Der Weg einer Druidin von Martha Wilhelm
Kapitel 3: Waldstille

Gaya träumte...
Es war ein herrlich warmer Tag, einer von denen, die als der wahre Sommer bezeichnet werden. Tage, an denen man den warmen Atemhauch der Großen Göttin direkt spüren konnte. Die Bäume rauschten leise und ihre rosa Blätter wiegten sanft im Wind hin und her. Ein herber Geruch nach Honig lag in der Luft und die riesige Sonne sandte freudestrahlend ihre lebensspendenden Strahlen herab. Das Gras wogte wie ein grünes Meer unter Gayas Füßen, nur manchmal von bunten Farbtupfern unterbrochen, die Blumen waren. Schmetterlinge flatterten auf der Wiese und Bienen ließen sich von den prächtigen Blüten verführen. Der Himmel war strahlend blau.
Gaya betrachtete die ganze Szene versonnen und freute sich über den Sommer. Sie fühlte sich leicht wie eine Feder und überlegte, ob sie dem Himmel entgegen schweben sollte. Da erfüllte plötzlich ein tiefer Laut die Welt und hallte in ihr wider. Ohne Eile oder Furcht sank Gaya auf die Knie nieder und bedeckte ihre Augen nach der alten druidischen Begrüßungsweise. Sie spürte die Sonne auf ihrer Haut spielen und war von einem inneren Frieden erfüllt, der sie stark machte. Sie atmete die Welt ein und atmete Ruhe aus. Vor ihr teilten sich die Baumreihen und machten einer schlanken Gestalt auf einem Pferd Platz. Durch einen anderen Sinn als das Sehen nahm sie sie wahr:
Ein schwarzer Hengst, vor Gesundheit strotzend und vor Kampflust brodelnd, hielt knapp vor ihr an. 
Seine Hufe berührten das Gras nicht. Die Frau im Sattel hatte schwarze, lange Locken, die ihr offen über die Schultern fielen. Ihre Augen waren strahlend grün und von solcher Macht erfüllt, dass keiner es überlebte, in sie zu sehen. Ihr perfekter Körper war in einen Lederanzug gehüllt, der die weiße Haut kaum zum Vorschein kommen ließ, und trug keinerlei Schmuck. An ihrer Taille hing ein Schwert, eine scharfe, eisige Klinge, ohne Verzierungen, nackt in seiner tödlichen Schönheit. Gaya bewegte sich nicht, während der grüne Blick sie forschend musterte und dabei mühelos durch ihre Gedanken drang.
"Endlich begegnen wir uns." Die Stimme war überall und ließ die Welt erzittern. Die Kraft darin schmerzte fast.
"Göttin, oh Du Große. Ich bin Deine treue Dienerin", sagte Gaya unterwürfig.
"Dein Verstand sagt es mir. Aber nicht dein Herz."  Bestürzt sah Gaya die Göttin an. 
"Aber..."
"Widersprichst du mir?"
"Nun - nein." 
"Du bist noch jung. Deine Loyalität ist wankelmütig, wird in Frage gestellt."
"Wie kann ich mich Dir beweisen?" Ein Lächeln, dünn und bedeutungsvoll.
"Gerade deswegen bin ich hier, Gaya Asearien. Um deine Treue zu beweisen musst du mir vertrauen. Voll und ganz."
"Das tue ich!", rief sie. 
"Dann zeige es mir. Sieh mich an."
Gaya erhob den Kopf und blickte in die tödlichen Augen. Das grüne Licht umhüllte sie und brachte ihr Herz und ihre Seele zum Schwingen. Kälte und Hitze erfassten sie gleichzeitig. Flammen loderten an ihren Augen hoch, während Eis ihre Beine heraufkroch. Doch Gaya sah nicht weg. Oh du Große, ich bin Dein. Dunkelheit erhob sich aus dem Boden und verschlang Feuer, Eis und Schmerz.

Gaya stand auf einem Hügel. Unter ihr lag Sunaj, die Hauptstadt von Cinhyal, das Juwel der Welt, glitzernd eingefasst in das Band vom Königlichen Fluss und in die grüne Linie des Waldes von Celine. Und in der Mitte hob die Burg ihre Zinnen und Türme dem Himmel empor. Das Bild verschwamm, wurde zu einem grünem Fluss, der sie forttrieb. Sie wurde in einen Strudel gesogen. Eine Krone leuchtete vor ihr auf und brannte sich in ihre Augen ein. Dann verschwand sie und ein anderes Zeichen nahm Gestalt an. Eine grüne Schlange, gewunden und drohend die Augen verengt. Die Zunge, ein dünner, roter Strich, flatterte bedrohlich. In einer blitzhaften Explosion goldenen Lichts wurde daraus eine Frau, die sie nicht erkannte. Macht brandete um ihre Gestalt, wie eine spürbare Aura. Farben wechselten sich ab, das ganze Lichtspektrum breitete sich vor ihr aus. Blau durchdrang alles. Formte sich zu einem dünnen Strich - einer Klinge, einem Dolch.
"Es stellt sich hierbei nur eine Frage, Gaya", sagte jemand, eine männliche Stimme. Er sah sie an, ruhig, sie erwiderte den Blick, ohne ihn jedoch zu erkennen. "Bleibst du mir treu oder den Göttern?"
"Das ist eine unfaire Frage", hörte sie eine Frau protestieren. Sich selbst.
"Das Leben ist unfair. Die Götter sind unfair. So war es schon immer."
"Dabei geht es um mehr denn Freundschaft", sagte sie. "Um Schicksal."
"Denkst du denn, wir haben im Leben keine Wahl?" Jäh wurde die Stimme abgeschnitten, das Bild verschwand. Übrig blieb nur Dunkelheit.
Und ein innerer Schmerz, eine Kälte, die durch ihre Adern floss und ihren Körper durchströmte. 
"Bleibst du mir treu oder den Göttern?"

Die Druidin fuhr hoch, keuchend und nach Luft schnappend. Sie unterdrückte mühevoll den Schrei, der ihr auf der Zunge lag. Noch nie hatte sie eine Vision gehabt, diese hatte sie mit der Macht eines Blitzes getroffen. Die Decke klebte ihr am Leib und ihre Haare am Gesicht. Sie atmete bewusst tief ein und aus. Eine angespannte Ruhe überkam sie.
Das war kein Traum. Es war eine Vision, von der Großen Mutter gesandt. Aber... aber... warum hat Sie gesagt, dass ich untreu wäre? Verstört wischte sie sich die Haare und den Schweiß vom Gesicht. Ich soll Ihr vertrauen. Aber das tue ich doch! Wie kann ich es denn noch beweisen? Ein Gedanke kam ihr. Vielleicht musste sie die Bedeutung der Vision entschlüsseln, um die Botschaft zu verstehen. Eine Anweisung. Etwas...
Denk nach, Gaya.
Die Frau kam ihr in den Sinn, diejenige mit der Aura aus Licht. Heißt das, sie würde dieser Frau begegnen? Oder sollte Gaya sie suchen? Was sollte der blaue Dolch bedeuten? Vielleicht lediglich ein Symbol. Oder doch mehr?
Was war mit dieser Unterhaltung? Sie wusste nicht, mit wem sie sie geführt hatte, aber es musste wichtig sein, sonst hätte sie es nicht in einer Vision erfahren. Ich habe so ein Gespräch niemals geführt. Also muss es die Zukunft gewesen sein. Aber wie kam es bloß dazu? Zu dieser Frage?
"Bleibst du mir treu oder den Göttern?"
Sie barg ihr erhitztes Gesicht in den Handflächen. Was erwartete man von ihr? Was?
Sie sprang auf und ging im Raum umher. Obwohl sie wusste, dass Johannes Recht gehabt hatte und dass sie schlafen sollte, konnte sie es nicht. Die ganze restliche Nacht über zerbrach sie sich den Kopf über die Vision. Die Worte dröhnten in ihrem Kopf.

