Der Weg einer Druidin von Martha Wilhelm
Kapitel 7: Sumpfblumen (3)

Ich wusste nur verschwommen, wie ich den Weg zurück gefunden hatte. Ich stand am Rande der Erschöpfung, nachdem der Energieschub aufgebraucht war, konnte ich mich kaum noch auf den Beinen halten. Doch mit letzter Kraft befahl ich mir zu laufen.
Als ich gegen eine Tür stieß, riss mich das aus der starren Benommenheit, in die ich unbemerkt verfallen war. Stumpf starrte ich sie an, ohne auch nur einen Gedanken im Kopf zu haben. Wo war ich? Wer war ich? Eigentlich war mir das so ziemlich egal. Meine Hände umklammerten einen bauchigen Korb, als würde mein Leben davon abhängen, aber ich hatte keine Ahnung, warum.
Dann wurde die Tür von innen heraus aufgerissen. Eine dunkelhaarige Frau sah mir entgegen, in ihren grünen Augen spiegelte sich Dunkelheit wieder.
"Cycil! Bei der heiligen Mutter, was ist mit dir?", rief sie erschrocken aus. Cycil - war ich das?... 
Mühevoll zwang ich mich wieder nachzudenken, die Starrheit zu verscheuchen, die sich meiner bemächtigt hatte.
"Es geht... mir... gut", murmelte ich undeutlich, denn es tat weh zu sprechen. "Daj..."
"Von wegen gut! Du kannst ja kaum noch stehen..." Sie stützte mich, weil ich nah daran war umzukippen, und half mir hinein. Ich setzte mich schwerfällig auf den Boden und Gaya kniete sich neben mich, untersuchte mich besorgt. "Was ist bloß passiert? Du siehst schrecklich aus, als hätte man dich... Lass doch diesen Korb los, verdammt!" Ich wusste nicht, ob ich es konnte. Dann stellte sich heraus, dass ich keine Wahl hatte, denn Gaya nahm mir den Behälter energisch ab und stellte ihn beiseite.
In der Wärme des Stalls drohte die Schläfrigkeit mich endgültig zu übermannen, die Augen fielen mir wortwörtlich zu. Ich zwang mich wach zu bleiben, klammerte mich mit dem letzten Bisschen Kraft an den Namen. Versuchte Gaya zu sagen, sie solle mich wachrütteln oder mir ins Gesicht schlagen. Aber heraus kamen nur unverständliche Worte, unartikulierte Laute, denen sie nicht einmal Beachtung schenkte. Ich schaffte es nicht mal den Namen zu sagen.
Da sagte sie ihn.
"Dajana, steh da nicht so rum! Hol mir Wasser und zwar schnell!", rief Gaya ärgerlich. Ich war erstaunt, glaubte zumindest es zu sein, und sah an Gaya vorbei zur anderen Wand. Und da stand sie, unversehrt, mit verschränkten Armen und den unvergleichlichen goldenen Locken. Schmutzig zwar, aber dennoch unversehrt. Sie war hier! Nicht bei den Hexerzelten, sondern hier, ganz ruhig, und begegnete meinem Blick mit Gelassenheit.
"Wo gibt es hier Wasser?", fragte sie. Ihre Stimme war das süßeste, was ich je vernommen hatte. Eine ungeheuere Erleichterung ergriff von mir Besitz, löste die Anspannungen in meinem Körper und die quälende Unruhe. Ich sank in mir zusammen. Gaya sagte etwas, aber ich verstand es nicht. Bloß monotones Rauschen. Und dann ebbte alles ab, wie Wasser am Ufer.
Endlich konnte ich gefahrlos das Bewusstsein verlieren.

Zwar war das Wasser lauwarm, aber es erfrischte mich dennoch, wie es über mein Gesicht lief. Behutsam säuberte Gaya die aufgeplatzten Wunden und ich unterdrückte jeden Schmerzenslaut. Ich wusste, dass der Schmutz weg musste, da es sich sonst leicht entzünden konnte. Während dieser unangenehmen Prozedur beobachtete ich Dajana, ließ sie nicht mehr aus den Augen. Es tat so gut, sie zu sehen, dass es mich nicht einmal in Verlegenheit brachte, als sie trocken bemerkte:
"Er starrt mich an."
"Na, dann lass ihn doch", meinte Gaya geistesabwesend, ganz auf mich konzentriert. Das hielt mich jedoch nicht davon ab, Dajana die Frage zu stellen, die mir auf der Zunge brannte, seit ich wieder bei Bewusstsein war.
"Was tust du hier?" Sie legte den Kopf leicht schief, doch ihre Miene blieb immer noch unbewegt.
"Herumstehen, wie du siehst." Lakonie ist keine Eigenschaft eines Sklaven und bestimmt keine, die sie bei unserer ersten Begegnung gehabt hatte, daher freute ich mich diese Antwort zu hören.
"Ja, aber warum bist du hier? Hattest du keine... anderen Anweisungen?" Eine Falte bildete sich zwischen ihren hellen Augenbrauen.
"Ich hatte doch deine Anweisung", erwiderte sie langsam. "Also habe ich sie befolgt. War das falsch?"
"Nein! Nein, natürlich nicht", versicherte ich ihr. Eine Zeitlang musste ich dann Schweigen bewahren, weil Gaya meinen Mund behandelte. Gleichzeitig überlegte ich. War es tatsächlich nur blinder Gehorsam gewesen, der Dajana dazu bewogen hatte, hierher zu kommen? Oder wachte langsam ihr altes Selbst auf, stimuliert von vertrauten Gesichtern und verträglicher Umgebung? Ich wagte es kaum zu hoffen. Aber tatsächlich bemerkte ich gewisse Veränderungen in ihrem Verhalten. Sie handelte selbstständiger, ungezwungener, nicht mehr so auf Befehle fixiert. Ihr schien außerdem eine Haltung innezuwohnen, die an natürliche Skepsis erinnerte, Zynismus.
Als ich wieder sprechen durfte - Gaya erwies sich zu meinem Erstaunen als sehr unnachgiebig, was das anging -, beschloss ich es herauszufinden. Ich sah Dajana also durchdringend an und fragte direkt:
"Dajana, bist du aus freiem Willen hier?" Sie blinzelte überrascht; die distanzierte Haltung löste sich ein wenig.
"Freier Wille?", wiederholte sie ungläubig. "Was soll denn das heißen? Ich bin eine gehorsame Arbeiterin der Herren; ich tue, was auch immer sie mir auftragen."
"Ach? Warum bist du dann hier und nicht bei den Zelten?"
"Weil du es mir befohlen hast!"
"Nein, habe ich nicht", widersprach ich. "Das habe ich dir letzte Nacht gesagt, doch nicht diese. Und am Morgen habe ich vergessen, es dir zu sagen. Warum also bist du hier?" Sie schwieg kurz.
"Ich dachte, es wäre ein Befehl, der für jede Nacht gilt", antwortete sie dann.
"So, du hast also gedacht? Denken ist freier Wille", meinte ich.
"Quatsch", entgegnete sie verärgert.
"Du widersprichst mir!", gemahnte ich sie. "Du gehorchst mir nicht mehr, das bedeutet Verrat an den Herren!"
"Das ist Unsinn!", sagte sie sofort. "Du bist keiner der Herren!"
"Aha. Wie kommst du darauf?"
"Du... du bist einfach ein Arbeiter! Genau wie ich, wie sie", sie deutete auf Gaya, die den Wortwechsel unbehaglich mitverfolgte, wie ein Kind, das den Streit seiner Eltern mitanhören muss.
"Das weißt du nicht", stellte ich fest. "Ich könnte genauso gut einer der Herren sein, der sich bloß verkleidet hat, um deine Loyalität zu testen!" Sie verzog das Gesicht.
"Das bist du aber nicht! Du bist einfach... Cycil!"
"Was soll denn das bedeuten?", fragte ich verdutzt. Sie zog die Augenbrauen zusammen, suchte nach Worten und konnte keine finden. Schließlich biss sie sich auf die Unterlippe und wandte sich entschlossen von mir ab. So. Die Unterhaltung war damit beendet.
Gaya sah ihr hinterher, als sie in den anderen Raum überging, und sah dann wieder mich an. Missbilligend.
"Ihr solltet euch nicht streiten", meinte sie.
"Das war kein Streit", erwiderte ich. "Das war..." Nun, ich wusste es auch nicht. Also zuckte ich bloß mit den Schultern und sie akzeptierte das als Antwort. Was sonst?
"Was soll ich mit dem hier machen?", fragte sie mich stattdessen und zeigte auf den Korb. Ich wollte schon sagen, es sei mir gleich, als mir jäh einfiel, was ich eigentlich damit vorgehabt hatte. Die Nachricht!
"Verdammt", murmelte ich. Um ein Haar hätte ich es vergessen. "Gib ihn mir mal." Ich öffnete den Korb und entnahm ihm den braunen Topf. Er war nicht mehr warm, aber als ich ihn öffnete, sah ich, dass er Essensreste enthielt. Essensreste oder eine Antwort?
Gaya beobachtete interessiert, wie ich jedes einzelne Stückchen vorsichtig herausnahm und ausführlich untersuchte. Wäre sie die alte Gaya gewesen, hätte sie mich mit Fragen durchlöchert. Doch diese Gaya schaute bloß geduldig zu und wartete. Ich fand den Grashalm wieder, den natürlich keiner gegessen hatte - wofür ich dankbar war, da ich vermutete, dass er giftig war -, aber keine Nachricht. Dachte ich zumindest, bis ich ein zerknicktes Blatt herausholte. Und darauf dann kaum lesbare Schriftzeichen entdeckte. Mein Herz schlug schneller. Ich rückte näher an die kleine Lampe heran, die Gaya irgendwo in den Ställen entdeckt hatte, und versuchte das Geschriebene zu entziffern.

