Aiden erwachte als die Sonne aufging. Er hatte geschlafen wie ein
Stein und war kein einziges Mal aus seinen süßen Träumen
geweckt worden. Er wusch sich und aß. Als er aus seinem Zelt ging
erwartete ihn schon ein Soldat.
"Ich grüße euch Hauptmann!"
Aiden sah den Mann an und fragte: "Was gibt es zu berichten, Fionan?"
"Axaj und Damon, wir fanden die beiden tot im Gehölz. Einige
Sodaten behaupten, sie hätten rote Augen gesehen..." Fionan stockte,
seine Augen starrten auf den blauen Stein der im Sonnenlicht funkelte.
Aiden nahm das Amullet, das an einer silbernen Kette auf seiner Brust ruhte,
in die Hand.
Er lächelte.
"Ich hab einen Namen! Lukela!"
Holly und Amber, die sich in dem nahen Teich gebadet hatten, lagen
nun in Decken gehüllt auf einem Felsen und trockneten in der Morgensonne.
"Seepferdchen?!" Amber grinste und zeigte auf die Stute, die von
Daray umschwärmt wurde. Seit sie aus dem Aluka entkommen waren, war
ihre Stimmung deutlich gestiegen.
"Lukela! Komm, Lukela!"
Als die Braune nach mehren Malen des Rufens auf Holly zugetrabt
kam und sie anstubste, lachten beide. Nachdem sie sich angezogen und die
Pferde gesattelt hatten, machten sie sich auf den Weg in Richtung Eisspitze.
Sie unterhielten sich viel und amüsierten sich prächtig
als dunkle Gewitterwolken den Himmel verdüsterten. Der schwarze Rabe
flog über sie hinweg. Amber sah ihm nach und da erblickte sie in der
Ferne mehrere Häuser.
"Da ein Dorf!" sagte sie zu Holly.
Sie trabten gemächlich darauf zu, doch alles, was sie fanden,
waren Verwüstung, Tod und eine rote Flagge mit einem schwarzen Einhorn.
Sofort wusste Amber, was das zu bedeuten hatte. Das dunkle Heer...
Die Worte hallten in Ambers Kopf. Sie schüttelte sich. Wie in einem
Traum sah sie, wie sich Holly auf ein Gebäude zu bewegte, das wohl
nicht zerstört worden war. Doch anstatt ihr zu folgen, wurde Amber
durch eine geheimnisvolle Macht in die entgegengesetzte Richtung gezogen.
Vor einer Steinstatue fand sie sich wieder. Eine dunkle Gestalt schwebte
davor.
Dunkel. Die Dunklen... die Todbringenden... die Vernichtenden...
die Machtgierigen... die Leidzufügenden... die Krieger... Insel Noctra...
Stadt Itna´túr... Dunkel.
Mit ihrem geistigen Auge erlebte Amber noch einmal die Verwüstung
ihres Heimatortes, hörte die Schreie der Sterbenden, roch das Blut
der Toten. Ambers Kopf schien zu explodieren. Sie ging auf das Wesen zu.
"Aufhören, bitte...", flehte sie.
Ich kann dir nicht helfen, Amber. Die Dunklen kommen aus dem
Norden und sie werden alles zerstören... genauso wie sie Konroy und...
mich zerstörten. Höre auf die Worte, Amber, bekämpfe sie,
denn das... ist deine Bestimmung.
Langsam erkannte Amber eine Frauengestalt. Es war Sheena, die Hexe,
die vor Jahren auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden war. Ihr rotes,
verziehrtes Gewand sah nobel aus und ihre blonden Haare wirbelten durch
die Luft...
Höre...
Mit einem Windstoß war sie verschwunden. Amber wurde schwindelig
und sie lehnte sich an die Statue. Als sie zu ihr hinaufblickte, erschrack
sie. Es war Sheena, die dort in den Stein gehauen war! Erschöpft sank
das Mädchen auf die Knie. Was machte sie hier? Was war ihre Bestimmung?