Cycil fand es nie schwer, früh aufzustehen. Zum einen Teil lag das an der Gewohnheit – seit seiner Kindheit hatte er nie ausschlafen können - und zum anderen Teil daran, dass es ihn immer wieder freute, beim Aufwachen die Sonne aufgehen zu sehen. An diesem Tag war das nicht anders. Kaum hatte Rosalie an seine Tür geklopft und lautstark "Guten Morgen!" gerufen, war er schon auf den Beinen. Leider lag das Zimmer weitgehend unterirdisch, so dass er die Sonne verpasste, aber das machte ihm nichts aus. Munter zog er sich an und ging den gewundenen Gang nach oben. Er belastete probeweise sein Bein und stellte fest, dass der Schnitt kaum weh tat, auch wenn er ihn nicht genäht hatte. Es war nur eine flache Wunde.
Der Raum war leer. Anscheinend brauchten die anderen länger Zeit um wach zu werden, dachte er, und setzte sich schon mal. Aus einem der anderen Flure hörte er Rosalies fröhliche Stimme tönen und musste grinsen. Danaill tat ihm leid, so eine Frau zu haben. Um keine Zeit zu verschwenden, zog er sein Schwert heraus und kontrollierte, ob es auch scharf war. Gestern hatte er es mit Julians verglichen. Des Ritters Klinge war breiter und massiger als seine. Cycil setzte im Kampf eher auf Schnelligkeit als auf Stärke. Er erinnerte sich an den Hexer mit dem er gefochten hatte und war zufrieden. Er konnte es noch. Sorgfältig steckte er das Schwert zurück in die Scheide und vergewisserte sich, dass seine Giftdornen am richtigen Platz saßen. Die kleinen Dinger waren sehr gefährlich und man musste immer sehr vorsichtig mit ihnen umgehen, aber im Kampf waren sie sehr nützlich. Wollen wir mal sehen, ob die Schlangenmenschen damit fertig werden. Er hörte leichte Schritte und schaute auf den Gang. Gaya trat daraus. Sie sah sehr müde aus, aber ihr Gang war so zielsicher wie eh und je. Der Stab sendete kleine grüne Blitze durch den Raum.
"Guten Morgen, Gaya."
"Guten Morgen", erwiderte sie und setzte sich zu ihm.
"Schlecht geschlafen?"
"Könnte man so sagen", antwortete sie und gähnte herzhaft. "Schlechte Träume." Er nickte.
"Ja, das kenne ich." Sie warf ihm einen schnellen Seitenblick zu.
"Das bezweifle ich." Er sah sie verständnislos an und zuckte dann mit den Schultern. Sie war ein Buch mit sieben Siegeln für ihn.
"Ich will endlich aufbrechen. Ich habe N’hoa so verdammt satt!", sagte Cycil nach einer Pause.
"Ja, ich auch. Ich verstehe wirklich nicht, wie diese Stadt so einen hervorragenden Ruf genießt." Sie gähnte noch einmal und rieb sich die Augen.
"Du hättest dich ausruhen sollen, statt die ganze Nacht hin und her zu gehen", sagte Johannes und Cycil zuckte zusammen. Er hatte die Schritte des Magiers nicht gehört. Gaya sah ihn erstaunt an.
"Woher weißt du das?"
"Mein Zimmer war gleich neben deinem und ich habe deine Schritte gehört", erklärte er. Er sah überhaupt nicht müde aus, sondern aufmerksam und kampfbereit. Von der Müdigkeit des letzten Tages keine Spur. Ein grauer Umhang fiel ihm von den Schultern herab und darunter trug er ein dunkelgrünes Jackett. In der Hand hielt er seinen Speer, der ihm bis über den Kopf ging. Der schlanke Schaft war aus schwarzem Eisenholz gefertigt und die Spitze war aus fahlem Stahl. Gaya lächelte.
"So laut bin ich doch gar nicht gewesen, dass ich dich hätte aufwecken können! Hast du auch nicht geschlafen?" Johannes zuckte mit den Schultern.
"Ein paar Mal bin ich aufgewacht. Aber wieso konntest du nicht schlafen?" Er setzte sich ebenfalls und behielt dabei seinen schweren Speer auf den Knien, so dass die kalte, metallene Spitze in geringem Abstand zu Cycils Knie glänzte. Dieser rückte unauffällig weiter.
"Ein Albtraum", antwortete sie schulterzuckend. "Wahrscheinlich vor Aufregung oder so etwas." Johannes maß sie mit einem skeptischen Blick, sagte jedoch nichts, was Cycil sehr taktvoll fand. Anscheinend wollte Gaya nicht über diesen Albtraum sprechen. Nun, das sollte ihm recht sein.
"Wo bleibt denn Julian? Er war doch am meisten von uns begeistert, endlich losziehen zu können."
"Ich bin mir sicher, er kommt gleich. Dajana wird jedoch nicht einmal Rosalie so schnell wach kriegen. Das Mädchen ist ein echter Morgenmuffel", erklärte Gaya, froh über den Themenwechsel. Cycil fühlte eine Aufwallung von Zärtlichkeit in sich aufsteigen, als er ihren Namen hörte. Dajana, ja, das ist ein Mädchen, für das es sich zu kämpfen und zu sterben lohnt, dachte er unwillkürlich. Aber noch besser wäre es natürlich, wenn sie mich auch mal bemerken würde. Na ja, man kann ja nicht gleich alles auf einmal haben.
"Ah, da kommt auch schon unsere tapfere Bogenschützin, wie aufs Stichwort!", bemerkte Johannes und hob den Speer zum Gruß. Cycil war überrascht als er sie sah. Er hatte gedacht, sie würde unausgeschlafen und schlecht gelaunt in den Raum spazieren, und dabei demonstrativ gähnen, aber anscheinend hatte Dajana beschlossen, sich als Kriegerin zu präsentieren. Sie trug die Sachen, die zu kaufen sie sich so gewehrt hatte, wie Cycil es von Julian erzählt bekommen hatte: Ein leichtes, warmes Baumwollhemd in Beige und eine braune, enge Hose, dazu die neuen Stiefel. Um die Schulter hingen Johannes’ ehemaliger Bogen und ein Köcher mit Pfeilen. An einem schmalen, schwarzen Gürtel baumelte ein Dolch. Mit strahlenden Augen und stolzer Haltung ging sie zu ihnen herüber und schenkte ihnen ein schmales Lächeln.
"Na, schon wach?" Cycil konnte nur schwer den Blick von ihren gekräuselten, dichten Haaren abwenden, die sie in einem Pferdeschwanz gebündelt hatte, der ihr schwer über den Rücken hing. Das hereinfallende Licht verwandelte sie in Gold. Er schluckte schwer und wandte sich mühsam der 
Betrachtung der Tischplatte zu.
"Gut geschlafen?", erkundigte sich Gaya und Dajana nickte.
"Natürlich. War wirklich eine Wonne in einem richtigen Bett zu schlafen. Wo... wo ist denn Julian?"
"Keine Ahnung. Es wundert mich eigentlich, dass er noch nicht hier ist. Aber vielleicht übt er noch ein bisschen", mutmaßte Gaya. Johannes erhob sich halb.
"Ich sehe mal nach ihm. Wir wollten doch früh aufbrechen..." Da erschien Julian schon selbst auf der Bildfläche. Die Haare wirr, die Kleidung unordentlich. Man sah ihm an, dass er sich in großer Hektik angezogen hatte. Ein schuldbewusstes Lächeln zierte sein Gesicht.
"Es tut mir leid, wirklich", sagte er schnell, bevor jemand anderer das Wort ergreifen konnte. "Normalerweise stehe ich früher auf..."
"Seid ihm nicht sauer", meinte Rosalie, aus einer anderen Tür in den Raum tretend. "Es war bestimmt schwer, sich von Misela loszumachen, sie kann ziemlich anhänglich sein." Vier Augenpaare richteten sich auf Julian, der Rosalie einen finsteren Blick schenkte, den sie aber nicht mehr sah, weil sie wieder hinter der Theke verschwand.
"Hat mir gestern eigentlich auch nur einer zugehört, als ich was von ausruhen gesagt habe?", fragte Johannes kopfschüttelnd. Dajana grinste unverhohlen.
"Misela, so, so. Ist das die Art der Ritter, sich auf einen Kampf vorzubereiten?" Er hätte nur zu gern etwas nach ihr geworfen, das kam ihm dann aber doch zu kindisch vor. Stattdessen richtete er würdevoll den Halt seines Schwertes, fuhr sich mit den Fingern durch die Haare als Kammersatz und sagte dann:
"Gehen wir los? Der Weg wird nicht kürzer, wenn wir hier herumstehen."
"Wessen Schuld ist es denn, dass wir hier herumstehen?", murmelte das Mädchen, aber er gab vor, es nicht gehört zu haben.
"Frieden!", gemahnte Johannes. "Wir müssen uns noch von Rosalie und Danaill verabschieden." Gesagt, getan. Danach verließen sie zusammen das Versammlungshaus, Julian immer noch in stolzem Schweigen, Dajana ein Lachen unterdrückend.
Cycil lächelte heimlich ebenfalls, als er sich daran erinnerte, wie viele Adlige – und der König selber – nach den Freien Dieben von Nord suchten. Und sie versammelten sich ausgerechnet in N’hoa! Das war ein guter Witz.
"Wo ist dieser Wald überhaupt?", fragte Gaya nach einer Weile.
"Nahe der Quelle", antwortete Johannes. "An der Wiese vorbei und dann ist er nicht mehr zu übersehen."
"Es dauert zwei Tage, ihn auf direktem Wege zu durchqueren", fügte Julian dazu. "Wenn wir von nichts aufgehalten werden, heißt das." Er hörte sich an, als würde es ihm nur recht sein, wenn sie aufgehalten werden würden, fand Cycil.
"Wir werden garantiert irgendjemandem begegnen, der uns aufhalten will. Niemand findet den Weg aus dem Celine ohne Hindernisse", meinte Johannes. Auch er klang diesen Hindernissen nicht 
abgeneigt. Gaya strich sich das Haar aus den Augen.
"Dann los."
Die Wiese, auf der gestern der Kampf getobt hatte, war leichenfrei.
"Die Hexer holen immer ihre Leichen", erläuterte Johannes ruhig. Cycil sah Dajana erschaudern.
Sie passierten den Baum, der den Eingang zur Zauberquelle markierte, und schon tauchte eine grüne Linie am Horizont auf. Je näher sie kamen, desto weiter und dunkler wurde sie, bis sich ein dichter Wald vor ihnen erhob. Die Bäume hatten dunkelgrüne Blätter und schwarze Stämme, deswegen schien der Celine Düsternis auszustrahlen. Der leichte Wind bewegte kein einziges Blatt. Wie erstarrt lag der Wald da. Oder wie auf seine Beute lauernd. Ein Zögern durchlief die Fünf und unmerklich wurden sie langsamer. Sie wären direkt vor dem Wald stehen geblieben, wenn Johannes nicht gewesen wäre. Entschlossen, mit unbewegtem Gesicht betrat er den Wald, und die anderen folgten ihm, ohne zu protestieren.
Sofort wurde es dunkel um sie herum und die Morgensonne verblasste. Obwohl Cycil sich sicher war, vorhin beobachtet zu haben, dass der Wind keine Auswirkung im Wald hatte, raschelten die Blätter leise. Aber vielleicht, dachte er und fröstelte kurz, bewegten sich diese Blätter von selbst. Was ihn erstaunte, waren weniger die Blätter, als die Tatsache, dass es überhaupt kein Unterholz im Wald gab. Keine Büsche, keine niedrigen Bäume. Nur die eintönigen, glatten, schwarzen Stämme ragten in die Höhe wie Speere und breiteten ihr dichtes Laubdach über ihren Köpfen aus, das so gut wie kein Licht durchließ. Sie kamen schnell und leicht voran, so dass er sich wunderte, wieso man zwei Tage brauchte, um den Celine zu durchqueren. Dann bemerkte er die Stille.
