Gaya träumte...
Es war ein herrlich warmer Tag, einer von
denen, die als der wahre Sommer bezeichnet werden. Tage, an denen man den
warmen Atemhauch der Großen Göttin direkt spüren konnte.
Die Bäume rauschten leise und ihre rosa Blätter wiegten sanft
im Wind hin und her. Ein herber Geruch nach Honig lag in der Luft und die
riesige Sonne sandte freudestrahlend ihre lebensspendenden Strahlen herab.
Das Gras wogte wie ein grünes Meer unter Gayas Füßen, nur
manchmal von bunten Farbtupfern unterbrochen, die Blumen waren. Schmetterlinge
flatterten auf der Wiese und Bienen ließen sich von den prächtigen
Blüten verführen. Der Himmel war strahlend blau.
Gaya betrachtete die ganze Szene versonnen
und freute sich über den Sommer. Sie fühlte sich leicht wie eine
Feder und überlegte, ob sie dem Himmel entgegen schweben sollte. Da
erfüllte plötzlich ein tiefer Laut die Welt und hallte in ihr
wider. Ohne Eile oder Furcht sank Gaya auf die Knie nieder und bedeckte
ihre Augen nach der alten druidischen Begrüßungsweise. Sie spürte
die Sonne auf ihrer Haut spielen und war von einem inneren Frieden erfüllt,
der sie stark machte. Sie atmete die Welt ein und atmete Ruhe aus. Vor
ihr teilten sich die Baumreihen und machten einer schlanken Gestalt auf
einem Pferd Platz. Durch einen anderen Sinn als das Sehen nahm sie sie
wahr:
Ein schwarzer Hengst, vor Gesundheit strotzend
und vor Kampflust brodelnd, hielt knapp vor ihr an.
Seine Hufe berührten das Gras nicht.
Die Frau im Sattel hatte schwarze, lange Locken, die ihr offen über
die Schultern fielen. Ihre Augen waren strahlend grün und von solcher
Macht erfüllt, dass keiner es überlebte, in sie zu sehen. Ihr
perfekter Körper war in einen Lederanzug gehüllt, der die weiße
Haut kaum zum Vorschein kommen ließ, und trug keinerlei Schmuck.
An ihrer Taille hing ein Schwert, eine scharfe, eisige Klinge, ohne Verzierungen,
nackt in seiner tödlichen Schönheit. Gaya bewegte sich nicht,
während der grüne Blick sie forschend musterte und dabei mühelos
durch ihre Gedanken drang.
"Endlich begegnen wir uns." Die Stimme
war überall und ließ die Welt erzittern. Die Kraft darin schmerzte
fast.
"Göttin, oh Du Große. Ich bin Deine
treue Dienerin", sagte Gaya unterwürfig.
"Dein Verstand sagt es mir. Aber nicht
dein Herz." Bestürzt sah Gaya die Göttin an.
"Aber..."
"Widersprichst du mir?"
"Nun - nein."
"Du bist noch jung. Deine Loyalität
ist wankelmütig, wird in Frage gestellt."
"Wie kann ich mich Dir beweisen?" Ein Lächeln,
dünn und bedeutungsvoll.
"Gerade deswegen bin ich hier, Gaya Asearien.
Um deine Treue zu beweisen musst du mir vertrauen. Voll und ganz."
"Das tue ich!", rief sie.
"Dann zeige es mir. Sieh mich an."
Gaya erhob den Kopf und blickte in die tödlichen
Augen. Das grüne Licht umhüllte sie und brachte ihr Herz und
ihre Seele zum Schwingen. Kälte und Hitze erfassten sie gleichzeitig.
Flammen loderten an ihren Augen hoch, während Eis ihre Beine heraufkroch.
Doch Gaya sah nicht weg. Oh du Große, ich bin Dein. Dunkelheit
erhob sich aus dem Boden und verschlang Feuer, Eis und Schmerz.
Gaya stand auf einem Hügel. Unter ihr
lag Sunaj, die Hauptstadt von Cinhyal, das Juwel der Welt, glitzernd eingefasst
in das Band vom Königlichen Fluss und in die grüne Linie des
Waldes von Celine. Und in der Mitte hob die Burg ihre Zinnen und Türme
dem Himmel empor. Das Bild verschwamm, wurde zu einem grünem Fluss,
der sie forttrieb. Sie wurde in einen Strudel gesogen. Eine Krone leuchtete
vor ihr auf und brannte sich in ihre Augen ein. Dann verschwand sie und
ein anderes Zeichen nahm Gestalt an. Eine grüne Schlange, gewunden
und drohend die Augen verengt. Die Zunge, ein dünner, roter Strich,
flatterte bedrohlich. In einer blitzhaften Explosion goldenen Lichts wurde
daraus eine Frau, die sie nicht erkannte. Macht brandete um ihre Gestalt,
wie eine spürbare Aura. Farben wechselten sich ab, das ganze Lichtspektrum
breitete sich vor ihr aus. Blau durchdrang alles. Formte sich zu einem
dünnen Strich - einer Klinge, einem Dolch.
"Es stellt sich hierbei nur eine Frage,
Gaya", sagte jemand, eine männliche Stimme. Er sah sie an, ruhig,
sie erwiderte den Blick, ohne ihn jedoch zu erkennen. "Bleibst du mir
treu oder den Göttern?"
"Das ist eine unfaire Frage", hörte
sie eine Frau protestieren. Sich selbst.
"Das Leben ist unfair. Die Götter
sind unfair. So war es schon immer."
"Dabei geht es um mehr denn Freundschaft",
sagte sie. "Um Schicksal."
"Denkst du denn, wir haben im Leben keine
Wahl?" Jäh wurde die Stimme abgeschnitten, das Bild verschwand.
Übrig blieb nur Dunkelheit.
Und ein innerer Schmerz, eine Kälte,
die durch ihre Adern floss und ihren Körper durchströmte.
"Bleibst du mir treu oder den Göttern?"
Die Druidin fuhr hoch, keuchend und nach Luft
schnappend. Sie unterdrückte mühevoll den Schrei, der ihr auf
der Zunge lag. Noch nie hatte sie eine Vision gehabt, diese hatte sie mit
der Macht eines Blitzes getroffen. Die Decke klebte ihr am Leib und ihre
Haare am Gesicht. Sie atmete bewusst tief ein und aus. Eine angespannte
Ruhe überkam sie.
Das war kein Traum. Es war eine Vision,
von der Großen Mutter gesandt. Aber... aber... warum hat Sie
gesagt, dass ich untreu wäre? Verstört wischte sie sich die
Haare und den Schweiß vom Gesicht. Ich soll Ihr vertrauen. Aber
das tue ich doch! Wie kann ich es denn noch beweisen? Ein Gedanke kam
ihr. Vielleicht musste sie die Bedeutung der Vision entschlüsseln,
um die Botschaft zu verstehen. Eine Anweisung. Etwas...
Denk nach, Gaya.
Die Frau kam ihr in den Sinn, diejenige mit
der Aura aus Licht. Heißt das, sie würde dieser Frau begegnen?
Oder sollte Gaya sie suchen? Was sollte der blaue Dolch bedeuten? Vielleicht
lediglich ein Symbol. Oder doch mehr?
Was war mit dieser Unterhaltung? Sie wusste
nicht, mit wem sie sie geführt hatte, aber es musste wichtig sein,
sonst hätte sie es nicht in einer Vision erfahren. Ich habe so
ein Gespräch niemals geführt. Also muss es die Zukunft gewesen
sein. Aber wie kam es bloß dazu? Zu dieser Frage?
"Bleibst du mir treu oder den Göttern?"
Sie barg ihr erhitztes Gesicht in den Handflächen.
Was erwartete man von ihr? Was?
Sie sprang auf und ging im Raum umher. Obwohl
sie wusste, dass Johannes Recht gehabt hatte und dass sie schlafen sollte,
konnte sie es nicht. Die ganze restliche Nacht über zerbrach sie sich
den Kopf über die Vision. Die Worte dröhnten in ihrem Kopf.
Cycil fand es nie schwer, früh aufzustehen.
Zum einen Teil lag das an der Gewohnheit – seit seiner Kindheit hatte er
nie ausschlafen können - und zum anderen Teil daran, dass es ihn immer
wieder freute, beim Aufwachen die Sonne aufgehen zu sehen. An diesem Tag
war das nicht anders. Kaum hatte Rosalie an seine Tür geklopft und
lautstark "Guten Morgen!" gerufen, war er schon auf den Beinen. Leider
lag das Zimmer weitgehend unterirdisch, so dass er die Sonne verpasste,
aber das machte ihm nichts aus. Munter zog er sich an und ging den gewundenen
Gang nach oben. Er belastete probeweise sein Bein und stellte fest, dass
der Schnitt kaum weh tat, auch wenn er ihn nicht genäht hatte. Es
war nur eine flache Wunde.
Der Raum war leer. Anscheinend brauchten die
anderen länger Zeit um wach zu werden, dachte er, und setzte sich
schon mal. Aus einem der anderen Flure hörte er Rosalies fröhliche
Stimme tönen und musste grinsen. Danaill tat ihm leid, so eine Frau
zu haben. Um keine Zeit zu verschwenden, zog er sein Schwert heraus und
kontrollierte, ob es auch scharf war. Gestern hatte er es mit Julians verglichen.
Des Ritters Klinge war breiter und massiger als seine. Cycil setzte im
Kampf eher auf Schnelligkeit als auf Stärke. Er erinnerte sich an
den Hexer mit dem er gefochten hatte und war zufrieden. Er konnte es noch.
