dann lass dir erzählen!'
Sie gab mir also zu essen und zu trinken und erzählte mir dann, wie meine sechs Brüder in die Stadt gekommen waren, in der sie gewohnt hatte, und mit ihren sechs Schwestern und ihr selbst als Bräute nach Hause gezogen waren. Sie selbst sei für mich bestimmt gewesen, sagte sie, doch der alte Mann, bei dem sie seitdem wohne, habe sie alle in graue Steine verwandelt. Jetzt wurde mir erst bewusst, wem die Gesichter gehörten, die ich zuvor in dem großen Felsen gesehen hatte. Es waren meine eigenen Brüder gewesen und ich hatte sie nicht erkannt. Mit einem Schlag wurde ich sehr traurig, da ich nicht wusste, wie man sie von diesem Fluch erlösen könnte und ich vielleicht nie wieder mit meinen Lieben sprechen würde, doch das Mädchen erzählte weiter. Sie erklärte mir, dass der alte Mann ein kleines Knöchlein besäße, in dem viel Macht steckte, und mit dem könnte ich meine Brüder und ihre Schwestern wieder zum Leben erwecken. 'Er ist wahrscheinlich nur so grausam, weil er kein Herz in der Brust mit sich trägt.' Ich stutzte und fragte nach, wie ein Mensch denn ohne Herz leben könne. 'Ein kleiner Vogel trägt sein Herz in sich. Er hat mir erzählt, dass dieser in einer Kirche leben solle.' Ohne viel nachzudenken stand ich auf und ergriff meinen Rucksack. 'Ich will fort, ich will den Vogel suchen, vielleicht, dass ich ihn fange!' Doch anstatt mich ziehen zu lassen, hielt sie mich an, die Nacht über hier zu bleiben, weil es schon dunkel wurde und der alte Mann gesagt hatte, er käme erst am Abend des nächsten Tages zurück. So blieb ich. In der Hütte war es wohlig warm. Sie bot mir an, bei ihr im Bett zu schlafen, doch ich begnügte mich mit einem Bündel Stroh und einer Wolldecke. Es dauerte nicht mehr lang, da war die Sonne hinter den Bergen verschwunden und da ich erschöpft von der langen Wanderung war, schlief ich bald ein.
Mitten in der Nacht weckte sie mich und legte sich neben mir ins Stroh. Sie sagte, dass sie alleine im Dunkeln Angst hätte, und schmiegte ihren Körper eng an den meinigen. In dieser Nacht liebte ich zum ersten Mal eine Frau und als ich am nächsten Morgen aufstand, war ich frisch und voller Tatendrang, den Vogel zu fangen. Sie gab mir einen Kuss zum Abschied und ich machte mich auf den Weg zu der verlassenen Kirche.
Nach längerer Zeit der Wanderung sah ich, dass der Schatten, den ich warf, sehr kurz geworden war. Es war Mittagszeit. Deshalb breitete ich ein Tafeltuch auf der Wiese aus, setzte meine Speisen und Getränke darauf und weil ich nach wie vor nicht gern allein aß, rief ich: 'Wohlan! Mittagsmahlzeit! Jetzt melde sich, was mitessen will.' Da raschelte es plötzlich ganz stark in den Büschen hinter mir und ich erschrak, als plötzlich ein wildes Schwein hervorbrach, das grunzte und sagte: 'Es hat hier jemand zum Essen gerufen! Ich weiß nicht, ob du es warst, und ob ich gemeint bin!' 'Sei willkommen und lange nur zu!' sprach ich. Wir aßen beide wohlgemut miteinander und es schmeckte uns beiden sehr gut. Darauf erhob sich das wilde Schwein und sagte: 'Hab´ Dank. Bedarfst du mein, so rufe dem Schwein!' Und damit trollte es sich wieder in die Büsche. Nun wanderte ich eine lange Strecke, doch je weiter ich ging, desto weniger glaubte ich daran, dass ich auf dem richtigen Weg wanderte. Gegen Abend fühlte ich wieder Hunger, breitete erneut mein Tuch aus, legte alles, was ich noch hatte, darauf und rief erneut nach einem Gast: 'Wer Lust hat mitzuessen, der soll eingeladen sein. Es ist ja nicht so, als ob nichts mehr da wäre!' Da geschah einige Zeit nichts, dann aber rauschte schwerer Flügelschlag über mir und es wurde dunkel auf dem Boden wie vom Schatten einer Wolke und als ich hinaufschaute, meinte ich, mein Blut müsse mir in den Adern gefrieren. Ein riesiger Vogel Greif flog über mir und rief: 'Ich hörte jemand hier unten zur Tafel einladen! Für mich wird wohl nichts abfallen!' 