Das Rauschen der Blätter war nicht mehr da. Der Boden war mit Steinen und trockenem Gras übersäht, aber sie verursachten keine Geräusche. Obwohl es ein großer Wald war, gab es keine Anzeichen von Tieren und Vögeln, und das war nicht einmal das erschreckendste. Was am meisten fehlte, war das Leben. Dieser Wald war tot. Cycil wusste nicht, was in anderen Wäldern anders war, das die Lebendigkeit anmerken ließ; vielleicht das lautlose Wachstum, das man mit einem sechsten Sinn registrierte, ohne es wirklich wahr zu nehmen, oder das Gefühl von Kraft im Erdboden und in den Bäumen. Im Celine fehlte dies. Der Wald war tot.
"Wieso ist das so?", fragte Gaya und ihre Stimme wurde gleich gedämpft, nicht von ihr, sondern von dem Schweigen im Celine.
"Ich weiß nicht", antwortete Julian und strich nervös über sein Schwert, als wolle er Kraft daraus schöpfen. Vielleicht war das sogar tatsächlich seine Absicht.
"Ist er wirklich tot?", stellte Cycil die Frage, die ihm auf den Lippen lag. Ihm fiel der leichte Geruch in der Luft auf, der einem Brandgeruch ähnelte.
"Ich weiß nicht", wiederholte der Ritter. Alle warteten automatisch auf ein Kommentar von Johannes, aber der Zauberer blieb stumm. Als Cycil ihn von der Seite her ansah, bemerkte er, wie bleich er wirkte. Gaya bemerkte das auch und berührte ihn leicht am Arm.
"Was ist los?" Er mied ihren Blick.
"Nichts. Nur... schlechte Erinnerungen", sagte er und sie begriff, dass auch er Geheimnisse hütete. 
Sie nahm die Hand zurück und berührte den Smaragd. Er war völlig leblos, wie ein totes Stück Glas. 
Das jagte ihr einen Schauder über den Rücken, auch wenn sie es nie zugegeben hätte.
Erste Schwierigkeiten traten auf, als die Lianen auftauchten. Es waren dicke, gelb-grüne Pflanzen, die sich von Baum zu Baum hangelten und sie alle miteinander verbanden. Zuerst waren es nur wenige und diese waren sehr dünn, leicht zu zerreißen, aber dann wurden es immer mehr: Wie dicke Schlangen wanden sie sich um die Baumstämme und verdeckten die Rinde an manchen Stellen fast vollständig. Manchmal schienen sie gewissermaßen ein komplexes System zu bilden, an dem irgendwelche Lebewesen durch den ganzen Wald laufen konnten, ohne auch nur den Boden zu berühren. Sie wucherten in verschieden hohen Ebenen und sahen nahezu aus wie ein grünes Spinnennetz. Aber auch diese Schlingpflanzen waren tot.
Trotzdem bereitete es ihnen enorme Mühe, die dicken, kräftigen Stängel zu zerreißen, um durchkommen zu können. Johannes bevorzugte es, seine Magie nicht zu benutzen, erstens um seine Kräfte zu schonen und zweitens um keinen Waldbrand zu entfachen. Außerdem gab es einen dritten Grund, argwöhnte Gaya, den er aber nicht erwähnte. Julian und Cycil gingen voran und schlugen mit ihren Schwertern eine Bresche. Gaya und Dajana halfen ein wenig mit ihren Dolchen mit. Der 
Feuermagier ging am Schluss.
"Oh man!", ächzte Julian eine Zeitlang später. "Wenn der Wald abgestorben ist, wieso sind diese Lianen dann noch heil?" Sie machten eine kleine Verschnaufpause und gaben die Wasserflasche herum. Cycil besah sich resigniert seine zerkratzte Klinge und fand sich damit ab, dass er wohl nicht bald dazu kommen würde, sie zu schärfen. Dajana versuchte gerade, ihr Haar zu bändigen und in einem Knoten hinten zu verflechten, aber sehr erfolgversprechend sah es nicht aus.
"Sei froh, dass sie nicht gesund und saftig sind! Sonst würden wir hier nie im Leben durchkommen", meinte Gaya, wobei sie versuchte nicht so erschöpft zu klingen, wie sie war.
"Auch so wird es wahrscheinlich länger dauern als ich angenommen habe", sagte Johannes und nahm einen Schluck aus der Flasche. Er sah jetzt besser aus als am Anfang, woran auch immer das lag. "Drei Tage, vielleicht sogar vier."
"Gehört das schon zu den Hindernissen, die du erwähnt hast?", fragte Cycil neckisch. Johannes lächelte schief.
"Wer weiß."
"Hey, wir können doch nicht die einzigen sein, die diesen Weg wählen! Gibt es hier keinen Pfad oder so?", fragte Gaya und versuchte die Atemübungen der Druiden durchzuführen.
"Nichts hinterlässt im Celine Spuren", sagte Cycil nachdenklich. In seinen Augen blitzte kurz etwas graues auf, wie der Widerschein einer Erinnerung.
"Der Celine ist in der Zeit gefangen, in der er erstarrt ist. Deswegen bleibt alles hier ohne Spuren." Dajanas Stimme klang seltsam und ihr Blick wanderte zwischen den Baumstämmen. Wie sie dasaß, mit offenen, goldenen Haaren, verhangenen grünen Augen und dem Bogen auf dem Rücken, wirkte sie wie ein Waldgeist oder eine Elfe.
"Wie meinst du das?", fragte Cycil, der seine Augen nicht von ihr abwenden konnte.
"Es gibt da eine Legende, wisst ihr. Eine sehr alte, vielleicht die älteste, die wir in N’hoa haben. Sie handelt vom Celine und von den Oegwin." Sie warteten gespannt, aber Dajana verstummte.
"Ja und? Wie geht sie?", fragte Julian ungeduldig. Gaya musste lächeln. Ja, Ungeduld passte gut zu ihm, man könnte sogar fast sagen, dieses Wort wäre eigens für den Ritter erfunden worden.
"Mmm. Also. Einmal, vor so langer Zeit, dass damals nicht einmal Sunaj existiert hat und gerade die Sterne neu erfunden worden waren, geschah es, dass ein neues Wesen geschaffen wurde. Eigentlich hatte Cinhyal bereits viele Geschöpfe, aber die Götter meinten, dass noch eins nicht schaden konnte, denn sie mochten es, neues Leben zu schenken. Daher erschufen sie den Oegwin. Der Oegwin war kleiner als der Mensch und größer als der Zwerg, aber er hatte ein Gesicht wie Stein und Wasser. Außerdem hatte er vier Beine und vier Arme, und konnte Kitt spucken.
Nun gab es für den Oegwin aber keinen Platz auf Cinhyal, denn die Welt war bereits vollkommen und besiedelt. Die Götter mochten den Frieden ihrer Kindesvölker nicht stören, indem sie etwas großes erschufen, und pflanzten deswegen einen kleinen Samen im Herzen von Cinhyal ein. Der Samen verbreitete sich unterirdisch und schuf viele Tausende seiner Art, die schlafend unter der Erde lagen. Der Oegwin betrat diesen Platz durch einen Zufall ein paar Jahre später, nachdem er überall gewandert war. Und sofort brach die Erde auf. Heraus kamen Bäume, große, schlanke Bäume, mit Baumstämmen schwarz wie die Nacht und Blättern hart wie Stahl. Viele solcher Bäume wuchsen in einer Nacht aus dem Boden und plötzlich war ein Wald entstanden, ein Wald, nur für den Oegwin und seine Nachkommen.
Eine Weile lebte der Oegwin also im Wald, den er Celine nannte, das bedeutet Ewigschön. Er zeugte viele Kinder und zusammen fingen sie an, Siedlungen zu bauen, die sich der Oegwin bei seinen Wanderungen abgeguckt hatte. Aber bald stellten sie fest, dass sie nicht auf der Erde leben konnten, denn dazu waren sie nicht geschaffen. Viele wurden krank davon und starben. Deswegen beschloss der Vateroegwin, es anderen Kreaturen der Götter nachzutun, den Spinnen, und in den Bäumen zu leben. Sie bauten also Netze, wie die fleißigen Spinnen, aber aus Lianen, damit die ihr Gewicht hielten. Binnen kurzem erstreckten sich ihre Netze, Quergänge und Lianenbauten quer durch ganz Celine.
Da war es eigentlich für diese Rasse vorgesehen in Ruhe und Frieden zu leben. Aber die Götter hatten zu lange bei der Entstehung von Celine gezögert und den Oegwin viel zu lange wandern lassen, denn nun erinnerte er sich voller Neid an die anderen Völker, die am Meer und an den Bergen lebten und schöne Dinge herzustellen vermochten. Sein Neid steckte sein gesamtes Volk an und so begannen die Oegwin, Pläne zu schmieden, wie sie Cinhyal für sich bekommen konnten. Jedoch erfuhren die Götter von ihrem Vorhaben und wurden traurig. Denn obwohl sie all ihre Kinder aufrichtig liebten, konnten sie es nicht zulassen, dass die Oegwin die anderen aus dem Götterland vertrieben. Aber ebenso wenig konnten sie es über sich bringen, die Oegwin zu töten. Deswegen beschlossen sie, Ewigschön dem Zeitfluss zu entnehmen, so dass der Wald und die Oegwin weder tot noch lebend blieben, so lange, bis ihr geplanter Verrat wieder gut gemacht wurde. Irgendwie erfuhren die Oegwin allerdings von diesem Plan und flüchteten gerade noch rechtzeitig, so dass die Götter nur den Celine mit ihrem Bann trafen. Da sagten die Götter, dass dies Bestrafung genug war; denn nun hatten die Oegwin kein Zuhause mehr und mussten wurzellos in der Welt umherirren. Und so blieb es dann die ganzen Jahrhunderte lang, die ganze Zeit über, bis zum heutigen Tage." Dajana verstummte. Die Stille wurde während ihrer Erzählung noch unangenehmer und tiefer, aber nachdem sie geendet hatte, erreichte sie eine neue Ebene des Schweigens und wurde fast greifbar, ein toter, kalter Umhang aus Lautlosigkeit. Nicht gleich wagte es jemand von ihnen diesen Umhang zu zerreißen. Als es einer doch noch tat, war Gaya nicht überrascht darüber, wer es war.
"Du kannst gut erzählen, Dajana. Noch ein verborgenes Talent?", fragte Julian und seine Stimme zerschnitt die Stille. Plötzlich konnten sie alle aufatmen. Dajana lächelte verlegen.
"Ich weiß gar nicht, was in mich gefahren ist. Es ist nicht meine Art, einfach irgendwelche haarsträubenden Legenden von mir zu geben, das könnt ihr mir glauben! Eigentlich wusste ich gar nicht, dass ich diese Geschichte kenne...", sagte sie grüblerisch.
"Ich kenne sie; in genau denselben Worten ist sie niedergeschrieben worden", ließ Cycil vernehmen und sah Dajana erstaunt an, zum ersten Mal seit sie sich kannten ohne jegliche Scheu. "Das ist wirklich bemerkenswert..." Sie wand sich unbehaglich unter seinem Blick.
"Ich weiß nicht, woher ich sie kenne. Wahrscheinlich hat man im Gaul darüber gesungen und ich habe etwas aufgeschnappt ohne es zu merken."
"Es gibt keine Lieder über die Entstehung von den Oegwin", widersprach er, anscheinend ohne zu bemerken, wie unangenehm ihr das Thema war. Gaya wunderte sich insgeheim über ihn, der sich so blitzschnell verändern konnte, und wollte dazwischen kommen, aber Johannes war schneller.
"Das ist jetzt unwichtig. Gehen wir weiter; in drei Stunden machen wir eine richtige Rast."
Die drei Stunden schleppten sich dahin wie das dreifache dieser Zeit. Die Lianen wurden immer dichter und obwohl es unmöglich war, hätte Gaya schwören können, dass sie hinter ihnen wieder zusammenwuchsen und ihren Weg versperrten. Sie konnte nicht abschätzen, wie spät es war, aber das Licht hatte einen dunkleren Ton angenommen, als sie die angekündigte Pause machten. Keiner von ihnen war zu mehr fähig als schweigend das Essen zu kauen und sich todmüde zurückzulehnen. Es dauerte eine lange Zeit bis sie wieder in der Lage waren vorwärts zu kommen.