"Mir ... gut, Alay ... aber sie hält ... Habe Julian ... von Silo gefunden. ... zur Flucht. Johannes."

Nachdem ich die Botschaft gelesen hatte, versuchte ich einen Sinn darin zu finden. Anscheinend hatte ich Recht gehabt, es waren wirklich Alay und Johannes in dem Gebäude gewesen. Was war mit Alay? Johannes ging es offenbar gut, doch was mit Alay los war, vermochte ich nicht zu entziffern. Zum Glück konnte ich weitgehend verstehen, wo sich Julian befand - irgendwo beim Silo, beim großen Lagerhaus der Siedlung. Das lag ziemlich weit entfernt, ich war nicht dazu gekommen, dort zu suchen. Der letzte Satz war wichtig, aber ich konnte nur "zur Flucht" verstehen. Bereit zur Flucht? Nicht bereit? Johannes’ Schrift war dermaßen zusammengedrängt, dass ich nicht einmal ausmachen konnte, ob es nun eines oder mehrere Wörter waren.
Gaya war unauffällig nähergekommen und spähte mir nun neugierig über die Schulter. Ich ließ sie gewähren, obwohl ich keine Ahnung hatte, was ihr dieses Gekritzel sagen konnte. Dann lächelte sie plötzlich und dieses freudiges Lächeln erhellte ihr Gesicht, als wäre eine Sonne darin aufgegangen. 
"Ich kenne diese Namen", sagte sie leise. "Alay. Julian. Johannes. Das sind Freunde."
"Ja", stimmte ich zu. "Gute Freunde."
"Sind sie gefangen genommen worden?"
"Ja."
"Willst du sie befreien?"
"Natürlich. Morgen früh gehe ich gleich zum Silo, dort irgendwo müsste Julian sein. Nächste Nacht befreien wir dann Alay und Johannes, und dann können wir alle gemeinsam fliehen..." Ich gähnte. Bevor ich irgendjemanden befreien konnte, brauchte ich erst mal Schlaf. Und Essen, denn jetzt fiel mir wieder ein, wie hungrig ich war. Aber das konnte warten, bis zum Morgen. Die Erschöpfung betäubte den Hunger und benebelte meine Gedanken. Ich wollte mich bloß hinlegen und die Augen zumachen.
"Du legst dich jetzt schlafen", bemerkte Gaya. "Über deine Befreiungspläne sprechen wir noch." Was sollte denn das heißen? Aber ich war zu müde um nachzufragen. Da fiel mir noch was ein.
"Ich sollte heute bei den anderen Arbeitern schlafen", murmelte ich. "Die Hexer werden misstrauisch..."
"Du hast dich eben verirrt", meinte sie ungerührt. "In den Sümpfen, wegen der Dunkelheit. Das erklärt dann auch dein Aussehen. Und jetzt keine Widerrede mehr." Von wegen Widerrede! Ich machte es mir auf dem Boden bequem, so gut es ging, und schloss die Augen. Endlich!
Der Korb. Was sollte ich mit dem Korb machen? Würde es nicht auffallen, wenn...
Später. Alles - später.

