Der Weg einer Druidin von Martha Wilhelm
Kapitel 5: Blitze im Westen (1)

Der nächste Morgen kündigte einen strahlenden, hellen Tag an. Das sah man allein an dem hellen, blauen Himmel und der klaren Luft. Am Horizont tummelten sich zwar ein paar Wolken, aber sie zogen an der Stadt vorbei und brachten irgendwo anders Regen und Blitze.
Gaya schaute aus dem Fenster und genoss die Aussicht. Von Alays Palast aus konnte man fast die gesamte Stadt überblicken und auch das Schloss, wie es strahlend weiß im Sonnenlicht stand und seine Zinnen und Türme zum Himmel emporhob. Ich würde es gerne mal besichtigen, dachte sie und strich geistesabwesend ihre Haare zurück, die frisch gewaschen ihr Gesicht einrahmten und sich in alle Richtungen sträubten. Sie war froh, nicht mit den anderen zum Markt gegangen zu sein.
"Was gibt’s draußen so zu sehen?", fragte Julian hinter ihr. Er hatte auch keine Lust gehabt mitzukommen, allerdings aus einem anderen Grund. Als sie sich umdrehte und sein blasses, von Schatten der Müdigkeit gezeichnetes Gesicht betrachtete, stellte sie sich die Kopfschmerzen vor, die ihn plagen mussten, um ihn von etwas abzuhalten, das die einzige Möglichkeit in absehbarer Zukunft war, eine zivilisierte Veranstaltung zu besuchen.
"Einen wunderschönen Morgen. Schade, dass ich den Sonnenaufgang verpasst habe. Er war bestimmt herrlich", antwortete sie. Julian gähnte und zuckte zusammen.
"Siehst du eine Axt in meinem Kopf? Nein? Das wundert mich, es fühlt sich nämlich genau danach an."
"Sei kein solcher Waschlappen", wies sie ihn an. "Du als Ritter müsstest doch Erfahrung mit Alkohol haben und dem Morgen danach."
"Ich sage dir, das war kein gewöhnlicher Wein. Wegen gewöhnlichem Wein fühle ich mich normalerweise nicht so... ausgespuckt."
"Ausgespuckt?"
"Ja. Du weißt schon, als hätte ein Riese dich geschluckt, eine Weile auf dir rumgekaut und dich dann ausgespuckt."
"Was für eine blumige Ausdrucksweise."
"Mit blumig hat das gar nichts zu tun. Eher mit dem Gegenteil. Hör mal, Gaya, du bist doch Druidin, kennst du keine Methode, um mich von diesem dröhnenden Schädel zu befreien?", fragte er sie hoffnungsvoll. Sie grinste.
"Doch. Und ich glaube jeder Metzger kennt sie auch. Allerdings würde sie dir nicht gefallen."
"Sehr witzig. Komm schon, das war eine ernst gemeinte Frage."
"Und das war eine ernst gemeinte Antwort. Na ja, jedenfalls halb. Wie gesagt, du hättest dir eben nicht so viel einschenken sollen."
"Warum hast du mich nicht aufgehalten?"
"Ich? Bin ich etwa dein Kindermädchen? Nein, da solltest du gefälligst selber drauf achten." Sie streckte sich. "Außerdem bin ich gestern sowieso eingeschlafen, bevor du beim zweiten Krug angelangt bist."
"Du auch?", scherzte er. Gaya tat ihm den Gefallen und lächelte, bevor sie sich endgültig vom Fenster abwandte und sich zu ihm auf eine Bettkante setzte. Aus der Nähe fiel seine kränkliche Hautfarbe noch mehr auf und ebenso seine verquollenen Augen. Sie fühlte Mitgefühl in sich aufsteigen und tätschelte seine Hand.
"Wie wär’s, wenn du dich wieder schlafen legst?", schlug sie freundlich vor. "Wir werden noch ein paar Tage in der Stadt bleiben, du verpasst also nichts."
"Nein, nein, ich gehe doch nicht um diese Zeit ins Bett! Wie du schon gesagt hast, es ist ein wunderschöner Morgen, den man nicht verschlafen darf."
"Du siehst aber wirklich furchtbar aus, Julian."
"Keine Sorge, mir geht’s super."
"Und von dem Morgen kriegst du auch nicht allzu viel mit", wandte sie ein.
"Da hast du recht. Also sollten wir schleunigst raus gehen und ihn uns angucken! Alay hat doch sicherlich eine Terrasse hier, irgendwo?"
"Sicher. Irgendwo", stimmte sie ihm zu. "Aber die Frage ist, ob wir ihr Haus überhaupt danach durchsuchen dürfen?"
"Fragen wir sie", schlug er vor. Gaya schüttelte den Kopf; die Haare gerieten wieder außer Kontrolle und kitzelten ihre Nase.
"Keine Ahnung, wo sie ist", erklärte sie, während sie sich einen Zopf machte. Leider war ihr Haar viel zu kurz, als dass es etwas nutzen konnte. Genervt gab sie auf. "Nach dem Frühstück ist sie verschwunden." Julian seufzte und ließ sich nach hinten aufs Bett fallen.
"Vielleicht braut sie noch einen tödlichen Wein zusammen."
"Vielleicht", meinte Gaya lächelnd und glitt an seine Seite. Sie mochte den Geruch der Bettwäsche, so frisch und nach Wald. Sie fühlte sich dadurch immer an die Druideninsel erinnert.
"Weißt du, manchmal frage ich mich wirklich, was ich hier zu suchen habe", sagte er unerwartet. Gaya runzelte die Stirn, drehte ihren Körper, stützte sich auf ihren Ellbogen und sah ihn aufmerksam an.
"Was meinst du damit?"
"Ich weiß nicht", gab er zu. "Aber es ist doch merkwürdig... ich hätte nie gedacht, dass ich einmal hier lande. Im Haus einer Zauberin, die ich nicht verstehe, und die mich zu vergiften versucht."
"Was hast du denn erwartet? Es war schließlich dein Plan, mit dieser ganzen Abenteuersucherei."
"Na ja, das war eher eine spontane Idee. Ich weiß nicht, wie ich darauf gekommen bin. Es war irgendwie so, als wäre ich eines Tages aufgewacht und hätte sie in meinem Kopf vorgefunden. Völlig fertig durchdacht, ohne, dass ich mich daran erinnere, das überlegt zu haben. Kennst du das?"
"Nicht in dieser Weise, nein. Aber wer weiß, vielleicht haben dir die Götter diesen Plan eingegeben. Das soll doch schon vorgekommen sein." Es sollte ein Scherz sein, aber Julian nahm ihn erstaunlich ernst.
"Das könnte durchaus die Wahrheit sein. Ich... ich liebe die Götter nicht besonders, Gaya. Wahrscheinlich sollte ich das gerade zu dir nicht so sagen, aber irgendwie habe ich das Gefühl, dir alles erzählen zu können, obwohl wir uns erst seit drei... vier Tagen kennen." Gaya nickte. Das Gefühl hatte sie auch. "Und es ist nun mal so, dass ich dieser höheren Macht nicht vertrauen kann. Ich verstehe sie nicht. Wenn die Allmächtigen Fünf Götter sind, warum tun sie dann nichts? Ich meine, was ist ihr Plan? Irgendetwas müssen sie doch bezwecken, mit Cinhyal, Accipa und überhaupt mit allem. Warten sie auf etwas? Ist es ihnen egal? Aber was wären das dann für Götter?"
"Uns wurde gelehrt, dass strikt..."