"Der Wald lichtet sich", bemerkte Julian fast sofort. Johannes sah ihn skeptisch an und setzte den Weg fort, aber bald gab es keine Zweifel über die Wahrheit dieser Behauptung. Die Bäume wurden immer weniger und wuchsen unregelmäßiger. Zwar war da immer noch keine Spur von Unterholz, aber das Gras wurde höher und nahm an Kraft zu. Sie durchquerten einige kleine Grasflächen, die sehr einladend wirkten, weil die Sonne endlich nicht mehr durch das Blätterdach ausgesperrt wurde und dünne Strahlen sogar bis zum Boden drangen. Das hob sogleich die Laune der Wanderer und sie kamen relativ zügig voran, aber die Dämmerung war nicht mehr weit, und Johannes verkündete, dass sie bei der nächsten größeren Lichtung ihr Nachtlager aufschlagen würden. Gaya sehnte sich mit ihrem ganzen Herzen nach einem Platz zum Hinfallen und einem langen Schlaf. Ihre Gelenke taten zwar nicht weh, aber sie ahnte bereits, dass sich das morgen drastisch ändern würde. Darauf freute sie sich nicht gerade.
"Da ist ein See!", rief Cycil plötzlich. Und tatsächlich taten sich die Bäume vor ihnen auf und gaben eine große, lichtdurchflossene Lichtung frei, in deren Mitte ein runder, blauer See glänzte.
"Wasser!", rief Dajana begeistert. "Juhu, jetzt brauche ich nicht mehr wie ein schmutziger Waldzwerg herumzulaufen!"
"Warte es mal ab. Im Celine kann alles gefährlich werden", warnte Johannes, aber sie hörte ihm nicht mehr zu.
"Also, ich gehe jetzt baden! Gaya, kommst du mit?"
"Klar! Ihr Jungs könnt auf der anderen Lichtung auf uns warten", sagte Gaya.
"Hey, wieso seid ihr zuerst?", fragte Julian und tat beleidigt. Gaya lachte auf.
"Weil wir Damen sind - nicht, Dajana?"
"Genau. Und Damen muss man den Vortritt lassen."
"Ihr beiden seid doch keine Damen!", widersprach Julian, ebenfalls lachend.
"Ach, willst du den Titel etwa für dich beanspruchen?", fragte Dajana und hob die Augenbrauen.
"Unbedingt!", erwiderte er. Johannes schüttelte den Kopf ob diesem Unsinn, aber auch auf sein Gesicht schlich sich ein Lächeln.
"Julian, bei solchen Damen hast du keine Chance auf Gerechtigkeit", meinte er. "Gehen wir lieber und schlagen das Lager auf. Es wird bald dunkel."
"Der praktisch denkende Kopf unserer Gruppe. Was soll man bei solchen erschlagenden Argumenten schon sagen? Gehen wir alsdann. Und dass ihr beiden euch ja beeilt!"
"Wir versuchen’s!", versprach Dajana. Dann, als die drei zwischen den Bäumen verschwunden waren, sagte sie zu Gaya: "Oder auch nicht."
"Sei doch nicht so grausam! Ein Bad ist doch eine herrliche Aussicht."
"Deswegen will ich sie auch lange genießen", entgegnete sie und lief dann auf den See zu. Er war wirklich ziemlich klein, aber sein Wasser war so klar, dass man bis auf den sandigen Grund sehen konnte. Er war auch nicht besonders tief, aber es musste genügen. Dajana zog im Nu ihre Stiefel aus und probierte mit einer Fußspitze das Wasser.
"Uh, warm!" Also flogen das Hemd und die Hose ebenfalls auf das Gras. Bevor Gaya es sich versehen konnte, war das Mädchen bereits dabei, in das Wasser hineinzugehen, bekleidet mit nichts als ihren losgelösten Haaren.
"Dajana, warte doch mal!" Gaya hätte mit demselben Erfolg einem Stein zurufen können. Sie seufzte und begann sich ebenso auszuziehen. Wenn uns jetzt jemand angreifen würde... Sie musste schmunzeln. Was hätten sie denn anders tun sollen - die anderen als Wachposten aufstellen?
Das Wasser war wirklich herrlich warm und prickelte auf der Haut. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, abwechselnd baden zu gehen. Na ja, jetzt ist eh nichts mehr dran zu ändern. Machen wir also das beste daraus. Etwas planschte laut. Dajana war untergetaucht und schwamm jetzt flink am Seeboden entlang. Gaya schüttelte belustigt den Kopf und fing dann an ihre Haare auszuspülen. Anscheinend hat sie keine Probleme wegen der Verletzung...