Ich wachte nicht von selbst auf, sondern wurde wach gerüttelt. Diese grobe Behandlung drang nur schwer durch den dichten Nebel in meinem Verstand, der mehr einer Ohnmacht als Schlaf ähnelte. Ich registrierte, dass man irgendetwas zu mir sagte, aber nicht, was - dazu war ich nicht in der Lage. Ich fühlte mich körperlos, außerhalb der Wirklichkeit. Alles war so weit weg.
Lass mich. Ich möchte doch nur schlafen, für immer, ist das zu viel verlangt?
Anscheinend schon, denn mit störrischer Hartnäckigkeit wurde weiter geschüttelt. Schmerz durchzuckte die Betäubung und ermunterte mich ein wenig. Wenigstens so weit, dass ich die Augen öffnen konnte - sehr widerwillig. Ich musste mehrmals blinzeln um etwas erkennen zu können und selbst dann blieb die Sicht erschreckend unklar.
"Aufhören", murmelte ich, denn bei jeder Bewegung durchlief mich eine erneute Schmerzenswelle. Und tatsächlich tat Dajana mir den Gefallen und hörte auf. Einen Augenblick lang herrschte Ruhe. Wieder fühlte ich mich herabgezogen in süßes Vergessen.
Krach! Ich schrie auf, als der Schmerz in meinem Gesicht explodierte und die Betäubung endgültig fortriss.
"Wenn du jetzt immer noch weiterschläfst, werde ich dich treten!", drohte Dajana. Ich fluchte unterdrückt, erstickte einen Schmerzenslaut und hob eine Hand, um erneute Anschläge ihrerseits abzuwehren. "Na endlich regst du dich mal! Du bist schwerer aufzuwecken als ein volltrunkener Söldner!"
"Das kommt wohl daher, dass ich vor Erschöpfung nicht mal richtig sehen kann, fast verhungere, erkältet bin und mein Gesicht sich wie eine zertretene Kakerlake anfühlt!", fuhr ich sie an.
"Danach sieht es auch aus", erwiderte sie unbeeindruckt.
"Ja, nachdem du mich so sanft aufgeweckt hast, ist das auch kein Wunder!"
"Entschuldige bitte, aber bei dir weiß man nie, ob du schläfst oder tot bist!" Darauf wusste ich nichts zu erwidern, ich konnte sie nur anstarren. Sturer Trotz sah mir aus ihren Augen entgegen und endlich erkannte ich Dajana wieder, die Dajana, in die ich mich in N’hoa verliebt hatte.
Ich setzte mich auf und dabei rutschte eine schmutzige Decke von mir runter. Ich konnte mich nicht erinnern, dass sie schon da gewesen war, als ich einschlief. Auf meinen fragenden Blick hin, seufzte Dajana und antwortete:
"Das war natürlich Gaya, wer denn sonst? Du hast im Schlaf so oft geniest, dass sie Mitleid bekam und irgendwo dieses Ding aufgestöbert hat." Ich hielt nach ihr Ausschau, aber sie war nirgendwo zu sehen.
"Wo ist sie denn?"
"Sie ist weg", antwortete Dajana ruhig.
"Weg?" Ich befreite mich von der Decke und richtete mich auf. "Was soll das heißen? Warum ist sie weg? Wohin?" Gemächlich stand auch sie auf.
"Sie ist vor einigen Stunden weggegangen, es war noch Nacht. Sie wollte so einen Kerl suchen - wie hieß er noch mal? Irgendetwas mit J."
"Julian?", schlug ich vor.
"Ja, genau. Den wollte sie suchen."
"Warum?", fragte ich aufgebracht. "Ich wollte es doch heute tun!"
"Reg dich doch nicht so auf! Was hab ich dafür, dass sie so unvernünftig ist? Ich habe ihr gesagt, dass du so reagieren würdest und dass du von diesen ganzen Rettungsaktionen mehr Ahnung hast, aber sie wollte nicht hören. Und warum? Weil sie dir ja unbedingt helfen wollte. Sie hat gemeint, du wärst verletzt und krank und hast dich sowieso überanstrengt, man sollte dich ausruhen lassen. Blödsinn, ich weiß, aber sie blieb erstaunlich stur." Sie zuckte mit den Schultern, offenbar der Meinung, alles menschenmögliche getan zu haben, um Gaya von ihrem Vorhaben abzuhalten. Ich fluchte wieder. Wie kam sie nur auf so etwas verrücktes? Alleine loszuziehen, ohne Plan, ohne Erfahrung, ohne Garnichts! Sie erinnerte sich nicht einmal! Überhaupt galt sie doch als tot, wenn man sie jetzt sah...
Und alles aus Mitleid! Zu mir auch noch! Wenn das kein Beweis dafür war, dass Emotionen nur Schaden anrichteten.
Dajana sah meinen Gesichtsausdruck und wich vorsichtig zurück, vielleicht aus Angst, ich könnte meine Wut an ihr auslassen. Ich atmete tief durch und versuchte mich zu beruhigen. Jetzt war keine Zeit für Wutanfälle. Ich musste ihr hinterher, sie aufhalten, falls es nicht schon zu spät war...
"Das würde ich an deiner Stelle nicht tun", sagte Dajana. Ich sah zu ihr auf, verdutzt.
"Was würdest du nicht tun?"
"Ihr zu folgen."
"Und warum nicht?"
"Weil sie Recht hat", meinte Dajana. "Nein, widersprich mir nicht, Cycil. Sie hat gesagt, dass die Hexer misstrauisch werden und dich deshalb genauer beobachten werden. Das Silo ist ziemlich weit entfernt, du würdest den ganzen Tag lang unterwegs sein. Denkst du, dass das nicht auffallen würde? Und überhaupt brauchst du mal eine Pause. Keinem nützt es was, wenn du zusammenbrichst." Ich schwieg, nachdem sie zuende geredet hatte, und betrachtete sie nachdenklich.
"Wie kommt es, dass du so schnell zu dir selbst zurückfindest, obwohl du immer noch die Nahrung zu dir nimmst, die mit Drogen versetzt ist?", wollte ich wissen.
"Tue ich ja gar nicht mehr."
"Nein?"
"Nein. Gaya hat gemeint, das schadet mir, also habe ich damit aufgehört. Ich gehe noch zum Essen, aber ich tue nur so, als würde ich tatsächlich etwas zu mir nehmen."
"Und wann wolltest du mir das mitteilen?"
"Keine Ahnung. Warum musst du denn über alles Bescheid wissen? Wer hat dich zum Anführer ernannt?" Ich war wieder sprachlos. Da stand sie vor mir, ganz ruhig und gelassen, als ob nichts wäre. Träumte ich noch? Ich stellte die Frage laut und sie lächelte.
"Ich hoffe nicht. Ich möchte nicht in deinen Träumen vorkommen." Was soll man darauf erwidern?
"Denkst du wirklich, dass Gaya es schaffen wird?", fragte ich.
"Ich weiß nicht. Sie ist vorsichtig."
"Aber sie weiß nicht einmal, wer sie ist!", rief ich. "Sie erinnert sich nicht!"
"Als du mich hierher gebracht hast, hast du dich da erinnert?", stellte sie die Gegenfrage.
"Kaum", gab ich zu. "Aber trotzdem leitete mich meine Vergangenheit die meiste Zeit über. Was soll sie führen?" Dajana zuckte die Schultern, das Lächeln war ihr vergangen.
"Sie ist immer noch sie selbst, auch wenn sie sich nicht erinnert."
"Das ist sie gerade nicht!", widersprach ich. "Du bemerkst es vielleicht nicht, aber ich! Sie ist nicht die Gaya, die wir kennen gelernt haben..."
"Doch, das ist mir auch aufgefallen. Aber das ist bei dir genauso", hielt sie mir entgegen. "Ich erkenne dich auch nicht wieder, Cycil."
"Das ist etwas anderes. Du hast mich nie gekannt, Dajana."
"Mag sein. Aber kennen wir denn sie?" 
"Alles Spekulation", murrte ich. "Die Tatsache ist doch die, dass uns nun nichts zu tun bleibt, außer auf ihre Rückkehr zu warten." Ich hasste es zu warten.
"Doch, natürlich haben wir etwas zu tun", meinte sie. "Wir beide müssen jetzt da raus und den Schein bewahren, dass wir gehorsame Sklaven sind. Und du kannst dann gleich diesen Korb loswerden. Er stinkt." Ich sah sie mit neuer Bewunderung an.
"Habe ich je gemerkt, wie pragmatisch du sein kannst?" Sie lächelte wieder; ich liebte dieses Lächeln.
"Wenn nicht vorher, dann jetzt", erwiderte sie nonchalant.

Der Tag schleppte sich dahin. Ich brachte den Korb weg, der wirklich anfing schlecht zu riechen, und versenkte ihn in einem Tümpel. Dann wurde mir die Aufgabe übertragen in der Schmiede zu arbeiten - eine Arbeit, die ich wirklich hasste. Die Hitze zehrte mich auf, drang von außen nach innen, zersetzte alles neue, erfrischende, was ich in den letzten Tagen gewonnen hatte.  Doch ich ließ mich nicht abstumpfen.
Denn ich wusste, wer ich war: Cycil Whynneyar.
Und ich war ein freier Mensch, egal, in was für einer Situation ich mich jetzt auch befinden mochte.
Mit diesen Gedanken verlief der Vormittag, grau und zäh. Wie die Wolken am Himmel. Eigentlich war es doch Avrell, dachte ich während des Mittagessens. Mitten im Frühling. Müssten nicht selbst im Sumpf Auswirkungen davon zu sehen sein? Aufkeimende Sprossen, erste Frühlingsblüten? 
Aber ich war kein Experte für so etwas. Vielleicht wies die Tatsache, dass die Pflanzen grün und üppig wuchsen, auf den Frühling hin. Vielleicht trugen Sumpfblumen keine Blüten.
Doch als ich endlich die Schmiede verlassen durfte - es ging schon dem Abend zu -, fand ich heraus, dass es selbst im Sumpf Farben gab.
Ich schlenderte gemächlich einen Pfad entlang und beeilte mich überhaupt nicht, dem Befehl nachzukommen und eine Kiste mit fertiggeschmiedeten Waffen zu den Zelten zu transportieren. Im Gegenteil überlegte ich, ob ich die Kiste einfach im Sumpf versenken sollte. Sicher würde so eine Aktion einige unangenehme Fragen zur Folge haben und das war wahrscheinlich nicht gerade förderlich für eine Flucht. Aber, wenn man bedachte...
In dem Moment vergaß ich die Waffen völlig, denn hinter mir erklang ein Ruf. Hastig drehte ich mich um und tatsächlich war sie da.
"Gaya!", rief ich überrascht aus. Sie lächelte unverkennbar und kam rasch auf mich zu.
"Cycil, endlich habe ich dich eingeholt! Ich dachte schon, ich muss ewig hinter dir her laufen..." Sie erreichte mich mit zerzaustem Haar und unregelmäßigem Atem.
"Götter, bin ich froh, dich zu sehen", sagte ich und vergaß alles, was ich ihr hatte sagen wollen über unbedachtes Handeln, das einem den Kopf kosten konnte. Ich war einfach nur erleichtert. Ich hätte sie umarmt, aber die Kiste war mir im Weg und auf dem engen Pfad gab es keinen Platz, wo ich sie hätte absetzen können. So begnügte ich mich mit einem freudigen Lächeln, das sie ebenso strahlend erwiderte.
"Es tut mir leid, wenn ich dir Sorgen bereitet habe. Ich weiß, ich hätte alles mit dir absprechen sollen, Cycil, aber ich wollte dich nicht aufwecken. Und ich musste sehr früh morgens aufbrechen, damit..."
"Schon gut", unterbrach ich. "Ich verstehe, warum du es getan hast. Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, Hauptsache, du bist unversehrt zurück. Hast du Julian gefunden?"
"Ja", antwortete sie. "Ich hatte keine großen Schwierigkeiten. Beim Silo herrscht ein großes Kommen und Gehen, keiner hat auf mich geachtet. Julian zu finden war auch nicht schwer. Egal, wo er ist, er fällt immer auf." Sie lächelte verhalten. "Ich habe ihm einfach befohlen mit mir zu kommen, so wie du das bei Dajana getan hast, und er hat gehorcht. Fast zu leicht. Und auch wenn sein Verschwinden auffallen sollte, kann man dir nichts anhängen, denn du hast den ganzen Tag über vorbildlich gearbeitet. Hast du doch, oder?"
"Ja, ich war in der Schmiede beschäftigt."
"Hervorragend! Siehst du, es klappt alles perfekt. Und du brauchst nicht immer alles selbst zu machen, ich werde dir helfen, wo ich kann."
"Danke, Gaya", sagte ich warm. "Du bist eine echte Freundin. Wo ist Julian eigentlich?"
"In den Ställen natürlich. Ich habe ihm gesagt, er soll dort bleiben und keinen Mucks tun, bis ich wieder da bin. Ich musste dir aber unbedingt Bescheid sagen, damit du dir keine Sorgen mehr zu machen brauchst. Du bist nicht sauer auf mich, oder?"
"Nein, auf gar keinen Fall", versicherte ich ihr. "Das hast du toll gemacht. Bald ist es Abend, dann werden ich und Dajana auch zu euch stoßen. Dann können wir Alay und Johannes befreien."
"Und dann werden wir fliehen und nie wieder zurückkommen?"
"Ja. Das werden wir tun."