"Manchmal denke ich, dass es sie nicht gibt. Doch das kann nicht sein, schließlich zeigen sie ihre Macht. Andererseits – wenn sie wirklich Götter sind, wer sagt dann, dass es gute Götter sind? Letztendlich wissen wir es nicht. Es könnten genauso gut fünf bösartige Kreaturen sein, die sich am Leid der Menschen erfreuen. Wann haben sie gesagt, dass sie das beste für uns wollen? Wir setzen es zwar voraus, aber wissen tut es niemand. Wie auch, sie sind schließlich Götter. Oder?"
Gaya wusste darauf einiges zu erwidern, denn wenn man sie eines in dem Druiden-Orden gelehrt hatte, dann war es die Religion. Aber eigentlich hätte er es auch selbst wissen müssen, denn bei dem Ritterorden wurde ihres Wissens nach Religion ebenfalls hoch geschätzt. Also, warum sagte er dann derartige Dinge?
"Was bedeutet das für dich?", fragte sie. "Hast du Angst vor ihnen, weil du nicht weißt, was sie vorhaben? Weil du sie nicht beurteilen kannst, obwohl sie einen so großen Einfluss auf dein Leben ausüben?"
"Tun sie das tatsächlich?", stellte er die Gegenfrage. "Woher willst du das wissen?"
"Jeder Mensch..."
"Ich bin doch nur ein gewöhnlicher Ritter, einer von vielen. Und es gibt ungleich mehr Menschen auf den ganzen Träneninseln. Warum sollten sie sich ausgerechnet um mich kümmern?"
"Weil jeder Mensch wichtig ist."
"Woher nehmen sich diese Allmächtigen Fünf denn die Zeit für jeden da zu sein?"
"Nun, sie sind allmächtig, was erwartest du da anderes?"
"Ich sage das nur äußerst ungern, Gaya, aber das hört sich für mich einfach nach leeren Ausreden an, die man benutzt, um nicht hinterfragen zu müssen. Ich mag zwar nur ein Ritter sein, doch weiß auch ich, dass es für alles eine Erklärung gibt."
"Die wir nicht verstehen können!"
"Hat es denn mal einer versucht? Wurde uns diese Erklärung überhaupt einmal zugemutet? Nein. Vielleicht, weil wir zu dumm sind. Oder weil alles eine Lüge ist."
"Blasphemie!"
"Mag sein. Aber woher weißt du das? Nur, weil man es dir gesagt hat, muss es nicht stimmen. Ich frage dich noch mal, woher nehmen sich die Götter die Zeit, um überall zu sein und bei allen zu sein? Oder sind sie es gar nicht?" Gaya seufzte, teils genervt, teils mitfühlend.
"Ach, Julian, es gibt viele Menschen, die an den Fünf zweifeln, die Angst haben vor dem Ungewissen. Euch bereitet die Vorstellung Unbehagen, dass es da jemanden gibt, der so völlig anders ist als alles was ihr kennt, dass ihr ihn nicht begreift. Aber nur weil man etwas nicht versteht, muss es noch lange keine Lüge sein." Jetzt seufzte er.
"Kann sein, Gaya. Kann sein. Vielleicht ist das alles nur sinnloses Gerede, das sich mein kranker Kopf als Ablenkung von den Schmerzen ausdenkt. Aber ich mache mir nun mal Gedanken..." Der Blick seiner blauen Augen ging in die Leere und Gaya fragte sich, was er dachte, was er ihr nicht sagte. Etwas war da, sie spürte es. In diesem Moment kam er ihr wahnsinnig weit entfernt vor, als ob er auf dem gegenüberliegenden Rand eines Abgrunds stehen würde, ganz allein und verlassen.
Draußen schien die Sonne und der Menschenlärm war ein stetiges Gemurmel im Hintergrund. Drinnen herrschte Stille, als ob all die Geräusche nicht zu ihnen dringen würden, sondern von einem unsichtbaren Schleier abgehalten wurden. Keiner wollte diese Stille brechen und die Konsequenzen auf sich nehmen. Gaya betrachtete sein gradliniges Gesicht, das kräftige Kinn, die vollen Lippen, die kaum sichtbaren Wangenknochen, die feinen, goldenen Härchen auf seiner Stirn, und fragte sich, warum er so sein musste, wie er war. Warum hatte ausgerechnet er diese anziehende Wirkung auf sie? Diese... verrückte, unsinnige Anziehung. Warum er? Warum jetzt?
Ich bin schon wie Julian! Keiner kennt die Pläne der Götter, es gibt kein Warum, das mich etwas angeht. Es ist einfach so und ich kann es nicht ändern.
"Nimm eine Situation als gegeben an und versuche ihr eine dir genehme Wendung zu geben. Frage nicht, warum, denke nicht nach, was wäre wenn, lebe nur den Augenblick. Es gibt nur das Jetzt und egal wie ungerecht es erscheinen mag, akzeptiere es. Denn es ist der Willen der Mutter, die für die ganze Menschheit sorgt. Stellst du Ihr Handeln in Frage, stellst du Sie in Frage."
Ich stelle die Große nicht in Frage, dachte Gaya. Niemals. Aber was erwartet sie von mir? Soll ich... dieser Anziehungskraft nachgeben? Aber das wäre ein Bruch der Regeln. Soll ich also widerstehen? Aber warum dann das ganze? Wieder dieses entsetzliche Warum. Ich muss es so sehen: die Große Göttin will mich prüfen. Ich werde die Prüfung bestehen und standhaft bleiben.
Plötzlich kam die Erinnerung an ihre Vision; sie hatte sie ganz vergessen gehabt, jetzt jedoch stiegen die Worte erneut in ihr auf, die sich in ihr Gedächtnis eingebrannt hatten.
"Du bist noch jung. Deine Loyalität ist wankelmütig, wird in Frage gestellt."
Und dann die Frage:
"Bleibst du mir treu oder den Göttern?"
Ein Gedanke kam ihr: könnte es Julian gewesen sein, der die Frage gestellt hatte? War das vielleicht tatsächlich die Prüfung, auf die ihre Göttin hingewiesen hatte? Die ihre endgültige Treue beweisen sollte?
Das muss sie sein. Erleichterung durchströmte sie, löste die Anspannung. Wenn es so ist, weiß ich, was von mir erwartet wird. Einfach widerstehen. Im Geiste antwortete sie fest auf die Frage.
"Ich bleibe den Göttern treu."

Johannes ließ es sich nicht anmerken, aber er war im höchsten Maße gelangweilt. Es mochte sein, dass die anderen nichts dabei fanden, im Trödeltempo zusammen mit lärmenden Menschen den Markt zu erkunden, aber er konnte sich durchaus lohnendere Beschäftigungen vorstellen. Er verstand nun besser, warum Gaya beschlossen hatte, Julian Gesellschaft zu leisten. Er hätte es ihr gleichtun sollen. Leider war es nun zu spät und er musste noch bis in den Nachmittag hinein diese Fülle von Geräuschen, Gerüchen und Menschen, die sie erzeugten, ertragen. Er fragte sich schon lange nicht mehr, wie Dajana dabei so ausgelassen und freudestrahlend bleiben konnte, aber es war ihm immer noch unbegreiflich, wie Cycil das Ganze aushielt, geschweige denn, warum. Schließlich brauchte es keines Genies um zu erkennen, dass ihm seine Wunde erhebliche Schmerzen bereitete und dass er sich am wohlsten in einer ruhenden Position gefühlt hätte, in der er seinen Arm nicht dazu benutzen musste, sich einen Weg durch das Gedränge zu bahnen. Außerdem versuchte er fast schon verzweifelt mit der Menge zu verschmelzen und sich der Aufmerksamkeit der Stadtwachen zu entziehen. Das letztere interessierte Johannes am meisten, aber er war taktvoll genug, sich diese Frage für ein anderes mal aufzuheben.