Nachdem sie alle ein erfrischendes Bad genommen hatten, stieg die Stimmung beträchtlich. Nicht mehr so verschwitzt, war auch Dajana gleich guter Laune. Sie beschwerte sich sogar nicht übers Essen, obwohl das Fleisch zäh und nicht ganz durch war. Es hätte schlimmer kommen können, dachte Gaya. Wir kommen eigentlich ganz gut voran und sind noch auf keinen ernsthaften Widerstand gestoßen. Es könnte schlimmer sein. Sie hoffte nur, diese Nacht nicht wieder von Visionen heimgesucht zu werden. Zwar waren sie ein Zeichen der Göttin, aber doch ziemlich anstrengend.
"Wir halten abwechselnd Wache", sagte Julian, nachdem sie gegessen hatten. "Die erste übernimmt Cycil, die zweite ich, die dritte Gaya, die vierte Johannes und die letzte Dajana." Er holte aus seiner Tasche ein merkwürdiges Gerät heraus. Es sah aus wie eine Sanduhr, mit Eisenkügelchen drinnen und einem runden Ziffernblatt oben drauf. Er drehte das Ziffernblatt ein wenig, so dass die Zahl 5 nach Norden wies. "Das ist ein Zeitabstandsmesser", erklärte er. Eine Kugel fiel mit einem leisen Klang in die untere Abteilung. "Er teilt die Zeit in fünf gleiche Abstände und wenn einer davon vergangen ist, fällt die nächste Kugel runter. So erfährt man, wann die eine Wache zu Ende ist und die andere anfängt."
"Wo hast du das Ding denn her?", erkundigte sich Gaya. So etwas hatte sie noch nie zuvor gesehen.
"Habe ich in N’hoa gekauft. War nicht billig, kann ich nur sagen!" Johannes sah sich das Gerät skeptisch an.
"Das ist eine ziemliche niedrige Qualität. So ein Ding hält nur ein paar Wochen durch, dann zerbricht es unter dem Zauber. Hätte ich gewusst, dass wir so ein Gerät brauchen, hätte ich meines nicht Danaill überlassen."
"Dieses hier kommt aus Raven!", sagte Julian.
"Sicher doch", erwiderte der Magier sarkastisch. "Das ist eine billige Nachahmung. Wahrscheinlich in Beneth oder in Sheson gemacht."
"Na und? Hauptsache es wird seinen Zweck erfüllen."
"Genau. Und jetzt geht endlich schlafen", sagte Cycil bestimmt, aber gedämpft. Dajana hatte sich bereits vor dem Feuer zusammengerollt und schlief. Sie schnarchte leise.
Gaya breitete ihren Umhang auf der Erde aus und versuchte in eine bequeme Schlafposition zu rutschen, in der ihr keine Steine in die Rippen stachen. Aber sie schlief ein, noch bevor sie dieses Ziel erreichte.