Die Nacht brach herein. Ich stand an der Tür und sah nach draußen. Es war dunkel, aber ausgerechnet heute war der Himmel klarer als sonst. Man konnte sogar einige Sterne erkennen. Der Mond schaute auf die stille Landschaft des Moores hinab, blass und halbvoll. Nun, damit würden wir leben müssen.
Ich drehte mich zu den anderen um. Wir waren jetzt zu viert, fast vollzählig. Julian hatte sich nicht viel verändert, seine Gestalt war magerer und sehniger geworden, aber ansonsten schien er immer noch der Gleiche zu sein. Äußerlich. Aber mit dem anderen würden wir uns später beschäftigen, dachte ich.
Jetzt stand uns etwas bevor, von dem ich hoffte, dass es nicht unser aller Untergang sein würde. Gefasst ließ ich meinen Blick über ihre Gesichter wandern. Dajanas undurchdringliche Züge, Julians leeren Ausdruck, Gayas erwartungsvolle Augen. Für sie alle trug ich die Verantwortung, ob ich es nun wollte oder nicht. Und ich wollte ganz entschieden nicht!
Disziplin, erinnerte ich mich.
"Es ist nicht so, dass ich einen richtigen Plan habe", fing ich an. "Alay und Johannes werden in dem alten Schmiedegebäude gefangengehalten; es befindet sich nah am Waldrand, daher ist unser Weg nicht weit. Im Celine sind wir halbwegs in Sicherheit, bis N’hoa kann es dann nicht mehr weit sein. Die größte Schwierigkeit wird es sein, die Hexer im Gebäude auszuschalten. Wir haben keine Waffen; ich nehme an, dass unsere sich im selben Gebäude befinden..." Dajana unterbrach mich.
"Wir haben sehr wohl Waffen", meinte sie und zeigte einen etwa handgroßen Beutel. Ich griff mir unwillkürlich an den Gürtel, aber natürlich befand sich nichts dort, schon gar nicht meine Giftdornen. Dajana hielt sie in der Hand. Sie löste die Verschnürung des Beutels und offenbarte die langen, schmalen, schwarzen Dornen.
"Wo hast du sie her?", fragte ich erstaunt. "Ich habe gedacht, die Hexer hätten sie mir abgenommen." Der Blick, mit dem sie mich maß, war sehr kühl.
"Ich hätte mir ja denken müssen, dass sie dir gehören." Ich hörte den Widerhall der Worte, die sie mir am Morgen entgegen geworfen hatte. "Wer hat dich zum Anführer ernannt?" "Du hättest wohl ein wenig besser danach suchen sollen, Cycil. Ich fand den Beutel am Sattel eines der Pferde befestigt. Obwohl er nass war, waren diese Nadeln unversehrt." Nass...
"Ich erinnere mich", sagte ich langsam. "Als ich im Wald vor den Wachen geflohen bin, wurde meine Kleidung zerrissen. Der Beutel fiel beinahe heraus, also band ich ihn unter dem Sattel fest, bevor ich dann in den Fluss gestürzt bin..." Ich war vor den Wachen geflohen. Aber was war davor? Ich wusste es nicht mehr, aber die Ahnung von etwas wichtigem hing darüber.
"Schön", sagte Dajana und unterbrach meine Grüblereien. "Danke für die Information. Aber was sind das nun für Nadeln?"
"Es sind keine Nadeln, sondern Dornen einer bestimmten Pflanze, gehärtet und gebrannt. Bestrichen mit starkem Gift. Ein kleiner Kratzer damit reicht aus, um jemanden zu töten - wenn noch genug Gift auf der Spitze ist." Dajana sah auf ihre Hand  und presste die Lippen zusammen.
"Ich nehme an, du willst sie wieder?", fragte sie bissig.
"Nicht unbedingt", meinte ich nachdenklich. "Es sind zehn. Julian und ich nehmen jeder zwei, du und Gaya jede drei. Das sind wirkungsvolle Waffen und werden uns sehr helfen. Gut gemacht, Dajana." Sie warf mir einen skeptischen Blick zu, verzichtete jedoch darauf etwas zu sagen. Stattdessen teilte sie vorsichtig die Dornen aus. Ich machte mir Sorgen wegen Julian. Er starrte die schwarzen Spitzen in seiner Hand an und schien nicht recht zu wissen, was er damit anfangen sollte.
"Bewahrt sie sicher auf, bis wir da sind", riet ich, wickelte meine zwei Dornen in ein abgerissenes Stück meines Hemdes ein und steckte sie in den rechten Stiefel. "Nicht, dass sie auf dem Weg verloren gehen." Sie sind unsere einzigen Hilfsmittel, ergänzte ich in Gedanken. Gaya tat es mir nach, Dajana steckte sie sich in den Hosenbund. Erst nachdem sie es Julian nachdrücklich gesagt hatte, versteckte er die seinen ebenfalls. Na gut, dachte ich. Es wird schon irgendwie klappen.
"Gehen wir", sagte Dajana. Gaya und Julian gehorchten ohne zu zögern und gingen an mir vorbei ins Freie. Dajana blieb kurz bei mir stehen. "Denkst du, dass Julian gegen die Hexer kämpfen wird?", fragte sie mich leise, den Blick abgewandt.
"Ich weiß nicht. Wenn wir es ihm befehlen und er keine Zeit zum Überlegen hat - vielleicht."
"Und wenn er sich auf deren Seite schlägt?" Jetzt sah sich mich an, forschend, eindringlich. Der Widerschein des Mondes schimmerte in den Tiefen ihrer grünen Augen.
"Dann werden wir etwas unternehmen müssen", erwiderte ich. Sie suchte nach Wahrheit in meinem Gesicht, in meinen Worten, aber ich wusste nicht, was sie fand.
"Kommt ihr?" Gayas Stimme aus der Dunkelheit. Ich wollte Dajana noch etwas sagen, aber sie war schon weg, wie ein mitternächtlicher Geist. Also blieb mir nichts anderes übrig als leise zu seufzen und ihr zu folgen.