Ihm, der eine sehr lange Zeit in Abgeschiedenheit der Berge verbracht hatte, fiel es schwer nach außen hin ruhig zu wirken und nicht so, als würde er am liebsten seine Magie einsetzen, um die ganzen Leute zum Schweigen zu bringen. Wie können diese Händler auch noch nach vier Stunden so laut kreischen? Eine wichtige Frage, auf die wohl nur jahrelange Übung und Erfahrung eine Antwort war.
"Das ist wahrhaft göttlich!", rief Dajana entzückt, über ein ausgebreitetes, mit Samt verziertes Kleid gebeugt. Der Kaufmann tat so, als würde er sie nicht bemerken, wobei er jedoch gleichzeitig abschätzte, wie viel Goldstücke er ihr wohl abknüpfen konnte. Alle, schätzte Johannes, den es wunderte, wie ein ehemaliges Wirtshausmädchen wie Dajana so naiv im Handeln sein konnte. Vielleicht war sie einfach überwältigt von so vielen Menschen und so viel Ware auf einmal. In N’hoa gab es einen einzigen Laden für Kleidung, Lebensmittel und Haushaltswaren, wie Johannes sehr wohl wusste.
"Dajana, findest du nicht, dass so etwas unsere finanziellen Möglichkeiten ein winziges Bisschen übersteigt?", fragte Cycil vorsichtig. Sie schien ihn gar nicht zu bemerken und presste ihre Wange an den seidenweichen, glänzenden Stoff. Er sah Johannes hilfesuchend an, der mit den Schultern zuckte. Was sollte man da schon machen? Gaya hätte sie vielleicht überzeugen können, die beiden kamen ganz gut aus, aber er bezweifelte, dass er oder Cycil etwas ausrichten konnte. Das Gold wird sowieso nicht ausreichen.
"Das würde mir doch sicherlich toll stehen!", sagte Dajana und hielt das Kleid an ihren Körper. "Oder?"
"Doch, es sieht sehr gut an dir aus", versicherte Cycil. "Aber hast du wirklich vor Geld dafür auszugeben? Ich meine, wann willst du es denn überhaupt tragen?" Der Händler mischte sich schnell ein.
"Aber bitte, Sir, diese Lady ist doch so wunderschön, sie besucht mit Sicherheit alle Bälle im Schloss! Und dafür..."
"Ihr sagt es. Sie ist so wunderschön, sie braucht keine Kleider um gut auszusehen. Sie sieht in allem hinreißend aus", meinte Cycil und Dajana sah ihn nachdenklich an.
"Eigentlich mag ich keine Scherze auf meine Kosten, aber ich weiß schon, was du meinst." Mit einem Seufzer legte sie das Kleid zurück. "Tut mir leid, aber daraus wird wohl nichts", sagte sie zum Kaufmann. "Na gut, ich darf mir also keine Kleidung kaufen, keinen Schmuck, keine Tücher, keine Vasen, keine Spiegel, kein Parfüm... Was bleibt da überhaupt noch übrig?"
"Die wirklich notwendigen Dinge", antwortete Johannes und zählte auf. "Wir brauchen Nahrung, Reittiere, einen Bogen für dich, weitere..."
"Einen Bogen für mich?", unterbrach Dajana. "Nicht, dass ich etwas dagegen hätte, aber warum? Ich habe doch schon einen."
"Es würde mich nicht wundern, wenn er gleich auseinander fällt. Der Kerl, der die Wette verloren hat, hat mich eigentlich total reingelegt. Jedenfalls gehört der Bogen auf den Müll. Du solltest dir unbedingt einen neuen besorgen."
"Super! Aber einen richtig großen, hübschen mit Verzierungen. Am besten aus Eisenholz, dann bricht er nicht so leicht. Und die Sehne müsste aus Grantahaar sein, ich hab gehört, dann ist sie leicht zu spannen und doch reißfest. Der Bogen müsste bequem in der Hand liegen... Können wir uns einen extra für mich anfertigen lassen?"
"Ich weiß nicht, ob das so günstig wäre", sagte er zurückhaltend.
"Ach, sei kein Geizhals! Ein guter Bogen für mich ist etwas gutes für das ganze Team – damit schieße ich besser und nütze euch mehr!"
"Mal sehen", lenkte er schnell ein. "Suchen wir zuerst das übrige..."

Alay strich über die kühlen Marmorwände und fuhr die Zeichen nach. Unter ihren Fingern schimmerten sie ein wenig heller, zeigten ansonsten aber keine Reaktion.
"Wenn ich nur wüsste, was ihr mir sagen sollt", sprach sie zu ihnen. "Eine Warnung? Ein Hinweis? Eine Hilfe? Ach, warum haben wir nur das Wissen verloren?" Alay strich sich über den Kopf, spürte die Tätowierung. Spürte ihre Knochen unter der Haut.
"Mama, kann ich meine Haare nicht behalten?" Die Stimme eines achtjährigen Mädchens.
"Nein, Alay, das kannst du nicht. Ich muss dich kennzeichnen."
"Aber alle werden über mich lachen! Alle anderen Mädchen haben hübsche, lange Haare und ich werde nur eine hässliche, schwarze Schlange haben!.." Ein Schlag, ein Aufschrei.
"Wie kannst du es nur wagen so zu sprechen! Du bist eine Sorèndyo, eine Auserwählte! Du musst das Zeichen mit Stolz und Würde tragen! Diese anderen Mädchen sind gar nichts, hörst du - gar nichts! Sie dürften eigentlich nicht einmal mit dir sprechen! Merk dir, Alay, wir sind gleichgestellt mit den Königen! Du könntest den Prinzen duzen!"
"Aber er ist doch der zukünftige König, Mama..."
"Mädchen, wir könnten die Könige von Sunaj stürzen ohne uns besonders anstrengen zu müssen! Wir könnten selbst Könige sein!"
"Warum sind wir es denn nicht?" Ein Lachen.
"Ach, Kleine, du musst mir glauben, die Könige von Sunaj haben die schwerste Bürde von uns allen zu tragen! Keiner, der bei Verstand ist, würde freiwillig ihren Platz einnehmen."
"Was ist mit Frederique?..."
Ja, was war mit Frederique? Lelata, Alays Mutter, hatte schon früh die Zukunft von Frederique gesehen und nichts dagegen unternommen, dass Òdrean gestürzt wurde. Die kleine Alay hatte gedacht, das läge daran, dass ihrer Mutter die Könige völlig egal waren, aber die erwachsene Alay wusste es besser.
"Es ist eine Prüfung, Mutter", sagte sie und lehnte sich gegen die Wand. "Für das Volk, für den König. Mit Schmerz und Blut werden Bande geschmiedet, die König und Land für immer aneinander binden werden. Die falsche Schlange muss vertrieben werden. Der Pakt wird erfüllt. Aber..." Sie verstummte. Die quälende Ungewissheit, die seit Tagen an ihr nagte, brach hervor.
"Die Zukunft ist dunkel, verschwommen, ich sehe es nicht... Was wird geschehen? Alles ist in der Schwebe, verharrt in Wartestellung. Und es hängt ausgerechnet an dieser Gruppe! Ich will meine Kraft nicht für die Leute einsetzen! Ich will nicht alles aufgeben, mein ganzes Leben, nur für diese Fünf! Ich will nicht..." Ihr Flüstern verklang ungehört und das war auch gut so. Alay widerte sich selbst an. Wen kümmerte es denn schon, was sie wollte und was nicht?