Sorgfältig steckte er das Schwert zurück in die Scheide und vergewisserte
sich, dass seine Giftdornen am richtigen Platz saßen. Die kleinen
Dinger waren sehr gefährlich und man musste immer sehr vorsichtig
mit ihnen umgehen, aber im Kampf waren sie sehr nützlich. Wollen
wir mal sehen, ob die Schlangenmenschen damit fertig werden. Er hörte
leichte Schritte und schaute auf den Gang. Gaya trat daraus. Sie sah sehr
müde aus, aber ihr Gang war so zielsicher wie eh und je. Der Stab
sendete kleine grüne Blitze durch den Raum.
"Guten Morgen, Gaya."
"Guten Morgen", erwiderte sie und setzte sich
zu ihm.
"Schlecht geschlafen?"
"Könnte man so sagen", antwortete sie
und gähnte herzhaft. "Schlechte Träume." Er nickte.
"Ja, das kenne ich." Sie warf ihm einen schnellen
Seitenblick zu.
"Das bezweifle ich." Er sah sie verständnislos
an und zuckte dann mit den Schultern. Sie war ein Buch mit sieben Siegeln
für ihn.
"Ich will endlich aufbrechen. Ich habe N’hoa
so verdammt satt!", sagte Cycil nach einer Pause.
"Ja, ich auch. Ich verstehe wirklich nicht,
wie diese Stadt so einen hervorragenden Ruf genießt." Sie gähnte
noch einmal und rieb sich die Augen.
"Du hättest dich ausruhen sollen, statt
die ganze Nacht hin und her zu gehen", sagte Johannes und Cycil zuckte
zusammen. Er hatte die Schritte des Magiers nicht gehört. Gaya sah
ihn erstaunt an.
"Woher weißt du das?"
"Mein Zimmer war gleich neben deinem und ich
habe deine Schritte gehört", erklärte er. Er sah überhaupt
nicht müde aus, sondern aufmerksam und kampfbereit. Von der Müdigkeit
des letzten Tages keine Spur. Ein grauer Umhang fiel ihm von den Schultern
herab und darunter trug er ein dunkelgrünes Jackett. In der Hand hielt
er seinen Speer, der ihm bis über den Kopf ging. Der schlanke Schaft
war aus schwarzem Eisenholz gefertigt und die Spitze war aus fahlem Stahl.
Gaya lächelte.
"So laut bin ich doch gar nicht gewesen, dass
ich dich hätte aufwecken können! Hast du auch nicht geschlafen?"
Johannes zuckte mit den Schultern.
"Ein paar Mal bin ich aufgewacht. Aber wieso
konntest du nicht schlafen?" Er setzte sich ebenfalls und behielt dabei
seinen schweren Speer auf den Knien, so dass die kalte, metallene Spitze
in geringem Abstand zu Cycils Knie glänzte. Dieser rückte unauffällig
weiter.
"Ein Albtraum", antwortete sie schulterzuckend.
"Wahrscheinlich vor Aufregung oder so etwas." Johannes maß sie mit
einem skeptischen Blick, sagte jedoch nichts, was Cycil sehr taktvoll fand.
Anscheinend wollte Gaya nicht über diesen Albtraum sprechen. Nun,
das sollte ihm recht sein.
"Wo bleibt denn Julian? Er war doch am meisten
von uns begeistert, endlich losziehen zu können."
"Ich bin mir sicher, er kommt gleich. Dajana
wird jedoch nicht einmal Rosalie so schnell wach kriegen. Das Mädchen
ist ein echter Morgenmuffel", erklärte Gaya, froh über den Themenwechsel.
Cycil fühlte eine Aufwallung von Zärtlichkeit in sich aufsteigen,
als er ihren Namen hörte. Dajana, ja, das ist ein Mädchen,
für das es sich zu kämpfen und zu sterben lohnt, dachte er
unwillkürlich. Aber noch besser wäre es natürlich, wenn
sie mich auch mal bemerken würde. Na ja, man kann ja nicht gleich
alles auf einmal haben.
"Ah, da kommt auch schon unsere tapfere Bogenschützin,
wie aufs Stichwort!", bemerkte Johannes und hob den Speer zum Gruß.
Cycil war überrascht als er sie sah. Er hatte gedacht, sie würde
unausgeschlafen und schlecht gelaunt in den Raum spazieren, und dabei demonstrativ
gähnen, aber anscheinend hatte Dajana beschlossen, sich als Kriegerin
zu präsentieren. Sie trug die Sachen, die zu kaufen sie sich so gewehrt
hatte, wie Cycil es von Julian erzählt bekommen hatte: Ein leichtes,
warmes Baumwollhemd in Beige und eine braune, enge Hose, dazu die neuen
Stiefel. Um die Schulter hingen Johannes’ ehemaliger Bogen und ein Köcher
mit Pfeilen. An einem schmalen, schwarzen Gürtel baumelte ein Dolch.
Mit strahlenden Augen und stolzer Haltung ging sie zu ihnen herüber
und schenkte ihnen ein schmales Lächeln.
"Na, schon wach?" Cycil konnte nur schwer
den Blick von ihren gekräuselten, dichten Haaren abwenden, die sie
in einem Pferdeschwanz gebündelt hatte, der ihr schwer über den
Rücken hing. Das hereinfallende Licht verwandelte sie in Gold. Er
schluckte schwer und wandte sich mühsam der
Betrachtung der Tischplatte zu.
"Gut geschlafen?", erkundigte sich Gaya und
Dajana nickte.
"Natürlich. War wirklich eine Wonne in
einem richtigen Bett zu schlafen. Wo... wo ist denn Julian?"
"Keine Ahnung. Es wundert mich eigentlich,
dass er noch nicht hier ist. Aber vielleicht übt er noch ein bisschen",
mutmaßte Gaya. Johannes erhob sich halb.
"Ich sehe mal nach ihm. Wir wollten doch früh
aufbrechen..." Da erschien Julian schon selbst auf der Bildfläche.
Die Haare wirr, die Kleidung unordentlich. Man sah ihm an, dass er sich
in großer Hektik angezogen hatte. Ein schuldbewusstes Lächeln
zierte sein Gesicht.
"Es tut mir leid, wirklich", sagte er schnell,
bevor jemand anderer das Wort ergreifen konnte. "Normalerweise stehe ich
früher auf..."
"Seid ihm nicht sauer", meinte Rosalie, aus
einer anderen Tür in den Raum tretend. "Es war bestimmt schwer, sich
von Misela loszumachen, sie kann ziemlich anhänglich sein." Vier Augenpaare
richteten sich auf Julian, der Rosalie einen finsteren Blick schenkte,
den sie aber nicht mehr sah, weil sie wieder hinter der Theke verschwand.
"Hat mir gestern eigentlich auch nur einer
zugehört, als ich was von ausruhen gesagt habe?", fragte Johannes
kopfschüttelnd. Dajana grinste unverhohlen.
"Misela, so, so. Ist das die Art der Ritter,
sich auf einen Kampf vorzubereiten?" Er hätte nur zu gern etwas nach
ihr geworfen, das kam ihm dann aber doch zu kindisch vor. Stattdessen richtete
er würdevoll den Halt seines Schwertes, fuhr sich mit den Fingern
durch die Haare als Kammersatz und sagte dann:
"Gehen wir los? Der Weg wird nicht kürzer,
wenn wir hier herumstehen."
"Wessen Schuld ist es denn, dass wir hier
herumstehen?", murmelte das Mädchen, aber er gab vor, es nicht gehört
zu haben.
"Frieden!", gemahnte Johannes. "Wir müssen
uns noch von Rosalie und Danaill verabschieden." Gesagt, getan. Danach
verließen sie zusammen das Versammlungshaus, Julian immer noch in
stolzem Schweigen, Dajana ein Lachen unterdrückend.
Cycil lächelte heimlich ebenfalls, als
er sich daran erinnerte, wie viele Adlige – und der König selber –
nach den Freien Dieben von Nord suchten. Und sie versammelten sich ausgerechnet
in N’hoa! Das war ein guter Witz.
"Wo ist dieser Wald überhaupt?", fragte
Gaya nach einer Weile.
"Nahe der Quelle", antwortete Johannes. "An
der Wiese vorbei und dann ist er nicht mehr zu übersehen."
"Es dauert zwei Tage, ihn auf direktem Wege
zu durchqueren", fügte Julian dazu. "Wenn wir von nichts aufgehalten
werden, heißt das." Er hörte sich an, als würde es ihm
nur recht sein, wenn sie aufgehalten werden würden, fand Cycil.
"Wir werden garantiert irgendjemandem begegnen,
der uns aufhalten will. Niemand findet den Weg aus dem Celine ohne Hindernisse",
meinte Johannes. Auch er klang diesen Hindernissen nicht
abgeneigt. Gaya strich sich das Haar aus den
Augen.
"Dann los."
Die Wiese, auf der gestern der Kampf getobt
hatte, war leichenfrei.
"Die Hexer holen immer ihre Leichen", erläuterte
Johannes ruhig. Cycil sah Dajana erschaudern.