Julian weckte sie in der tiefsten Nacht. Sie gähnte, stand aber nichtsdestotrotz gehorsam auf und setzte sich ans verlöschende Feuer. Es war so still, dass man sich einbilden konnte allein auf einer abgelegenen Insel zu sitzen, während der Ozean drum herum eingefroren war. Das friedliche Schweigen des Waldes lullte sie ein und sie wäre beinahe eingedöst.
Eine Druidin schläft nicht auf der Wache ein!, erinnerte sie sich und setzte sich gerader hin. Sie stocherte mit ihrem Stab ein bisschen in der Glut und streckte sich. Im schimmernden Licht des Smaragds entdeckte sie Einkerbungen in einem flachen Stein zu ihren Füßen. Als sie es sich genauer ansah, erwiesen sich die Einschnitte als grob eingeritzte Buchstaben.

Dajana

Gaya lächelte und warf den Stein weit in den Wald hinein.
Sie sah zum Himmel auf, der größtenteils wolkenfrei und mit hellen Sternen bedeckt war. Sie kannte alle Sternenbilder, obwohl sie von hier aus etwas anders aussahen als von der Druideninsel.
"Die kleine Katze", murmelte sie zu einer kleinen Gruppe von Sternen, die halb hinter den Bäumen verschwand. Die große Katze ging erst im Herbst auf, aber in diesem Sternbild gab es den hellsten Stern am Himmel, den Alkadon. Viele Zauberbanne wurden dann ausgesprochen, wenn der rote Alkadon hoch am Himmel stand.
"Die Furie." Ein Sternenbild, das immer neidisch zu seiner Nachbarin herüberschielte, der blauen Schlange.
"Die drei Schwestern." Ein Zirkel als Zeichen für die Macht, die aus innerer Liebe entstand. 
"Die Rose." Auch vier Sterne der Liebe, wenn auch anderer Art.
"Das Einhorn des Südens."
"Die Jägerin." Das war das Sternbild der Druiden, das Sternbild der Großen Göttin, das in jeder Jahreszeit am Himmel erstrahlte. Der Kopfstern davon glühte grün.
"Bleibst du mir treu oder den Göttern?"
Gaya sah lange zu den Sternen auf, in denen angeblich die Schicksäle aller Menschen und der ganzen Welt eingesponnen waren, und fragte sich, was für einer Zukunft sie selbst wohl entgegen strebte. 

"Gaya?" Sie drehte den Kopf überrascht um und sah Johannes aufstehen. Sie warf einen Blick auf den Zeitabstandmesser, aber die vierte Kugel war noch nicht heruntergefallen.
"Was ist los? Deine Schicht ist noch nicht angebrochen." Er zuckte mit den Schultern und setzte sich zu ihr an die Feuerstelle, die nur noch aus Asche und schwelender Glut bestand.
"Ich konnte keinen Schlaf finden. Geh du schlafen, ich kann genauso gut jetzt mit der Wache anfangen."
"Du hast doch selbst gesagt wir müssen gut ausschlafen. Wie willst du morgen weitergehen, wenn du auch noch meine Wache übernimmst?"
"Ich würde genauso wenig schlafen, wenn ich mich hinlegen würde."
"Wieso?"
"Schlechte Erinnerungen." Sie erinnerte sich, dass er das gleiche gesagt hatte, als sie den Wald betreten hatten.
"Erzählst du mir davon?", fragte sie, bevor sie nachgedacht hatte. Sofort bereute sie es und schalt sich einen Volltrottel. Es war nur zu offensichtlich, dass er nicht darüber reden wollte.
"Ein anderes mal", antwortete er. Wegen der Dunkelheit konnte sie sein Gesicht nicht sehen und seine Stimme war völlig ausdruckslos. "Geh jetzt schlafen, Gaya. Morgen wird ein anstrengender Tag." Sie stand auf und klopfte ihre Hose ab. Johannes rückte näher an die Feuerstelle heran, wie um sich 
daran zu wärmen. Gaya zögerte noch.
"Johannes?"
"Hmm?"
"Tut mir leid, dass ich gefragt habe."
"Macht nichts."
"Wirklich nicht?"
"Nein." Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter und flüsterte ihm ins Ohr:
"Die Vergangenheit ist vergangen. Lass dich nicht von ihr fertig machen." Sie sah es zwar nicht, aber sie spürte, dass er wieder sein schiefes Lächeln aufgesetzt hatte.
"So schlimm ist es nun wieder auch nicht. Gute Nacht, Gaya."
"Gute Nacht." Sie legte sich wieder hin und nickte ein. Das letzte, was sie vor dem Einschlafen sah, waren aufzüngelnde Flammen.