Leise über schmale Pfade und Wege schlichen wir dahin, zwischen glitzerndem Wasser, stumpfem Sumpfland, schattenumrissenen Gebäuden. Der Mond beschien uns, hüllte uns mal in sein leichenblasses Licht, mal in düstere Schatten. Die Zeit verlor ihre Gültigkeit.
Die Finsternis war wie ein Leichentuch.
Als das verlassene Gebäude vor uns auftauchte, bemerkten wir es nicht. Es war nur ein weiterer dunkler Umriss in der Nacht. Aber dann gab es keinen erkennbaren Weg und wir hielten inne. Alle sahen mich an. Jetzt hing es von meinem Gedächtnis ab.
Ich hatte es geschafft, den Weg in großer Hast zu finden, während ebenso tiefer Dunkelheit. Es musste auch nun zu schaffen sein, sagte ich mir. So ging ich voraus und fand den Weg am Grund des kalten Wassers.
Meine Erkältung war ein wenig besser geworden - ich vermutete, dass das an der heißen Schmiede lag. Trotzdem musste ich mehrere male beinahe niesen und konnte Dajanas missbilligende Blicke an meinem Rücken fast spüren. Allerdings hätte es wohl keinen großen Unterschied bereitet, denn wir waren nicht gerade leise. Leise durch knietiefes Wasser zu gehen, schien mir ein Ding der Unmöglichkeit. Gut, um ehrlich zu sein, bewegten Gaya und ich uns einigermaßen lautlos. Das Problem lag eher bei den anderen beiden. Julian stolperte mehrmals und die Geräusche, die er dabei erzeugte, waren wohl bis Sunaj zu hören. Dajana gefiel es ganz und gar nicht nass zu werden; ich hörte die ganze Zeit über ihr gedämpftes Geschimpfe. Auch sie konnte nur schwer das Gleichgewicht halten. 
Ich war froh, dass wenigstens die Dornen in Sicherheit waren.
Schließlich standen wir auf halbwegs trockenem und festem Boden. Das Haus ragte über uns auf, Mondstrahlen schimmerten auf seinen Wänden. Ich bedeutete allen ganz nah heran zu kommen, damit ich flüstern konnte.
"Also, ich habe mir das wie folgt vorgestellt: ich stürme ins Haus und versetze den ganzen Haufen drinnen in helle Aufregung, indem ich ihnen erzähle, dass die Siedlung angegriffen wird. Hoffentlich wird daraufhin ein Großteil von ihnen nach draußen laufen, wo ihr auf sie wartet. Ihr macht Lärm von allen Seiten, so dass sie sich aufteilen, um euch aufzustöbern. Ihr führt sie in den Sumpf und fallt dann in der Dunkelheit über sie her. Benutzt die Dornen, um sie unschädlich zu machen. Wenn ihr schnell seid, werdet ihr es schaffen sie zu überrumpeln. Dann können sie nicht mehr Gebrauch von ihrer Magie machen. Ich werde mit den Übriggebliebenen fertig, dann befreien wir Johannes und Alay."
"Die Sache mit der Magie macht mir Sorgen", äußerte sich Dajana. Mir auch, erwiderte ich in Gedanken. Mir auch.
"Das ist ein Risiko, stimmt schon, aber in der Dunkelheit werden sie es schwer haben, euch zu treffen. Wenn ihr also schnell seid, haben sie gar keine Chance." Ich hoffte, ich hörte mich einigermaßen zuversichtlich an.
"Was, wenn ein Großteil drinnen bleibt?", wollte Gaya wissen.
"Ich werde es schon schaffen", sagte ich und lächelte beruhigend, hoffte, dass sie es sah.
"Woher wissen wir, wann wir ins Haus gehen können?", fragte Dajana weiter. "Es könnte eine Falle sein." Meine Achtung vor ihr stieg.
"Darüber habe ich mir auch schon Gedanken gemacht. Ihr wartet draußen, bis ich selbst die Tür für euch öffne. Klar? Auch wenn ich von innen um Hilfe rufe oder sonst noch was, ihr geht erst hinein, wenn ich es euch persönlich sage."
"Man könnte dich immer noch dazu zwingen, das zu tun", meinte Dajana.
"Nein, darauf würde ich mich nicht einlassen", versicherte ich.
"Trotzdem", beharrte sie. "Man weiß ja nicht. Wir machen das so: du sagst, dass alles klar ist, wenn wirklich nichts dabei ist. Wenn es eine Falle ist, sagst du irgendetwas anderes und wir verstehen dann sofort, was los ist." Ich nickte, das klang gut.
"Und was dann?", verlangte Gaya zu wissen. "Wenn sie dich wirklich gefangen genommen haben, was tun wir dann?"
"Dann wird euch schon was einfallen", sagte ich kurz. Wir hatten nicht die Zeit einen gemütlichen Plausch zu führen. Dajana sah mich schnell an und verstand.
"Wir sollten endlich anfangen", sagte sie und warf Julian einen abschätzenden Blick zu, der stumm zugehört hatte. Ich nahm jedenfalls an, dass er zuhörte. Er war das schwächste Glied unserer Truppe, der Punkt, den wir nicht voraussagen konnten, auf den wir uns nicht verlassen konnten. Aber konnten wir ihn einfach zurücklassen? Nein. Dann wäre er ein leichtes Opfer. Wir mussten ihn miteinbeziehen, selbst wenn er ein Risiko darstellte.
"Hast du verstanden, was du zu tun hast, Julian?", erkundigte ich mich vorsichtig. Er blinzelte und richtete seine Augen auf mich, trüb und unsicher.
"Die... die Hexer in den Sumpf locken und unschädlich machen. Dann auf Signal warten und reingehen." 
"Schön", sagte ich gedehnt. "Geh vorsichtig mit den Dornen um, du darfst dich nicht selbst stechen. Verstanden?" Er nickte abgehackt. "Pass nach Möglichkeit auf ihn auf", flüsterte ich Dajana zu. "Auf sie beide."
"Mach ich. Du aber auch auf dich." Mein Herz schlug einen Augenblick lang schneller. Machte sie sich Sorgen um mich? Natürlich macht sie sich Sorgen um dich, schimpfte der logische Teil meiner Selbst. Schließlich bist du ihre Freiheit!
Nun. Damit konnte ich leben.

Wieder stand ich vor der Tür. Obwohl mir überaus bewusst war, wie gefährlich diese Situation war, freute ich mich. Endlich Schluss mit Versteckspielen und Verstellen. Endlich wurde die ganze Sache entschieden, ob nun zum Guten oder zum Schlechten. Ich wollte handeln.
Sollte ich anklopfen, fragte ich mich. Einerseits wurde das von einem Diener erwartet, andererseits brachte ich aber eine eilige, überaus wichtige Nachricht. Hatte diese nicht ein wenig Ungestüm verdient?
Und was tat ich schließlich?
Ich drückte die Tür auf und stürmte hinein.

Alle Blicke wandten sich sofort mir zu. Mit einem schnellen Blick zählte ich die Anwesenden. Zweiundzwanzig. Verdammt, ich hoffte die Anderen würden mit ihnen fertig werden.
"Eine Nachricht!", brachte ich hervor, keuchend, ganz der erschöpfte Bote. Ich erweckte den Anschein, als ob ich gleich zusammenbrechen würde, stemmte die Hände in die Knie und atmete laut. Achtete darauf, dass mein Gesicht im Schatten meiner Haare blieb.
"Sprich! Was ist passiert?", fragte ein Hexer schnell. Ich antwortete nicht gleich, sondern musste noch schnaufend Atem holen.
"Ein... ein Angriff. Auf die Siedlung. Man braucht... Verstärkung..." Die Hexer, die noch nicht aufgesprungen waren, taten das jetzt.
"Wer greift an?", wollte ein anderer wissen. Ich konnte nur den Kopf schütteln.
"Weiß nicht, Herr. Aber... es ist... dringend." Schnelle Blicke wurden im Raum gewechselt. Einige nahmen ihre Waffen in die Hände, andere zögerten. Anscheinend gab es keinen richtigen Anführer, der ihnen sagte, was zu tun war. Schließlich tat es derjenige, der mich gestern geschlagen hatte.
"Auch wenn sie Hilfe brauchen, dürfen wir die Gefangenen nicht unbewacht lassen. Zehn von euch laufen hin, die anderen bleiben hier. Wenn sie in den Wald zu flüchten versuchen, können wir sie hier aufhalten. Holt eure Waffen, was zögert ihr noch? Los!" Unter den Hexern brach Hektik aus, der Anführer wandte sich an mich. "Du führst sie..." Doch ich brach gerade in die Knie und keuchte, als würde ich ersticken. "Verdammt!", rief er. "Wo sollen wir hin, Bursche? Wo sind die Angreifer?"
"Beim... Silo", flüsterte ich heiser.
"Sie greifen uns von Sunaj her an", murmelte der Hexer bestürzt. "Der König..." Ein Dutzend der Männer verließen überstürzt das Gebäude, die aufgestoßene Tür krachte laut gegen die Wand. Ihre schweren Schritte drangen nur gedämpft nach innen. Dann fingen die Schreie an.
"Was ist da los?" Der Befehlshaber spähte mit zusammengezogenen Augenbrauen nach draußen, in die Dunkelheit. Stimmen waren zu hören, Rufe und hastige Schritte. Dajana, Gaya und Julian gingen an ihr Werk. Drinnen erstarrten alle und versuchten etwas in der Nacht zu erkennen. Jetzt war ich an der Reihe, bevor sie sich organisieren konnten.
Es war fast zu einfach. Ich richtete mich abrupt auf und stürzte mich auf den Anführer, bevor der auch nur in meine Richtung gesehen hatte. Er ging schwer zu Boden, griff nach einem Dolch. In meiner Hand war ein Dorn, der im Licht der Lampen schwarz aufblitzte. Innerhalb eines Wimpernschlags steckte er in der Wange des Hexers, eine harmlose, kleine Nadel. Dachte er wohl, denn er maß dem Stich keine Bedeutung bei, erhob den Dolch, um ihn in meinen Rücken zu bohren. Dann ging ein Ruck durch seinen Körper, er erschlaffte und fiel zurück auf den Boden. Ich rollte von dem Leichnam runter und riss gleichzeitig den gekrümmten Dolch aus seiner Hand.
Elf gegen mich.
Ich hatte keine Gelegenheit über dieses Ungleichgewicht zu sinnen, denn die Hexer ließen mir kaum Zeit um Luft zu holen. Ein geschleuderter Dolch streifte meine Schulter, ich warf mich herum – und landete auf einem weiteren, überraschten Angreifer. Ich hielt mich nicht damit auf Oben von Unten zu unterscheiden, sondern stieß ihm gleich die Klinge in den Leib. Blut spritzte und ein greller Schmerz durchzuckte meinen linken Arm. Ich bemerkte es kaum. Geschrei, Kampflärm, Licht, das sich auf gezückten Waffen brach, Blut - alles vermischte sich zu einem. Die Welt verschwamm vor mir.
Blutrausch war vielleicht das richtige Wort, für das, was mich da ergriff. Es stieg aus ungeahnten Tiefen meines Selbst hervor und übernahm die Kontrolle. Man konnte es nicht als Vergangenheit bezeichnen, da es sehr wohl gegenwärtig war und nicht aufzuhalten, aber es hatte seinen Ursprung in der vergangenen Zeit. Reflexe, die mir eingebrannt wurden, seit ich ein kleiner Junge war.
Ich war mir dessen nicht bewusst, was ich tat. Es ging alles so fürchterlich schnell - doch für einen anderen Teil in mir dehnte sich alles zu Ewigkeiten. So klar. So einfach. Es war nicht das erste mal, mit Sicherheit nicht. Todbringend war meine Klinge, berauscht meine Gedanken, scharf die Reflexe. 
So einfach.