"Amber!" Holly hatte sie gefunden und zog sie vom Boden auf die
Beine. Der Wind war beißend, der Donner ohrenbetäubend, jeden
Moment würde das Gewitter losgehen. Mit Hollys Hilfe schaffte Amber
es in das unversehrte Gebäude. Dort verlor sie das Bewusstsein.
Amber öffnete die Augen und sah noch unscharf, wie jemand sich
über sie beugte. Es war nicht Holly.
Die Haare des Mädchens wurden von einem grünen Tuch verdeckt,
trotzdem waren die rotbraunen Locken sichtbar. Sie war in einem rot-grünen
und gelben Gewand gekleidet. Eine faustgroße Brosche befand sich
auf ihrer Brust. Mit einem sorgenvollem Ausdruck auf dem Gesicht fühlte
sie Amber die Stirn ab.
"Sie hat kein Fieber mehr", sagte sie zu Holly, die neben ihr stand.
Sie befanden sich in einer Art Saal mit niedriger Decke. Eine kümmerliche
Fackel spendete etwas Licht, so dass man die in Stein eingemeißelten
Schriften erkennen konnte. Amber blinzelte. Sie erkannte eine Statue von
Macawi, der Mutter der Kräuter und der Heilung. Die Göttin wurde
von einer Schlange umschlungen, der Gaho, in einer Hand hiellt sie ein
Blatt.
"Hier nimm dies." Das Mädchen reichte Amber ein Gefäß,
das mit einem klebrigen Inhallt gefühlt war.
Mit langen Zügen trank Amber die Brühe. Langsam wurde
ihr Körper erwärmt und sie fühlte sich frisch und kräftig.
Als sie sich aufsetzte und streckte sah sie zu dem Mädchen hinüber.
"Was ist das für eine Steinstatue da draußen?" fragte
sie sie.
Die Heilerin zuckte mit den Augenbrauen. "Statue? Da gibt es keine
Statue, nur hier im Tempel."
Amber sortierte ihre Gedanken. "Wie heißt du und wie alt bist
du?"
"Esmeralda. Ich bin sechzehn", antwortete das Mädchen.
Holly, die stumm geblieben war, sprach nun: "Ich fand sie hier im
Tempel. Sie..."
"Ich war schon seit acht Jahren im Dienste der großen Göttin,
als wir angegriffen wurden. Dunkle Gestalten auf Rössern setzten das
Dorf in Flammen, nur der Tempel wurde verschohnt. Trotzdem wurden die
Priester..." Esmeraldas Augen füllten sich mit Tränen und sie
fing an zu weinen.
Amber und Holly betrachteten die junge Priesterin. Sie wussten,
dass man Kummer und Schmerz nur alleine bekämpfen konnte. Das hatten
sie einst vor vielen Jahren gelernt.
Die Nacht war angebrochen und die drei reisten durch die zugefrohrene
Landschaft. Amber und Holly hatten beschlossen, Esmeralda in die nächste
Stadt mitzunehmen, damit sie nicht Aiden ausgeliefert war. Sie hatten ein
Pferd für sie gefunden, das wohl einem der Angreifer gehört hatte.
Die Eisspitze kam immer näher und es wurde immer kälter.
"Hast du irgendwo Verwandte?" fragte Amber.
"Nein, ich verliess meine Eltern mit acht. Obwohl sie mich nicht
gehen lassen wollten, waren sie doch erleichtertet, dass sie keinen weiteren
Mund mehr füttern mussten. Ich kann einfach nicht zurück zu ihnen,
auch wenn es mein Herz verlangt..."
"Da hat man ein paar gute Eltern, die noch am leben sind und einen
mögen, und dann möchte man nicht einmal bei ihnen bleiben..."
hörte Amber Holly murmeln.
.
Seit vielen Stunden waren sie nun auf den Pferden, sie waren jetzt
am Fuße der Eisspitze, dem kältesten Berg auf ganz Nairî.
