Die Geister, die ich rief...
oder
Der Mann aus dem Eis
. von Najanca

Der Mann stemmte sich mühsam gegen den Wind.
Er war in mittleren Jahren, von durchschnittlicher Größe und durchschnittlichem Gewicht. Seine braun-schwarzen Haare waren kurzgeschnitten, sein Gesicht rasiert – wie üblich bei den Tak‘ulharj.
Ein vollkommen durchschnittlicher Mann also, wie alle anderen auch?
   Nein.
Die Tätowierungen unterschieden ihn von anderen Menschen, diese blauschwarzen kurzen Linien, die sich an seinem Rücken, seinem rechten Ellbogen und der Innenseite seines Knies befanden. Sie waren sein Urteil und sein Schicksal, und der Grund weshalb er sich völlig alleine mit seinem ganzen Besitz in einem Schneesturm befand.

Diese plötzlichen Lähmungserscheinungen hatten ihm insgeheim schon immer Angst gemacht. Nach außen spielte er es herunter, da er das Mißtrauen des Stammes nicht verschärfen wollte, doch in Wirklichkeit war er nie völlig unbeschwert und erwartete voll Furcht das Zittern, das den nächsten Anfall ankündigte.
  Mateja hatte ihm einmal geschildert, wie er aussah: zuckende Gliedmaßen, wild rollende Augen, gurgelnde Laute, sein ganzer Körper vollkommen außer Kontrolle, wie unter einer fremden Macht. Er selber bemerkte wenig davon und verbrachte diese Zeit in wilden Träumen; doch den anderen flößten sie Furcht ein.
Obwohl die Meinungen geteilt waren, beschloß man schließlich, es als Krankheit zu sehen. Man ließ ihn nie allein, damit er sich nicht verletzen konnte, wenn 'es' wieder über ihn kam, bettete ihn auf ein weiches Lager und tat alles, um ihn vor Verletzungen zu schützen und ihm die unangenehme Zeit zu versüßen.

Der eisige Wind riß ihn in die Gegenwart zurück. Er spürte, wenn er weiter gegen den Sturm lief, würde er nicht mehr lange durchhalten. Doch hinter ihm lag ein Abgrund.
Der Mann blieb stehen, hielt sich mühsam auf den Beinen und überdachte seine Lage. Wenn er sich schräg gegen die Windrichtung hielt, kam er vielleicht besser voran. Und wenn dort eine neue Schlucht lag?
Nicht die Hoffnung verlieren. Immer in Bewegung bleiben. Die Mahnungen seines Vaters hallten in seinem Kopf wider. Doch wenn überall um ihn herum Abgründe lauerten, wenn er bis zum Ende des Sturmes hier im Kreis laufen mußte, ungeschützt und den Elementen hilflos ausgeliefert? Nie aufgeben. Vertraue auf deine Stärke. Sein Vater war geradezu berüchtigt, dass er aus jeder noch so gefährlichen Situation unversehrt heimkehrte. Doch trug er die Kraft seines Vaters in sich? Ein höhnisches Lächeln spielte um seinen Mund. Sie hatten ihn gewiß nicht verstoßen, weil sie auf seine Stärke, es allein zu schaffen, vertrauten.