Der nächste Morgen wurde feucht und kalt. Der Wind roch nach Regen und am Himmel stauten sich die dunklen Wolken, aber noch hatte es nicht geregnet. Deswegen beschlossen die Fünf ohne Pause zu gehen, um eine so lange Strecke wie möglich hinter sich zu bringen, bevor das Unwetter über sie hereinbrach.
Der Celine wurde wieder dichter, nachdem sie sich vom See entfernten, und es wurde immer schwieriger, sich durch die Bäume und Lianen zu schlagen. Außerdem verwandelte sich der Boden nach und nach in sumpfiges Gelände und erschwerte zusätzlich das Gehen.
"Verdammt! Bei jedem Schritt sinke ich ein!", knurrte Julian und zog seinen Fuß mit einem schmatzenden Laut aus einer Schlammpfütze. "Ist das ein Wald oder ein Moor?!"
"Im Westen geht der Celine in das Chetas-Moor über", erklärte Cycil - mit zusammengebissenen Zähnen, weil er gerade versuchte sein Schwert aus einer besonders fetten Liane zu ziehen.
"Wenn das so ist, dann sollten wir weiter nach Nordosten gehen!", sagte Dajana und sprang zurück, als Cycils Schwert sich endlich von der Schlingpflanze löste und seine Hand mit nach hinten riss. "Pass doch auf, Cycil!"
"Entschuldigung." Er betrachtete stirnrunzelnd die Liane und sein Schwert. "Johannes, könntest du mir mit diesem kräftigen Exemplar einer Liane weiterhelfen?"
"Natürlich. Geh beiseite." Der Magier streckte seine Hand aus und von seinen Fingerspitzen sprang ein Funke auf die Pflanze über, die daraufhin unnatürlich schnell zu feiner Asche verbrannte. 
"Kein Wunder, dass die Feuermagie so beliebt ist", bemerkte Cycil, als sie weitergingen. "Sie ist außerordentlich nützlich." Johannes lachte.
"Wenn du wüsstest wie schwer es ist sie zu erlernen!"
"Na ja, mir reicht die Wassermagie vollkommen", versicherte Cycil. "Ich habe genug Schreckensgeschichten von denen gehört, die an der Feuermagie gescheitert sind! Du bist da eher die Ausnahme."
"Ich weiß. Das kommt daher, dass ich von Geburt an eine Veranlagung für das Element Feuer habe. Die meisten versuchen es zu erlernen und scheitern daran."
"Willst du damit sagen, dass alle, denen das Feuerelement angeboren ist, Feuerzauberer werden?"
"Nein. Aber für die ist es leichter. Ich sage dir mal was – drei Viertel derjenigen, die mit dem Feuer im Blut geboren werden, sterben, wenn sie versuchen es zu meistern. Aber von denen, die es sich aneignen wollen, überlebt einer von Hundert."
"Wovon hängt es denn ab, ob man es schafft oder nicht?"
"Vom eigenen Charakter erst mal. Wenn jemand zum Beispiel zu ungeduldig ist, kann man es gleich vergessen. Oder zu eingebildet. Ich kannte mal einen, der ist in Flammen aufgegangen, als er zwei Mädchen imponieren wollte! Ich kann mir gut vorstellen, dass ihnen sein verkohlter Leichnam nicht besonders gefiel." Johannes ließ eine erneute Ranke verbrennen und dachte nach. "Es hat auch etwas mit der Art zu tun, wie man es lernt. Von Büchern zu lernen ist eine schlechte Methode. Die erfolgreichste ist wahrscheinlich, sich einen erfahrenen Feuerzauberer als Lehrer zu nehmen. Na ja, letztendlich ist das wohl Glückssache. Wenn die Götter es wollen, wird man Feuermagier, wenn nicht, wird man Asche."
"Auch eine Erklärung", stimmte Cycil zu. Gaya, die den Abschluss der Reihe bildete, stolperte und 
prallte gegen Dajana vor ihr. Das Mädchen konnte sich nicht auf den Beinen halten und stürzte. Im Fallen riss sie Julian mit sich. Schnell fanden sich alle Drei auf dem Boden wieder, fluchend, und die Kleidung und alles andere mit Matsch verschmiert.
"Bei den abgerissenen Fingernägeln von... Gibt es keinen besseren Weg?", fragte Julian und versuchte hoch zu kommen. Aber er rutschte nur aus und fiel wieder hin. Johannes und Cycil sahen amüsiert zu, wie sie kläglich versuchten aufzustehen, bis Johannes sich ihrer erbarmte und ihnen mit seinem Speer aus der Klemme half. 
"Wir gehen schon so weit nach Osten wie möglich", sagte Johannes, als endlich wieder alle auf den Beinen standen. "Ich weiß auch nicht, wieso das Gelände so lange schlammig bleibt."
"Wenn es auch noch anfängt zu regnen...", sagte Gaya und sah zum Himmel auf, obwohl man ihn durch das dichte Blätterdach sowieso nicht sehen konnte.
"Dringt das Wasser überhaupt bis zum Boden durch? Ich habe da meine Zweifel", äußerte Dajana und betrachtete traurig ihre ruinierten Stiefel, die fast gar nicht mehr unter der Schlammschicht zu erkennen waren.
"Es muss. Wie sonst würde hier so etwas entstehen können?", meinte Julian.
"Kann es nicht doch noch sein, dass wir vom Kurs abgekommen sind und in Richtung Moor gehen?", fragte Dajana kläglich. 
"Nein, tut mir leid, Dajana", antwortete Johannes. Sie seufzte und zwirbelte an einer verklebten Haarsträhne.
"All den Schlamm werde ich nie aus meinen Haaren kriegen!", beklagte sie sich. Gaya klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter.
"Da wirst du nicht die einzige sein."
"Was bleibt uns anderes übrig als weiterhin gen Nordosten zu gehen?", fragte Cycil.
"Gar nichts, wenn wir uns nicht verirren wollen", erwiderte Johannes. Und so zogen sie weiter.

Ein atmosphärischer Druck hatte sich während der letzten Stunden aufgebaut und die Luft knisterte vor Spannung, sogar in diesem toten Wald. Die Welt verharrte regungslos in Erwartung des Sturms, der unweigerlich losbrechen würde. Durch die kurzen Einblicke in den Himmel sahen sie, dass er sich jetzt ganz verdüstert hatte und sich die Wolken wie riesige Steine über ihnen auftürmten, jederzeit bereit, sie zu zermalmen.
Gaya spürte den Druck wie eine dunkle Bedrohung über sich. Sie war plötzlich sehr froh darüber, nicht den direkten Himmel über sich zu haben, sondern ein schützendes Blätterdach. Das milderte etwas das Gefühl in Gefahr zu sein. Aber trotzdem fühlte sich Gaya wie ein Käfer kurz bevor der Schuh ihn zerquetschte.
"Kann der Sturm nicht endlich hereinbrechen? Dieses angespannte Warten macht mich ganz kribbelig!", sagte Dajana und stampfte auf der Stelle, wie ein nervöses Pferd.
"Mir geht’s nicht besser", erwiderte Cycil. "Es sind so große Wassermassen über uns... Das zerrt regelrecht an mir." Er strich sich durch die Haare und schlang die Arme um sich als würde er frieren. 
"Gehen wir weiter oder schlagen wir hier das Lager auf?", fragte Julian.
"Das ist auch so geeignet als Lagerplatz!", entgegnete Dajana sarkastisch.
"Es ist nicht weniger geeignet als alles andere", meinte der Ritter. "Schlamm bleibt überall Schlamm, ob hier oder zehn Meter weiter."
"Das entbehrt nicht einer gewissen Logik", bemerkte Cycil und sah wieder nach oben. Gaya machte sich Sorgen um ihn.
"Ich weiß nicht einmal, was für eine Tageszeit es ist!", sagte Julian verärgert. "Es könnte genauso gut noch Mittag sein oder schon Abend!" Er hatte Recht. Es war bereits sehr dunkel, aber das konnte auch lediglich an den dichten Wolken liegen.
"Stimmen wir doch einfach ab", schlug Gaya vor. "Also – wer fürs Weitergehen ist, hebt jetzt die Hand." Johannes und Dajana hoben die Hände. "Gut, dann bleiben wir hier. Versuchen wir das Beste daraus zu machen, Leute! Also was mich angeht, bin ich zum Umfallen müde und es ist mir völlig egal, wo wir uns hinlegen, Hauptsache ich bin in der Lage mich auszuruhen!"
"Das geht mir genauso, aber es ist so kalt! Ich hätte nichts gegen ein winziges Feuer", sagte Dajana und sah Johannes flehend an.
"Tut mir leid, das Feuer können wir vergessen. Ich hätte zwar auch nichts gegen etwas Wärme, aber die Luft ist zu feucht, um ein Feuer auch nur zu entzünden." Dajana knurrte.
"Warum musstet ihr mich auch aus meiner schönen, trockenen Stadt schleppen?"
"Es war deine Schuld", erinnerte sie Gaya. "Du hättest nicht unbedingt stehlen müssen."
"Ich habe nicht gestohlen!", widersprach Dajana gereizt.
"Ja, du hast es nur versucht", sagte Gaya. Julian lachte und schlug Dajana kameradschaftlich auf die Schulter. Sie schrie auf vor Schmerz.
"Bist du verrückt? Das war die verletzte Schulter!", schrie sie ihn an.
"Ach ja, das habe ich ja beinah vergessen. Man merkt dir gar nicht an, dass sie verletzt ist."
"Willst du damit irgendetwas andeuten?", erkundigte sie sich misstrauisch.
"Nein, nichts", beeilte er sich zu sagen, aber Dajana sah nicht überzeugt aus.
Da sie nicht viel aufzubauen hatten, ließen sie sich einfach nieder und machten es sich so gut es ging bequem. Gaya wickelte sich in ihren Umhang und lehnte sich gegen einen Baumstamm. Noch durch den Stoff hindurch spürte sie die raue Rinde. Nichts konnte die Feuchtigkeit aufhalten, die in all ihre Glieder gekrochen war und sich durch nichts vertreiben ließ. Ein heißes Feuer wäre jetzt wirklich nicht schlecht, dachte sie sehnsüchtig und erinnerte sich an die Worte von Aar, des alten Druidenmeisters.
"Wenn ihr diese Insel verlasst und durch Cinhyal zieht, werdet ihr feststellen, dass sich nirgendwo Ruhe und Frieden finden lassen. Ihr werdet auf vieles verzichten müssen und das einzige Hab und Gut, was ihr immer bei euch haben könnt, werden euer Stab und euer Glaube sein. Unbequemlichkeiten und Anstrengungen werden eure ständigen Begleiter sein und mit euch ziehen. Doch wenn ihr euch nach Annehmlichkeiten und Zivilisation zurücksehnt, denkt daran, was der große König Haldoneus vor langer Zeit einmal gesagt hat..."
"Ein Krieger wird an dem gemessen, was er für seinen Glauben aushält", flüsterte Gaya.
"Was hast du gesagt, Gaya?", fragte Dajana schläfrig, die sich neben ihr in eine Decke gekuschelt hatte.
"Nichts. Schlaf weiter."
"Ich habe gar nicht geschlafen!", protestierte sie.
"Nein, überhaupt nicht. Schlaf weiter." Dajana murmelte noch etwas, dann wurden ihre Atemzüge regelmäßiger und tiefer. Gaya zog ihre Knie heran, legte den Kopf darauf und versuchte es dem Mädchen gleich zu tun.
Johannes schlief nicht wie seine Begleiter. Er säuberte sorgfältig seinen Speer und war gleichzeitig mit seinen Gedanken ganz woanders, obwohl das niemand bemerkt hätte. Die Dunkelheit war so dicht, dass er nichts sah, außer dem Widerschein der Blitze, die am Himmel zuckten. Der Donner krachte so laut, als ob zwei gigantische Schilde aufeinander stoßen würden. Doch all das registrierte er nur nebenbei, während er darüber nachdachte, was er tun sollte.
Ihm war ebenso klar wie Cycil, dass dieser Plan Wahnsinn war. Eigentlich hätte er nicht einmal einwilligen sollen, die Vier durch den Wald zu begleiten, denn er hatte vorgehabt, noch länger in N’hoa zu bleiben und die Hexer im Auge zu behalten. Aber das Ganze war ihm interessant erschienen und irgendwie abwechslungsreich. Er war nicht oft mit Menschen zusammen. Doch was sollte er tun, wenn sie in Sunaj angekommen waren?
Dieser Plan war Wahnsinn, daran gab es nichts zu rütteln. Wieso zögerte er aber noch?
Als Antwort darauf kamen ihm zwei Dinge in den Sinn: als erstes, dass er sie alle mochte. Irgendwie hatten sie es mit ihren so verschiedenen Charakteren geschafft, dass er sie als Freunde sah. Was auch immer das hieß. Als zweites erinnerte er sich an etwas.
"Die Vergangenheit ist vergangen. Lass dich nicht von ihr fertig machen."
Und darüber dachte er länger nach, als über das eigentliche Thema zuvor.