"Cycil!"
Dieser Ruf brachte mich erst zu Bewusstsein, aktivierte meinen Verstand. Ich verstand auf einmal, dass der verschwommene Flecken Dunkelheit vor mir die offene Tür war, die Gestalt darin Dajana. Ich blinzelte einmal, zweimal. Nahm wahr, dass ich wohl in der Mitte des Raumes stand, mit zwei Dolchen in den Händen, blutverschmiert. Leichen bedeckten den Boden. Blut floss überall, breitete sich langsam aus, bildete weite Lachen. Ein scharfer Geruch lag in der Luft, erfüllte mich. Mehr als die Hälfte der Lampen war umgestoßen worden und erloschen, die übriggebliebenen ließen viele dunkle Ecken. Auch ansonsten herrschte hier vollstes Chaos, Tische, Bänke, Kästen, alles durcheinander, zerbrochen.
Und ich stand in der Mitte davon, lebendig, zitternd.
"Cycil", wiederholte Dajana drängend und wagte es doch nicht, die Schwelle zu verlassen. Ihre Augen waren weit aufgerissen, das Gesicht schmutzig, die Kleidung nass und zerrissen. Ihr Brustkorb hob und senkte sich unregelmäßig. Noch nie hatte ich sie derart erschüttert gesehen.
Aus irgendeinem Grund gaben meine Beine unter mir nach, ich fiel auf die Knie. Ich wollte die Dolche loslassen, konnte es jedoch nicht, denn meine Hände hatten sich regelrecht darum verkrampft. 
Sie flüsterte meinen Namen zum dritten mal, aber ich nahm sie nicht mehr wahr. Ich starrte den Boden an und mein Kopf drehte sich dabei, herum, herum und wieder herum.
Tod. Überall, um mich herum. Ich schmeckte ihn, sah ihn, hörte die dröhnende Stille, roch ihn. Ich hatte das Gefühl durch den Geruch zu ersticken. Ein unkontrolliertes Beben erschütterte meinen Körper. Schwach, ich war so schwach. Die Schmerzen nahm ich gar nicht zur Kenntnis, sie waren ganz weit weg.
Und hier, jetzt, in diesem Moment, erinnerte ich mich.
"Vater", wisperte ich heiser. "Vater!"
Ein Sog hinter meinen Augen. Tod, Zerstörung, Blut, Verrat, Schmerz, Verlust, Rache, Tod, Tod und immer wieder Tod!
Alles drehte sich. Herum, herum und wieder herum.