Sie passierten den Baum, der den Eingang zur
Zauberquelle markierte, und schon tauchte eine grüne Linie am Horizont
auf. Je näher sie kamen, desto weiter und dunkler wurde sie, bis sich
ein dichter Wald vor ihnen erhob. Die Bäume hatten dunkelgrüne
Blätter und schwarze Stämme, deswegen schien der Celine Düsternis
auszustrahlen. Der leichte Wind bewegte kein einziges Blatt. Wie erstarrt
lag der Wald da. Oder wie auf seine Beute lauernd. Ein Zögern durchlief
die Fünf und unmerklich wurden sie langsamer. Sie wären direkt
vor dem Wald stehen geblieben, wenn Johannes nicht gewesen wäre. Entschlossen,
mit unbewegtem Gesicht betrat er den Wald, und die anderen folgten ihm,
ohne zu protestieren.
Sofort wurde es dunkel um sie herum und die
Morgensonne verblasste. Obwohl Cycil sich sicher war, vorhin beobachtet
zu haben, dass der Wind keine Auswirkung im Wald hatte, raschelten die
Blätter leise. Aber vielleicht, dachte er und fröstelte kurz,
bewegten sich diese Blätter von selbst. Was ihn erstaunte, waren weniger
die Blätter, als die Tatsache, dass es überhaupt kein Unterholz
im Wald gab. Keine Büsche, keine niedrigen Bäume. Nur die eintönigen,
glatten, schwarzen Stämme ragten in die Höhe wie Speere und breiteten
ihr dichtes Laubdach über ihren Köpfen aus, das so gut wie kein
Licht durchließ. Sie kamen schnell und leicht voran, so dass er sich
wunderte, wieso man zwei Tage brauchte, um den Celine zu durchqueren. Dann
bemerkte er die Stille.
Das Rauschen der Blätter war nicht mehr
da. Der Boden war mit Steinen und trockenem Gras übersäht, aber
sie verursachten keine Geräusche. Obwohl es ein großer Wald
war, gab es keine Anzeichen von Tieren und Vögeln, und das war nicht
einmal das erschreckendste. Was am meisten fehlte, war das Leben. Dieser
Wald war tot. Cycil wusste nicht, was in anderen Wäldern anders war,
das die Lebendigkeit anmerken ließ; vielleicht das lautlose Wachstum,
das man mit einem sechsten Sinn registrierte, ohne es wirklich wahr zu
nehmen, oder das Gefühl von Kraft im Erdboden und in den Bäumen.
Im Celine fehlte dies. Der Wald war tot.
"Wieso ist das so?", fragte Gaya und ihre
Stimme wurde gleich gedämpft, nicht von ihr, sondern von dem Schweigen
im Celine.
"Ich weiß nicht", antwortete Julian
und strich nervös über sein Schwert, als wolle er Kraft daraus
schöpfen. Vielleicht war das sogar tatsächlich seine Absicht.
"Ist er wirklich tot?", stellte Cycil die
Frage, die ihm auf den Lippen lag. Ihm fiel der leichte Geruch in der Luft
auf, der einem Brandgeruch ähnelte.
"Ich weiß nicht", wiederholte der Ritter.
Alle warteten automatisch auf ein Kommentar von Johannes, aber der Zauberer
blieb stumm. Als Cycil ihn von der Seite her ansah, bemerkte er, wie bleich
er wirkte. Gaya bemerkte das auch und berührte ihn leicht am Arm.
"Was ist los?" Er mied ihren Blick.
"Nichts. Nur... schlechte Erinnerungen", sagte
er und sie begriff, dass auch er Geheimnisse hütete.
Sie nahm die Hand zurück und berührte
den Smaragd. Er war völlig leblos, wie ein totes Stück Glas.
Das jagte ihr einen Schauder über den
Rücken, auch wenn sie es nie zugegeben hätte.
Erste Schwierigkeiten traten auf, als die
Lianen auftauchten. Es waren dicke, gelb-grüne Pflanzen, die sich
von Baum zu Baum hangelten und sie alle miteinander verbanden. Zuerst waren
es nur wenige und diese waren sehr dünn, leicht zu zerreißen,
aber dann wurden es immer mehr: Wie dicke Schlangen wanden sie sich um
die Baumstämme und verdeckten die Rinde an manchen Stellen fast vollständig.
Manchmal schienen sie gewissermaßen ein komplexes System zu bilden,
an dem irgendwelche Lebewesen durch den ganzen Wald laufen konnten, ohne
auch nur den Boden zu berühren. Sie wucherten in verschieden hohen
Ebenen und sahen nahezu aus wie ein grünes Spinnennetz. Aber auch
diese Schlingpflanzen waren tot.
Trotzdem bereitete es ihnen enorme Mühe,
die dicken, kräftigen Stängel zu zerreißen, um durchkommen
zu können. Johannes bevorzugte es, seine Magie nicht zu benutzen,
erstens um seine Kräfte zu schonen und zweitens um keinen Waldbrand
zu entfachen. Außerdem gab es einen dritten Grund, argwöhnte
Gaya, den er aber nicht erwähnte. Julian und Cycil gingen voran und
schlugen mit ihren Schwertern eine Bresche. Gaya und Dajana halfen ein
wenig mit ihren Dolchen mit. Der
Feuermagier ging am Schluss.
"Oh man!", ächzte Julian eine Zeitlang
später. "Wenn der Wald abgestorben ist, wieso sind diese Lianen dann
noch heil?" Sie machten eine kleine Verschnaufpause und gaben die Wasserflasche
herum. Cycil besah sich resigniert seine zerkratzte Klinge und fand sich
damit ab, dass er wohl nicht bald dazu kommen würde, sie zu schärfen.
Dajana versuchte gerade, ihr Haar zu bändigen und in einem Knoten
hinten zu verflechten, aber sehr erfolgversprechend sah es nicht aus.
"Sei froh, dass sie nicht gesund und saftig
sind! Sonst würden wir hier nie im Leben durchkommen", meinte Gaya,
wobei sie versuchte nicht so erschöpft zu klingen, wie sie war.
"Auch so wird es wahrscheinlich länger
dauern als ich angenommen habe", sagte Johannes und nahm einen Schluck
aus der Flasche. Er sah jetzt besser aus als am Anfang, woran auch immer
das lag. "Drei Tage, vielleicht sogar vier."
"Gehört das schon zu den Hindernissen,
die du erwähnt hast?", fragte Cycil neckisch. Johannes lächelte
schief.
"Wer weiß."
"Hey, wir können doch nicht die einzigen
sein, die diesen Weg wählen! Gibt es hier keinen Pfad oder so?", fragte
Gaya und versuchte die Atemübungen der Druiden durchzuführen.
"Nichts hinterlässt im Celine Spuren",
sagte Cycil nachdenklich. In seinen Augen blitzte kurz etwas graues auf,
wie der Widerschein einer Erinnerung.
"Der Celine ist in der Zeit gefangen, in der
er erstarrt ist. Deswegen bleibt alles hier ohne Spuren." Dajanas Stimme
klang seltsam und ihr Blick wanderte zwischen den Baumstämmen. Wie
sie dasaß, mit offenen, goldenen Haaren, verhangenen grünen
Augen und dem Bogen auf dem Rücken, wirkte sie wie ein Waldgeist oder
eine Elfe.
"Wie meinst du das?", fragte Cycil, der seine
Augen nicht von ihr abwenden konnte.
"Es gibt da eine Legende, wisst ihr. Eine
sehr alte, vielleicht die älteste, die wir in N’hoa haben. Sie handelt
vom Celine und von den Oegwin." Sie warteten gespannt, aber Dajana verstummte.
"Ja und? Wie geht sie?", fragte Julian ungeduldig.
Gaya musste lächeln. Ja, Ungeduld passte gut zu ihm, man könnte
sogar fast sagen, dieses Wort wäre eigens für den Ritter erfunden
worden.
"Mmm. Also. Einmal, vor so langer Zeit, dass
damals nicht einmal Sunaj existiert hat und gerade die Sterne neu erfunden
worden waren, geschah es, dass ein neues Wesen geschaffen wurde. Eigentlich
hatte Cinhyal bereits viele Geschöpfe, aber die Götter meinten,
dass noch eins nicht schaden konnte, denn sie mochten es, neues Leben zu
schenken. Daher erschufen sie den Oegwin. Der Oegwin war kleiner als der
Mensch und größer als der Zwerg, aber er hatte ein Gesicht wie
Stein und Wasser. Außerdem hatte er vier Beine und vier Arme, und
konnte Kitt spucken.
Nun gab es für den Oegwin aber keinen
Platz auf Cinhyal, denn die Welt war bereits vollkommen und besiedelt.
Die Götter mochten den Frieden ihrer Kindesvölker nicht stören,
indem sie etwas großes erschufen, und pflanzten deswegen einen kleinen
Samen im Herzen von Cinhyal ein. Der Samen verbreitete sich unterirdisch
und schuf viele Tausende seiner Art, die schlafend unter der Erde lagen.
Der Oegwin betrat diesen Platz durch einen Zufall ein paar Jahre später,
nachdem er überall gewandert war. Und sofort brach die Erde auf. Heraus
kamen Bäume, große, schlanke Bäume, mit Baumstämmen
schwarz wie die Nacht und Blättern hart wie Stahl. Viele solcher Bäume
wuchsen in einer Nacht aus dem Boden und plötzlich war ein Wald entstanden,
ein Wald, nur für den Oegwin und seine Nachkommen.
Eine Weile lebte der Oegwin also im Wald,
den er Celine nannte, das bedeutet Ewigschön. Er zeugte viele
Kinder und zusammen fingen sie an, Siedlungen zu bauen, die sich der Oegwin
bei seinen Wanderungen abgeguckt hatte. Aber bald stellten sie fest, dass
sie nicht auf der Erde leben konnten, denn dazu waren sie nicht geschaffen.