Die meisten ließen sich von dem Ratsspruch jedoch nicht beirren und glaubten an ein Wirken der Übermächte. Die einen sagten, die Lähmungen seien der Preis für die Rückkehr in die lebendige Welt, nachdem er schon für das Totenreich bestimmt war. Das waren diejenigen, die ihm wohlgesonnen waren, sich nicht fürchteten und mit besonderer Fürsorge seine Anfälle linderten.
Die anderen jedoch hielten seine wirren Träume während der Anfälle für Visionen; sie wahrten plötzlich Distanz zu ihm - die frühere Vertrautheit war dahin. Nichts desto trotz kamen sie öfters auf ihn zu und befragten ihn ausführlich über seine "Erlebnisse in der anderen Welt", die sie zu deuten versuchten. Ebenso baten sie ihn zunehmend direkt um Rat. Er seufzte. Er hätte nicht darauf eingehen sollen. Diesen Ärger hätte er voraussehen müssen.
Plötzlich türmte sich eine schwarze Wand vor ihm auf.
   Er blieb einige Zeit stehen bis er in dem dichten Schneetreiben etwas erkennen konnte: die Wand des Gletschers. Wenigstens konnte er hier sein Notlager aufbauen. Leise stöhnend lud er sein Bündel ab und wollte sein Zelt aufbauen - doch seine Finger waren so steif, dass er die Knoten nicht öffnen konnte.
Kein schützender Unterstand.
Dafür Schnee.
Und Kälte.
Von einem Moment auf den anderen packte ihn Wut; die Rettung schien greifbar nahe zu sein, und nun sollte er doch sterben? Wild brüllend schlug er gegen die harten, kalten Wände des Eisberges, heulte gegen den Sturm an, doch seine Stimme wurde von dem Brausen des Windes übertönt. In blinder Raserei drehte er sich um und lief los, gleich wohin, nur weg, nur nicht in dieser Hilflosigkeit vor dem todbringenden Eis stehenbleiben.
   Der Horizont drehte sich vor seinen Augen und verschwamm, oben, unten, nichts spielte mehr eine Rolle, alles drehte sich um ihn. In dem Rauschen um sich meinte er Stimmen zu hören, die ihn auslachten und verhöhnten; weg, nur weg von diesen Stimmen!
Da stolperte er über eine Bodenwelle und fiel; sein Kopf schlug hart auf dem gefrorenen Grund auf. Heftig atmend blieb er liegen. Am Hinterkopf begann drängend eine Stelle zu pochen, eine Stelle, auf die er schon einmal hart gefallen war. Nicht liegen bleiben. Steh auf. Geh weiter, ermahnte er sich selbst. Er hatte es schon einmal überlebt, diesen Sturz, diese Kälte, die durch all seine Glieder drang, kurz bevor er in tagelange Bewußtlosigkeit fiel.
   Nie wieder würde er diese Kälte spüren.
Er hatte es schon einmal überlebt.
Er würde es auch diesmal überleben. Nie aufgeben. Vertrau auf deine Stärke. Schleppend stand er auf und quälte sich durch die unbarmherzigen Naturgewalten.
Fünfzig Schritte nach links.
Leere. Weite. Schnee, der alles verschwimmen ließ.
Fünfzig Schritte zurück.
Fünfzig Schritte nach rechts.
Unebenheiten. Kleine Spalten. Eine größere, in der sich sein Fuß verklemmte. Den pochenden Schmerz nahm er nicht mehr wahr. Falsche Richtung.
Dreißig Schritte zurück. Oder waren es erst zwanzig gewesen? Darauf kam es ohnehin nicht mehr an. Nicht die Hoffnung verlieren. Immer in Bewegung bleiben.
Und nun fünfzig Schritte in die rückwärtige Richtung.
Weitere fünfzig.
Zehn zur Seite.
Irgendwann würde er schon ankommen. Wie ein Schlafwandler lief er weiter und weiter, bis schließlich eine große, dunkle Wand vor ihm auftauchte. Nach einer langen Zeitspanne - so kam es ihm vor - hatte er seine Sachen erreicht. Nun war er wieder am Ausgangspunkt, doch wesentlich erschöpfter und mit schmerzendem Körper. Sein rechter Fuß knickte auf einmal ein: der Knöchel war dick angeschwollen. Er konnte sich gar nicht erinnern, gefallen zu sein. Aber er konnte sich auch nicht daran erinnern, je eine Welt ohne diesen wirbelnden Schnee gesehen zu haben, Schnee von oben, von unten, von den Seiten. Nur nicht rechts von ihm.
   Der Gletscher.
Dort war der Gletscher.
   Dieses kalte, feindselige Ding würde ihn beschützen. Er nahm sein Hirschhornmesser und schnitt die Riemen seines Bündels auf. Schließlich breitete er die Felle vor sich aus und legte die Riemen auf das weiche gegerbte Leder. Mit diesen Bruchstücken konnte er nichts mehr anfangen; er würde sich in die Decken einwickeln müssen. Oder redete er sich das nur ein, um nicht feststellen zu müssen, dass er schon zu steif und schwach war, um einige kleine Knoten zu knüpfen?
Vorsichtig wickelte er sich in die Decken; wäre es nicht sinnvoll, die nassen, äußeren Schichten seiner Kleidung ablegen? Er lachte höhnisch. Alle seine Dinge waren naß. Nicht die Hoffnung verlieren. Vorsichtig wickelte er sich in die Decken und drängte sich unter einen kleinen Vorsprung an der Wand. Er würde einfach hier abwarten bis der Sturm vorbei war.

Sein Kopf pochte unangenehm, wo er gefallen war. Der Horizont drehte sich vor seinen Augen und verschwamm, oben unten, nichts spielte mehr eine Rolle, alles wirbelte um ihn herum. In dem Rauschen um sich meinte er Stimmen zu hören, die ihn auslachten und verhöhnten; weg, nur weg von diesen Stimmen! Doch sein kraftloser Körper vermochte sich nicht mehr zu bewegen; er schloß die Augen und versank in gnädiger Schwärze. Lachende Fratzen tanzten um ihn herum, kamen auf ihn zu, wurden größer und wieder kleiner. Bunte Lichtkreise vertrieben sie und schwirrten vor seinen geschlossenen Augen. Die Geräusche der Außenwelt verblaßten, bis er schließlich nichts mehr hörte und nichts mehr sah.