'Warum denn nicht?' rief ich zurück. 'Lass dich nieder und nimm vorlieb mit dem, was ich noch habe.' Und anstatt mich zu zerfleischen, ließ er sich tatsächlich neben mir nieder, aß sich satt und sagte zu mir: 'Ich danke dir für dieses Mahl.' Brausend erhob er sich in die Lüfte, rief mir aber noch, bevor er verschwand, zu: 'Brauchst du mich, so rufe mich!' Damit flog er davon. 'Ei', dachte ich mir, 'der hatte es aber eilig; er hätte mir gewiss den Weg nach der Kirche zeigen können, denn allein finde ich ihn nie.' Schnell raffte ich meine Sachen zusammen, da ich vor dem Schlafen gehen noch ein Stückchen wandern wollte und wie durch ein Wunder sah ich schon nach kurzer Zeit die Kirche vor mir liegen und war bald an dem breiten, tiefen Graben, der sie rings ohne Brücke umzog. Da ich jetzt schon sehr müde war und der Vogel mir bestimmt nicht wegfliegen würde, legte ich mich hin und schlief. 
Am anderen Morgen trat ich dann näher an die Kirche heran und wünschte mir, über den Graben zu kommen. Da fiel mir mein erster Gast, der Ochse, ein: 'Wenn der rote Ochs jetzt hier wäre und er hätte großen Durst, so könnte er gewiss den Graben aussaufen und ich käme trocken hinüber!' Ich konnte es kaum glauben, aber kaum war dieser Wunsch getan, da stand auch schon der Ochs da und begann zu saufen. Es dauerte nicht lange und der Graben war leer. Da stand ich nun vor der Mauer. Die war dick und die Türme waren aus Eisen und weil es mit dem Ochsen schon so gut geklappt hatte, dachte ich mir: 'Ach, wenn ich doch einen Mauerbrecher hätte! Das starke, wilde Schwein könnte hier vielleicht mehr ausrichten als ich!' Und siehe, das wilde Schwein kam dahergerannt, stieß heftig an die Mauer und wühlte mit seinen Hauern einen Stein los. Und als erst einer los war, da wühlte es immer mehr und mehr Steine aus der Mauer, bis ein großes, tiefes Loch gewühlt war, durch das man in die Kirche eindringen konnte. Ich bedankte mich bei dem netten Schwein und schritt erwartungsvoll in den Vorhof. Sofort sah ich eine graue Taube so hoch herumfliegen, dass ich sie nicht zu fangen vermochte. Da sprach ich laut meinen Wunsch aus: 'Wenn jetzt der Vogel Greif da wäre, der würde dich schon fangen!' Augenblicklich war der Vogel Greif da und packte den Vogel, in dem das ersehnte Herz des alten Mannes war, gab ihn mir und flog ohne ein Wort zu verlieren davon.
So schnell ich nur konnte, lief ich, den Vogel unterm Wams verwahrt, zurück zur Marie und erzählte ihr alles. Der Alte war wieder den ganzen Tag weggegangen und würde erst gegen Abend wiederkommen. Als es dunkel wurde, verbarg sie mich unter der Bettstelle und bald darauf kam der alte Mann. Er klagte, dass er krank wäre und dass sein Herzvogel gestohlen worden sei. Das hörte ich natürlich und dachte still bei mir: 'Der Alte hat mir an meinem Leibe zwar nichts getan, aber er hat meine Brüder und ihre Bräute verzaubert und meine Braut hat er für sich behalten - das war schlecht genug von ihm!' Dabei drückte ich den Vogel fest in meiner Hand. Da wimmerte der Alte plötzlich: 'Ach, es erdrückt mich! – Kind, ich sterbe!' Er fiel vom Stuhl und mit einem Mal war es aus mit ihm. Ohne es zu merken, hatte ich den Vogel tot gedrückt. Nun kroch ich aus meinem Versteck hervor. Marie nahm dem grauhaarigen Mann seinen weißen Knochenstab ab und wir gingen zusammen schnell zu dem langen Felsen. Sie tippte mit dem Stab leicht auf die Gesichter der Versteinerten und siehe da, meine lieben Brüder standen mit ihren Bräuten wieder vor mir. Das war eine wahre Freude und wir zogen nach Hause. Besonders froh waren wir aber darüber, dass wir uns nicht mehr vor dem alten Mann fürchten mussten, denn dieser war tot und blieb tot und nichts, aber auch gar nichts, konnte ihn mehr lebendig machen.

Ich sage euch, das war was!

Euer Wanderer

© B. J. F. Dunst
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