Die Chroniken von Nairî von Silvermoon
2: Eispfad

Aiden erwachte als die Sonne aufging. Er hatte geschlafen wie ein Stein und war kein einziges Mal aus seinen süßen Träumen geweckt worden. Er wusch sich und aß. Als er aus seinem Zelt ging erwartete ihn schon ein Soldat.
"Ich grüße euch Hauptmann!"
Aiden sah den Mann an und fragte: "Was gibt es zu berichten, Fionan?"
"Axaj und Damon, wir fanden die beiden tot im Gehölz. Einige Sodaten behaupten, sie hätten rote Augen gesehen..." Fionan stockte, seine Augen starrten auf den blauen Stein der im Sonnenlicht funkelte. Aiden nahm das Amullet, das an einer silbernen Kette auf seiner Brust ruhte, in die Hand. 
Er lächelte. 

"Ich hab einen Namen! Lukela!"
Holly und Amber, die sich in dem nahen Teich gebadet hatten, lagen nun in Decken gehüllt auf einem Felsen und trockneten in der Morgensonne.
"Seepferdchen?!" Amber grinste und zeigte auf die Stute, die von Daray umschwärmt wurde. Seit sie aus dem Aluka entkommen waren, war ihre Stimmung deutlich gestiegen.
"Lukela! Komm, Lukela!"
Als die Braune nach mehren Malen des Rufens auf Holly zugetrabt kam und sie anstubste, lachten beide. Nachdem sie sich angezogen und die Pferde gesattelt hatten, machten sie sich auf den Weg in Richtung Eisspitze. 

Sie unterhielten sich viel und amüsierten sich prächtig als dunkle Gewitterwolken den Himmel verdüsterten. Der schwarze Rabe flog über sie hinweg. Amber sah ihm nach und da erblickte sie in der Ferne mehrere Häuser.
"Da ein Dorf!" sagte sie zu Holly.
Sie trabten gemächlich darauf zu, doch alles, was sie fanden, waren Verwüstung, Tod und eine rote Flagge mit einem schwarzen Einhorn. Sofort wusste Amber, was das zu bedeuten hatte. Das dunkle Heer... Die Worte hallten in Ambers Kopf. Sie schüttelte sich. Wie in einem Traum sah sie, wie sich Holly auf ein Gebäude zu bewegte, das wohl nicht zerstört worden war. Doch anstatt ihr zu folgen, wurde Amber durch eine geheimnisvolle Macht in die entgegengesetzte Richtung gezogen. Vor einer Steinstatue fand sie sich wieder. Eine dunkle Gestalt schwebte davor.
Dunkel. Die Dunklen... die Todbringenden... die Vernichtenden... die Machtgierigen... die Leidzufügenden... die Krieger... Insel Noctra... Stadt Itna´túr... Dunkel.
Mit ihrem geistigen Auge erlebte Amber noch einmal die Verwüstung ihres Heimatortes, hörte die Schreie der Sterbenden, roch das Blut der Toten. Ambers Kopf schien zu explodieren. Sie ging auf das Wesen zu. "Aufhören, bitte...", flehte sie.
Ich kann dir nicht helfen, Amber. Die Dunklen kommen aus dem Norden und sie werden alles zerstören... genauso wie sie Konroy und... mich zerstörten. Höre auf die Worte, Amber, bekämpfe sie, denn das... ist deine Bestimmung.
Langsam erkannte Amber eine Frauengestalt. Es war Sheena, die Hexe, die vor Jahren auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden war. Ihr rotes, verziehrtes Gewand sah nobel aus und ihre blonden Haare wirbelten durch die Luft...
Höre...
Mit einem Windstoß war sie verschwunden. Amber wurde schwindelig und sie lehnte sich an die Statue. Als sie zu ihr hinaufblickte, erschrack sie. Es war Sheena, die dort in den Stein gehauen war! Erschöpft sank das Mädchen auf die Knie. Was machte sie hier? Was war ihre Bestimmung?
"Amber!" Holly hatte sie gefunden und zog sie vom Boden auf die Beine. Der Wind war beißend, der Donner ohrenbetäubend, jeden Moment würde das Gewitter losgehen. Mit Hollys Hilfe schaffte Amber es in das unversehrte Gebäude. Dort verlor sie das Bewusstsein. 