Viele wurden krank davon und starben. Deswegen beschloss der Vateroegwin,
es anderen Kreaturen der Götter nachzutun, den Spinnen, und in den
Bäumen zu leben. Sie bauten also Netze, wie die fleißigen Spinnen,
aber aus Lianen, damit die ihr Gewicht hielten. Binnen kurzem erstreckten
sich ihre Netze, Quergänge und Lianenbauten quer durch ganz Celine.
Da war es eigentlich für diese Rasse
vorgesehen in Ruhe und Frieden zu leben. Aber die Götter hatten zu
lange bei der Entstehung von Celine gezögert und den Oegwin viel zu
lange wandern lassen, denn nun erinnerte er sich voller Neid an die anderen
Völker, die am Meer und an den Bergen lebten und schöne Dinge
herzustellen vermochten. Sein Neid steckte sein gesamtes Volk an und so
begannen die Oegwin, Pläne zu schmieden, wie sie Cinhyal für
sich bekommen konnten. Jedoch erfuhren die Götter von ihrem Vorhaben
und wurden traurig. Denn obwohl sie all ihre Kinder aufrichtig liebten,
konnten sie es nicht zulassen, dass die Oegwin die anderen aus dem Götterland
vertrieben. Aber ebenso wenig konnten sie es über sich bringen, die
Oegwin zu töten. Deswegen beschlossen sie, Ewigschön dem
Zeitfluss zu entnehmen, so dass der Wald und die Oegwin weder tot noch
lebend blieben, so lange, bis ihr geplanter Verrat wieder gut gemacht wurde.
Irgendwie erfuhren die Oegwin allerdings von diesem Plan und flüchteten
gerade noch rechtzeitig, so dass die Götter nur den Celine mit ihrem
Bann trafen. Da sagten die Götter, dass dies Bestrafung genug war;
denn nun hatten die Oegwin kein Zuhause mehr und mussten wurzellos in der
Welt umherirren. Und so blieb es dann die ganzen Jahrhunderte lang, die
ganze Zeit über, bis zum heutigen Tage." Dajana verstummte. Die Stille
wurde während ihrer Erzählung noch unangenehmer und tiefer, aber
nachdem sie geendet hatte, erreichte sie eine neue Ebene des Schweigens
und wurde fast greifbar, ein toter, kalter Umhang aus Lautlosigkeit. Nicht
gleich wagte es jemand von ihnen diesen Umhang zu zerreißen. Als
es einer doch noch tat, war Gaya nicht überrascht darüber, wer
es war.
"Du kannst gut erzählen, Dajana. Noch
ein verborgenes Talent?", fragte Julian und seine Stimme zerschnitt die
Stille. Plötzlich konnten sie alle aufatmen. Dajana lächelte
verlegen.
"Ich weiß gar nicht, was in mich gefahren
ist. Es ist nicht meine Art, einfach irgendwelche haarsträubenden
Legenden von mir zu geben, das könnt ihr mir glauben! Eigentlich wusste
ich gar nicht, dass ich diese Geschichte kenne...", sagte sie grüblerisch.
"Ich kenne sie; in genau denselben Worten
ist sie niedergeschrieben worden", ließ Cycil vernehmen und sah Dajana
erstaunt an, zum ersten Mal seit sie sich kannten ohne jegliche Scheu.
"Das ist wirklich bemerkenswert..." Sie wand sich unbehaglich unter seinem
Blick.
"Ich weiß nicht, woher ich sie kenne.
Wahrscheinlich hat man im Gaul darüber gesungen und ich habe etwas
aufgeschnappt ohne es zu merken."
"Es gibt keine Lieder über die Entstehung
von den Oegwin", widersprach er, anscheinend ohne zu bemerken, wie unangenehm
ihr das Thema war. Gaya wunderte sich insgeheim über ihn, der sich
so blitzschnell verändern konnte, und wollte dazwischen kommen, aber
Johannes war schneller.
"Das ist jetzt unwichtig. Gehen wir weiter;
in drei Stunden machen wir eine richtige Rast."
Die drei Stunden schleppten sich dahin wie
das dreifache dieser Zeit. Die Lianen wurden immer dichter und obwohl es
unmöglich war, hätte Gaya schwören können, dass sie
hinter ihnen wieder zusammenwuchsen und ihren Weg versperrten. Sie konnte
nicht abschätzen, wie spät es war, aber das Licht hatte einen
dunkleren Ton angenommen, als sie die angekündigte Pause machten.
Keiner von ihnen war zu mehr fähig als schweigend das Essen zu kauen
und sich todmüde zurückzulehnen. Es dauerte eine lange Zeit bis
sie wieder in der Lage waren vorwärts zu kommen.
"Der Wald lichtet sich", bemerkte Julian fast
sofort. Johannes sah ihn skeptisch an und setzte den Weg fort, aber bald
gab es keine Zweifel über die Wahrheit dieser Behauptung. Die Bäume
wurden immer weniger und wuchsen unregelmäßiger. Zwar war da
immer noch keine Spur von Unterholz, aber das Gras wurde höher und
nahm an Kraft zu. Sie durchquerten einige kleine Grasflächen, die
sehr einladend wirkten, weil die Sonne endlich nicht mehr durch das Blätterdach
ausgesperrt wurde und dünne Strahlen sogar bis zum Boden drangen.
Das hob sogleich die Laune der Wanderer und sie kamen relativ zügig
voran, aber die Dämmerung war nicht mehr weit, und Johannes verkündete,
dass sie bei der nächsten größeren Lichtung ihr Nachtlager
aufschlagen würden. Gaya sehnte sich mit ihrem ganzen Herzen nach
einem Platz zum Hinfallen und einem langen Schlaf. Ihre Gelenke taten zwar
nicht weh, aber sie ahnte bereits, dass sich das morgen drastisch ändern
würde. Darauf freute sie sich nicht gerade.
"Da ist ein See!", rief Cycil plötzlich.
Und tatsächlich taten sich die Bäume vor ihnen auf und gaben
eine große, lichtdurchflossene Lichtung frei, in deren Mitte ein
runder, blauer See glänzte.
"Wasser!", rief Dajana begeistert. "Juhu,
jetzt brauche ich nicht mehr wie ein schmutziger Waldzwerg herumzulaufen!"
"Warte es mal ab. Im Celine kann alles gefährlich
werden", warnte Johannes, aber sie hörte ihm nicht mehr zu.
"Also, ich gehe jetzt baden! Gaya, kommst
du mit?"
"Klar! Ihr Jungs könnt auf der anderen
Lichtung auf uns warten", sagte Gaya.
"Hey, wieso seid ihr zuerst?", fragte Julian
und tat beleidigt. Gaya lachte auf.
"Weil wir Damen sind - nicht, Dajana?"
"Genau. Und Damen muss man den Vortritt lassen."
"Ihr beiden seid doch keine Damen!", widersprach
Julian, ebenfalls lachend.
"Ach, willst du den Titel etwa für dich
beanspruchen?", fragte Dajana und hob die Augenbrauen.
"Unbedingt!", erwiderte er. Johannes schüttelte
den Kopf ob diesem Unsinn, aber auch auf sein Gesicht schlich sich ein
Lächeln.
"Julian, bei solchen Damen hast du keine Chance
auf Gerechtigkeit", meinte er. "Gehen wir lieber und schlagen das Lager
auf. Es wird bald dunkel."
"Der praktisch denkende Kopf unserer Gruppe.
Was soll man bei solchen erschlagenden Argumenten schon sagen? Gehen wir
alsdann. Und dass ihr beiden euch ja beeilt!"
"Wir versuchen’s!", versprach Dajana. Dann,
als die drei zwischen den Bäumen verschwunden waren, sagte sie zu
Gaya: "Oder auch nicht."
"Sei doch nicht so grausam! Ein Bad ist doch
eine herrliche Aussicht."
"Deswegen will ich sie auch lange genießen",
entgegnete sie und lief dann auf den See zu. Er war wirklich ziemlich klein,
aber sein Wasser war so klar, dass man bis auf den sandigen Grund sehen
konnte. Er war auch nicht besonders tief, aber es musste genügen.
Dajana zog im Nu ihre Stiefel aus und probierte mit einer Fußspitze
das Wasser.
"Uh, warm!" Also flogen das Hemd und die Hose
ebenfalls auf das Gras. Bevor Gaya es sich versehen konnte, war das Mädchen
bereits dabei, in das Wasser hineinzugehen, bekleidet mit nichts als ihren
losgelösten Haaren.
"Dajana, warte doch mal!" Gaya hätte
mit demselben Erfolg einem Stein zurufen können. Sie seufzte und begann
sich ebenso auszuziehen. Wenn uns jetzt jemand angreifen würde...
Sie musste schmunzeln. Was hätten sie denn anders tun sollen - die
anderen als Wachposten aufstellen?
Das Wasser war wirklich herrlich warm und
prickelte auf der Haut. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen,
abwechselnd baden zu gehen. Na ja, jetzt ist eh nichts mehr dran zu ändern.
Machen wir also das beste daraus. Etwas planschte laut. Dajana war
untergetaucht und schwamm jetzt flink am Seeboden entlang. Gaya schüttelte
belustigt den Kopf und fing dann an ihre Haare auszuspülen. Anscheinend
hat sie keine Probleme wegen der Verletzung...