"Es ist Zeit zu handeln und ich bin die einzige, die das Ganze ins Rollen bringen kann. Der Plan muss erfüllt werden. Der Pakt wurde vor Jahrhunderten besiegelt, ein Vertrag, mit Leib und Seele geschlossen. Niemand wird ihn brechen, das lasse ich nicht zu", sagte sie fest. Der Augenblick der Schwäche war vorbei. Alay hatte sich unter Kontrolle.
Die Zukunft – sie kannte ihre Rolle, kannte ihre Aufgabe, kannte ihren Weg. Jetzt musste sie ihn beschreiten und abwarten, was passierte.
"Es ist an der Zeit, den Dingen die richtige Wendung zu geben", sagte sie zu den Wänden und ging davon, um die Nachricht zu verkünden, die alles in die von den Göttern vorgegebene Richtung lenken würde. Die Symbole auf den Wänden reagierten auch weiterhin nicht, aber in ihrem Innern leuchtete ein schwacher Funke immer heller, seit jemand den Palast betreten hatte, der in mehr Hinsichten gezeichnet war, als selbst Alay es vermuten konnte.

Dajana hatte das Gefühl entweder im Paradies zu sein oder an einem Ort, der dieser Vorstellung sehr nahe kam. Nie in ihrem Leben hatte sie daran gedacht, dass sie eine so wunderbare Zukunft erwartete. Sie hatte erwartet, den Rest ihres Lebens in N’hoa zu verbringen und sich dort zu langweilen. Und jetzt stand sie inmitten von einem lange gehegten Traum und konnte ihren Augen kaum trauen.
Wer hätte gedacht, dass es so viele wunderschöne Bögen auf einmal geben konnte?
Da waren erst mal die aus hellem Weidenholz gefertigten, die in Mendara hergestellt wurden – anschmiegsam, schlank und elegant, perfekt für schwächere Schützen. Sehr treffsicher, aber auch zerbrechlich.
Dagegen die schweren Eisenhölzer – riesige Bögen mit dicken Sehnen, die es erst einmal einzuspannen galt. Die meisten waren genauso groß wie Dajana selbst und sehr unpraktisch. Aber ein Pfeil, der von so einem Bogen abgefeuert wurde, durchbrach eine schwere Panzerrüstung ohne große Mühe. Ein Kriegsbogen.
Dann gab es noch die kleinen, leichten Bögen zum bequemen Tragen, hervorragend geeignet für Reisen und schnelle Angriffe. Nicht so hübsch zum Ansehen, aber dafür gab es sie überall.
Nicht zu vergessen galt es die Armbrüste, die es in so vielen verschiedenen Formen und Größen gab, dass Dajana manche nie im Leben als Armbrüste erkannt hätte. Natürlich war das nichts für sie, weil sie mit einer Armbrust nicht sehr viel anfangen konnte, aber die Faszination war trotzdem groß. 
Und es gab noch viele, viele andere. Dajana wusste nicht, wohin sie zuerst sehen sollte.
"Halt mich fest, Cycil, ich glaube, ich falle gleich in Ohnmacht", wisperte sie und schluckte schwer.
"Atme tief durch", riet er ihr. "Denk daran: die meisten davon werden wir uns kaum leisten können. Konzentriere dich auf die, die in unserer Reichweite sind."
"Du hast leicht reden!" Ihr fiel ein Bogen ins Auge, der wie die wundersame Kreuzung zwischen einem Schmetterling und einer Waffe aussah. Im Licht der Sonne glänzte er in allen Farben des Regenbogens. "Wie können Menschen so etwas göttliches erschaffen?"
"Den da vergisst du am liebsten gleich. Kannst du dir vorstellen damit durch den Schlamm zu waten?"
"Das wäre ja fast schon Gotteslästerung!", rief Dajana, entsetzt allein von der Vorstellung.
"Na ja, so würde ich das nicht gleich nennen, aber du hast ja verstanden, was ich meine. Überhaupt guckst du in die falsche Richtung – dort werden die Bögen für den Adel verkauft. Jeder einzelne ist wahrscheinlich eine Sonderanfertigung und wartet auf seinen Auftraggeber."
"Wozu brauchen Adlige Bögen?"
"Für irgendwelche Jagdausflüge. Oder einfach als Zierschmuck."
"Was für eine Verschwendung! So etwas darf nicht verstaubt in einer Ecke hängen, es muss benutzt werden – der Kampf ist die Lebensenergie eines Bogens. Ohne sie stirbt er ab, langsam, schmerzvoll..." 
"Genauso wie ein Krieger ohne Kampf vor sich hinsiecht", ergänzte Cycil. Sie nickte.
"Genauso. Ach, wie soll ich mir hier etwas aussuchen, ich kann vor lauter Gefühle ja kaum Atem holen! Wie soll ich keinen dieser mitleidserregenden, wunderschönen Todesboten aussuchen, die den Rest ihres Lebens voll Schmerzen und Sehnsucht verbringen werden, Vögeln in einem Käfig gleich?" Cycil sah sie merkwürdig an und sie fühlte sich plötzlich sehr unbehaglich.
"Weißt du, Dajana, ich kann das gut nachvollziehen", sagte er still. "Es ist grausam, Wesen, die frei zu sein bestimmt sind, für den Rest ihres Lebens in ein Gefängnis einzusperren. Mit der Freiheit so nahe, dass man sie fast berühren kann, aber doch nur fast. Denkst du nicht, dass dagegen etwas unternommen werden sollte?" Jetzt war es an ihr ihn befremdet anzusehen.
"Wie meinst du das?", fragte sie vorsichtig.
"Ich weiß nicht", seufzte er. "Ist mir nur so eingefallen." Sie sah ihn weiterhin misstrauisch an, legte den Kopf leicht schief.
"Cycil, du bist merkwürdig", sagte sie dann.
"Ich weiß", erwiderte er und lächelte leicht. "Tut mir leid."
"Tut dir leid!", wiederholte sie kopfschüttelnd. "Ich weiß nie, ob du es ernst meinst oder dich über mich lustig machst."
"Ich würde mich nie über dich lustig machen, Dajana. Niemals."
"Aber du hast Geheimnisse vor mir!", konterte sie, vor seinem Ernst zurückweichend.
"Du auch vor mir." Ruhig.
"Aber nicht absichtlich."
"Nun, ich auch nicht." Wieder dieses Lächeln. Dajana zog die Augenbrauen zusammen, musterte ihn eingehend und versuchte zu verstehen. Ihn zu verstehen.
"Hör auf damit. Davon kriegst du nur Falten", neckte er sie. Dajana schubste ihn an und lächelte auch, eher unfreiwillig. Cycil erinnerte sich an etwas, wurde übergangslos ernst. Senkte den Blick.
"Was ist?", fragte sie beunruhigt.
"Es tut mir leid, dass du keine Gelegenheit hast, dir hier auf dem Markt etwas schönes zu kaufen", sagte er. 
"Na ja, ich kriege ja meinen Bogen...", meinte sie und verstummte, verwirrt von seinen Worten. Worauf wollte er hinaus?
"Ich dachte mir... nun, ich dachte mir, dass du für deine bewiesene Ausdauer und Stärke im Celine so etwas verdient hättest", sagte er. "Daher... würde ich dir gerne das hier schenken." Und brachte mit diesen Worten eine silberne Kette zum Vorschein. Dajana blinzelte überrascht.