"Cycil, wach auf, verdammt noch mal! Wach auf!" Einen Moment lang war er sich nicht sicher, ob es wirklich sein Name war, den sie da rief. Er hörte sich so falsch an. Zerbrochen. Dann öffnete er die Augen, sah in Dajanas und wusste, dass es doch der richtige war.
"Dajana." Er hustete und stemmte sich hoch vom Boden, mühsam, ohne die Schmerzen zu beachten, die ihm diese Bewegung verursachte. Sein ganzer Körper tat weh, als würde er gleich auseinander brechen. Unsicher fragte er sich, ob er denn noch ganz war. 
Sie kniete neben ihm, die blonden Haare wirr und glanzlos herabhängend, mit Schmutzstreifen auf dem Gesicht und einigen frischen Schnitten. Besorgnis leuchtete aus ihren grünen Augen und wärmte Cycil, der ansonsten das Gefühl hatte, am ganzen Leib zu Eis erstarrt zu sein. Er hustete wieder, krampfhaft ging es durch den ganzen Körper und schüttelte ihn. Dajana hielt ihn fest und verhinderte, dass er wieder umfiel.
"Verdammt, was ist passiert?", fragte er krächzend. "Bin ich wieder in Ohnmacht gefallen?"
"Ja, anscheinend schon", sagte sie und holte tief Atem, um sich zu beruhigen. "Götter, Cycil, ich dachte, du wärst tot!" Merkwürdig. Dass sie seinen Namen und die Götter in einem Atemzug erwähnte. Cycil lächelte schwach.
"Mach dir keine Sorgen, Dajana. Es geht mir..." Das Wort 'gut' erstarb ihm auf den Lippen, denn mit dem Gewicht einer riesigen Welle prallten Visionen der Vergangenheit gegen ihn. Wunden, von denen er gehofft hatte, dass sie endlich verheilt wären, rissen wieder auf und bluteten. Die kurze Amnesie war nun endgültig verschwunden. Aber durch sie empfand Cycil alles damals erlebte wieder neu. Alles, was zu vergessen ihm so viel Mühe gekostet hatte, lebte wieder auf. Auch die Geister, deren Tod auf seinen Schultern lastete.
"Du wirst jetzt nicht wieder das Bewusstsein verlieren!", befahl Dajana, als sie sah, wie er plötzlich blass wurde, leichenfahl. Cycil klammerte sich an ihre Stimme wie an einen Rettungsanker, um nicht in dem aufgepeitschten Meer unterzugehen, in das sich sein Verstand verwandelt hatte.
Ich muss dem ein Ende machen... Die Toten, die Erinnerungen hinter der Mauer bannen. Wenn ich nur die Kraft dafür finden könnte...
Cycil ballte die Hand zur Faust und stemmte sich gegen die Brandung. Es war nicht das erste mal. Er würde es auch diesmal schaffen. Die Wände wieder schließen, das Mauerwerk festigen, das Tor verriegeln. Einen Teil von sich selbst wegsperren, Hauptsache der Schmerz hörte auf.
Zu.
Er atmete auf. Entspannte sich. Die Geister waren gebannt, der Schmerz der Erlebnisse gemildert. Aber nicht ganz, denn dazu waren Zeit und Ruhe nötig. Cycil musste alles noch mal neu verarbeiten. 
Doch nicht jetzt, sagte er sich. Nicht jetzt.
"Wie ist es euch ergangen?", fragte er Dajana. Sie schaute ihm aufmerksam ins Gesicht, prüfte, ob er wirklich wieder bei Sinnen war. Er hätte ihr sagen können, dass er erst jetzt endlich er selbst war, dass die Droge aus seinem Bewusstsein gewichen war. Aber er wollte es nicht. Sie würde es nicht verstehen.
Sie seufzte und lehnte sich ein wenig zurück, wagte es sich ein klein wenig zu entspannen.
"Nun, wir haben sie aufgespaltet, wie du es wolltest, und dann angegriffen. Ich hatte keine großen Schwierigkeiten mit ihnen, diese Dornen machten alles einfach. Außerdem kamen auf mich nur drei Hexer." Wenn Cycil sie sich so ansah, bezweifelte er, ob es wirklich so einfach gewesen war. Doch er schwieg. "Was Gaya angeht, hätte sie diese Hexer fast zerfleischt. Hast du die Schreie gehört?" Sie erschauderte. "Ich möchte nicht wissen, was sie mit ihnen getan hat."
"Wo ist sie jetzt?" Dajana deutete vage in Richtung Tür.
"Sie kümmert sich um Julian. Um ein Haar hätte man ihn getötet - keine Sorge, es geht ihm gut. Ich habe gleich gesagt, dass er nicht kämpfen wird!"
"Was hat er denn getan?", interessierte sich Cycil.
"Als er sah, gegen wen er kämpfen sollte, ist er erstarrt und sah aus wie ein aufgescheuchtes Reh. Dann ist er auf die Knie gefallen und hat um Vergebung gebeten!" Sie schnaubte empört. "Natürlich haben die Anstalten gemacht, ihn mit ihren Dolchen aufzuspießen, aber zum Glück hat Gaya es gesehen und ist ihm zur Hilfe gekommen. Sie hat ihm das Leben gerettet." Er nickte nachdenklich und leckte sich über die aufgesprungenen, verkrusteten Lippen.
"Aber sie sind alle tot?", vergewisserte er sich noch mal.
"Ich nehme es an." Sie sah sich furchtsam in dem Raum um. "Wie konntest du sie nur alle töten, Cycil? War das Magie?"
"In gewisser Weise. Die Magie des Kampfes", erwiderte er grimmig. Götter, wie er das Töten hasste! 
"Hör auf damit!", rief da eine Stimme von draußen ärgerlich. "Sie sind tot, du kannst nichts mehr daran ändern! Du benimmst dich wie ein Kind!" Cycil und Dajana wechselten einen beunruhigenden Blick, als am Eingang Gaya erschien, mit Julian im Schlepptau. Im vollen Besitz seiner Erinnerung, konnte Cycil nicht mehr ignorieren, wie sehr Gaya sich verändert hatte. Von der selbstbewussten, gutmütigen Druidin zu einem seelischen Wrack, das war das erste. Dann zu einer eifrigen Anhängerin. Und jetzt glänzte die Todeswut in ihren Augen. Etwas, das Cycil, der damit Erfahrung hatte, ganz und gar nicht gefiel.
Julian war furchtbar blass und zitterte. Was es für einen, der immer noch im Bann der Drogen stand, bedeutete, am Tod seiner Herren beteiligt zu sein, konnte sich Cycil nicht vorstellen. Wie Verrat? Wie alles verzehrende Zweifel am Daseinszweck? Selbstvorwürfe bis zum Tod?
Nun, vielleicht konnte er es sich doch vorstellen.
Cycil stand auf. Zwar fühlte er sich noch etwas schwach in den Beinen, aber er war ein Meister darin, so etwas zu ignorieren. Mit einem tröstenden Lächeln auf dem Gesicht ging er auf den unglücklichen Mann zu und gab Gaya den unübersehbaren Wink beiseite zu gehen. Sie tat es mit einer unzufriedenen Miene. Dann sah sie das Gemetzel und vergaß Julian.
"Bei den allmächtigen Fünf", murmelte sie fassungslos. Dajana bedeutete ihr zu schweigen.
"He, Julian, mach dir keine Sorgen wegen den Hexern", sagte Cycil leise. "Du bist nicht schuld an ihrem Tod."
"Ich hätte sie beschützen müssen, ihnen beistehen", murmelte er. "Aber ich habe nur zugesehen, wie die Frau da sie tötete!" Er erschauderte. Cycil wusste nicht, wie er ihm taktvoll beibringen sollte, dass die Hexer den Tod tausendfach verdient hatten. Also versuchte er es erst gar nicht.
"Das war auch richtig so", meinte er. "Du hast nur Befehlen gehorcht. Unseren."
"Ja... das habe ich wohl."
"Ja, das hast du. Also hast du dich völlig korrekt benommen und brauchst dir keine Vorwürfe zu machen. Schließlich musst du Befehlen gehorchen, oder?" Es war nicht recht seinen betäubten Verstand auszunutzen und das war Cycil überaus bewusst. Aber nicht immer konnte man das Richtige tun.
Julian nickte und schien nun fast schon versonnen. Er blickte zu Gaya und Dajana, dann wieder zu Cycil. "Ihr seid jetzt meine neuen Herren?" Nur, solange, bis du dich erinnerst, dachte Cycil.
"Ja, das sind wir. Das heißt, du wirst alle Befehle befolgen, die wir dir aufgeben und selbst gegen die Hexer, deine alten Herren, vorgehen. Verstanden?" Er nickte. "Gut", sagte Cycil erleichtert. Ein Problem weniger. "Wir haben nicht mehr viel Zeit", wandte er sich an alle. "Bis zum Sonnenaufgang müssen wir im Wald sein. Gaya, Dajana, ihr bleibt hier unten und haltet Wache. Schließt die Tür und haltet Ausschau nach anderen Hexern. Julian, du kommst mit mir. Wir befreien jetzt Johannes und Alay."
"Was, wenn dort noch mehr Hexer sind?", fragte Gaya. "Es wäre besser, wenn du mich mitkommen lässt..."
"Nein, du bleibst hier", schnitt er ihr das Wort ab. "Wir kommen schon zurecht. Ihr könnt abwechselnd Wache stehen, während die andere den Raum absucht. Vielleicht finden wir hier unsere Waffen und Ausrüstung." Gaya starrte ihn an und dachte nicht einmal daran zu widersprechen. Es war ein Gehorsam ganz anderer Art als bei den Hexern, doch genauso zwingend. Dajana hatte das schon einmal bei ihm erlebt, diese Anwandlung von Autorität. Verbunden mit den Leichen auf dem Boden erzeugte das eine Art unterschwellige Furcht bei ihr. Es gefiel ihr nicht. Ganz und gar nicht.
Cycil drehte sich um und ging auf die Treppe im hinteren Teil des Raumes zu, die zu den oberen Räumen führte. Julian folgte ihm ergeben. Zusammen gingen sie die Treppe hoch, während die beiden Frauen ihnen hinterher sahen.