Amber öffnete die Augen und sah noch unscharf, wie jemand sich über sie beugte. Es war nicht Holly. 
Die Haare des Mädchens wurden von einem grünen Tuch verdeckt, trotzdem waren die rotbraunen Locken sichtbar. Sie war in einem rot-grünen und gelben Gewand gekleidet. Eine faustgroße Brosche befand sich auf ihrer Brust. Mit einem sorgenvollem Ausdruck auf dem Gesicht fühlte sie Amber die Stirn ab.
"Sie hat kein Fieber mehr", sagte sie zu Holly, die neben ihr stand.
Sie befanden sich in einer Art Saal mit niedriger Decke. Eine kümmerliche Fackel spendete etwas Licht, so dass man die in Stein eingemeißelten Schriften erkennen konnte. Amber blinzelte. Sie erkannte eine Statue von Macawi, der Mutter der Kräuter und der Heilung. Die Göttin wurde von einer Schlange umschlungen, der Gaho, in einer Hand hiellt sie ein Blatt.
"Hier nimm dies." Das Mädchen reichte Amber ein Gefäß, das mit einem klebrigen Inhallt gefühlt war.
Mit langen Zügen trank Amber die Brühe. Langsam wurde ihr Körper erwärmt und sie fühlte sich frisch und kräftig. Als sie sich aufsetzte und streckte sah sie zu dem Mädchen hinüber.
"Was ist das für eine Steinstatue da draußen?" fragte sie sie.
Die Heilerin zuckte mit den Augenbrauen. "Statue? Da gibt es keine Statue, nur hier im Tempel."
Amber sortierte ihre Gedanken. "Wie heißt du und wie alt bist du?"
"Esmeralda. Ich bin sechzehn", antwortete das Mädchen.
Holly, die stumm geblieben war, sprach nun: "Ich fand sie hier im Tempel. Sie..."
"Ich war schon seit acht Jahren im Dienste der großen Göttin, als wir angegriffen wurden. Dunkle Gestalten auf Rössern setzten das Dorf in Flammen, nur der Tempel wurde verschohnt. Trotzdem wurden die  Priester..." Esmeraldas Augen füllten sich mit Tränen und sie fing an zu weinen.
Amber und Holly betrachteten die junge Priesterin. Sie wussten, dass man Kummer und Schmerz nur alleine bekämpfen konnte. Das hatten sie einst vor vielen Jahren gelernt. 