Es war kein besonders teueres Schmuckstück, nur eine einfache, dünne silberne Kette mit einem türkisfarbenen Anhänger in Form eines Vogels. Solcher Schnickschnack wurde überall auf dem Markt verkauft. Dajana, die schon lange eine große Anziehungskraft auf Vertreter des männlichen Geschlechts hatte, hatte von vielen Verehrern Geschenke erhalten, unter ihnen auch eines, dessen Wert sich auf über zwanzig Goldstücke belief – ein wahres Vermögen. Daher war diese billige Kette alles andere als überwältigend für sie. Aber es überraschte sie, dass Cycil sie ihr schenkte.
Trotzdem zeigte sich keiner dieser Gedanken auf ihrem Gesicht, das ein freundliches Lächeln aufwies.
"Danke schön, Cycil. Das ist wirklich nett von dir", sagte sie, während sie sich im Stillen fragte, was sie damit anfangen sollte. Aber solche Dinge sagte man Männern besser nicht, vor allem keinem, der einer ihrer Freunde war.
Cycil beobachtete sie unauffällig, während sie die Kette einsteckte. Und da er nun mal das war, was er war, entgingen ihm ihre Gefühle nicht. Es kam nicht unerwartet, er verspürte nicht einmal einen Stich deswegen. An der Kette war mehr dran, als Dajana es erkennen vermochte und sie würde es irgendwann einmal schon herausfinden. Und was den Wert anging... Nun, Geld war nicht alles. Dajana würde das auch eines Tages lernen.
"Dajana", rief Johannes. Sie drehte sich zu ihm rum, froh ihr Gespräch mit Cycil nicht mehr fortsetzen zu müssen.
"Was ist?"
"Deine Auswahl besteht zwischen den drei Bögen da hinten." Er zeigte mit einer knappen Geste auf einen kleinen Stand, der fast von den anderen verdeckt wurde. Dajana runzelte die Stirn.
"Wie kannst du das behaupten?"
"Ich behaupte es nicht, es ist eine bloße Feststellung. Der Händler da hinten ist der einzige, der bereit ist seine Ware zu einem anständigen Preis anzubieten."
"Was soll das denn heißen? Zwei Silberstücke oder was?"
"Nein, zwei Goldstücke", antwortete er unbeeindruckt. Sie sah ihn fassungslos an.
"Das nennst du anständig? Das ist doch die reinste Ausbeutung..."
"Du hast wohl keine Ahnung, wie viel die anderen kosten. Glaub mir, zwei Goldstücke sind ein Schnäppchen", meinte er trocken. Sie starrte ihn fassungslos an.
"Du scherzt?"
"Wohl kaum. Tut mir leid, aber es ist die Wahrheit. Auf diesem Markt gibt es die höchsten Preise, die ich je gesehen habe. Frag mich nicht, warum."
"Wegen Frederique, ist doch klar", warf Cycil ein. "Wenn er weiterhin die Steuern so erhöht, werden alle nach Acippa auswandern."
"Warum tun wir das nicht jetzt schon?", fragte Dajana mürrisch und ging rüber, um sich die zur Auswahl stehenden Bögen anzusehen. Ihre Laune war abrupt gesunken und der Tag verdorben. Warum hat mich Gaya nur hierher geschleppt?, dachte sie, während sie das Holz befühlte.
Cycil währenddessen rang mit sich selbst. Einerseits konnte er es kaum erwarten, den Markt zu verlassen, da ihm mehr als unbehaglich dabei war, sich in Sunaj so öffentlich blicken zu lassen. Und Frederiques Name hing, einmal ausgesprochen, wie eine düstere Wolke über dem strahlenden Tag. Andererseits wollte er Dajana den Marktbesuch nicht verderben, weil sie wohl kaum wieder so schnell zu so etwas kommen würde. Die Zeit lief so schnell davon...
"Hey, ihr beiden, was ist eure Meinung: rechts oder links?" Cycil schreckte aus seinen unheilvollen Gedanken auf und merkte, dass Dajana ihn fragend ansah. Sie hielt zwei Bögen in den Händen, einen schlanken, großen, aus Weißholz gefertigten, und einen kleineren, dunklen.
"Der Rechte ist besser für Reisen geeignet", sagte Johannes, der anscheinend auch nicht ganz bei der Sache war.
"Ja, aber der Weiße hat eine größere Reichweite", gab sie zu bedenken.
"Die Entscheidung liegt bei dir; wenn du ihn durchs ganze Land schleppen willst, bitte sehr."
"Und du, Cycil?"
"Dajana, ich kenne mich mit Bögen nicht aus. Nimm irgendeinen und lass uns verschwinden." Seine Stimme klang gereizter als er es wollte, aber die Sonne stieg immer höher und Cycil wusste, dass es oft vorkam, dass welche aus der Burg auf dem Markt gingen, meistens nach dem Frühstück. Und er war nicht besonders erpicht darauf sie zu treffen.
Dajana bemerkte seine Unruhe, erinnerte sich daran, dass er in der Stadt nicht willkommen war und beschloss den Streit auf später zu verschieben.
"Schon gut. Dann erfülle ich mir eben nicht meinen einzigen, großen Traum, den ich schon von frühster Kindheit an gehegt habe..." Sie hatte nicht damit gerechnet eine Reaktion darauf zu bekommen und lag damit auch richtig. Ausnahmsweise schien keiner der beiden Männer für ihre Wünsche empfänglich zu sein. Also gab sie es auf, wandte sich wieder den Bögen zu und überlegte halbherzig, welchen sie haben wollte.
Ach, ist doch auch egal. Johannes und Cycil haben meine ganze Einkaufsstimmung ruiniert!
Schließlich entschied sie sich nach Gefühl für den weißen, großen Bogen - teilweise, weil er besser aussah, teilweise um Johannes zu ärgern. Der Verkäufer grinste sie an und meinte wohl, das würde gewinnend wirken, obwohl seine Zähne kein erfreulicher Anblick waren. Dajana war auf einmal froh, dass ihre Mutter sie als kleines Kind immer gezwungen hatte auf Mundhygiene zu achten.
Zugegeben, ihre Mutter hatte das mit dem Gedanken getan, dass Dajana in Zukunft ihrem Gewerbe nachgehen würde. Aber es war wenigstens eine gute Tat und Dajana versuchte immer ihre Mutter in möglichst positiver Erinnerung zu behalten. Obwohl diese alte Schlampe mir ruhig etwas von ihrem Gold hätte abgeben können.
Dajana dachte nicht gern an Danaille Stromsyard und verdrängte die Erinnerungen auch an diesem Tag. Stattdessen nahm sie ihren neuen Bogen und den dazugehörigen Köcher – zwar ohne Pfeile, aber die hatte sie selbst – und versuchte so etwas wie Freude zu empfinden.
"Hey, was machen die beiden denn hier?", fragte da Johannes mitten in ihre düsteren Gedanken hinein. Sie sah sich um und entdeckte Julian und Gaya, die anscheinend nach ihnen Ausschau hielten. 
"Keine Ahnung. Aber ich schätze mal, etwas ist wieder nicht in Ordnung", erwiderte Cycil und winkte den beiden zu, um sie auf sich aufmerksam zu machen. Julian bemerkte ihn und bahnte sich mit Gaya einen Weg durch die Menschen. Diese hatten es recht eilig beiseite zu gehen, da sie nicht den Zorn eines Ritters oder einer Druidin auf sich ziehen wollten. Und die beiden wirkten in der Tat nicht so, als würden sie in geduldiger Stimmung sein.
"Was ist los?", fragte Johannes, kaum dass sie bei ihnen angekommen waren. Julian warf einen Blick über die Schulter zurück, während er antwortete.
"Wir stecken in Schwierigkeiten, Leute. Die Stadtwachen haben anscheinend den Befehl, uns auf der Stelle festzunehmen und zum Verhör abzuführen."