Nachdem sie alle ein erfrischendes Bad genommen
hatten, stieg die Stimmung beträchtlich. Nicht mehr so verschwitzt,
war auch Dajana gleich guter Laune. Sie beschwerte sich sogar nicht übers
Essen, obwohl das Fleisch zäh und nicht ganz durch war. Es hätte
schlimmer kommen können, dachte Gaya. Wir kommen eigentlich
ganz gut voran und sind noch auf keinen ernsthaften Widerstand gestoßen.
Es könnte schlimmer sein. Sie hoffte nur, diese Nacht nicht wieder
von Visionen heimgesucht zu werden. Zwar waren sie ein Zeichen der Göttin,
aber doch ziemlich anstrengend.
"Wir halten abwechselnd Wache", sagte Julian,
nachdem sie gegessen hatten. "Die erste übernimmt Cycil, die zweite
ich, die dritte Gaya, die vierte Johannes und die letzte Dajana." Er holte
aus seiner Tasche ein merkwürdiges Gerät heraus. Es sah aus wie
eine Sanduhr, mit Eisenkügelchen drinnen und einem runden Ziffernblatt
oben drauf. Er drehte das Ziffernblatt ein wenig, so dass die Zahl 5 nach
Norden wies. "Das ist ein Zeitabstandsmesser", erklärte er. Eine Kugel
fiel mit einem leisen Klang in die untere Abteilung. "Er teilt die Zeit
in fünf gleiche Abstände und wenn einer davon vergangen ist,
fällt die nächste Kugel runter. So erfährt man, wann die
eine Wache zu Ende ist und die andere anfängt."
"Wo hast du das Ding denn her?", erkundigte
sich Gaya. So etwas hatte sie noch nie zuvor gesehen.
"Habe ich in N’hoa gekauft. War nicht billig,
kann ich nur sagen!" Johannes sah sich das Gerät skeptisch an.
"Das ist eine ziemliche niedrige Qualität.
So ein Ding hält nur ein paar Wochen durch, dann zerbricht es unter
dem Zauber. Hätte ich gewusst, dass wir so ein Gerät brauchen,
hätte ich meines nicht Danaill überlassen."
"Dieses hier kommt aus Raven!", sagte Julian.
"Sicher doch", erwiderte der Magier sarkastisch.
"Das ist eine billige Nachahmung. Wahrscheinlich in Beneth oder in Sheson
gemacht."
"Na und? Hauptsache es wird seinen Zweck erfüllen."
"Genau. Und jetzt geht endlich schlafen",
sagte Cycil bestimmt, aber gedämpft. Dajana hatte sich bereits vor
dem Feuer zusammengerollt und schlief. Sie schnarchte leise.
Gaya breitete ihren Umhang auf der Erde aus
und versuchte in eine bequeme Schlafposition zu rutschen, in der ihr keine
Steine in die Rippen stachen. Aber sie schlief ein, noch bevor sie dieses
Ziel erreichte.
Julian weckte sie in der tiefsten Nacht. Sie
gähnte, stand aber nichtsdestotrotz gehorsam auf und setzte sich ans
verlöschende Feuer. Es war so still, dass man sich einbilden konnte
allein auf einer abgelegenen Insel zu sitzen, während der Ozean drum
herum eingefroren war. Das friedliche Schweigen des Waldes lullte sie ein
und sie wäre beinahe eingedöst.
Eine Druidin schläft nicht auf der
Wache ein!, erinnerte sie sich und setzte sich gerader hin. Sie stocherte
mit ihrem Stab ein bisschen in der Glut und streckte sich. Im schimmernden
Licht des Smaragds entdeckte sie Einkerbungen in einem flachen Stein zu
ihren Füßen. Als sie es sich genauer ansah, erwiesen sich die
Einschnitte als grob eingeritzte Buchstaben.
Dajana
Gaya lächelte und warf den Stein weit
in den Wald hinein.
Sie sah zum Himmel auf, der größtenteils
wolkenfrei und mit hellen Sternen bedeckt war. Sie kannte alle Sternenbilder,
obwohl sie von hier aus etwas anders aussahen als von der Druideninsel.
"Die kleine Katze", murmelte sie zu einer
kleinen Gruppe von Sternen, die halb hinter den Bäumen verschwand.
Die große Katze ging erst im Herbst auf, aber in diesem Sternbild
gab es den hellsten Stern am Himmel, den Alkadon. Viele Zauberbanne wurden
dann ausgesprochen, wenn der rote Alkadon hoch am Himmel stand.
"Die Furie." Ein Sternenbild, das immer neidisch
zu seiner Nachbarin herüberschielte, der blauen Schlange.
"Die drei Schwestern." Ein Zirkel als Zeichen
für die Macht, die aus innerer Liebe entstand.
"Die Rose." Auch vier Sterne der Liebe, wenn
auch anderer Art.
"Das Einhorn des Südens."
"Die Jägerin." Das war das Sternbild
der Druiden, das Sternbild der Großen Göttin, das in jeder Jahreszeit
am Himmel erstrahlte. Der Kopfstern davon glühte grün.
"Bleibst du mir treu oder den Göttern?"
Gaya sah lange zu den Sternen auf, in denen
angeblich die Schicksäle aller Menschen und der ganzen Welt eingesponnen
waren, und fragte sich, was für einer Zukunft sie selbst wohl entgegen
strebte.
"Gaya?" Sie drehte den Kopf überrascht
um und sah Johannes aufstehen. Sie warf einen Blick auf den Zeitabstandmesser,
aber die vierte Kugel war noch nicht heruntergefallen.
"Was ist los? Deine Schicht ist noch nicht
angebrochen." Er zuckte mit den Schultern und setzte sich zu ihr an die
Feuerstelle, die nur noch aus Asche und schwelender Glut bestand.
"Ich konnte keinen Schlaf finden. Geh du schlafen,
ich kann genauso gut jetzt mit der Wache anfangen."
"Du hast doch selbst gesagt wir müssen
gut ausschlafen. Wie willst du morgen weitergehen, wenn du auch noch meine
Wache übernimmst?"
"Ich würde genauso wenig schlafen, wenn
ich mich hinlegen würde."
"Wieso?"
"Schlechte Erinnerungen." Sie erinnerte sich,
dass er das gleiche gesagt hatte, als sie den Wald betreten hatten.
"Erzählst du mir davon?", fragte sie,
bevor sie nachgedacht hatte. Sofort bereute sie es und schalt sich einen
Volltrottel. Es war nur zu offensichtlich, dass er nicht darüber reden
wollte.
"Ein anderes mal", antwortete er. Wegen der
Dunkelheit konnte sie sein Gesicht nicht sehen und seine Stimme war völlig
ausdruckslos. "Geh jetzt schlafen, Gaya. Morgen wird ein anstrengender
Tag." Sie stand auf und klopfte ihre Hose ab. Johannes rückte näher
an die Feuerstelle heran, wie um sich
daran zu wärmen. Gaya zögerte noch.
"Johannes?"
"Hmm?"
"Tut mir leid, dass ich gefragt habe."
"Macht nichts."
"Wirklich nicht?"
"Nein." Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter
und flüsterte ihm ins Ohr:
"Die Vergangenheit ist vergangen. Lass dich
nicht von ihr fertig machen." Sie sah es zwar nicht, aber sie spürte,
dass er wieder sein schiefes Lächeln aufgesetzt hatte.
"So schlimm ist es nun wieder auch nicht.
Gute Nacht, Gaya."
"Gute Nacht." Sie legte sich wieder hin und
nickte ein. Das letzte, was sie vor dem Einschlafen sah, waren aufzüngelnde
Flammen.
Der nächste Morgen wurde feucht und kalt.
Der Wind roch nach Regen und am Himmel stauten sich die dunklen Wolken,
aber noch hatte es nicht geregnet. Deswegen beschlossen die Fünf ohne
Pause zu gehen, um eine so lange Strecke wie möglich hinter sich zu
bringen, bevor das Unwetter über sie hereinbrach.
Der Celine wurde wieder dichter, nachdem sie
sich vom See entfernten, und es wurde immer schwieriger, sich durch die
Bäume und Lianen zu schlagen. Außerdem verwandelte sich der
Boden nach und nach in sumpfiges Gelände und erschwerte zusätzlich
das Gehen.
"Verdammt! Bei jedem Schritt sinke ich ein!",
knurrte Julian und zog seinen Fuß mit einem schmatzenden Laut aus
einer Schlammpfütze. "Ist das ein Wald oder ein Moor?!"
"Im Westen geht der Celine in das Chetas-Moor
über", erklärte Cycil - mit zusammengebissenen Zähnen, weil
er gerade versuchte sein Schwert aus einer besonders fetten Liane zu ziehen.
"Wenn das so ist, dann sollten wir weiter
nach Nordosten gehen!", sagte Dajana und sprang zurück, als Cycils
Schwert sich endlich von der Schlingpflanze löste und seine Hand mit
nach hinten riss. "Pass doch auf, Cycil!"
"Entschuldigung." Er betrachtete stirnrunzelnd
die Liane und sein Schwert. "Johannes, könntest du mir mit diesem
kräftigen Exemplar einer Liane weiterhelfen?"
"Natürlich. Geh beiseite." Der Magier
streckte seine Hand aus und von seinen Fingerspitzen sprang ein Funke auf
die Pflanze über, die daraufhin unnatürlich schnell zu feiner
Asche verbrannte.
"Kein Wunder, dass die Feuermagie so beliebt
ist", bemerkte Cycil, als sie weitergingen. "Sie ist außerordentlich
nützlich." Johannes lachte.