Die drei Mädchen zogen ihre Mäntel enger und breiteten ihre Schlafsäcke
aus. Wenig später loderte auch ein warmes Lagerfeuer in der Stille
der Nacht. Als sich Amber ihren Mantel kurz auzog, um ihn zu schütteln,
bemerkte Esmeralda eine schwarze Mondsichel an ihrem Rücken die ihn
ihre Haut gebrannt war.
"Was ist das?" fragte sie und zeigte auf das Symbol.
"Das Zeichen meiner Gottheit", antwortete Amber und legte sich in
ihren Schlafsack.
"Welcher Gottheit dienst du denn?" fragte Esmeralda.
"Edana... der Mondin." Die Kriegerin hob den Finger auf den schmalen
Schlitz der wie ein riesiges Auge auf sie herabsah.
Die junge Heilerin runzelte die Stirn. "Edana? Ich habe noch nie
von solch einer Gottheit gehört."
"Vielleicht ist sie eine Göttin, die vor langer Zeit vergessen
worden ist", antwortete Amber und wandte sich dann Holly zu, um Esmeraldas
schiefen Blick auszuweichen. "An was glaubst du?"
Im Halbschlaf brummte Holly: "An gar nichts."
Am nächsten Tag war es nur noch kälter. Sie wollten von
Osten am Berg vorbei, eine kleine Strecke der Eiswüste N´Akal
hinter sich legen und dann nach Irdingen gelangen. Wenn sie schnell reiten
würden, wären sie in vier Tagen in der Stadt. Sie schlängelten
sich die engen Pfade entlang, an denen nichts wuchs. Wenn man nach oben
blickte, wurde es einem schwindelig, denn die Spitze des Frostriesens verschwand
vollkommen in den Wolken. Sie ritten durch ein Meer aus Eiskristallen,
als plötzlich etwas hinter einem verschneiten Stein hervorkam: Ein
schwarzer Rabe. Nach einer Weile war der Broin, das so viel wie
Rabe bedeutet, schon vergessen, als sie an einer riesigen dunklen Öffnung
in der Felswand vorbei kamen.
Aus der Höhle kam ein starker, eiskalter Sog. Esmeralda guckte
verängstigt in das schwarze Loch. Sie beugte sich vor, um besser sehen
zu können. Sie strengte ihre Augen an. Da schoss eine blaue Klaue
auf sie zu. Sie schrie auf und ihr Pferd machte gerade noch einen Satz
zur Seite, sonst wäre es samt Reiterin in die Tiefe gezogen worden.
Amber und Holly kamen herbei geeilt und zogen ihre Waffen.
Langsam tauchte aus dem Schatten der Kopf eines hellblauen Wesens
auf. Es war ein Eisdrache. Obwohl diese Drachenart wesentlich kleiner und
nicht so intelligent wie ihre großen Verwandten war, war sie dennoch
sehr gefährlich. Als der Rest des Leibes völlig aus der Höhle
gekommen war, baute er sich vor den drei Gefährtinnen auf und schlug
mit dem Schwanz hin und her. Er schien nicht über magische Fähigkeiten
zu verfügen, da er nicht die menschliche Sprache beherrschte.
Entzückt schwang Amber ihr Silberschwert hin und her. Vor Schock
gelähmt stand Esmeralda mit offenem Mund da und starrte die Kreatur
an. Ein lebender Drache! Sie würden alle sterben! Er würde sie
in Stücke reissen und dann verspeisen...
Ein Gegenstand flog auf sie zu, im letzten Moment konnte sie ihn
packen und schnitt sich dabei schmerzhaft die Handfläche auf.
"Benutze es!" schrie Amber noch und stürtze sich auf die angreifende
Bestie.
Esmeralda schaute auf den goldenen Dolch der in ihrer blutigen Hand
lag und dachte: Was soll ich denn hiermit groß machen? Ich könnte
damit nicht einmal die Zehennägel des Drachen schneiden!