"Warum?", wollte Dajana verwirrt wissen. "Wir haben doch nichts gemacht! Oder?" Sie sah Cycil scharf an, der sich alles andere als wohl fühlte.
"Wir nicht", antwortete Gaya und sah sich auch um. "Aber man hat uns mit Alay gesehen und auf sie scheint Frederique nicht gut zu sprechen sein. Ich fürchte, man verdächtigt uns jetzt, gemeinsame Sache mit ihr zu machen. Also sollten wir schnellstens aus der Stadt verschwinden! Oder will jemand Frederique unsere Unschuld erklären?"
"Nichts wie weg", sagte Cycil schnell.
"Das ist auch meine Meinung", erwiderte Julian und ein flüchtiges Lächeln huschte über sein Gesicht. "Zum Glück hat unsere geschätzte Gastgeberin schon einige Vorkehrungen für diesen Fall getroffen. Sie erwartet uns mit Pferden, Vorräten und Ausrüstung in "Deranors Hufeisen". Wir sollten uns beeilen."

Drei von ihnen kannten sich in der Stadt aus, obwohl nur Gaya und Julian in der Stadt geboren waren. Aber es war ausgerechnet Cycil, der sie zu ihrem Ziel führte, und zwar auf den dunkelsten Schleichwegen der Stadt, von deren Existenz Dajana nie im Leben geahnt hätte. Aber er schien sich bestens darin auszukennen und führte sie mit der Zielsicherheit eines Flusskapitäns, der zum tausendsten mal die gleiche Strecke befährt. Dajana begann sich zu fragen, ob er möglicherweise im gleichen Geschäft tätig war, in dem sie sich früher erfolglos versucht hatte.
"Da drüben." Er zeigte auf ein heruntergekommenes Haus, das mehr nach einer Ruine als nach irgend etwas anderem aussah. Dajana hatte gewisse Zweifel, aber Julian nickte und beobachtete prüfend die kleine Straße, die sie zu überqueren hatten, um zum Gebäude zu gelangen. Cycil hatte sie an den Rand der Stadt geführt; nur wenige Leute waren hier unterwegs, sie waren entweder am Markt oder kamen erst bei Nacht raus – die  Gegend sah nicht besonders vertrauenserweckend aus. Dajana, die gedacht hatte, der Hafen von N’hoa sei ein übler Platz, meinte bei sich, dass er neben diesem Stadtteil wie ein Tempelviertel aussehen musste.
"Gibt es viele Stadtwachen?", erkundigte sich Johannes leise, da nicht weit von ihnen zwei Männer die Straße entlang schlenderten und sich unterhielten.
"Ja, ziemlich viele, seit Frederique König ist. Er benutzt sie, um Aufstände und Unruhen niederzuschlagen", antwortete Julian. "Sie werden sich wohl überall in der Stadt verteilt haben, um uns zu finden."
"Was ist mit den Grenzen?"
"Dort bestimmt auch. Keine Ahnung, wie Alay von hier fliehen will."
"Was hat sie überhaupt getan, dass er sie so hart verfolgt?", fragte Dajana und presste ihren neuen Bogen eng an ihren Körper.
"Sie hat uns nicht viel gesagt", erklärte Gaya. "Ich habe soviel verstanden, dass Frederique der Meinung ist, sie unterstütze einige Rebellen in Bergana..."
"Was für Rebellen?", unterbrach sie Cycil.
"Keine Ahnung!", gab Gaya gereizt zurück. "Wir hatten anderes im Kopf außer uns über solche Idioten zu unterhalten!" Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht und atmete aus. "Tut mir leid. Ich hasse nur so etwas! Kaum haben wir eine sichere Herberge für einige Tage, muss man uns wieder vertreiben! Irgendwie scheinen die Götter nicht gerade auf unserer Seite zu stehen."
"Ach, was kümmern uns die schon", meinte Johannes und lächelte sie aufmunternd an. "Das schaffen wir auch ohne sie."
"Genau", stimmte Cycil zu. "Um Wachen zu entgehen, braucht man sie sowieso nicht."
"Sie sind überall und beeinflussen jegliches Tun auf Cinhyal", widersprach Gaya. "Ohne die Allmächtigen Fünf würde gar nichts funktionieren..." Dajana, die einen religiösen Streit kommen sah, seufzte.
"Das könnt ihr auch später klären", ging sie dazwischen. "Jetzt sollten wir erst mal aus Sunaj verschwinden."
"Wahr gesprochen, Dajana. Also los, die Straße ist frei. Einer nach dem anderen", sagte Julian und bedeutete Cycil voran zu gehen. Schnell und unauffällig huschte dieser über die Straße und verschwand im verfallenen Gebäude. Die Tür knarrte leise als sie zufiel.
"Gaya!" Die Druidin tat es Cycil nach und lief schnell hinüber, den Stab waagerecht haltend, damit er sie nicht behinderte. Johannes folgte ihr; danach war Dajana dran. Sie spürte ihr Herz schnell schlagen als sie die schützende Deckung der Hausmauer verließ und sich beeilte auf die andere Straßenseite zu kommen. Zwar sagte sie sich immer wieder, dass das Blödsinn war, dass keine Wache sie in diesem abgelegenen Winkel suchen würde, aber etwas in ihr weigerte sich, daran zu glauben. So groß war Sunaj nicht, dass man sie darin nicht finden konnte. Und dann – wer wusste schon, wie Frederique reagieren würde. Sie hatte bisher nichts Gutes über den König gehört.
Sie stieß die Tür auf und hatte einen Moment lang Angst, sie würde auseinanderfallen und sie unter sich begraben. Aber die Tür wackelte nur und hielt stand, obwohl sie ziemlich besorgniserregende 
Geräusche von sich gab. Drinnen war es dunkel, denn die zwei Fenster waren von innen mit Brettern verriegelt. Der Raum war klein und eng, aber erstaunlich sauber, keine solche Bruchbude wie es nach außen hin den Anschein hatte. Dajana konnte wenig erkennen, weil sie alle zusammen schon den gesamten vorhandenen Platz ausfüllten. Als auch noch Julian als letzter dazukam, wurde es alles andere als gemütlich.
"Verdammt, was ist denn hier los?", fragte er und trat Dajana aus Versehen auf den Fuß als er die Tür hinter sich schloss.
"Pass doch auf!...", rief sie.
"Wenn ihr noch lauter seid, hört euch Frederique selbst in seinem Schloss!", sagte Alay scharf und brachte Dajana sofort zum Verstummen, die die Zauberin nicht einmal gesehen hatte.
"Hinten sind vier Pferde, mit vollen Satteltaschen ausgerüstet. Ich habe eure Sachen mitgenommen, aber darum könnt ihr euch später kümmern, wenn wir Sunaj verlassen haben. Die Schwierigkeit wird für uns sein, die Stadt zu verlassen. Bestimmt haben sie die Wachen bei den Ausgängen verstärkt. Sie werden uns so wohl kaum durchlassen. Mein Plan ist es, dass wir uns in vier Gruppen aufteilen und die Stadt durch die vier Hauptstraßen verlassen. Keiner der Wachen kennt unsere Gesichter, sie wissen nur, dass sie Ausschau halten sollen nach einer Lichtzauberin, einer Druidin, einem Ritter und ihren Begleitern. Solange ihr eure Waffen verbergt, etwas anderes anzieht und euch unauffällig benehmt, werden wir unbehelligt passieren können." Alay sprach schnell, ruhig und leise. Man merkte ihr ihre Gefühle nicht an.
"Woher sollen wir uns etwas anderes zum Anziehen holen?", fragte Gaya und überlegte, wie sie ihren Stab verstecken sollte.