"Wenn du wüsstest wie schwer es ist sie
zu erlernen!"
"Na ja, mir reicht die Wassermagie vollkommen",
versicherte Cycil. "Ich habe genug Schreckensgeschichten von denen gehört,
die an der Feuermagie gescheitert sind! Du bist da eher die Ausnahme."
"Ich weiß. Das kommt daher, dass ich
von Geburt an eine Veranlagung für das Element Feuer habe. Die meisten
versuchen es zu erlernen und scheitern daran."
"Willst du damit sagen, dass alle, denen das
Feuerelement angeboren ist, Feuerzauberer werden?"
"Nein. Aber für die ist es leichter.
Ich sage dir mal was – drei Viertel derjenigen, die mit dem Feuer im Blut
geboren werden, sterben, wenn sie versuchen es zu meistern. Aber von denen,
die es sich aneignen wollen, überlebt einer von Hundert."
"Wovon hängt es denn ab, ob man es schafft
oder nicht?"
"Vom eigenen Charakter erst mal. Wenn jemand
zum Beispiel zu ungeduldig ist, kann man es gleich vergessen. Oder zu eingebildet.
Ich kannte mal einen, der ist in Flammen aufgegangen, als er zwei Mädchen
imponieren wollte! Ich kann mir gut vorstellen, dass ihnen sein verkohlter
Leichnam nicht besonders gefiel." Johannes ließ eine erneute Ranke
verbrennen und dachte nach. "Es hat auch etwas mit der Art zu tun, wie
man es lernt. Von Büchern zu lernen ist eine schlechte Methode. Die
erfolgreichste ist wahrscheinlich, sich einen erfahrenen Feuerzauberer
als Lehrer zu nehmen. Na ja, letztendlich ist das wohl Glückssache.
Wenn die Götter es wollen, wird man Feuermagier, wenn nicht, wird
man Asche."
"Auch eine Erklärung", stimmte Cycil
zu. Gaya, die den Abschluss der Reihe bildete, stolperte und
prallte gegen Dajana vor ihr. Das Mädchen
konnte sich nicht auf den Beinen halten und stürzte. Im Fallen riss
sie Julian mit sich. Schnell fanden sich alle Drei auf dem Boden wieder,
fluchend, und die Kleidung und alles andere mit Matsch verschmiert.
"Bei den abgerissenen Fingernägeln von...
Gibt es keinen besseren Weg?", fragte Julian und versuchte hoch zu kommen.
Aber er rutschte nur aus und fiel wieder hin. Johannes und Cycil sahen
amüsiert zu, wie sie kläglich versuchten aufzustehen, bis Johannes
sich ihrer erbarmte und ihnen mit seinem Speer aus der Klemme half.
"Wir gehen schon so weit nach Osten wie möglich",
sagte Johannes, als endlich wieder alle auf den Beinen standen. "Ich weiß
auch nicht, wieso das Gelände so lange schlammig bleibt."
"Wenn es auch noch anfängt zu regnen...",
sagte Gaya und sah zum Himmel auf, obwohl man ihn durch das dichte Blätterdach
sowieso nicht sehen konnte.
"Dringt das Wasser überhaupt bis zum
Boden durch? Ich habe da meine Zweifel", äußerte Dajana und
betrachtete traurig ihre ruinierten Stiefel, die fast gar nicht mehr unter
der Schlammschicht zu erkennen waren.
"Es muss. Wie sonst würde hier so etwas
entstehen können?", meinte Julian.
"Kann es nicht doch noch sein, dass wir vom
Kurs abgekommen sind und in Richtung Moor gehen?", fragte Dajana kläglich.
"Nein, tut mir leid, Dajana", antwortete Johannes.
Sie seufzte und zwirbelte an einer verklebten Haarsträhne.
"All den Schlamm werde ich nie aus meinen
Haaren kriegen!", beklagte sie sich. Gaya klopfte ihr aufmunternd auf die
Schulter.
"Da wirst du nicht die einzige sein."
"Was bleibt uns anderes übrig als weiterhin
gen Nordosten zu gehen?", fragte Cycil.
"Gar nichts, wenn wir uns nicht verirren wollen",
erwiderte Johannes. Und so zogen sie weiter.
Ein atmosphärischer Druck hatte sich während
der letzten Stunden aufgebaut und die Luft knisterte vor Spannung, sogar
in diesem toten Wald. Die Welt verharrte regungslos in Erwartung des Sturms,
der unweigerlich losbrechen würde. Durch die kurzen Einblicke in den
Himmel sahen sie, dass er sich jetzt ganz verdüstert hatte und sich
die Wolken wie riesige Steine über ihnen auftürmten, jederzeit
bereit, sie zu zermalmen.
Gaya spürte den Druck wie eine dunkle
Bedrohung über sich. Sie war plötzlich sehr froh darüber,
nicht den direkten Himmel über sich zu haben, sondern ein schützendes
Blätterdach. Das milderte etwas das Gefühl in Gefahr zu sein.
Aber trotzdem fühlte sich Gaya wie ein Käfer kurz bevor der Schuh
ihn zerquetschte.
"Kann der Sturm nicht endlich hereinbrechen?
Dieses angespannte Warten macht mich ganz kribbelig!", sagte Dajana und
stampfte auf der Stelle, wie ein nervöses Pferd.
"Mir geht’s nicht besser", erwiderte Cycil.
"Es sind so große Wassermassen über uns... Das zerrt regelrecht
an mir." Er strich sich durch die Haare und schlang die Arme um sich als
würde er frieren.
"Gehen wir weiter oder schlagen wir hier das
Lager auf?", fragte Julian.
"Das ist auch so geeignet als Lagerplatz!",
entgegnete Dajana sarkastisch.
"Es ist nicht weniger geeignet als alles andere",
meinte der Ritter. "Schlamm bleibt überall Schlamm, ob hier oder zehn
Meter weiter."
"Das entbehrt nicht einer gewissen Logik",
bemerkte Cycil und sah wieder nach oben. Gaya machte sich Sorgen um ihn.
"Ich weiß nicht einmal, was für
eine Tageszeit es ist!", sagte Julian verärgert. "Es könnte genauso
gut noch Mittag sein oder schon Abend!" Er hatte Recht. Es war bereits
sehr dunkel, aber das konnte auch lediglich an den dichten Wolken liegen.
"Stimmen wir doch einfach ab", schlug Gaya
vor. "Also – wer fürs Weitergehen ist, hebt jetzt die Hand." Johannes
und Dajana hoben die Hände. "Gut, dann bleiben wir hier. Versuchen
wir das Beste daraus zu machen, Leute! Also was mich angeht, bin ich zum
Umfallen müde und es ist mir völlig egal, wo wir uns hinlegen,
Hauptsache ich bin in der Lage mich auszuruhen!"
"Das geht mir genauso, aber es ist so kalt!
Ich hätte nichts gegen ein winziges Feuer", sagte Dajana und sah Johannes
flehend an.
"Tut mir leid, das Feuer können wir vergessen.
Ich hätte zwar auch nichts gegen etwas Wärme, aber die Luft ist
zu feucht, um ein Feuer auch nur zu entzünden." Dajana knurrte.
"Warum musstet ihr mich auch aus meiner schönen,
trockenen Stadt schleppen?"
"Es war deine Schuld", erinnerte sie Gaya.
"Du hättest nicht unbedingt stehlen müssen."
"Ich habe nicht gestohlen!", widersprach Dajana
gereizt.
"Ja, du hast es nur versucht", sagte Gaya.
Julian lachte und schlug Dajana kameradschaftlich auf die Schulter. Sie
schrie auf vor Schmerz.
"Bist du verrückt? Das war die verletzte
Schulter!", schrie sie ihn an.
"Ach ja, das habe ich ja beinah vergessen.
Man merkt dir gar nicht an, dass sie verletzt ist."
"Willst du damit irgendetwas andeuten?", erkundigte
sie sich misstrauisch.
"Nein, nichts", beeilte er sich zu sagen,
aber Dajana sah nicht überzeugt aus.
Da sie nicht viel aufzubauen hatten, ließen
sie sich einfach nieder und machten es sich so gut es ging bequem. Gaya
wickelte sich in ihren Umhang und lehnte sich gegen einen Baumstamm. Noch
durch den Stoff hindurch spürte sie die raue Rinde. Nichts konnte
die Feuchtigkeit aufhalten, die in all ihre Glieder gekrochen war und sich
durch nichts vertreiben ließ. Ein heißes Feuer wäre
jetzt wirklich nicht schlecht, dachte sie sehnsüchtig und erinnerte
sich an die Worte von Aar, des alten Druidenmeisters.
"Wenn ihr diese Insel verlasst und durch
Cinhyal zieht, werdet ihr feststellen, dass sich nirgendwo Ruhe und Frieden
finden lassen. Ihr werdet auf vieles verzichten müssen und das einzige
Hab und Gut, was ihr immer bei euch haben könnt, werden euer Stab
und euer Glaube sein. Unbequemlichkeiten und Anstrengungen werden eure
ständigen Begleiter sein und mit euch ziehen. Doch wenn ihr euch nach
Annehmlichkeiten und Zivilisation zurücksehnt, denkt daran, was der
große König Haldoneus vor langer Zeit einmal gesagt hat..."
"Ein Krieger wird an dem gemessen, was er
für seinen Glauben aushält", flüsterte Gaya.
"Was hast du gesagt, Gaya?", fragte Dajana
schläfrig, die sich neben ihr in eine Decke gekuschelt hatte.