Die Nacht war angebrochen und die drei reisten durch die zugefrohrene Landschaft. Amber und Holly hatten beschlossen, Esmeralda in die nächste Stadt mitzunehmen, damit sie nicht Aiden ausgeliefert war. Sie hatten ein Pferd für sie gefunden, das wohl einem der Angreifer gehört hatte. Die Eisspitze kam immer näher und es wurde immer kälter.
"Hast du irgendwo Verwandte?" fragte Amber.
"Nein, ich verliess meine Eltern mit acht. Obwohl sie mich nicht gehen lassen wollten, waren sie doch erleichtertet, dass sie keinen weiteren Mund mehr füttern mussten. Ich kann einfach nicht zurück zu ihnen, auch wenn es mein Herz verlangt..."
"Da hat man ein paar gute Eltern, die noch am leben sind und einen mögen, und dann möchte man nicht einmal bei ihnen bleiben..." hörte Amber Holly murmeln. 
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Seit vielen Stunden waren sie nun auf den Pferden, sie waren jetzt am Fuße der Eisspitze, dem kältesten Berg auf ganz Nairî. Die drei Mädchen zogen ihre Mäntel enger und breiteten ihre Schlafsäcke aus. Wenig später loderte auch ein warmes Lagerfeuer in der Stille der Nacht. Als sich Amber ihren Mantel kurz auzog, um ihn zu schütteln, bemerkte Esmeralda eine schwarze Mondsichel an ihrem Rücken die ihn ihre Haut gebrannt war.
"Was ist das?" fragte sie und zeigte auf das Symbol.
"Das Zeichen meiner Gottheit", antwortete Amber und legte sich in ihren Schlafsack.
"Welcher Gottheit dienst du denn?" fragte Esmeralda.
"Edana... der Mondin." Die Kriegerin hob den Finger auf den schmalen Schlitz der wie ein riesiges Auge auf sie herabsah.
Die junge Heilerin runzelte die Stirn. "Edana? Ich habe noch nie von solch einer Gottheit gehört." 
"Vielleicht ist sie eine Göttin, die vor langer Zeit vergessen worden ist", antwortete Amber und wandte sich dann Holly zu, um Esmeraldas schiefen Blick auszuweichen. "An was glaubst du?"
Im Halbschlaf brummte Holly: "An gar nichts."

Am nächsten Tag war es nur noch kälter. Sie wollten von Osten am Berg vorbei, eine kleine Strecke der Eiswüste N´Akal hinter sich legen und dann nach Irdingen gelangen. Wenn sie schnell reiten würden, wären sie in vier Tagen in der Stadt. Sie schlängelten sich die engen Pfade entlang, an denen nichts wuchs. Wenn man nach oben blickte, wurde es einem schwindelig, denn die Spitze des Frostriesens verschwand vollkommen in den Wolken. Sie ritten durch ein Meer aus Eiskristallen, als plötzlich etwas hinter einem verschneiten Stein hervorkam: Ein schwarzer Rabe. Nach einer Weile war der Broin, das so viel wie Rabe bedeutet, schon vergessen, als sie an einer riesigen dunklen Öffnung in der Felswand vorbei kamen.
Aus der Höhle kam ein starker, eiskalter Sog. Esmeralda guckte verängstigt in das schwarze Loch. Sie beugte sich vor, um besser sehen zu können. Sie strengte ihre Augen an. Da schoss eine blaue Klaue auf sie zu. Sie schrie auf und ihr Pferd machte gerade noch einen Satz zur Seite, sonst wäre es samt Reiterin in die Tiefe gezogen worden. Amber und Holly kamen herbei geeilt und zogen ihre Waffen.
Langsam tauchte aus dem Schatten der Kopf eines hellblauen Wesens auf. Es war ein Eisdrache. Obwohl diese Drachenart wesentlich kleiner und nicht so intelligent wie ihre großen Verwandten war, war sie dennoch sehr gefährlich. Als der Rest des Leibes völlig aus der Höhle gekommen war, baute er sich vor den drei Gefährtinnen auf und schlug mit dem Schwanz hin und her. Er schien nicht über magische Fähigkeiten zu verfügen, da er nicht die menschliche Sprache beherrschte.
Entzückt schwang Amber ihr Silberschwert hin und her. Vor Schock gelähmt stand Esmeralda mit offenem Mund da und starrte die Kreatur an. Ein lebender Drache! Sie würden alle sterben! Er würde sie in Stücke reissen und dann verspeisen...
Ein Gegenstand flog auf sie zu, im letzten Moment konnte sie ihn packen und schnitt sich dabei schmerzhaft die Handfläche auf.
"Benutze es!" schrie Amber noch und stürtze sich auf die angreifende Bestie.
Esmeralda schaute auf den goldenen Dolch der in ihrer blutigen Hand lag und dachte: Was soll ich denn hiermit groß machen? Ich könnte damit nicht einmal die Zehennägel des Drachen schneiden!
Solange Esmeralda nicht wusste, was sie machen sollte, war der Kampf zwischen Mensch und Drache voll im Gange. Zum Glück konnte diese Spezies nicht fliegen, denn sonst wäre alles aus gewesen. Doch die scharfen Klauen konnten einem zum Verhängnis werden. Immer und immer wieder schlugen Holly und Amber auf die Kreatur ein. Aber es nützte nichts, die Schuppen waren sogar zu hart für ein Silberschwert. Der Drache bemerkte dies, und kam näher. Er öffnete sein Maul und verharrte einen Moment. Amber und Holly, die wussten, was kommen würde, gingen hinter ein paar Felsen in Deckung. Für Esmeralda bestand im Moment keine Gefahr, auf die anderen hatte der Drache es abgesehen. Dann, aus dem weit aufgesperrten Rachen flogen riesige Eiszapfen. Sie waren so dick, dass manche in dem Felsen stecken blieben. Einer hätte um ein Haar Holly getroffen. Der große Stein, von Eiszapfen völlig durchbohrt, schien zu zerbröckeln. Die beiden Kriegerinnen sprangen rechtzeitig hinter ihm hervor, befor er auseinander fiel, und griffen erneut an.
Der Kampf schien immer noch ausichtslos. Der Drache brüllte vor Kampflust. Esmeralda, hilflos, blickte sich um. Was war das bei dem Höhleneingang gewesen. Eine kleine blaue Pflanze. "Eisröschen!" rief Esmeralda. Ohne nachzudenken rannte sie darauf zu, an dem Ungeheuer vorbei. Mit dem Dolch schnitt sie die Blätter der Pflanze ab, nahm ein Glasfläschchen aus ihrem Rucksack und tat sie dort hinein. Der Eisdrache schaute misstrauisch zu ihr hinüber. Das war Hollys Chance, um an den empfindlichen Bauch heranzukommen. Sie schlug ihr Schwert in die weiche Haut und die Kreatur schrie auf. In Bruchteilen von Sekunden hatte Esmeralda das Fläschchen in den aufgerissenen Schlund des Drachen geschmissen. Die Kreatur taumelte. Die Heilerin hatte ihn mit den Kräutern betäubt. Als Amber dies Begriff, schlug sie mit einem Hieb dem Ungeheuer den Kopf ab.
"Den werden wir doch nicht zu Abend essen?" fragte Esmeralda die erschöpften Drachentöterinnen. 