Solange Esmeralda nicht wusste, was sie machen sollte, war der Kampf
zwischen Mensch und Drache voll im Gange. Zum Glück konnte diese Spezies
nicht fliegen, denn sonst wäre alles aus gewesen. Doch die scharfen
Klauen konnten einem zum Verhängnis werden. Immer und immer wieder
schlugen Holly und Amber auf die Kreatur ein. Aber es nützte nichts,
die Schuppen waren sogar zu hart für ein Silberschwert. Der Drache
bemerkte dies, und kam näher. Er öffnete sein Maul und verharrte
einen Moment. Amber und Holly, die wussten, was kommen würde, gingen
hinter ein paar Felsen in Deckung. Für Esmeralda bestand im Moment
keine Gefahr, auf die anderen hatte der Drache es abgesehen. Dann, aus
dem weit aufgesperrten Rachen flogen riesige Eiszapfen. Sie waren so dick,
dass manche in dem Felsen stecken blieben. Einer hätte um ein Haar
Holly getroffen. Der große Stein, von Eiszapfen völlig durchbohrt,
schien zu zerbröckeln. Die beiden Kriegerinnen sprangen rechtzeitig
hinter ihm hervor, befor er auseinander fiel, und griffen erneut an.
Der Kampf schien immer noch ausichtslos. Der Drache brüllte
vor Kampflust. Esmeralda, hilflos, blickte sich um. Was war das bei dem
Höhleneingang gewesen. Eine kleine blaue Pflanze. "Eisröschen!"
rief Esmeralda. Ohne nachzudenken rannte sie darauf zu, an dem Ungeheuer
vorbei. Mit dem Dolch schnitt sie die Blätter der Pflanze ab, nahm
ein Glasfläschchen aus ihrem Rucksack und tat sie dort hinein. Der
Eisdrache schaute misstrauisch zu ihr hinüber. Das war Hollys Chance,
um an den empfindlichen Bauch heranzukommen. Sie schlug ihr Schwert in
die weiche Haut und die Kreatur schrie auf. In Bruchteilen von Sekunden
hatte Esmeralda das Fläschchen in den aufgerissenen Schlund des Drachen
geschmissen. Die Kreatur taumelte. Die Heilerin hatte ihn mit den Kräutern
betäubt. Als Amber dies Begriff, schlug sie mit einem Hieb dem Ungeheuer
den Kopf ab.
"Den werden wir doch nicht zu Abend essen?" fragte Esmeralda die
erschöpften Drachentöterinnen.
"Ich hätte nie gedacht, dass ein Drache so leicht zu besiegen
wäre..." sagte die Heilerin und stopfte sich die Scheibe Brot in den
Mund.
Irritiert schauten Holly und Amber sie an. "Sind sie auch nicht,
die Zwerg- und Eisdrachen sind die schwächsten aller Drachenarten.
Sie sind dümmer, können nicht fliegen und beherrschen keine Art
von Magie. Begegne einem Feuerdrachen und versuch zwei Minuten lang nur
mit einpaar Blümchen zu überleben." antwortete Amber mit einem
zweifelden Blick auf die Blätter, die verstreut auf dem Boden lagen.
Ängstlich nahm Esmeralda die Pflanzenteile und steckte sie
in einen kleinen Beutel.
"Was werden wir mit ihm machen?" fragte Holly und nickte zu dem
Kadaver.
Amber stand auf und ging auf das tote Tier zu. "Aus den Schuppen
kann man Pfeilspitzen machen. Sie sind härter als Stahl und leichter
als Stein." Damit nahm sie ihren Dolch und fing an, die einzelnen Schuppen
aus der Haut des Drachen heraus zuschneiden.
Langsam wurde es wieder flacher. Eine kalte Ebene breitete sich vor
den Augen der drei Gefährtinnen aus. Die Eiswüste N´Akal.
Es war trüb und die Luft kühl. Man sah nichts außer weiss.
Doch da war noch etwas anderes, ebenso weiss wie der Schnee, versteckt
in den Eisdünen, das sie mit dampfendem Atem beobachtete...
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