"Aufwachen!", rief jemand munter. Gaya murrte, wälzte sich herum und öffnete die Augen. Johannes stand vor ihr, mit einem glänzenden Speer und einer nicht minder glänzenden Laune, wie es schien. 
"Ist es schon morgen?", murmelte sie und gähnte.
"Ja. Der Sturm ist vorüber gezogen, wir können aufbrechen. Es kann nicht mehr weit sein."
"Ich bin schon auf."
"Das ist gut!" Er ging weiter. Sie gähnte wieder und richtete sich dann auf. Ihr Körper schmerzte von der unbequemen Lage, in der sie die Nacht verbracht hatte, und ihre Finger waren ganz klamm. Sie rieb sich die Augen und zwinkerte mehrmals, um endgültig wach zu werden.
Julian und Dajana waren bereits auf den Beinen, noch reichlich verschlafen, aber schon packten sie ihre Sachen. Cycil lag noch immer da, zu einer embryonalen Kugel zusammengerollt und bewegungslos. 
"Cycil? Geht es dir gut?", fragte Johannes und ging neben ihm in die Hocke. "Cycil?" Er rüttelte an seiner Schulter, aber von Cycil gab es keine Reaktion. Dajana kam Gaya zuvor und gesellte sich zu Johannes.
"Cycil! Wach auf!", rief sie. Cycils Lider flatterten und er sah verwirrt in ihre besorgten Gesichter.
"Was ist los? Schon Zeit aufzustehen?" Dajana verdrehte die Augen und stand auf.
"Du musst auch immer so ein Theater machen, Cycil!" Sie drehte sich stolz um und ging weiter ihre Sachen packen. Cycil sah ihr verständnislos hinterher.
"He?" Johannes schüttelte den Kopf und gab ihm einen Klaps auf die Schulter.
"Nichts, Mann. Komm hoch, wir brechen gleich auf."
Sie frühstückten mit dem Restfleisch von gestern, dann untersuchte Cycil noch rasch ihre Wunden und anschließend gingen sie zügig vorwärts. Anscheinend hatten sie doch noch die richtige Richtung eingeschlagen, denn der Boden wurde nach und nach fester. Sie ließen das schlammige Gebiet hinter sich und da dies der dritte Tag ihrer Wanderung war, hofften sie, am heutigen Abend in Sunaj anzukommen. Gaya brachte dem gemischte Gefühle entgegen. Sie war nicht besonders von der Aussicht begeistert, ihre Eltern in der Stadt zu treffen und sich erneut ihre Vorwürfe anhören zu müssen. 
"Was machst du denn nur, Mädchen, treibst dich in der Welt herum wie eine heimatlose Dirne, während alle anderen Frauen schon längst verheiratet sind und ihrem Elternhaus große Freude machen! Das sind anständige Frauen, nicht so wie du! Guck dir doch deine Cousine Edna an, die ist seit dreizehn Jahren verheiratet, führt einen ordentlichen Haushalt, hat schon zwei Kinder und macht ihre Eltern stolz! Wir werden wohl nie stolz auf dich sein können, nicht wahr? Aber das war ja schon immer vorauszusehen gewesen, du warst schon als Kind so ein stures Dummchen und wir haben immer gesagt aus der wird nichts, die hat ja eh nur Flausen im Kopf..."
Und so weiter, et cetera.
Das größte Unglück ihrer Eltern war, dass Gaya ihre einzige Tochter war. Gaya hatte das auch immer bereut, denn sonst wäre die Aufmerksamkeit ihrer Eltern nicht nur auf sie selbst gelenkt worden. Dann hätten sie jetzt ihr Tochter-Püppchen und könnten vor den Nachbarn damit angeben, wie viele Kinder sie irgendeinem hirnlosen Ehemann geboren hatte. Aber nein, sie hatten ja nur Gaya, die ihnen natürlich nur Schande bereitete.
Ich treibe mich nicht in der Welt herum wie eine heimatlose Dirne! dachte Gaya wütend. Und es geht euch überhaupt nichts an, was ich aus mir mache! Heiraten, pah, dass ich nicht lache! An irgend so einen Trottel verschachert zu werden, um ihm zahllose Kinder zu gebären und damit zufrieden zu sein, für den Rest meines Lebens für diesen Trottel zu sorgen? Nein, danke! Ich habe besseres zu tun!
Sie strich mit den Fingern über den kühlen Smaragd. Das war ihre richtige Familie, das war ihre Welt. Das war ihre wahre Bestimmung, der Großen Göttin ihr ganzes Leben lang zu dienen. Dafür war sie geboren worden.
Ihre Gedanken wurden jäh unterbrochen. Julian und Dajana, die vorne gingen, blieben abrupt stehen.
"Was ist los?", fragte Gaya alarmiert. Sie bildete den Anschluss und konnte deswegen nichts sehen. 
"Eine weitere Lichtung, ziemlich klein", antwortete Julian verwundert. "Aber in ihrer Mitte steht ein Stein in dem etwas drin steckt."
"Etwas?"
"Könnte ein Schwert oder ein Dolch sein."
"Wieso bleiben wir dann stehen?", wollte Cycil wissen.
"Weil es eine Falle sein kann", entgegnete Johannes und hielt seinen Speer abwehrbereit. "Wir sollten nicht voreilig... Dajana, bleib stehen!" Anscheinend hatte Dajana keine Lust mehr gehabt abzuwarten und der Begriff ‚Falle’ war ihr wohl auch unbekannt.
"Ich und Cycil gehen zu ihr, Johannes und Gaya, ihr gebt Rückendeckung", wies Julian sie an und folgte der Bogenschützin. Als auch Cycil die Lichtung betrat, konnte Gaya endlich etwas sehen. Es war tatsächlich ein sehr kleiner Zwischenraum zwischen den Baumstämmen, den man mit fünf Schritten durchqueren konnte. Und in der Mitte erhob sich ein moosbewachsener, schwarzer Felsen, auf dessen Kuppe ein verdreckter Griff rausragte. Dajana hatte entschlossen begonnen, den Felsen zu erklimmen. Julian sah ihr verärgert nach, während Cycil nach möglichen Feinden Ausschau hielt. 
"Dajana, was fällt dir ein?", rief der Ritter. "Bist du verrückt geworden?"
"Nein. Aber ich will wissen, was das ist", antwortete sie ohne sich umzusehen.
"Es ist gefährlich, einfach so vorzupreschen, ohne sich zu vergewissern, dass kein Hinterhalt vorliegt..."
"Spar dir die Moralpredigt! Wir sind zu weit am Rande des Waldes für einen Hinterhalt! Von hier aus kann ich schon die Zinnen der Stadt sehen... Ich bin gleich da..."
"Es ist egal, ob wir zu weit am Rande sind oder nicht! Wie sollen wir später gut miteinander zusammenarbeiten, wenn du solchen Unsinn machst?" Er brach ab, denn er sah wohl ein, dass er genauso gut zum Felsen hätte sprechen können. Mit finsterem Gesichtsausdruck sah er zu, wie Dajana vorsichtig weiter emporstieg. Cycil schloss sich ihm an, aber er sah nicht sauer, sondern nur besorgt aus. Gaya verspürte ebenfalls ein mulmiges Gefühl. Auf nassem Moos konnte man so leicht ausrutschen... Aber Dajana machte das alles nichts aus. Sie kam sehr schnell voran. Es dauerte nicht lange und sie hatte den schmutzigen Griff erreicht. Triumphierend zog sie daran. Was sie herauszog, sahen sie nicht, aber es war zu klein für ein Schwert. Dajana machte Anstalten wieder herunterzuklettern, doch dann bückte sie sich und hob noch etwas vom Felsen auf. Einen Stein? Als sie sich zu ihnen umdrehte, strahlte sie übers ganze Gesicht.
"Es ist ein Dolch! Und stellt euch vor, er ist..." Bevor sie den Satz beenden konnte, rutschte sie aus. Sie schlug schwer auf dem harten Boden auf, aber da dies die Spitze des Felsens war, blieb es nicht dabei. Sie rutschte weiter auf dem nassen Moospolster und plötzlich war kein Stein mehr unter ihren Füßen, sondern nur noch Luft. Sie hatte nicht einmal mehr Zeit um aufzuschreien. Das ganze ging so schnell vonstatten, dass keiner von ihnen reagieren konnte. Dajana landete unsanft auf Julian und Cycil und riss sie zu Boden. Gaya verließ sofort ihren Platz am Waldrand.
"Ist alles in Ordnung mit euch? Seid ihr noch heil?", fragte sie erschrocken. Julian stöhnte und fasste sich an den Kopf. Dort hatten ihn Dajanas Stiefel getroffen.
"Du hättest mir fast den Schädel eingeschlagen!", beschwerte er sich bei dem Mädchen. Sie krabbelte von den beiden Männern runter und presste den Dolch dabei fest an ihren Körper. Blut tropfte von ihrer Kleidung auf das grüne Gras.
"Dajana, bist du verletzt?", fragte Julian und stand auf. Sie sah den roten Fleck erstaunt an und dann den Dolch mit der blutigen Spitze.
"Nein... Mir ist nichts passiert. Das ist nicht mein Blut." 
"Das ist wohl meins", sagte Cycil. Alle Blicke richteten sich auf ihn und auf seinen blutüberströmten linken Arm. Dajana starrte entsetzt auf den langen Schnitt daran. "Es ist nicht so schlimm wie es aussieht", versicherte er ihr schnell.
"Oh Gott! Das tut mir leid, Cycil, wirklich, ich wollte das nicht, es tut mir leid...", stammelte sie. Gaya kramte sofort nach Verbandszeug in ihrer Tasche.
"Beweg dich nicht. Du darfst nicht zuviel Blut verlieren", sagte sie und kniete neben ihm nieder. Sie goss Wasser in eine Schale und wischte die Wunde aus. Bei näherer Betrachtung erwies es sich als wirklich hässlicher und schmerzhafter Stich. Zum Glück hatte der Dolch die wichtigen Arterien am Handgelenk nicht durchschnitten, sonst wäre die Blutung nicht zu stillen gewesen. So verband Gaya rasch und sorgfältig die Wunde, wobei sie darauf achtete, die Bandagen sehr fest anzulegen. Cycil verzog zwar vor Schmerzen das Gesicht, aber er sagte nichts. Dajana beobachtete das ganze mit einem bleichen Gesicht und zitternden Lippen.
"Das dürfte halten, bis wir in Sunaj angekommen sind und fachmännische Hilfe bekommen können. Geht es einigermaßen?", fragte sie ihn.
"Ja. Es ist ohnehin nicht mehr weit zur Stadt." Cycil richtete sich vorsichtig auf. Die weißen Verbände färbten sich sofort dunkel, aber dagegen war nichts zu machen. "Du hast doch schon die Zinnen gesehen oder?"
"Ja, hab ich...", antwortete Dajana und schluckte schwer. "Das tut mir wirklich sehr leid, Cycil. Die Klinge muss zufällig deinen Arm geritzt haben..."
"Schon gut. Hauptsache dein Dolch steckt mir nicht in der Brust..."
"Zeig ihn mal her, Dajana", mischte sich Julian neugierig ein. Das Mädchen demonstrierte ihnen die Waffe. Der Griff war zwar fast schwarz vor Schmutz, aber die Klinge war erstaunlich sauber. Sie war ungewöhnlich lang für einen Dolch und halb durchsichtig. Im Sonnenlicht schimmerte sie dunkelgrün, aber sonst erwies sie sich als schwarz. Außerdem bestand sie nicht aus Stahl, wie die normalen Waffen, sondern aus...
"Obsidian. Das ist Obsidian", stellte Johannes fest. Das war erstaunlich – Obsidian gab es nicht auf dem Kontinent von Cinhyal, nur auf der zweiten Träneninsel Acippa. Deswegen waren solche Waffen äußerst selten. Was machte sie mitten im Celine, in einem Felsen?
"Und es ist mein Dolch!", verkündete Dajana, die sich rasch von dem Schock zu erholen schien. Sie wirkte fast schon wieder glücklich.
"Wie kommst du denn darauf?", fragte Julian. "Nur, weil du ihn rausgezogen hast, heißt das noch lange nicht, dass..."
"Es ist ein Geschenk für mich!"
"Ach ja? Von wem denn?", wollte Julian spöttisch wissen.
"Keine Ahnung. Von den Waldgeistern? Wer weiß. Aber es ist mein Geschenk!"
"Hmm, und wie kommst du darauf, dass es dein Geschenk ist?"
"Es steht darauf!", antwortete Dajana und hielt ihnen den Gegenstand entgegen, den sie auf dem Felsen aufgehoben hatte. Es war tatsächlich ein Stein. Als Gaya die Schriftzeichen darauf sah, erstarrte sie. Sie kannte sie. Es war der Stein mit Dajanas eingeritztem Namen, den sie vorgestern beim Feuer gefunden hatte. Sie blickte Cycil an, der den Stein auch sofort erkannte. Sein Gesicht färbte sich rot, aber keiner bemerkte es außer Gaya.
"Hier steht ja wohl nur Dajana und nicht für Dajana! Also beweist das allein gar nichts!", meinte Julian.
"Hier steht aber nirgendwo dein Name oder?", gab sie giftig zurück. "Also ist das für mich!"
"Quatsch! Es würde mich auch nicht wundern, wenn du das selbst eingeritzt hättest!"
"Das ist Quatsch! Wann hätte ich schon Gelegenheit dazu gehabt?" Gaya wusste nicht weiter. Sollte sie sagen, wer das eingeritzt hatte? Aber auch wenn sie es tat, blieb noch ungeklärt, wie der Stein hierher gelangt war. Gaya erinnerte sich noch genau daran, ihn in den Wald geworfen zu haben. Hatte ihn jemand zum Dolch gebracht, um ihn tatsächlich als Geschenk für Dajana zu kennzeichnen? Oder war der Stein irgendwie von selbst hergekommen, durch Wind oder so etwas, und alles war nur ein Zufall? Daran glaubte sie einfach nicht. Es ändert nichts, wenn ich es sage. Ich würde damit nur Cycil in Verlegenheit bringen. Die ganze Sache ist so oder so unerklärlich.
"Das hat doch eh keinen Sinn.", mischte sich Johannes in den Streit ein. "Dajana, du würdest den Dolch sowieso nie hergeben. Und du, Julian - wozu brauchst du den Dolch? Du kämpfst doch mit deinem Schwert!" Gaya warf ihm einen dankbaren Blick zu. Er war immer so vernünftig. Julian sah das auch ein und beschloss, den Streit mit Dajana auf eine spätere Zeit zu verschieben, wo weder Johannes noch Gaya anwesend sein würden, um ihn zu verhindern. Johannes war zufrieden als er sah, dass sie sich beruhigt hatten. "Gut. Jetzt, wo wir das geklärt haben, sollten wir endlich aus diesem verfluchten Wald raus. Ihr müsst auch noch die Nachricht ausliefern, schon vergessen?" Julian hat ihm also von der Botschaft erzählt. Gaya stellte wieder fest, wie sehr sie dem Feuermagier vertraute, denn bei jedem anderen hätte sie Einspruch erhoben.
"Es ist nur noch ein schmaler Streifen Wald zwischen uns und Sunaj", berichtete Dajana. "Ich habe die Burg gesehen – sie ist so schön! Die Türme, die Fenster, und alles glitzert so sehr..."
"Von nahem ist sie viel beeindruckender", versicherte ihr Gaya.
"Dann los! Ich muss sie mir ansehen!" Sie schob den Dolch in ihren Gürtel und den Stein in ihre Tasche. Cycil beobachtete das unglücklich, aber er konnte nichts unternehmen ohne sich zu verraten. So folgte er den anderen nach kurzem Zögern und versuchte dabei, seinen verletzten Arm nicht zu bewegen.
Der Waldstreifen war wirklich sehr schmal und es fiel ihnen leicht, sich da durch zu kämpfen. Schließlich lichteten sich die Bäume endgültig und machten einem weiten Grasland Platz.
Sie hatten den Celine endlich verlassen!
Und vor ihnen lag die Hauptstadt von Cinhyal.
 

© Martha Wilhelm
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Und schon geht's weiter zum 1. Teil des 4. Kapitels :-)

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