"Ich hätte nie gedacht, dass ein Drache so leicht zu besiegen wäre..." sagte die Heilerin und stopfte sich die Scheibe Brot in den Mund.
Irritiert schauten Holly und Amber sie an. "Sind sie auch nicht, die Zwerg- und Eisdrachen sind die schwächsten aller Drachenarten. Sie sind dümmer, können nicht fliegen und beherrschen keine Art von Magie. Begegne einem Feuerdrachen und versuch zwei Minuten lang nur mit einpaar Blümchen zu überleben." antwortete Amber mit einem zweifelden Blick auf die Blätter, die verstreut auf dem Boden lagen.
Ängstlich nahm Esmeralda die Pflanzenteile und steckte sie in einen kleinen Beutel.
"Was werden wir mit ihm machen?" fragte Holly und nickte zu dem Kadaver.
Amber stand auf und ging auf das tote Tier zu. "Aus den Schuppen kann man Pfeilspitzen machen. Sie sind härter als Stahl und leichter als Stein." Damit nahm sie ihren Dolch und fing an, die einzelnen Schuppen aus der Haut des Drachen heraus zuschneiden. 

Langsam wurde es wieder flacher. Eine kalte Ebene breitete sich vor den Augen der drei Gefährtinnen aus. Die Eiswüste N´Akal. Es war trüb und die Luft kühl. Man sah nichts außer weiss. Doch da war noch etwas anderes, ebenso weiss wie der Schnee, versteckt in den Eisdünen, das sie mit dampfendem Atem beobachtete...
 

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Und schon geht es hier zum 3. Kapitel: Weg nach Irdingen

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