"Darum habe ich mich schon gekümmert. Ich habe weite Mäntel und Umhänge. Aber die Waffen kann man darunter nicht verstecken, die Wachen durchsuchen die Leute an der Grenze."
"Ich denke nicht daran, mein Schwert hier zu lassen!", sagte Julian bestimmt.
"Das verlangt auch keiner von dir. Aber ihr habt nicht viel Zeit, um zu überlegen, wie ihr damit durchkommt. Wir müssen schnell handeln. Ich nehme die Oststraße, das ist nah an diesem Haus. Ihr solltet euch schnell entscheiden, was die anderen betrifft. Wir treffen uns außerhalb der Stadt, an der Ishvar-Brücke. Beeilt euch. Und denkt daran – wenn es nötig ist Gewalt anzuwenden, zögert nicht." Etwas knarrte, kurz blitzte Licht auf, und schon war Alay weg, bevor jemand noch Fragen stellen konnte.
"Wo ist diese Brücke?", fragte Dajana. Sie fühlte sich verwirrt, weil alles so schnell ging, und irgendwie übergangen. Was, wenn sie mit diesem Plan nicht einverstanden war?
"Außerhalb der Stadt, am Königsfluss", erklärte Cycil schnell. "Wir sollten keine Zeit verlieren. Am besten gehe ich allein und ihr teilt euch jeweils zu zwei auf."
"Warum? Dich werden sie nicht erkennen", widersprach Julian. "Es wäre besser, wenn ich, Gaya oder Johannes..."
"Sie könnten mich unter Umständen doch erkennen", unterbrach Cycil. "Und die Wahrscheinlichkeit, dass sie auch mein Gesicht kennen, ist ziemlich hoch. Es wäre ungefährlicher für euch, nicht mit mir zusammen gesehen zu werden." Er spürte die fragenden Blicke der anderen und schüttelte den Kopf. "Ich erkläre es euch ein anderes mal."
"Na gut, dann eben so", sagte schließlich Julian, nachdem er Cycil prüfend angesehen hatte. "Du gehst zur Weststraße, ich mit Dajana zur Nord und Gaya mit Johannes zur Süd. Dann ist in jeder Gruppe jemand, der sich in der Stadt auskennt."
"Ich würde sagen, wenn jemand bis Sonnenuntergang nicht an der Brücke ist, sollten die anderen nicht länger warten", fügte Cycil hinzu, "sondern schnellstens aus Sunajs Umgebung verschwinden."
"Ja, das machen wir. Los jetzt!"
Gaya öffnete die verborgene Tür, durch die Alay verschwunden war, und ging in den anliegenden Raum. Als Dajana ihr gefolgt war, erstaunte es sie nicht zu sehen, dass Alay schon weg war. Irgendwie wunderte sie gar nichts mehr an dieser Zauberin. Ein Haufen Kleider lag in der einen Ecke, in der anderen waren drei Pferde angepflockt. Deren Anblick ließ Dajanas Herz schneller schlagen.
"Ähm, müssen es wirklich Pferde sein?", fragte sie kleinlaut. "Wäre es nicht leichter... zu Fuß die Stadt zu verlassen?"
"Ja, aber was willst du draußen machen? Denkst du nicht, dass wir viel schneller auf Pferden vorankommen würden?", fragte Julian und sie seufzte.
"Wahrscheinlich hast du Recht. Aber... ich kann gar nicht reiten...", gab sie zu.
"Du brauchst nicht zu reiten, du hältst dich einfach gut fest und überlässt alles andere mir, klar?"
"Na, wenn du meinst", sagte sie gedehnt und schaute sich die Pferde noch mal an. Warum mussten sie so hoch sein?!
"Dajana, fang!" Julian warf ihr ein Bündel Kleider zu, die sie schnell auffing und ausrollte. Ein weiter, schwerer Mantel mit einer Kapuze war darin, einer von der teuren Sorte, die viele Adlige trugen. Und damit sollen wir unauffällig sein? Aber sie kam nicht dazu, ihre Zweifel auszusprechen, denn alle machten einen hektischen Eindruck und schienen sich überhaupt viel mehr Sorgen zu machen als Dajana. Anscheinend ist Cycil nicht der einzige, der Frederique nicht gern begegnen würde...
Der eben Erwähnte ging zu den Pferden und band eins los, ohne darauf zu achten, welches. Er öffnete das Tor und führte das Pferd hinaus auf die Straße. Den Umhang befestigte er an den Sattel und stieg schnell auf.
"Passt auf euch auf. Viel Glück", sagte Cycil leise, vermied es, Dajana in die Augen zu sehen, und ritt los. Sie fühlte ein komisches Kribbeln und wachsendes Unbehagen. Aber er verschwand schnell aus ihrem Blickfeld und ihr blieb keine Zeit zum Überlegen.
Sie brachen auf.

Dajana klammerte sich an Julian und hielt die Augen geschlossen. Sie fürchtete, sich übergeben zu müssen, wenn sie die Häuser an sich vorbeiziehen sah. Die Geschwindigkeit und Höhe allein zu spüren reichte ihr, um den Tag zu verfluchen, an dem sie N’hoa verlassen hatte. Welcher Gott war so wahnsinnig gewesen, Pferde zu erfinden?
"Dajana, ich ersticke hier!", sagte Julian ärgerlich. "Wenn du deinen Griff ein wenig lockern könntest, wäre ich dir sehr dankbar!"
"Aber... dann würde ich runterfallen!"
"Du sollst ja nicht loslassen! Nur ein wenig lockern!"
"Kann ich nicht", sagte sie kummervoll. "Ich glaube, ich kann mich nicht mehr bewegen." Er stöhnte gereizt und wünschte sie zur Hölle. Warum musste er ausgerechnet Dajana bekommen? Irgendwie schaffte er es, seinen Ärger zu unterdrücken und sie nicht anzufahren.
"Wir sind gleich da", sagte er stattdessen in der Hoffnung sie damit zu beruhigen.
"Oh nein!" Sie presste sich noch enger an ihn und spürte die kratzige Oberfläche des Mantels unangenehm an ihrer Wange.
"Was ist denn jetzt schon wieder?"
"Wenn wir da sind, werde ich dann absteigen müssen?", fragte sie.
"Natürlich oder willst du den Rest deines Lebens im Sattel verbringen?"
"Geht das?"
"Dajana! Wenn du nicht sofort aufhörst so ein Feigling zu sein, wirst du gleich jetzt absteigen müssen und zwar auf die unangenehme Weise!"
"Dann werde ich dich mitnehmen!", entgegnete sie und ein Hauch ihres früheren Stursinns klang durch. Julian schöpfte Hoffnung.
"Hör zu, ich werde dir beim Absteigen helfen. Es wird genauso leicht wie beim Aufsitzen."
"Leicht? Ich bin fast auf der anderen Seite runtergefallen!" Er musste lachen.
"Ja, stimmt. Das war vielleicht ein lustiger Anblick."
"Lustig? Lustig fandest du das?", brauste sie auf. "Ich bin fast gestorben!"
"Nun übertreib mal nicht." Er zügelte das Pferd und es fiel in einen gleichmäßigen Schritt. Dajanas Zorn verrauchte auf der Stelle; sie gab ein quiekendes Geräusch von sich und verstärkte ihre ohnehin schon eisenharte Umklammerung. Julian dachte bei sich, dass er ihre Krallenspuren wahrscheinlich noch übermorgen sehen würde. "Wir sind jetzt ganz nah dran", verkündete er leise. "Hörst du, Dajana? Gleich geht’s los."
"Was hast du vor?", wisperte sie.
"Mir ist da was eingefallen. Und weißt du was, du brauchst gar nicht abzusteigen."