"Nichts. Schlaf weiter."
"Ich habe gar nicht geschlafen!", protestierte
sie.
"Nein, überhaupt nicht. Schlaf weiter."
Dajana murmelte noch etwas, dann wurden ihre Atemzüge regelmäßiger
und tiefer. Gaya zog ihre Knie heran, legte den Kopf darauf und versuchte
es dem Mädchen gleich zu tun.
Johannes schlief nicht wie seine Begleiter.
Er säuberte sorgfältig seinen Speer und war gleichzeitig mit
seinen Gedanken ganz woanders, obwohl das niemand bemerkt hätte. Die
Dunkelheit war so dicht, dass er nichts sah, außer dem Widerschein
der Blitze, die am Himmel zuckten. Der Donner krachte so laut, als ob zwei
gigantische Schilde aufeinander stoßen würden. Doch all das
registrierte er nur nebenbei, während er darüber nachdachte,
was er tun sollte.
Ihm war ebenso klar wie Cycil, dass dieser
Plan Wahnsinn war. Eigentlich hätte er nicht einmal einwilligen sollen,
die Vier durch den Wald zu begleiten, denn er hatte vorgehabt, noch länger
in N’hoa zu bleiben und die Hexer im Auge zu behalten. Aber das Ganze war
ihm interessant erschienen und irgendwie abwechslungsreich. Er war nicht
oft mit Menschen zusammen. Doch was sollte er tun, wenn sie in Sunaj angekommen
waren?
Dieser Plan war Wahnsinn, daran gab es nichts
zu rütteln. Wieso zögerte er aber noch?
Als Antwort darauf kamen ihm zwei Dinge in
den Sinn: als erstes, dass er sie alle mochte. Irgendwie hatten sie es
mit ihren so verschiedenen Charakteren geschafft, dass er sie als Freunde
sah. Was auch immer das hieß. Als zweites erinnerte er sich an etwas.
"Die Vergangenheit ist vergangen. Lass
dich nicht von ihr fertig machen."
Und darüber dachte er länger nach,
als über das eigentliche Thema zuvor.
"Aufwachen!", rief jemand munter. Gaya murrte,
wälzte sich herum und öffnete die Augen. Johannes stand vor ihr,
mit einem glänzenden Speer und einer nicht minder glänzenden
Laune, wie es schien.
"Ist es schon morgen?", murmelte sie und gähnte.
"Ja. Der Sturm ist vorüber gezogen, wir
können aufbrechen. Es kann nicht mehr weit sein."
"Ich bin schon auf."
"Das ist gut!" Er ging weiter. Sie gähnte
wieder und richtete sich dann auf. Ihr Körper schmerzte von der unbequemen
Lage, in der sie die Nacht verbracht hatte, und ihre Finger waren ganz
klamm. Sie rieb sich die Augen und zwinkerte mehrmals, um endgültig
wach zu werden.
Julian und Dajana waren bereits auf den Beinen,
noch reichlich verschlafen, aber schon packten sie ihre Sachen. Cycil lag
noch immer da, zu einer embryonalen Kugel zusammengerollt und bewegungslos.
"Cycil? Geht es dir gut?", fragte Johannes
und ging neben ihm in die Hocke. "Cycil?" Er rüttelte an seiner Schulter,
aber von Cycil gab es keine Reaktion. Dajana kam Gaya zuvor und gesellte
sich zu Johannes.
"Cycil! Wach auf!", rief sie. Cycils Lider
flatterten und er sah verwirrt in ihre besorgten Gesichter.
"Was ist los? Schon Zeit aufzustehen?" Dajana
verdrehte die Augen und stand auf.
"Du musst auch immer so ein Theater machen,
Cycil!" Sie drehte sich stolz um und ging weiter ihre Sachen packen. Cycil
sah ihr verständnislos hinterher.
"He?" Johannes schüttelte den Kopf und
gab ihm einen Klaps auf die Schulter.
"Nichts, Mann. Komm hoch, wir brechen gleich
auf."
Sie frühstückten mit dem Restfleisch
von gestern, dann untersuchte Cycil noch rasch ihre Wunden und anschließend
gingen sie zügig vorwärts. Anscheinend hatten sie doch noch die
richtige Richtung eingeschlagen, denn der Boden wurde nach und nach fester.
Sie ließen das schlammige Gebiet hinter sich und da dies der dritte
Tag ihrer Wanderung war, hofften sie, am heutigen Abend in Sunaj anzukommen.
Gaya brachte dem gemischte Gefühle entgegen. Sie war nicht besonders
von der Aussicht begeistert, ihre Eltern in der Stadt zu treffen und sich
erneut ihre Vorwürfe anhören zu müssen.
"Was machst du denn nur, Mädchen,
treibst dich in der Welt herum wie eine heimatlose Dirne, während
alle anderen Frauen schon längst verheiratet sind und ihrem Elternhaus
große Freude machen! Das sind anständige Frauen, nicht so wie
du! Guck dir doch deine Cousine Edna an, die ist seit dreizehn Jahren verheiratet,
führt einen ordentlichen Haushalt, hat schon zwei Kinder und macht
ihre Eltern stolz! Wir werden wohl nie stolz auf dich sein können,
nicht wahr? Aber das war ja schon immer vorauszusehen gewesen, du warst
schon als Kind so ein stures Dummchen und wir haben immer gesagt aus der
wird nichts, die hat ja eh nur Flausen im Kopf..."
Und so weiter, et cetera.
Das größte Unglück ihrer Eltern
war, dass Gaya ihre einzige Tochter war. Gaya hatte das auch immer bereut,
denn sonst wäre die Aufmerksamkeit ihrer Eltern nicht nur auf sie
selbst gelenkt worden. Dann hätten sie jetzt ihr Tochter-Püppchen
und könnten vor den Nachbarn damit angeben, wie viele Kinder sie irgendeinem
hirnlosen Ehemann geboren hatte. Aber nein, sie hatten ja nur Gaya, die
ihnen natürlich nur Schande bereitete.
Ich treibe mich nicht in der Welt herum
wie eine heimatlose Dirne! dachte Gaya wütend. Und es geht
euch überhaupt nichts an, was ich aus mir mache! Heiraten, pah, dass
ich nicht lache! An irgend so einen Trottel verschachert zu werden, um
ihm zahllose Kinder zu gebären und damit zufrieden zu sein, für
den Rest meines Lebens für diesen Trottel zu sorgen? Nein, danke!
Ich habe besseres zu tun!
Sie strich mit den Fingern über den kühlen
Smaragd. Das war ihre richtige Familie, das war ihre Welt. Das war ihre
wahre Bestimmung, der Großen Göttin ihr ganzes Leben lang zu
dienen. Dafür war sie geboren worden.
Ihre Gedanken wurden jäh unterbrochen.
Julian und Dajana, die vorne gingen, blieben abrupt stehen.
"Was ist los?", fragte Gaya alarmiert. Sie
bildete den Anschluss und konnte deswegen nichts sehen.
"Eine weitere Lichtung, ziemlich klein", antwortete
Julian verwundert. "Aber in ihrer Mitte steht ein Stein in dem etwas drin
steckt."
"Etwas?"
"Könnte ein Schwert oder ein Dolch sein."
"Wieso bleiben wir dann stehen?", wollte Cycil
wissen.
"Weil es eine Falle sein kann", entgegnete
Johannes und hielt seinen Speer abwehrbereit. "Wir sollten nicht voreilig...
Dajana, bleib stehen!" Anscheinend hatte Dajana keine Lust mehr gehabt
abzuwarten und der Begriff ‚Falle’ war ihr wohl auch unbekannt.
"Ich und Cycil gehen zu ihr, Johannes und
Gaya, ihr gebt Rückendeckung", wies Julian sie an und folgte der Bogenschützin.
Als auch Cycil die Lichtung betrat, konnte Gaya endlich etwas sehen. Es
war tatsächlich ein sehr kleiner Zwischenraum zwischen den Baumstämmen,
den man mit fünf Schritten durchqueren konnte. Und in der Mitte erhob
sich ein moosbewachsener, schwarzer Felsen, auf dessen Kuppe ein verdreckter
Griff rausragte. Dajana hatte entschlossen begonnen, den Felsen zu erklimmen.
Julian sah ihr verärgert nach, während Cycil nach möglichen
Feinden Ausschau hielt.
"Dajana, was fällt dir ein?", rief der
Ritter. "Bist du verrückt geworden?"
"Nein. Aber ich will wissen, was das ist",
antwortete sie ohne sich umzusehen.
"Es ist gefährlich, einfach so vorzupreschen,
ohne sich zu vergewissern, dass kein Hinterhalt vorliegt..."
"Spar dir die Moralpredigt! Wir sind zu weit
am Rande des Waldes für einen Hinterhalt! Von hier aus kann ich schon
die Zinnen der Stadt sehen... Ich bin gleich da..."
"Es ist egal, ob wir zu weit am Rande sind
oder nicht! Wie sollen wir später gut miteinander zusammenarbeiten,
wenn du solchen Unsinn machst?" Er brach ab, denn er sah wohl ein, dass
er genauso gut zum Felsen hätte sprechen können. Mit finsterem
Gesichtsausdruck sah er zu, wie Dajana vorsichtig weiter emporstieg. Cycil
schloss sich ihm an, aber er sah nicht sauer, sondern nur besorgt aus.