Mühsam öffnete er die Augen.
Er war eingeschlafen.
Er durfte nicht einschlafen; dann würde er sterben.
Sein Traum war ihm Warnung genug; noch einmal hatte er die furchtbaren letzten Augenblicke durchlebt, damals, vor zwei Sommern, als er fast von dieser Welt gegangen war.
   Der alte Sho‘tej-kaa mochte für seine Verbannung gesorgt haben, doch er sollte nicht die Genugtuung seines Todes haben. Durch seine besonderen Fähigkeiten hatte er sicherlich die Möglichkeit, es zu erfahren, und die Tiere würden ihm ebenfalls Informationen zutragen. Dieser eifersüchtige Kerl... nur wegen ihm war er in dieser leidigen Situation. Der Schamane hatte seinen Einfluß auf die Stammesmitglieder argwöhnisch betrachtet; und als er seine Beziehungen schließlich benutzte, um eine Entscheidung des Weisen zu sabotieren, war das Verhältnis zwischen den beiden Männern endgültig gestört. Warum hatte der Sho‘tej-kaa auch seine Tochter für die Frühlings-Riten auswählen müssen, warum konnte er keine erfahrenere Frau auswählen, eine, für die es nicht das erste Jahr als erwachsene Frau gewesen war?
Er würde wieder so handeln; selbst wenn ihm die Folgen bekannt wären. Seine Tochter bedeutete ihm mehr als alles andere. Vielleicht hätte er sich nicht auf seine angeblichen magischen Kräfte berufen sollen, vielleicht hätte er einfach an die Solidarität der anderen appellieren sollen? Es wäre das erste Mal gewesen, dass ein so junges Mädchen für die Frühlingsriten ausgewählt worden wäre. Bestimmt hätten alle ihm geholfen.
Oder doch nicht?
Hätten sie es gewagt, sich gegen den Schamanen zu stellen? Viele hätten den Mut gehabt, denn sie vertrauten auf seine Verbindungen mit der Überwelt, die er durch den fast tödlichen Sturz erhalten... und wieder lief es auf seine angeblichen Fähigkeiten hinaus. War es Schicksal, dass er verstoßen wurde?
Wie auch immer - es war zu spät.

Auf einmal schüttelte jemand heftig seine Schulter, schlug sanft auf seine Wange und öffnete gewaltsam seine Augen. Doppelbilder verschwammen vor ihm, aber schließlich sah er sie: Bekirè, Tekacho und Talika, die Mutter seiner Mutter. "Es ist vorbei, mein Schatz", sagte sie sanft. "Wir nehmen dich mit nach Hause. Jetzt ist es vorbei. Alles wird gut." - 'Wo bin ich', wollte er fragen, 'wie komme ich hierher?' Doch seine Stimme versagte. Als er wieder die Augen öffnete, sah er sie alle um sich: seine Mutter, seine totgeborenen Kinder; Kilio, seinen Freund, der von dem letzten Jagdausflug nicht zurückkehrte; seine Eltern, Großeltern und Urgroßeltern. Sie lächelten ihn warm an, die kleine Nakiko schmiegte sich eng an ihn heran und er wußte, er würde sie nie mehr verlassen.

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5291 Jahre später.

Der Schrei der Frau schnitt hell durch die Stille der Ötztaler Alpen; mit einem Satz war der alte Mann bei ihr. "Ich bin bei dir, Schatz", beruhigte er sie. "Wovor fürchtest du dich?"
Nun stumm vor Entsetzen deutete sie auf die dunkle Gestalt in einer Nische des Gletschers.
Ihr Mann überwand seine Angst und trat vorsichtig näher.
   "Komm her zu mir, Karl", weinte sie. "Nur schnell weg hier, vielleicht sind sie noch da."
Erst zögernd, dann immer schneller folgte er ihr ins nächste Dorf, um die Polizei über den Leichenfund zu unterrichten. Seine Schwägerin hatte doch recht gehabt: im Ausland war es gefährlich. Dabei hatte er die Schweizer immer für ein so ruhiges und friedliches Volk gehalten.

Noch zwei weitere Menschen sollten den Mann aus dem Eis entdecken, bis die Wissenschaftler eintrafen.
   Der Schutz des Gletschers hatte sich als trügerisch erwiesen; ein kurzer Moment blieb ihm noch, bis seine Ruhe auf immer gestört wurde. Er würde die am meisten untersuchte Leiche der modernen Welt werden und Millionen mit seinem Rätsel beschäftigen, ihm sollte ein eigenes Museum erbaut werden - doch die Fundstücke waren trügerisch. Dutzende von Menschen würden behaupten, das Geheimnis gelöst zu haben, doch niemand würde je seine wahre Geschichte erfahren.
 

© Najanca
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