"Ach nein?"
"Nein. Du schaffst es doch sicherlich das Pferd allein zu lenken, oder?"
"Was?!!" Er lächelte und hielt das Pferd an.
"Dachte ich mir schon."

"Wohin gehen wir?", fragte Johannes.
"Ich glaube, wir beide werden es nicht ohne weiteres an den Grenzposten vorbei schaffen", antwortete Gaya und bog in eine Seitenstraße ein. "Und noch dazu mit Waffen und mit meinem Stab. Wir brauchen Hilfe. Also hole ich Hilfe." Etwas huschte vor ihnen durch die Gasse und verschwand im Rinnstein. Das Pferd wieherte erschrocken und bäumte sich auf.
"Ruhig! Das war doch nur eine Ratte", brachte Johannes zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und kämpfte mit der Stute um die Kontrolle. Gaya versuchte außer Reichweite der umherschlagenden Hufe zu bleiben und gleichzeitig nicht auf dem Abfall auf dem Boden auszurutschen. Johannes schaffte es schließlich, die Zügel zu erwischen, und zog das Pferd vorsichtig wieder runter. Es schnaubte noch einmal, beruhigte sich dann aber. Gaya sah sich schnell um, ob jemand sie gehört hatte, aber immer noch war keiner zu sehen.
"Weiter geht’s", flüsterte sie und umging eine große Lache, von der ein unangenehmer Geruch ausging. Die Gasse, durch die sie gingen, war nicht gerade eine große Sehenswürdigkeit der Stadt, aber dafür gab es hier mit großer Sicherheit nicht viele Menschen, die sie sehen konnten. Und sie führte geradewegs zu ihrem Ziel.
"Was für Hilfe?", erkundigte sich Johannes etwas später.
"Wir gehen zu meinen Verwandten."
"Hast du nicht gesagt, du kannst deine Familie nicht ausstehen?", wunderte er sich.
"Habe ich das wirklich laut ausgesprochen? Gut, stimmt schon. Aber", sie rutschte auf dem nassen Stein aus und musste sich an der feuchtklebrigen Wand eines Gebäudes festhalten. "Oh man, denkt keiner daran, hier sauberzumachen?" Sie wischte ihre Hand an dem Umhang ab, den sie sich übergeworfen hatte.
"Du warst gerade beim Aber", half Johannes nach.
"Aber es gibt ein Mitglied meiner Familie, mit dem ich gut auskomme. Und zu dem gehen wir jetzt."
"Wird er uns helfen?"
"Garantiert", sagte Gaya überzeugt. Dann, nach kurzem Nachdenken: "Wenn er nicht gerade Hausarrest hat."
"Dann ist ja alles in Ordnung."
"Ach, mach dir keine Sorgen. Selbst wenn er Hausarrest hat, können wir ihn ja unbemerkt rausholen."
"Verstehst du dich gut mit seinen Eltern?" Gaya musste düster lachen als sie an ihr letztes Gespräch mit Morgana dachte.
"Oh und wie! Das letzte mal, als ich seiner Mutter begegnet bin, hätte ich sie beinahe zu Asche verbrannt."
"Wieso beinahe?"
"Der Stuhl musste für sie herhalten."
"Dann sollten sich die Möbelstücke lieber in Acht nehmen", bemerkte er.
"In der Tat. Ich hoffe aber, dass es jetzt nicht so weit kommt. Glaub mir, es ist kein Spaß, sich das Gezeter meiner Eltern anzuhören: 'Wie kommst du nur dazu, Morganas Möbel zu zerstören? Da bleibst du für Jahre irgendwo im Nimmerland, bringst Schande über die Familie und kommst nur her, um die Kinder zu verderben und Häuser zu zerstören! Die Götter müssen uns verflucht haben, dass so etwas wie du das Licht der Welt erblicken konnte!’..."
"Das hört sich so an als wäre es nicht das erste mal."
"Schön wär’s! Eigentlich soll man ja nicht über seine Eltern schlecht sprechen, aber mir fällt es schwer, etwas gutes über sie zu sagen."
"Besser gar nichts sagen", meinte er und Gaya nickte.
"Genau meine Ansicht. Die Götter wissen, wie froh ich bin, nicht hier aufgewachsen zu sein!" Sie war auf einmal froh, dass Julian nicht hier war. Er hätte bestimmt irgendeine ketzerische Bemerkung gemacht.
Eine Zeitlang war nur das Hufgetrappel des Pferdes zu hören und ab und zu sein Schnauben, wenn es eine weitere Ratte entdeckte.

Cycil brauchte nicht darauf zu achten, dass ihn keiner sah. Er donnerte mit seinem Pferd durch die Straßen und die Menschen wichen ihm erschrocken aus. Einige male begegnete er den Wachen, die es aber nicht wagten, sich ihm in den Weg zu stellen. Nur gut für sie. Cycil war sich nicht sicher, ob er andernfalls ausgewichen wäre.
Merkwürdig, wie sich alles verändert, dachte er. An der Oberfläche scheint alles das Gleiche geblieben zu sein, aber wenn man nur ein wenig tiefer gräbt und die Schicht aus Anstand ankratzt, sieht man die Angst und Unsicherheit. Das Misstrauen. Liegt das nur an Frederique? Wissen die Menschen immer noch nicht, was sie unter seiner Herrschaft erwartet? Andererseits, auch wenn sie es wissen, was könnten sie tun. Alles ändert sich.
Er sprengte eine Seitenstraße hinauf und wandte das Pferd nach links. Es war ein weiter Weg zum Westtor. Hat Julian es mir deshalb zugeteilt? Damit ich keine Dummheiten mache? Er lächelte; wie viele Menschen gab es schon in Cinhyal, die sich etwas aus ihm machten? Aber ich komme schon ganz gut alleine zurecht. Hab es immer getan.
Die Sonne hatte den Zenit überschritten und schien jetzt im Nachmittag. Leichte Wolken waren aufgezogen, weiß und unschuldig. Von einem kalten Wind getrieben, schwammen sie am Himmel entlang und verdeckten manchmal für einen Augenblick die helle Scheibe der Sonne. Was für ein schöner Tag. Wo würde ihn der Abend finden?
Ist das nicht egal? Und wenn ich in den Verliesen lande, und wenn ich heute sterbe, gab es dennoch eine Zeit außerhalb der Schmerzen, außerhalb des Todes. Das können mir weder Frederique noch die Toten nehmen. Ich habe Freunde gefunden, ehrliche Menschen, denen Verrat ein Fremdwort ist. Ich habe Dajana gefunden...
Er vertrieb energisch die Gedanken an sie, das zerstörte jegliche Konzentration. Seine einzige Chance, am Leben zu bleiben und durchzubrechen, war seine Magie. Und dazu brauchte er die Erinnerungen. Wie man es ihm in der Kindheit oft gesagt hatte:
"Starke Magie erzeugt nur der, der starke Gefühle kennt."
Nicht viele, die ihn kannten, wären auf den Gedanken gekommen, dass er zu starken Gefühlen fähig war. Aber jenseits der Mauer, die er in seinem Innern errichtet hatte, um nicht mehr daran zu denken, warteten sie wie eine riesige Welle, bereit, ihn zu umspülen und zu ertränken. Sie zu kontrollieren war schwer, aber Cycil musste es riskieren und sich mit ihnen auseinander setzen. Nur dann konnte er die ganze Macht entfalten, die in seinen Adern floss.
Um mit dem Leben davonzukommen, brauchte er den Tod.
 

© Martha Wilhelm
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Und schon geht's weiter zum 2. Teil des 5. Kapitels :-)

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