Es war ein enger Gang, den die beiden betraten, dunkel und feucht. Anscheinend hielt man sich nicht viel hier auf, denn ihm fehlte die häusliche Atmosphäre, die unten zu spüren war. Eine einzige Lampe auf dem Boden musste als Beleuchtung herhalten und führte zu mehr Schatten denn Licht. Cycil ging vorsichtig voraus, der Boden schmatzte immer, wenn er seine Füße bewegte. Von der feuchten, kalten Luft musste Cycil unkontrollierbar husten. Tränen schossen ihm in die Augen, er krümmte sich und fürchtete sich gleich übergeben zu müssen.
Er sah folglich nicht den großen Schatten, der sich von den anderen löste und mit verblüffender Schnelligkeit auf ihn zukam. Er fühlte nur, wie er zur Seite gestoßen wurde, dass er gegen die Wand prallte. Einige Augenblicke lang sah er gar nichts, hörte nur Geräusche von einem Kampf und dann, wie ein schwerer Körper auf dem Boden aufkam. Keuchend blieb er an der Wand und versuchte herauszufinden, was da eigentlich geschehen war. Jemand half ihm auf die Beine, eine starke Hand stützte ihn, bis er wieder selbst stehen konnte. Dann erkannte er Julian. Auf dem Boden lag ein Hexer, bewusstlos oder tot. Cycil sah Julian fragend an. Dieser zuckte mit den Schultern.
"Ich beschütze meine Herren", meinte er bloß.
"Ich habe nichts dagegen", murmelte Cycil und lächelte seinen Freund an. "Absolut nichts." Sie gingen weiter.
Türen trennten die angrenzenden Räume von dem Flur. Cycil öffnete sie eine nach der anderen, aber die Zimmer erwiesen sich alle als leer. Fast leer, denn Insekten und kleine Säugetiere bewohnten sie, labten sich am Zerfall und Fäulnisgestank, von dem Cycil schlecht wurde. An manchen Stellen lagen Essensüberreste auf dem Boden. Überall hatte sich der Schimmel eingenistet.
Die Türen waren alle leicht zu öffnen, mit einer Ausnahme, die zu verrostet war und die Julian ganz aus den Angeln reißen musste - eine Tat, die Cycil noch mehr Respekt vor seinen Kräften einflößte. 
"Man sollte meinen, dass Gefangene nicht weit entfernt von ihren Wächtern untergebracht werden", murmelte Cycil, nachdem sich eine weitere Tür als Niete herausgestellt hatte. Er erinnerte sich an die Größe des Gebäudes und konnte sich bildlich vorstellen, wie sich dieser Gang durch das ganze Haus zog, mit unzähligen leeren Räumen. Und inzwischen rinnt uns die Zeit durch die Finger.
Die nächste Tür ließ sich weder aufmachen noch aufschlagen. Julian und Cycil wechselten einen bedeutungsvollen Blick. Cycil holte die Schlüssel heraus, die er bei einem der Hexer gefunden hatte - er hatte sie ihm im gleichen Moment vom Gürtel gerissen, als dieser sein Leben aushauchte.
"Gib mir Rückendeckung", flüsterte er zu Julian. Es konnten noch Wachen drinnen sein. In der Dunkelheit fast blind, tastete Cycil nach dem Schloss und steckte den Schlüssel hinein. Er ließ sich nur schwer drehen, erst nach einigen Rucken und Stoßen knirschte es und er machte eine abrupte Drehung. Cycil zog am Türgriff. Die Tür ging nur sehr schwerfällig auf und schabte geräuschvoll über den Boden. Kein Wunder, dass sie hier keine Wachen brauchten! Diesen Lärm hört man noch am anderen Ende des Sumpfs!
Als sie zur Hälfte offen stand, spähte Cycil vorsichtig hinein. Und sah nichts, denn drinnen war es noch dunkler als draußen. Ein muffiger Geruch schlug ihm entgegen, vermischt mit einem weiteren, scharfen, der Cycil vertraut zumutete. Als er ihn erkannte, seufzte er innerlich. Natürlich. Blut. Was denn sonst?
"Hol die Lampe", befahl er Julian leise. Ein kaum vernehmbares Ächzen in der Finsternis vor ihm. Cycil vermutete, dass man ihn auch nicht erkennen konnte, wie er da am Eingang stand.
"Ich bin’s, Cycil", sagte er einfach und wartete darauf, dass Julian mit dem Licht zurückkam. Als die zischende Stimme erklang, zuckte er zusammen.
"Ich habe... gewusst... dass ihr... kommen... werdet..." Ein Husten, krampfhaft und feucht. Cycil brauchte kein Licht, um zu wissen, wer da im Raum war.
"Alay", flüsterte er voller Mitgefühl. Julian brachte die Lampe und beleuchtete den Raum. Er war winzig und stank erbärmlich vom Stroh, das den kalten Boden bedeckte. Alay war eine gekrümmte Gestalt in der Ecke, ein klägliches Bündel aus Stroh und grobem, weißem Stoff. Cycil kniete sich neben ihr hin und entdeckte auf Anhieb mehrere tiefe Wunden in ihrem Körper, aus denen Blut floss. Als sie zu ihm aufschaute, erkannte er sie nicht wieder. Ein Auge war kaum mehr als Auge zu erkennen, es war furchtbar blutverkrustet und zugelaufen. Auf ihrem kahlen Schädel war die eintätowierte Schlange offenbar mit einem Messer nachgezogen worden – oder hatte man versucht das Symbol zu entfernen? Teile der Ohrläppchen waren nicht mehr vorhanden, ihre Nase gebrochen. Sie war über und über mit Prellungen, Quetschungen und kleineren Schrammen bedeckt. Cycil sah, dass man ihr an beiden Händen die kleinen Finger angeschnitten hatte.
"Flucht?", fragte sie einfach. Er konnte kaum sprechen. Die Grausamkeit vor seinen Augen verschlug ihm den Atem. Doch dann fiel Cycil ein anderes Bild ein, von einem Menschen, dessen Haut bei lebendigem Leibe abgezogen war, dessen Eingeweide man einzeln entfernt hatte...
Sie war noch gut dran.
"Ja, Alay, wir fliehen jetzt", sagte er mit fester Stimme. "Fühlst du dich in der Lage zu gehen?" Sie krächzte etwas, was er nicht verstand.
"Die anderen...", wiederholte sie. "Johannes... nebenan." Cycil nickte, reichte Julian die Schlüssel, der die Frau am Boden mit Entsetzen anstarrte.
"Befrei Johannes", wies er ihn an. Froh, von diesem grässlichen Anblick loszukommen, verschwand Julian umgehend. "Versuch aufzustehen", wandte sich Cycil an Alay. "Ich stütze dich." Er legte sich ihren Arm um die Schultern und stützte ihren Körper mit seiner Hand. "Komm schon, Alay", wisperte er. Sie stöhnte und bewegte sich mühsam. Ihre Beine gaben unter ihr nach, aber Cycil hielt sie aufrecht. "Gut. Jetzt zur Tür." Mit kleinen Schritten gingen sie zum Ausgang des Zimmers, Alay stand kurz vor einer Ohnmacht. Cycil, dessen Können im Kampf sich eher auf Geschwindigkeit als auf Kraft begründete, befürchtete gleich unter ihrem Gewicht zusammenzubrechen – verdammt, sie war größer als er!
Da tauchten Julian und Johannes an der Tür auf. Cycil war froh, Alay an den größeren, kräftigeren Johannes abgeben zu können. "Nichts wie weg", keuchte er und unterdrückte einen erneuten Hustenanfall.
Auf dem Flur verlor Alay endgültig das Bewusstsein. Johannes musste sie sich auf die Schulter laden, ungeachtet ihrer Verletzungen. Dem Magier schien es ganz gut zu gehen, jedenfalls wies er keine Spuren der Folter auf. Und das Wichtigste – er war nicht unter Drogeneinfluss. Das erleichterte Cycil ungemein, musste er sich doch schon mit zwei solchen Fällen herumplagen.
Gaya, einer der beiden Fälle, empfing sie an der Treppe. Alay und Johannes maß sie nur mit einem kurzen Blick, dann wandte sie sich gleich an Cycil.
"Dajana hat etwas gefunden, das ein Teil unserer Ausrüstung sein könnte", sagte sie.
"Inwiefern?", fragte er.
"Einige Waffen. Ein paar Elixiere. Noch irgendetwas, ich weiß nicht. Sieh es dir selbst an." Cycil folgte ihr. Johannes’ Blick hing an Gaya, er spürte die Veränderung. Aber sie lebt, das ist die Hauptsache. Sie alle leben. Mehr oder weniger.
Cycil begutachtete das, was Dajana gefunden hatte, in einer offenen Kiste liegend. Es gehörte ganz eindeutig den Sechs. Cycil erkannte sein und Julians Schwert, Gayas Stab, Dajanas Bogen, einige Dolche. Seine eigenen Papiere, dreckig und zerknickt, aber sonst unversehrt. Einige grobe Taschentücher. Einen kleinen Beutel, der leise klimperte.
"Das gehört tatsächlich alles uns", rief er an die anderen gewandt. "Aber viele Dinge haben die Hexer wohl mitgehen lassen."
"Meinen Speer zum Beispiel", sagte Johannes. Dajana nahm den Beutel, spähte hinein.
"Nahezu meinen gesamten Schmuck!", rief sie dann empört.
"Das ganze Geld übrigens auch", ergänzte Cycil trocken. "Aber das ist jetzt nicht so wichtig. Nimm sich jeder, was ihm gehört und dann gehen wir. Schnell!" Unauffällig nahm er die Papiere an sich, während die anderen ihre Besitztümer suchten.
Gaya betrachtete lange den Stab; das grüne Glitzern löste etwas in ihr aus. Einen leisen Klang, wie von einer Harfe. Wenn man lange genug hineinsah, war da ein Leuchten in den Tiefen des Kristalls, ein Pulsieren, ein Ruf. Ihre Augen weiteten sich, Magie strahlte ihr entgegen. Blutstein...
"Gaya, nimm den Stab endlich und lass uns gehen!", rief Dajana ungeduldig und zerstörte den Bann. Gaya blinzelte und sah den Stab angstvoll an. Sie verspürte abergläubische Furcht vor diesem heiligen Ding. Aber wie von selbst hob sich ihre Hand und schloss sich um den kühlen Griff. Ah, welche Perfektion. Welche Harmonie. Es war, als wäre der Griff allein für ihre Hände gemacht worden. Und das Holz, wie weich, wie warm, so lebendig. Sie spürte sein Willkommen.
"Gaya!"
"Ich komme."
Mit dem Stab in der Hand folgte Gaya den anderen, die das Gebäude verließen, in die mondbeschienene Dunkelheit außerhalb eintauchten. Stille und die Nacht umfingen sie.
 

© Martha Wilhelm
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Und sicher schon bald geht's hier weiter zum 8. Kapitel...

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