Gaya verspürte ebenfalls ein mulmiges Gefühl. Auf nassem Moos
konnte man so leicht ausrutschen... Aber Dajana machte das alles nichts
aus. Sie kam sehr schnell voran. Es dauerte nicht lange und sie hatte den
schmutzigen Griff erreicht. Triumphierend zog sie daran. Was sie herauszog,
sahen sie nicht, aber es war zu klein für ein Schwert. Dajana machte
Anstalten wieder herunterzuklettern, doch dann bückte sie sich und
hob noch etwas vom Felsen auf. Einen Stein? Als sie sich zu ihnen umdrehte,
strahlte sie übers ganze Gesicht.
"Es ist ein Dolch! Und stellt euch vor, er
ist..." Bevor sie den Satz beenden konnte, rutschte sie aus. Sie schlug
schwer auf dem harten Boden auf, aber da dies die Spitze des Felsens war,
blieb es nicht dabei. Sie rutschte weiter auf dem nassen Moospolster und
plötzlich war kein Stein mehr unter ihren Füßen, sondern
nur noch Luft. Sie hatte nicht einmal mehr Zeit um aufzuschreien. Das ganze
ging so schnell vonstatten, dass keiner von ihnen reagieren konnte. Dajana
landete unsanft auf Julian und Cycil und riss sie zu Boden. Gaya verließ
sofort ihren Platz am Waldrand.
"Ist alles in Ordnung mit euch? Seid ihr noch
heil?", fragte sie erschrocken. Julian stöhnte und fasste sich an
den Kopf. Dort hatten ihn Dajanas Stiefel getroffen.
"Du hättest mir fast den Schädel
eingeschlagen!", beschwerte er sich bei dem Mädchen. Sie krabbelte
von den beiden Männern runter und presste den Dolch dabei fest an
ihren Körper. Blut tropfte von ihrer Kleidung auf das grüne Gras.
"Dajana, bist du verletzt?", fragte Julian
und stand auf. Sie sah den roten Fleck erstaunt an und dann den Dolch mit
der blutigen Spitze.
"Nein... Mir ist nichts passiert. Das ist
nicht mein Blut."
"Das ist wohl meins", sagte Cycil. Alle Blicke
richteten sich auf ihn und auf seinen blutüberströmten linken
Arm. Dajana starrte entsetzt auf den langen Schnitt daran. "Es ist nicht
so schlimm wie es aussieht", versicherte er ihr schnell.
"Oh Gott! Das tut mir leid, Cycil, wirklich,
ich wollte das nicht, es tut mir leid...", stammelte sie. Gaya kramte sofort
nach Verbandszeug in ihrer Tasche.
"Beweg dich nicht. Du darfst nicht zuviel
Blut verlieren", sagte sie und kniete neben ihm nieder. Sie goss Wasser
in eine Schale und wischte die Wunde aus. Bei näherer Betrachtung
erwies es sich als wirklich hässlicher und schmerzhafter Stich. Zum
Glück hatte der Dolch die wichtigen Arterien am Handgelenk nicht durchschnitten,
sonst wäre die Blutung nicht zu stillen gewesen. So verband Gaya rasch
und sorgfältig die Wunde, wobei sie darauf achtete, die Bandagen sehr
fest anzulegen. Cycil verzog zwar vor Schmerzen das Gesicht, aber er sagte
nichts. Dajana beobachtete das ganze mit einem bleichen Gesicht und zitternden
Lippen.
"Das dürfte halten, bis wir in Sunaj
angekommen sind und fachmännische Hilfe bekommen können. Geht
es einigermaßen?", fragte sie ihn.
"Ja. Es ist ohnehin nicht mehr weit zur Stadt."
Cycil richtete sich vorsichtig auf. Die weißen Verbände färbten
sich sofort dunkel, aber dagegen war nichts zu machen. "Du hast doch schon
die Zinnen gesehen oder?"
"Ja, hab ich...", antwortete Dajana und schluckte
schwer. "Das tut mir wirklich sehr leid, Cycil. Die Klinge muss zufällig
deinen Arm geritzt haben..."
"Schon gut. Hauptsache dein Dolch steckt mir
nicht in der Brust..."
"Zeig ihn mal her, Dajana", mischte sich Julian
neugierig ein. Das Mädchen demonstrierte ihnen die Waffe. Der Griff
war zwar fast schwarz vor Schmutz, aber die Klinge war erstaunlich sauber.
Sie war ungewöhnlich lang für einen Dolch und halb durchsichtig.
Im Sonnenlicht schimmerte sie dunkelgrün, aber sonst erwies sie sich
als schwarz. Außerdem bestand sie nicht aus Stahl, wie die normalen
Waffen, sondern aus...
"Obsidian. Das ist Obsidian", stellte Johannes
fest. Das war erstaunlich – Obsidian gab es nicht auf dem Kontinent von
Cinhyal, nur auf der zweiten Träneninsel Acippa. Deswegen waren solche
Waffen äußerst selten. Was machte sie mitten im Celine, in einem
Felsen?
"Und es ist mein Dolch!", verkündete
Dajana, die sich rasch von dem Schock zu erholen schien. Sie wirkte fast
schon wieder glücklich.
"Wie kommst du denn darauf?", fragte Julian.
"Nur, weil du ihn rausgezogen hast, heißt das noch lange nicht, dass..."
"Es ist ein Geschenk für mich!"
"Ach ja? Von wem denn?", wollte Julian spöttisch
wissen.
"Keine Ahnung. Von den Waldgeistern? Wer weiß.
Aber es ist mein Geschenk!"
"Hmm, und wie kommst du darauf, dass es dein
Geschenk ist?"
"Es steht darauf!", antwortete Dajana und
hielt ihnen den Gegenstand entgegen, den sie auf dem Felsen aufgehoben
hatte. Es war tatsächlich ein Stein. Als Gaya die Schriftzeichen darauf
sah, erstarrte sie. Sie kannte sie. Es war der Stein mit Dajanas eingeritztem
Namen, den sie vorgestern beim Feuer gefunden hatte. Sie blickte Cycil
an, der den Stein auch sofort erkannte. Sein Gesicht färbte sich rot,
aber keiner bemerkte es außer Gaya.
"Hier steht ja wohl nur Dajana und nicht für
Dajana! Also beweist das allein gar nichts!", meinte Julian.
"Hier steht aber nirgendwo dein Name oder?",
gab sie giftig zurück. "Also ist das für mich!"
"Quatsch! Es würde mich auch nicht wundern,
wenn du das selbst eingeritzt hättest!"
"Das ist Quatsch! Wann hätte ich schon
Gelegenheit dazu gehabt?" Gaya wusste nicht weiter. Sollte sie sagen, wer
das eingeritzt hatte? Aber auch wenn sie es tat, blieb noch ungeklärt,
wie der Stein hierher gelangt war. Gaya erinnerte sich noch genau daran,
ihn in den Wald geworfen zu haben. Hatte ihn jemand zum Dolch gebracht,
um ihn tatsächlich als Geschenk für Dajana zu kennzeichnen? Oder
war der Stein irgendwie von selbst hergekommen, durch Wind oder so etwas,
und alles war nur ein Zufall? Daran glaubte sie einfach nicht. Es ändert
nichts, wenn ich es sage. Ich würde damit nur Cycil in Verlegenheit
bringen. Die ganze Sache ist so oder so unerklärlich.
"Das hat doch eh keinen Sinn.", mischte sich
Johannes in den Streit ein. "Dajana, du würdest den Dolch sowieso
nie hergeben. Und du, Julian - wozu brauchst du den Dolch? Du kämpfst
doch mit deinem Schwert!" Gaya warf ihm einen dankbaren Blick zu. Er war
immer so vernünftig. Julian sah das auch ein und beschloss, den Streit
mit Dajana auf eine spätere Zeit zu verschieben, wo weder Johannes
noch Gaya anwesend sein würden, um ihn zu verhindern. Johannes war
zufrieden als er sah, dass sie sich beruhigt hatten. "Gut. Jetzt, wo wir
das geklärt haben, sollten wir endlich aus diesem verfluchten Wald
raus. Ihr müsst auch noch die Nachricht ausliefern, schon vergessen?"
Julian
hat ihm also von der Botschaft erzählt. Gaya stellte wieder fest,
wie sehr sie dem Feuermagier vertraute, denn bei jedem anderen hätte
sie Einspruch erhoben.
"Es ist nur noch ein schmaler Streifen Wald
zwischen uns und Sunaj", berichtete Dajana. "Ich habe die Burg gesehen
– sie ist so schön! Die Türme, die Fenster, und alles glitzert
so sehr..."
"Von nahem ist sie viel beeindruckender",
versicherte ihr Gaya.
"Dann los! Ich muss sie mir ansehen!" Sie
schob den Dolch in ihren Gürtel und den Stein in ihre Tasche. Cycil
beobachtete das unglücklich, aber er konnte nichts unternehmen ohne
sich zu verraten. So folgte er den anderen nach kurzem Zögern und
versuchte dabei, seinen verletzten Arm nicht zu bewegen.
Der Waldstreifen war wirklich sehr schmal
und es fiel ihnen leicht, sich da durch zu kämpfen. Schließlich
lichteten sich die Bäume endgültig und machten einem weiten Grasland
Platz.
Sie hatten den Celine endlich verlassen!
Und vor ihnen lag die Hauptstadt von Cinhyal.
© Martha
Wilhelm
Vor Verwendung dieser Autoren-EMail-Adresse
bitte das unmittelbar am @ angrenzende "NO" und "SPAM" entfernen!
|